Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Positivismus: Gründe, Folgen, theoretisches Problem d. P.; Unterordnung der Theorie unter die Methode; Materialhuberei Kurzinhalt: ... daß eine Erforschung der Wirklichkeit nur dann wissenschaftlichen Charakter habe, wenn sie die Methoden der Naturwissenschaft anwendet; die zweite Annahme ist die eigentliche Gefahrenquelle, ... Textausschnitt: 2. Die zerstörende Wirkung des Positivismus
20a Die Bewegung der theoretischen Erneuerung ist weder in ihrem Umfang noch in ihren Leistungen allgemein bekannt. Und wenn dies auch nicht die Gelegenheit für eine Beschreibung ist (die, wenn sie angemessen sein sollte, zu erheblichem Umfang anwachsen müßte), so muß doch einiges über ihre Ursachen und Ziele gesagt werden, und die Fragen zu beantworten, die sich dem Leser der folgenden Untersuchungen aufdrängen werden. (Fs)
20b Wenn die Prinzipien der politischen Wissenschaft wiederhergestellt werden sollen, so ist damit impliziert, daß das Bewußtsein der Prinzipien verloren gegangen ist. Die Bewegung der theoretischen Erneuerung ist in der Tat als eine Genesung von der Zerstörung der Wissenschaft durch den Positivismus, der für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch war, zu verstehen. Die zerstörende Wirkung des Positivismus hat ihre Ursache in den folgenden zwei Grundannahmen:
20c (1) Die glänzende Entfaltung der Naturwissenschaften war, neben anderen Faktoren, mitverantwortlich für die Annahme, daß die Methoden der mathematisierenden Wissenschaften von der Außenwelt durch besondere Leistungsfähigkeit ausgezeichnet seien, und daß die anderen Wissenschaften ähnliche Erfolge erzielen würden, wenn sie dem Beispiel folgten. Dieser Glaube für sich allein wäre eine harmlose Idiosynkrasie gewesen; er hätte sein natürliches Ende gefunden, sobald die enthusiastischen Bewunderer der Mustermethode versucht hätten, sie auf ihre eigene Wissenschaft anzuwenden, und wenn die erwarteten Erfolge ausgeblieben wären. (Fs)
(2) Der Glaube wurde jedoch gefährlich, weil er sich mit der zweiten Annahme verband, daß die naturwissenschaftlichen Methoden ein Kriterium für theoretische Relevanz lieferten. Erst aus der Verbindung der beiden Annahmen ergab sich die bekannte Reihe der Behauptungen: daß eine Erforschung der Wirklichkeit nur dann wissenschaftlichen Charakter habe, wenn sie die Methoden der Naturwissenschaft anwendet; daß die Probleme, die in anderen als naturwissenschaftlichen Termini ausgedrückt werden müssen, Scheinprobleme seien; daß im besonderen metaphysische Fragen, auf die eine Antwort mit den Mitteln der Wissenschaften von Phänomenen der Außenwelt nicht möglich ist, nicht gestellt werden dürften; daß Seinsbereiche, die der Erforschung mit naturwissenschaftlichen Methoden unzugänglich sind, irrelevant seien; und, in äußerster Konsequenz, daß Seinsbereiche dieser Art nicht existierten. (21; Fs)
21b Die zweite Annahme ist die eigentliche Gefahrenquelle, insofern als sie die Theorie der Methode unterordnet und damit den Sinn der Wissenschaft verkehrt. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der positivistischen Destruktion; und sie hat noch bei weitem nicht die Beachtung gefunden, die sie verdient. (Fs) (notabene)
22a Wissenschaft ist die Suche nach der Nahrheit betreffend das Wesen der verschiedenen Seinsbereiche. Wissenschaftlich relevant ist daher alles, was zum Erfolg dieser Suche beiträgt. Tatsachen sind insofern relevant, als ihre Kenntnis zur Erkenntnis des Wesens beiträgt, während Methoden insofern adäquat sind, als sie mit Erfolg als Mittel zu diesem Zweck angewendet werden können. Verschiedene Gegenstände der Untersuchung erfordern verschiedene Methoden. Ein Staatswissenschaftler, der sich mit den Problemen der platonischen Politeia beschäftigt, wird nicht viel Verwendung für mathematische Methoden haben; ein Biologe, der eine Zellstruktur untersucht, wird nicht viel Verwendung für die Methoden der klassischen Philologie oder die Prinzipien der Hermeneutik haben. Diese Aussagen sind trivial - aber die Mißachtung trivialer Wahrheiten dieser Klasse ist eines der typischen Merkmale der positivistischen Haltung, und darum ist es gelegentlich nötig, das Selbstverständliche breitzutreten. Es mag vielleicht ein Trost sein, daß Mißachtung dieser Art ein permanentes Problem in der Geschichte der Wissenschaft ist; schon Aristoteles mußte gewisse Charaktere seiner Zeit daran erinnern, daß ein "gebildeter Mann" in einer Abhandlung über Politik nicht die Exaktheit des mathematischen Typus erwarten wird. (Fs)
22b Wenn nicht die Adäquanz einer Methode an ihrer Brauchbarkeit für den Zweck der Wissenschaft gemessen wird, sondern umgekehrt die Verwendung einer bestimmen Methode zum Kriterium des Wissenschaftscharakters einer Untersuchung gemacht wird, dann ist der Sinn der Wissenschaft als wahrheitsgemäßer Aussage über die Struktur der Wirklichkeit, als der theoretischen Orientierung des Menschen in seiner Welt, und als des großen Werkzeugs, mit dessen Hilfe der Mensch zum Verständnis seiner eigenen Stellung im All gelangt, verloren. Wissenschaft geht von der vorwissenschaftlichen Existenz des Menschen aus; von seiner Teilnahme an der Welt mit seinem Leib, seiner Seele, seinem Intellekt und seinem Geist; von seinem ursprünglichen Griff in alle Seinsbereiche, der ihm dadurch gesichert ist, daß seine eigene Natur ihrer aller Abriß ist. Und von dieser ursprünglich kognitiven Teilnahme, noch stürmisch getrübt durch Leidenschaft, steigt der beschwerliche Weg an, die methodos, zur leidenschaftslosen Schau der Seinsordnung in der theoretischen Haltung. Die Frage, ob im konkreten Fall der eingeschlagene Weg der richtige war, kann jedoch nur entschieden werden im Rückblick vom leidenschaftslos erkennenden Ende zu seinem noch leidenschafterfüllten Anfang. Wenn die Methode das anfangs nur trübe Geschaute zu wesenhafter Klarheit gebracht hat, dann war sie adäquat; wenn sie diesen Zweck nicht erfüllt hat, oder wenn sie auch nur zu wesenhafter Klarheit etwas gebracht hat, woran wir ursprünglich konkret nicht interessiert waren, darin war sie inadäquat. Wenn wir z. B. in unserer vorwissenschaftlichen Teilnahme an der Ordnung einer Gesellschaft, in unseren vorwissenschaftlichen Erlebnissen von Recht und Unrecht, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, den Wunsch empfinden sollten, zum theoretischen Verständnis der Quelle der Ordnung und ihrer Geltung vorzudringen, dann werden wir vielleicht im Verfolg unserer Bemühungen die Theorie entwickeln, daß die Gerechtigkeit der Ordnung unter Menschen von ihrer Teilnahme am platonischen agathon, oder dem aristotelischen nous, oder dem stoischen logos oder der thomistischen ratio aeterna abhängt. Und wenn auch, aus diesem oder jenem Grunde, keine der Theorien uns völlig befriedigt, so wissen wir doch, daß wir auf der Suche nach einer Antwort dieser Art sind. Wenn uns der Weg jedoch zu der Erkenntnis führt, daß die Ordnung der Gesellschaft durch nichts bestimmt wird als durch Furcht und Willen zur Macht, dann wissen wir, daß wir irgendwo im Zuge der Untersuchung das Wesentliche des Problems verloren haben - wie immer wertvoll das Ergebnis auch zur Klärung anderer Aspekte der Sozialordnung sein mag. Im Rückblick von der Antwort auf die Frage erkennen wir daher, daß die Methoden einer Psychologie der Motive für die Klärung dieses Problems nicht adäquat sind, und daß es in diesem Falle besser wäre, sich auf die Methoden der metaphysischen Spekulation und theologischen Symbolisierung zu verlassen. (Fs)
24a Die Unterordnung der theoretischen Relevanz unter die Methode verkehrt prinzipiell den Sinn der Wissenschaft. Und der Sinn wird verkehrt, gleichgültig welche Methode im Einzelfall als Modell genommen wird. Das Prinzip der Verkehrung muß sorgfältig von seinen zahlreichen Erscheinungsformen unterschieden werden, denn ohne diese Unterscheidung ist es kaum möglich, die historische Erscheinung des Positivismus in ihrem Wesen und Umfang zu verstehen; daß diese Unterscheidung nicht gemacht wird, ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß eine zureichende Studie dieser bedeutsamen Phase westlicher Geistesgeschichte bis heute noch nicht vorliegt. Wenn auch eine solche Studie hier nicht gegeben werden kann, so müssen doch die Hauptlinien, denen sie zu folgen hätte, herausgearbeitet werden, um die Mannigfaltigkeit der positivistischen Phänomene in den Blick zu bringen. (Fs)
24b Die Analyse würde falsch ansetzen, wenn der Positivismus als die Doktrin dieses oder jenes hervorragenden positivistischen Denkers definiert würde - etwa als das Comte'sche System. Die Spezialform der Verkehrung würde das Prinzip verwischen; und verwandte Phänomene könnten nicht als solche erkannt werden, weil auf der Ebene der Doktrinen die Anhänger verschiedener Mustermethoden sich bekämpfen. Es empfiehlt sich daher, von dem Eindruck auszugehen, den das Newton'sche System auf westliche Intellektuelle wie Voltaire gemacht hat. Diese Erschütterung sollte als das emotionale Zentrum betrachtet werden, von dem das Prinzip der Verkehrung, wie auch der Sonderfall des Modells der Physik, unabhängig voneinander oder in Verbindung, ausstrahlen konnten; und die Wirkungen sollten verfolgt werden, welche Form auch immer sie annehmen mögen. Dieses Verfahren empfiehlt sich vor allem deshalb, weil der Versuch, die Methoden der mathematischen Physik im strengen Sinne auf die Sozialwissenschaften zu übertragen, kaum jemals unternommen worden ist, aus dem guten Grund, weil er allzu offensichtlich fehlschlagen würde. Die Idee, ein "Gesetz" der sozialen Phänomene zu finden, das in seiner Funktion dem Gravitationsgesetz in der Newton'schen Physik entspräche, ist nie über die Stufe verworrenen Geredes in der napoleonischen Ara hinausgekommen. Zu Comtes Zeit hatte sich die Idee schon zum "Gesetz" der drei Phasen beruhigt, d. h. sie war zu einem Stück falscher Spekulation über den Sinn der Geschichte geworden, das sich selbst als die Entdeckung eines empirischen Gesetzes interpretierte. Charakteristisch für die frühe Aufspaltung des Problems ist das Schicksal des Ausdrucks physique sociale. Comte wollte ihn für seine positivistische Spekulation verwenden; aber seine Absicht wurde dadurch vereitelt, daß Quételet sich den Ausdruck für seine eigenen statistischen Untersuchungen aneignete. Das Gebiet der sozialen Phänomene, die in der Tat der Quantifizierung zugänglich sind, begann sich von jenem anderen Gebiet zu scheiden, in dem die spielerische Nachahmung der Physik ein Zeitvertreib für Dilettanten in beiden Wissenschaften ist. Wenn also der Positivismus im strengen Sinne ausgelegt wird, nämlich als Entwicklung der Sozialwissenschaft durch den Gebrauch mathematisierender Methoden, dann könnte man zu dem Schluß gelangen, daß es Positivismus niemals gegeben hat; faßt man ihn dagegen als die Absicht auf, die Sozialwissenschaften "wissenschaftlich" zu machen durch den Gebrauch von Methoden, die denjenigen, welche die Wissenschaften von den Phänomenen der Außenwelt anwenden, möglichst ähnlich sind, dann werden die Ergebnisse dieser Absicht (wenn auch nicht beabsichtigt) sehr mannigfaltig sein. (Fs)
26a Das theoretische Problem des Positivismus mußte mit einiger Sorgfalt formuliert werden. Seine einzelnen Erscheinungsformen bedürfen nur kurzer Aufzählung, nachdem die sie verbindende Einheit klar erfaßt wurde. Wird die Methode als Kriterium der Wissenschaftlichkeit angewendet, so wird damit die theoretische Relevanz aufgehoben. In der Folge werden alle sich auf Tatsachen beziehenden Urteile ohne Rücksicht auf ihre Relevanz zur Würde der Wissenschaftlichkeit erhoben, soferne sie sich durch korrekte Anwendung einer Methode ergeben. Da das Meer von Tatsachen unerschöpflich ist, wird eine ungeheuere Ausdehnung der Wissenschaft, im soziologischen Sinne, möglich; zahllose szientistische Techniker finden Beschäftigung und produzieren phantastische Massen von irrelevantem Wissen durch enorme Forschungsprojekte, deren interessantestes Merkmal ihre quantifizierbaren Kosten sind. Man gerät leicht in Versuchung, sich diese üppigen Blüten des späten Positivismus näher zu besehen und einige Erwägungen über den Hain des Akademos anzustellen, in dem sie sich entfalten; aber die Askese des Theoretikers will uns solche Gärtnerfreuden nicht gestatten. Hier geht es um das Prinzip, daß alle Tatsachen gleichwertig sind - wie es gelegentlich formuliert wurde -, wenn sie nur auf dem Wege der Methode sichergestellt wurden. Die Anhäufung irrelevanter Fakten erfordert jedoch nicht unbedingt die Anwendung statistischer Methoden; sie kann ebensowohl unter dem Deckmantel kritischer Methoden auf dem Gebiete der politischen Geschichte, der Beschreibung von Institutionen, der Ideengeschichte oder in den verschiedenen Zweigen der Sprachwissenschaft stattfinden. Die Anhäufung theoretisch nicht ausgewerteter und vielleicht nicht auswertbarer Fakten, dieser Auswuchs, für den in Deutschland das Wort Materialhuberei geprägt wurde, ist also die erste der Erscheinungsformen des Positivismus; und wegen ihrer Allgegenwart ist sie von viel größerer Bedeutung als gewisse reizvolle Kuriositäten wie z. B. die Einheitswissenschaft. (Fs)
27a Größere Forschungsunternehmen, die nichts als irrelevantes Material enthalten, kommen jedoch, wenn überhaupt, so doch sehr selten vor. Selbst im ungünstigsten Falle wird sich hie und da eine relevante Seite finden, und Gold mag in ihnen verborgen sein, das darauf wartet, eines Tages von einem Gelehrten, der seinen Wert erkennt, entdeckt zu werden. Ein Fall völliger Irrelevanz ist so gut wie unmöglich, weil das Phänomen des Positivismus sich in einer Kultur mit theoretischen Traditionen ereignet; und auch die umfangreichste und wertloseste Materialsammlung hängt noch an einem Faden, der sie mit der Tradition verbindet. Auch dem hartgesottensten Positivisten wird es kaum gelingen, ein völlig wertloses Buch über das amerikanische Verfassungsrecht zu schreiben, solange er sich mit einiger Gewissenhaftigkeit an die Argumentlinien und die Präzedenzfälle hält, die in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes vorgegeben sind. Wenn das Buch auch ein trockener Bericht sein mag und die Argumente der Richter (die nicht immer die besten Theoretiker sind) nicht auf eine kritische Theorie der Politik und des Rechtes bezogen werden, wird das Material zur Unterwerfung zumindest unter sein eigenes Relevanzsystem zwingen. (Fs)
28a Viel tieferen Schaden als die leicht erkennbare Anhäufung von Trivialitäten hat die zweite Erscheinungsform des Positivismus, die Anwendung unzulänglicher theoretischer Prinzipien auf relevantes Material, angerichtet. Hoch angesehene Forscher haben ihre Gelehrsamkeit auf die Auswertung historischer Stoffe gewandt und doch ein gut Teil ihrer Mühe vertan, weil ihre Auswahl- und Interpretationsprinzipien, ohne solide theoretische Grundlage, sich aus dem Zeitgeist, aus politischen Neigungen oder aus persönlichen Idiosynkrasien herleiteten. Zu den Werken dieser Klasse zählen die Geschichten der griechischen Philosophie, die aus den Quellen in erster Linie einen "Beitrag" zur Entwicklung der westlichen Wissenschaft herauszogen; die Abhandlungen über Platon, die in ihm einen Vorläufer neukantischer Logik oder, je nach der politischen Zeitmode, einen Konstitutionellen, einen Utopisten, Sozialisten oder Faschisten entdeckten; die Geschichten der politischen Ideen, die Politik im Sinne des westlichen Konstitutionalismus definierten und dann nur wenig politische Theorie im Mittelalter entdecken konnten; oder die andere Variante, die im Mittelalter einen erheblichen "Beitrag" zur Verfassungslehre der Neuzeit fand, jedoch völlig die politischen Sektenbewegungen außer acht ließ, die in der Zeit der Reformation an die institutionelle Oberfläche durchbrachen; oder ein Riesenunternehmen wie Gierkes Genossenschaftsrecht, das erheblich entwertet wurde durch die Überzeugung seines Autors, die Geschichte des politischen und rechtlichen Denkens bewege sich schicksalhaft auf seine eigene Theorie der Realperson als ihren Höhepunkt zu. In Fällen dieser Art entstand der Schaden nicht durch Anhäufung wertlosen Materials; im Gegenteil, die Werke dieser Klasse sind häufig unentbehrlich gerade wegen ihrer zuverlässigen Tatsacheninformationen (bibliographische Angaben, kritische Feststellung der Texte etc.). Der Schaden entstand vielmehr durch die Interpretation. Der Inhalt einer Quelle z. B. mag korrekt wiedergegeben sein, soweit er wiedergegeben wird, und doch kann der Bericht ein völlig falsches Bild zeichnen, weil er wesentliche Teile ausläßt; und er läßt sie aus, weil die unkritischen Interpretationsprinzipien es nicht zulassen, sie als wesentlich zu erkennen. Unkritische Meinungen (doxai im platonischen Sinne) sind kein Ersatz für Theorie. (Fs)
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