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Autor: Finance de Joseph

Buch: Grundlegung der Ethik

Titel: Grundlegung der Ethik

Stichwort: Struktur des Wertes; 2 Irrtümer; Thomas: das Vollkommen-Sein -> im vollkommen existierenden Subjekt

Kurzinhalt: Übergang: vom Vollkommenen zum Begehrenswerten; das Verkollkommnende: psychologische; radikale Liebe zu sich selbst; Selbstliebe; Subjekt - Idealbild

Textausschnitt: 37. Läßt man die Natur des Guten außer acht oder bringt sie mit dem Phänomen des Guten durcheinander, dann gerät man in zwei einander entgegengesetzte Irrtümer, je nachdem, ob man seine Natur auf das Phänomen zurückführt oder aus dem Phänomen eine Natur macht. Im ersteren Fall gelangt man zu psychologischen Theorien wie bei Müller-Freienfels oder Ribot, die den Wert nur als Projektion der Strebungen und Empfindungen des Subjekts sehen. Der Wert ist darin keine Erklärung des Begehrens, sondern wird durch es erklärt. Das aber widerspricht dem phänomenologisch Gegebenen. Zumal bei höheren Werten zeigt sich phänomenologisch der Wert als der Beweggrund des Begehrens. Im zweiten Fall kommt man zu realistischen Theorien, wie Max Scheler und Nicolai Hartmann sie aufstellten, in denen den Werten eine Art von Ansichsein, ähnlich wie den platonischen Ideen, zuerkannt wird. ... Nach unserer Auffassung lassen sich die Werte nicht auf eine Projektion unserer Gefühlszustände zurückführen, sondern wurzeln im Sein, ohne deswegen schon dieses Sein in sich selbst zu haben und ohne eine eigenständige, die reale Welt überwölbende Welt zu bilden. Dennoch wird man weiterhin von einer Welt der Werte reden können, weil ja der Gesichtspunkt des Wertes nicht der Gesichtspunkt des Seins ist und man das Recht hat, den Gesichtspunkt des Wertes einzunehmen und zu beschreiben, was sich so dem Blick darbietet; letzten Endes bringt diese Wertwelt aber nur die Seins-Welt, außerhalb deren es nichts gibt, unter einem besonderen Gesichtspunkt zum Ausdruck. Wie die Wert-Welt zu begreifen sei, ist wiederum eine Aufgabe, die wir auf später verschieben müssen, denn ihre Lösung setzt voraus, daß wir zuerst die Unterschiede zwischen den wichtigeren Wert-Typen und deren Rangordnung herausgearbeitet haben. Nun wollen wir zunächst nochmals, und wäre es nur, um unser Reflektieren anzukurbeln, dem nachgehen, was Thomas von Aquin hierzu äußert. Er stellt die Natur des Guten zweifach dar. (99f; Fs)
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1. In "De veritate" bleibt der Gesichtspunkt noch äußerlich. Die dort vorgebrachte Definition hält die Mitte zwischen der Definition der ratio boni und einer Definition, wie man sie aus der Struktur des Gut-Seins gewinnen würde. Das Gute wird weiterhin in seiner Beziehung zum Subjekt aufgefaßt. Bloß handelt es sich hier nicht mehr um ein begehrendes Subjekt, sondern um eines, das in einer bestimmten Hinsicht durch das Gute vervollkommnet wird und gerade darum das Gute begehrt. Von der phänomenologischen oder psychologischen Ebene sind wir zur ontologischen Ebene übergegangen. Dieses Vervollkommnen, fügt Thomas von Aquin hinzu, würde jedoch nicht zur Kennzeichnung des Guten ausreichen, denn auch das Wahre vervollkommnet, doch während das Sein als wahres das Subjekt gemäß dessen idealer Form (secundum rationem speciei) vervollkommnet, vervollkommnet das Sein als gutes das Subjekt real, wir könnten auch sagen: ontisch (secundum esse quod habet in rerum natura). Das Eigentümliche am Guten ist hier also das, was wir kurz und bündig das daseinsbezogene Vervollkommnen nennen wollen, und gerade aus ihm erwächst dem Guten die Eigenschaft des Begehrenswerten und der Zielhaftigkeit . Es zeigt sich erneut, wie eng die beiden Seiten des Guten zusammengehören. (100f; Fs) (notabene)
2. Wiewohl Thomas von Aquin bei dieser Daseinsbezogenheit beharrt, stellt er jedoch die natura boni zumeist anders dar. Der Blickpunkt wird dann im Gut-Seienden selbst, d. h. vom Subjekt der bonitas eingenommen und nicht mehr in einem äußeren Subjekt. Das Gute ist nicht mehr das Vervollkommnende, sondern das Vollkommene . (101; Fs)
37a Wie lassen sich die beiden Darstellungen aufeinander abstimmen? Und wie soll man denn vor allem jene Stelle auffassen, wo Thomas schroff vom Vollkommenen zum Begehrenswerten übergeht: "Jedes Etwas ist in dem Maße begehrenswert, wie es vollkommen ist, denn jedes Seiende strebt nach seinem Vollkommenwerden" ? Soll man aus dieser Stelle herauslesen, daß in ihr an jenes Prinzip gedacht wird, demzufolge ein schon mit einer gewissen Vollkommenheit ausgestattetes Seiendes diese Anderen mitzuteilen vermag und ihnen dadurch zum Objekt ihres Begehrens wird? An dieser Interpretation ist etwas Wahres. Mit Aristoteles und dem gesunden Menschenverstand faßt Thomas von Aquin das Vermögen, hervorzubringen, auszustrahlen und sich mitzuteilen, als Folge und Zeichen eigener Vollkommenheit auf. Noch grundlegender: "Es ist das Wesen jeglichen Aktes, sich soviel wie möglich mitzuteilen" ; nun entspricht aber die Vollkommenheit eines Dings gerade seiner Aktualität . Das Vollkommene als solches wirkt ausstrahlend, und also ist das Vollkommene vervollkommnend. Gleichwohl läßt sich der Gedanke des Thomas von Aquin anders und besser deuten. (101f; Fs)
37b Wenn das Vervollkommnende begehrenswert ist, dann sicher auf Grund der Vollkommenheit, die es zu vermitteln vermag. Die Vollkommenheit selbst aber ist ein Abstraktes oder ein Modus: das eigentliche Objekt des Begehrens ist das Vollkommensein (perfectum esse). Der Wert ist daseinsbezogen: Die Weisheit z. B. ist dem Menschen nur wertvoll, weil sie ihm ermöglicht, auf eine bestimmte Weise zu existieren, nämlich weise zu existieren . Das Vollkommen-Sein seinerseits subsistiert aber als solches nicht (oder vielmehr: es subsistiert zwar, aber als Subsistierendes wird es nicht unmittelbar angezielt), sondern das Vollkommen-Sein subsistiert bloß im vollkommen existierenden Subjekt. Es ist der Zielpunkt, auf den sich alle unsere Begehrungen beziehen, und der wahre Beweggrund des Wollens . (102; Fs) (notabene)
38b So verweist uns das Vervollkommnende auf die Vollkommenheit und diese aufs Vollkommene. Weil unser Erkennen aber von außen nach innen fortschreitet, ist das, was wir zunächst als Gut bezeichnen und weswegen die Idee des Guten in uns aufkommt, nicht unsere innere Vollkommenheit, sondern es ist das Objekt, das uns auf den Weg zur Vollkommenheit zu bringen vermag. Für den Hungrigen ist das Gut, d. h. das unmittelbar Begehrenswerte, nicht das Gesättigtsein, sondern die sättigende Nahrung (19). Wir stoßen auf dieses allgemeine Gesetz, demzufolge der Zweck hinter den Mitteln verschwindet, wenn unsre Aufmerksamkeit ganz davon in Anspruch genommen wird, diese Mittel wirksam einzusetzen (18; 25). Wird das Gute als etwas Vervollkommnendes definiert, dann ist dies also eine eher psychologische Definition; sie geht mehr darauf ein, wie die Vorstellung des Guten in uns aufkommt, während dagegen die andere Definition, wonach das Gute das Vollkommene ist, letztlich eher das herausstellt, was dem Guten Sinn verleiht, und dadurch die Natur des Guten schärfer zu fassen bekommt. (102f; Fs)

3. Die bisherigen Überlegungen drehten sich alle um das Gute als Begehrenswertes: das Gute ist aber nicht nur Objekt des Begehrens, sondern auch und gerade Gegenstand des Liebens. Wenn wir uns an die im vorigen Abschnitt gemachte Unterscheidung der beiden Arten des Liebens und an die von Thomas von Aquin gegebene metaphysische Deutung (31) erinnern und "Akt" durch "Vollkommenheit" ersetzen, dann erkennen wir, daß das Vollkommene nicht nur auf Grund seines "Vervollkommnens", d. h. seiner Fähigkeit, das vervollkommnungsfähige Subjekt zu "aktuieren" (Gesichtspunkt des Eros), Objekt des Liebens ist, sondern auf Grund seiner innerlich-wesenhaften "Vollkommenheit". Wir wollen jedoch nicht nur erforschen, wie das Gute die Liebe erregt, sondern auch wie es vermöge der Liebe die menschliche Tätigkeit in Bewegung setzt. Zwischen die Liebe und die Tätigkeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes schaltet sich aber das Begehren. Wenn der Besitz des Geliebten nicht als etwas Begehrenswertes erschiene oder wenn das Geliebte sich nicht selber als ein Begehrendes zeigte, bliebe die Liebe untätig. Die Auffassung des Guten als Vollkommenheit bedarf, damit das menschliche Handeln gedeutet werden kann, notwendigerweise der ergänzenden Auffassung des Guten als eines Vervollkommnenden. (103; Fs) (notabene)
38c Es ist jedoch noch mehr zu sagen. Wenn das Subjekt seine eigene Vollkommenheit wünscht oder vielmehr sich selbst vollkommen wünscht, geschieht das auf Grund einer radikalen Liebe zu sich selbst, wie wir sahen (31), und bedeutet nichts anderes als ein gewisses Sich-selbst-Zugetansein, eine besondere Weise, an und für sich zu sein. Das Begehren erwächst aus der Abwesenheit des Guten; es setzt logisch also ein Moment des reinen Zugetanseins, des bloßen Wohlgefallens voraus. Im voraus findet das Subjekt an seinem vollendeten Sein oder seinem Idealbild von sich Gefallen, und dieses Gefallen zeigt sich nur deswegen als Begehren und Streben, weil sich herausstellt, daß dieses Ideal eben ideal und das heißt: nicht real ist. Zwischen dem Subjekt und seinem Idealbild erstehen aber gleichzeitig jene beiden einander entgegengesetzten Beziehungen, auf die wir bei der Erörterung des Ziels hinwiesen und deren Verständnis für die ganze folgende Untersuchung von größter Bedeutung ist. Einerseits bezieht das Subjekt das Idealbild seiner selbst, seine Vollkommenheit, auf sich selbst; es ist ganz fraglos das Zentrum, von dem aus der Wert auf das Idealbild und die Vollkommenheit ausstrahlt (meine Vollkommenheit ist mir nur wertvoll, weil sie meine Vollkommenheit ist). Anderseits bezieht sich das Subjekt auf sein Idealbild und erkennt sich nur auf Grund dieser Beziehung Wert zu, so daß der Ort des Wertes nicht mehr in, sondern über ihm und ihm vorweg ist und das Subjekt es ist, welches vom Licht des Ideals erleuchtet wird. Vom ersten Gesichtspunkt aus hat das Subjekt zu sich selbst eine ganz einzigartige, in der nicht mitteilbaren Vollkommenheit seines Selbstseins gründende Liebe: In seiner Subsistenz und seiner Unterschiedenheit liebt es sich mit einer Liebe, die auch mitten in den schlimmsten Wirrnissen und Mißgeschicken fortbesteht. Und wäre es noch so verkommen und erniedrigt, für es selbst bleibt es doch dieses Einmalige, Einzigartige, das niemand anderer ersetzen kann. ("Mein Einziges" sagt man auf hebräisch, wenn man "meine Seele" sagen will, und das bedeutet dasselbe wie "ich selbst", myself). Vom zweiten Gesichtspunkt aus liebt sich das Subjekt selbst, insofern es, auf ein Ideal hingeordnet, daran schon in gewisser Weise teilhat. Durch die Liebe bewohnt es schon dieses Ideal, von dem es besessen ist, und von dort her beurteilt und wertet es sein derzeit vorliegendes Ich. Dem jungen Menschen ist das eigentliche Leben jenes noch "abwesende" Leben des erwachsenen Mannes, der zu werden er träumt. Der ihn davon trennende Abstand dünkt ihn eine wertlose, eine tote Zeit . (103f; Fs) (notabene)
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