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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Die sittliche Weltordnung

Titel: Die sittliche Weltordnung

Stichwort: Agit unumquodque ratione formae; Bewegung: Mittleres zw. Möglichkeit und Wirklichkeit; Zeit: Zweck

Kurzinhalt: Vollendung: einerseits gegeben, andrerseits nicht gegeben; via perfectionis -> bene esse; steht der Zweck als Letztes, im Meinen und Wollen aber ist er und muß er das Erste sein

Textausschnitt: 1/E2 Agit unumquodque ratione formae. Jegliches ist tätig in Bezogenheit auf seine Form; die Natur der Dinge ist die Richtschnur ihrer Tätigkeit. Alle Naturwesen verraten die Bestimmung, die in ihnen angelegte Gestaltlichkeit, eidos oder species, zu verwirklichen, vielmehr die Wirklichkeit dieses ihres höchsten Seinszweckes voll und rein zu erlangen. Die Natur des Dings ist in allem das Erste, und wie jede Bewegung von einem Unverweglichen ausgeht, ist das Natürliche und Unverwegliche der Form oder Wesenheit Grundlage, Prinzip und Richte für alles andere, auch die Tätigkeit, das Wollen und Streben . (49; Fs) (notabene)
2/E2 Die Bewegung der Dinge, den Menschen inbegriffen, ist Tätigkeit des Unvollendeten, d. h. in Möglichkeit Befindlichen als eines solchen (I 18, 1; 1 II 31, 2 zu 1); denn was in Möglichkeit ist, ist immer unvollendet. Die Bewegung selbst ist ein Mittleres zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Ihre Art und Wesenheit aber empfängt sie nicht von ihrem Ausgangs-, sondern von ihrem Zielpunkt. Diese Bestimmungen des Bewegten gelten auch in der Metaphysik des Verlangens nach Wirklichung und Vollendung bei den mit solchem Verlangen begabten Wesen. Ihre Vollendung ist einerseits gegeben, andrerseits nicht gegeben. Das erstere trifft zu von ihrer naturgegebenen, der Zwecktätigkeit vorschwebenden und ursächlich wirkenden Bestimmung, das andere von eben dieser Tätigkeit zu Ziel und Zweck. Von diesem Vollendungsweg (via perfectionis) gilt der Satz, daß eines jeglichen Vollendung hauptsächlich in der Hinsicht auf das, was es seiner Natur nach sein soll, betrachtet wird (1 II 55, 1). Um so näher reicht es an seine ihm gemäße Vollkommenheit, je mehr es seine eigentümliche Bestimmung bis zum höchsten Maße der ihm eigentümlichen Kraft erfüllt, sei es der zügig schwingende Hammer, der vollauf fruchtende Baum oder der Steuermann, der sein Schiff im Sturme meistert. Angelangt in diesem Erfüllungsstande ist das Ding in seiner Wirklichkeit, sein Sein ist gediehen bis zu seinem Sollen, es ist nicht nur ein esse, sondern ein bene esse, es hat, indem es so "in Form" ist, sein Gutsein: man kann ihm gleichbedeutend die Namen Vollkommenheit (perfectio), Gutheit (bonitas) und Tucht oder Tugend (virtus) zuerkennen. (49; Fs)

3/E2 Nun zeigt sich, wie bei der Betrachtung von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Abzwecken und Zweck, so auch beim Vollendungsweg ein eigentümliches Verhältnis zur Zeit. Sieht man auf den Werdegang eines Dings in der Ordnung des tatsächlichen Geschehens, so ist das Unvollendete früher als das Vollendete; allmählich erhebt sich der Bau und wächst in den Stand des Fertigseins. Umgekehrt geht nach der Ordnung der Natur das Vollkommene dem Unvollkommenen voran, denn es muß irgendwie schon bestehen, wirklich und wirksam sein, damit ihm das Werdende entgegenarten kann; die Wesenheit Haus ist fertig im Entwürfe da, bevor es im Stofflichen zustande kommt. In Verfolg und Ausführung steht der Zweck als Letztes, im Meinen und Wollen aber ist er und muß er das Erste sein. (50; Fs) (notabene)

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