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Autor: Sorokin, Pitirim A.

Buch: Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie

Titel: Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie

Stichwort: Kultur- und Gesellschaftssysteme (social system)

Kurzinhalt: Gesellschaftssystem und Kultursystem sind nicht identisch; Totalkultur einer sozialen Gruppe: Koexistenz vieler Kultursysteme, die zum Teil miteinander harmonieren, zum Teil gegeneinander indifferent sind,

Textausschnitt: 35/11 Unter einem Gesellschaftssystem (social system) verstehe ich eine organisierte Gruppe, die ein Corpus zwangsweise auferlegter, verbindlicher Gesetze besitzt, die die Rechte und Pflichten, die soziale Stellung und die Funktionen, die Rollen und das gebührende Benehmen der einzelnen und aller Mitglieder gegeneinander, gegen Außenstehende und gegen die Welt überhaupt im Detail festlegen, weiters ein Corpus unter Strafandrohung verbotener Handlungen und Beziehungen sowie schließlich ein Corpus empfohlener, jedoch nicht-obligatorischer Verhaltensnormen. Als Ergebnis dieser Normen stellt sich eine solcherart organisierte Gruppe als eine deutlich differenzierte und geschichtete Körperschaft dar, in der jedes einzelne Mitglied eine ganz bestimmte Stellung innerhalb des Differentations- und Rangsystems einnimmt und in der gesetzlich festgelegte Regeln den Auf- und Abstieg der Mitglieder bestimmen. Eine derartige Gruppe hat einen bestimmten Namen und ein Symbol ihrer Individualität. Sie hat auch gewisse Reserven und die materiellen Mittel, die notwendig sind, ihre Funktionen auszuüben und die Tätigkeiten der Mitglieder zu ermöglichen. In der menschlichen Welt gibt es Millionen verschiedener organisierter Gruppen, angefangen von der Familie und endigend mit dem Staat, der Nation, der Kaste und anderen Gruppen . (230; Fs)
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36/11 Ein in diesem Sinne verstandenes Gesellschaftssystem fällt nicht mit einem Kultursystem zusammen. Erstens, weil viele Systeme, besonders die umfassenden Kultursysteme, wie die Mathematik, Biologie, Medizin oder die Wissenschaft im allgemeinen, in die Gesamtkultur praktisch aller Sozialsysteme eingehen; die Familie, der Geschäftskonzern, die religiöse Gruppe, der Staat, die politische Partei, die Gewerkschaft, alle organisierten Gruppen müssen von der Arithmetik, der Medizin oder Fragmenten der Biologie Gebrauch, machen. Das gleiche gilt vom Sprachsystem. Es gibt Millionen verschiedener sozialer Gruppen, die Englisch sprechen. Es gilt auch von religiösen Kultursystemen. Viele Gesellsdiaftssysteme besitzen entweder den Buddhismus oder den römischen Katholizismus oder den Protestantismus oder den Konfuzianismus als religiöses System usw. In allen diesen Fällen gleichen die umfassenden Kultursysteme einer Wasserfläche, die eine Schar verschiedener Inseln (die sozialen Gruppen) umgibt. (231; Fs)

37/11 Gesellschafts- und Kultursysteme unterscheiden sich voneinander auch darin, daß die Totalkultur einer organisierten Gruppe, ja selbst die einer einzelnen Person nicht aus einem einzigen Kultursystem, sondern aus einer Menge umfassender und kleiner Kultursysteme, die teilweise miteinander harmonieren, teilweise aber auch einander widersprechen, und überdies aus vielen Kongerenzen verschiedener Art besteht. Selbst die Totalkultur praktisch jedes Individuums ist nicht vollständig zu einem einzigen Kultursystem zusammengefaßt (integrated), sondern stellt eine Vielheit nebeneinander bestehender Kultursysteme und Kongerenzen dar. () Die Totalkultur einer organisierten Gruppe oder selbst eines Einzelmenschen ist also weder identisch noch dem Umfang nach zusammenfallend mit irgendeinem Kultursystem. Die Totalkultur selbst der Einzelmenschen (als der kleinsten Kulturgebiete) ist nicht völlig zu einem einzigen sinnhaft-kausalen System zusammengeschlossen; sie zeigt die Koexistenz vieler Kultursysteme, die zum Teil miteinander harmonieren, zum Teil gegeneinander indifferent sind, zum Teil miteinander in Widerspruch stehen,

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