Autor: Thomas, Aquin von Buch: Über die Herrschaft der Fürsten Titel: Über die Herrschaft der Fürsten Stichwort: Historismus; Fortschrittsglaube; Unterschied zwischen klassischen und modernen Prinipien der Politik Kurzinhalt: Unterscheidung zwischen Fortschritt und Rückschritt als oberstes moralisches und politisches Prinzip; Leitziel der Politik ist nicht mehr ... Textausschnitt: 4/N Geistesgeschichtliche Betrachtung anstelle geistiger Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist uns nur zu selbstverständlich geworden; diese Einstellung findet ihre Stütze im modernen Historismus, dem geschichtsphilosophischen Glauben an einen universalen Fortschritt, der das Vergangene nur als Vergangenes ernst zu nehmen braucht, weil es für ihn nur die unvollkommene Vorstufe zur vollkommeneren Gegenwart ist. Solchem Denken setzt der Fürstenspiegel den Anspruch entgegen, daß er über grundlegende, zu jeder Zeit gültige Prinzipien der Politik handele. Der Geschichte wird zwar in mehrfacher Beziehung gedacht, aber sie ist nirgends »Prozeß«, der sich auf ein definierbares historisches Ziel hin entwickelt. Wer einwendet, Thomas denke eben »noch statisch«, weil er die Fortschrittsidee »noch nicht« gekannt habe, unterstellt, sofern dies kein historischer Hinweis, sondern ein sachlicher Einwand sein soll, bereits wieder den Fortschrittsglauben, statt ihn der Kritik auszusetzen. Wir sollten uns auf die Konfrontation einlassen. Wir entdecken dann nicht nur, daß zwischen uns und diesem Text die neuzeitliche Verdrängung der praktischen politischen Philosophie durch Geschichtsphilosophie liegt, mit der die Unterscheidung von Gut und Schlecht (das Wesen des Traktats über König und Tyrann) ersetzt wird durch die Unterscheidung zwischen Fortschritt und Rückschritt, durch die Anpassung an die »geschichtliche Entwicklung« als oberstes moralisches und politisches Prinzip; wir sind auch unversehens zur Legitimation dieser Grundidee modernen politischen Denkens aufgefordert. Dabei werden wir rasch gewahr, daß wir die Grundlagen des Glaubens an den Fortschritt längst verloren haben, auch wenn unsere Gesellschaft noch aus diesem Glauben als einzigem geistigen Halt zu leben versucht. Der endgültige Verlust des Glaubens an den Fortschritt und damit eine unvorstellbare geistig-politische Krise mögen folgen oder nicht: auf jeden Fall wird die Kritik, d. h. die rationale Sicherung oder Korrektur von bisher selbstverständlichen politischen Wahrheiten, zur Notwendigkeit. (74f; Fs) |