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Stichwort: Evidenz

Autor, Quelle: Augustinus, Aurelius, Über das Glück

Titel: Evidenz - Bewusstseinstatsachen

Index: Augustinus: Wahrheit, Wahrheitsbegriff - Stoa (oikeosis, Sensualismus); Evidenz durch Bewusstseinstatsachen

Kurzinhalt: Mag die Anregung zur augustinischen Evidenztheorie auch von der Stoa gekommen sein: ihre inhaltliche Beziehung auf »Bewußtseinstatsachen« ist jenseits der Denkmöglichkeiten der Stoa ...

Text: 91c Unmittelbar beeinflußt ist Augustins Wahrheitsbegriff von der Stoa, deren Methode der Wahrheitsfindung und -sicherung in seine Methode der Gesprächsführung auf charakteristische Weise eingeht. Zwei Grundvorstellungen bestimmen das stoische Denken in dieser Frage: Zum einen ist es die von Aristoteles herrührende Auffassung von der natürlichen Verwandtschaft aller Menschen (oikeiosis), die den Gedanken nahelegt, darüber, was wahr sei, müßten alle Menschen natürlicherweise übereinstimmen. Da ein jeder den gleichen Logos repräsentiert, können Meinungsverschiedenheiten über das, was objektiv wahr ist, eigentlich nicht aufkommen; und umgekehrt: wo Meinungsverschiedenheiten nicht ausgeräumt werden können, da muß die Wahrheit fern sein. Daraus wird als erstes Wahrheitskriterium der Zwang abgeleitet, über eine in Frage stehende Sache die Übereinstimmung aller herbeizuführen - Konsenszwang. Der »consensus omnium hominum« mag zwar nicht immer und überall herbeiführbar sein, in dem Maße aber, in dem er herbeigeführt werden kann, ist er unabdingbar. Von dieser Regel ist Augustin in seinem Bemühen, gemeinsam verbindliche Ausgangspunkte und Resultate der Überlegungen zu finden, direkt beeinflußt. (Fs) (notabene)

92a Die zweite Grundvorstellung für stoisches Denken in der Wahrheitsfrage entspringt deren sensualistischer Denkweise. Derzufolge ist wahr, was die Sinne unmittelbar, evident und unwidersprechlich darbieten. Dabei müssen nur bestimmte Bedingungen eingehalten werden, die verhindern sollen, daß man sich durch die Sinne täuschen läßt. Prinzipiell aber liefern die Sinne Wahrheit. Auch von dem letztgenannten Wahrheitskriterium läßt sich Augustin beeindrucken. Freilich nimmt er hier eine Modifikation vor. Die neuere Akademie, deren Anhänger Augustin gewesen war, hatte mit guten Gründen die Evidenz der »kataleptischen Vorstellungen« bestritten. Damit hatte sie eine radikale Skepsis gegenüber der Möglichkeit von Wahrheit in Gang gebracht. Augustin macht sich diese Kritik der Sinneserfahrung zu eigen, freilich ohne den Evidenzgedanken völlig zu verwerfen. Er entdeckt die Evidenz neu - im Bewußtsein nämlich, das bestimmte Gegebenheiten und Sachverhalt« unwidersprechlich bereithält. Im Denken des Menschen sind ganz deutlich Strukturen, Normierungen und klar zu wissende Einzeldata vorgeprägt und daher hervorholbar. Sie allein sind »evident«. (Fs)

92b Mit solchen Bewußtseinstatsachen läßt er zum Beispiel die Diskussion im Dialog anheben: »Weißt du, daß du lebst?« oder »Wir wollen glücklich sein«. Derartige elementare Gewißheiten finden sich zahlreich: »So wie die Tatsache, daß wir leben, nicht nur wahr, sondern auch gewiß ist, so ist vieles wahr und gewiß« (enchir. 7,20). Die methodische Regel der Wahrheitsfindung in bezug auf Ungewisse Meinungen besteht nach Augustin darin, von solchen Gewißheiten auszugehen und von da aus Schritt um Schritt in logisch schlüssiger Weise ins Ungewisse vorzudringen. So bemerkt er etwa in den Vorbemerkungen zu De Trinitate (2,2): »Wenn du in meinen Schriften etwas findest, was dir nicht gewiß zu sein scheint, dann nimm es als sichere Wahrheit erst an, wenn dir seine Gewißheit einleuchtet.« Der Ausgangspunkt schon muß gesichert sein, wenn Wahrheit überhaupt zutage treten soll. Als Weiterung solch gewisser Einsichten folgt: »Wenn aber mit wahren und gewissen Sätzen solche, die noch ungewiß sind, in folgerichtigem Zusammenhang verbunden werden, dann müssen auch diese (bisher Ungewissen Sätze) unbedingt gewiß werden« (doctr. christ. 2,34,52). (Fs)

93a Mag die Anregung zur augustinischen Evidenztheorie auch von der Stoa gekommen sein: ihre inhaltliche Beziehung auf »Bewußtseinstatsachen« ist jenseits der Denkmöglichkeiten der Stoa und hat mit den kataleptischen Wahrnehmungen nichts mehr gemein. Hier schlägt vielmehr originär platonisches Denken durch: mit solchen Argumenten hatte schon Sokrates sich gegen den Relativismus der Sophisten zur Wehr gesetzt. Mit dem Selbstbewußtsein des Menschen sind bestimmte apriorische Grundstrukturen mitgegeben. Das Wissen darum stellt zugleich die Grundlage der platonischen Lehre von den ewigen Ideen her. Bei den Stoikern hingegen, wie übrigens auch bei Aristoteles, ist die Seele eine »leere Tafel«, in die die Wahrnehmungen eingeschrieben werden. Bei Augustin ist sie gerade dies nicht, hat sie vielmehr von vornherein inhaltliche Bestimmungen in sich aufgenommen, die als Bewußtseinstatsachen wieder hervorgeholt und evident gemacht werden können. Dieser neu gewonnenen Sicht evidenter Wahrheit ordnet sich auch der Konsenszwang unter: Was unter Bezug auf das in jedem einzelnen unmittelbar einleuchtend Wahre aufgefunden wird, das wird durch die Zustimmung aller abgesichert. Damit überschreitet die augustinische Methode des »Lehrgesprächs« jede bloß pädagogische Intention: es dient nicht primär der Vermittlung von längst schon Gedachtem, sondern der Entwicklung des philosophischen Gedankens selbst. (Fs)

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