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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Ratzinger, Einführung in das Christentum

Titel: Verum quia factum

Index: Verum quia factum, Verum quia faciendum

Kurzinhalt: 'Verum quia factum', dieses Programm, das den Menschen auf die Geschichte als Ort der Wahrheit weist, ...

Text: b) Das zweite Stadium: Die Wende zum technischen Denken.
56a »Verum quia factum«, dieses Programm, das den Menschen auf die Geschichte als Ort der Wahrheit weist, konnte für sich allein freilich nicht genügen. Zur vollen Wirkung kam es erst, als es sich mit einem zweiten Motiv verband, das, wiederum gut 100 Jahre später, Karl Marx formuliert hat in seinem klassischen Satz: »Die Philosophen haben bisher die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.« Die Aufgabe der Philosophie wird damit nochmal grundlegend neu bestimmt. In die Sprache der philosophischen Tradition übertragen hieße diese Maxime, dass an die Stelle des »Verum quia factum« - erkennbar, wahrheitsträchtig ist das, was der Mensch gemacht hat und was er nun betrachten kann - das neue Programm tritt »Verum quia faciendum« - die Wahrheit, um die es fortan geht, ist die Machbarkeit. Nochmal anders gewendet: Die Wahrheit, mit der der Mensch zu tun hat, ist weder die Wahrheit des Seins noch auch letztlich die seiner gewesenen Taten, sondern es ist die Wahrheit der Weltveränderung, der Weltgestaltung - eine auf Zukunft und Aktion bezogene Wahrheit. (Fs)

57a »Verum quia faciendum« - das will sagen, dass die Herrschaft des Faktum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße abgelöst wird durch die Herrschaft des Faciendum, des zu Machenden und Machbaren, und dass damit die Herrschaft der Historie verdrängt wird durch diejenige der Techne. Denn je mehr der Mensch den neuen Weg beschreitet, sich auf das Faktum zu konzentrieren und darin Gewissheit zu suchen, desto mehr muss er auch erkennen, dass sich selbst das Faktum, sein eigenes Werk, ihm weitgehend entzieht. Die Belegbarkeit, die der Historiker anstrebt und die zunächst im 19. Jahrhundert als der große Triumph der Historie gegenüber der Spekulation erscheint, behält immer etwas Fragwürdiges an sich, ein Moment der Rekonstruktion, der Deutung und der Zweideutigkeit, sodass schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die Historie in eine Krise geriet und der Historismus mit seinem stolzen Wissensanspruch fragwürdig wurde. Immer deutlicher zeigte sich, dass es das reine Faktum und seine unerschütterliche Sicherheit gar nicht gibt, dass auch im Faktum jedesmal noch das Deuten und seine Zweideutigkeit enthalten sind. Immer weniger konnte man sich verbergen, dass man abermals nicht jene Gewissheit in Händen hielt, die man sich zunächst, in der Abwendung von der Spekulation, von der Tatsachenforschung versprochen hatte. (Fs)

57b So musste sich mehr und mehr die Überzeugung durchsetzen, dass wirklich erkennbar dem Menschen zu guter Letzt nur das sei, was wiederholbar ist, was er sich im Experiment jederzeit neu vor Augen stellen kann. Alles, was er nur in sekundären Zeugnissen zu sehen vermag, bleibt Vergangenheit und ist trotz aller Belege nicht vollends erkennbar. Damit erscheint die naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Verbindung von Mathematik (Descartes!) und Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit. Aus der Verbindung von mathematischem Denken und Faktendenken resultiert der von der Naturwissenschaft bestimmte geistige Standort des modernen Menschen, der damit Zuwendung zur Wirklichkeit, insofern sie Machbarkeit ist, bedeutet1. Das Faktum hat das Faciendum, das Gemachte hat das Machbare und Wiederholbare, Nachprüfbare aus sich entlassen und ist nun um seinetwillen da. Es kommt zum Primat des Machbaren vor dem Gemachten, denn in der Tat: Was soll der Mensch schon mit dem bloß Gewesenen? Er kann seinen Sinn nicht darin finden, sich zum Museumswärter seiner eigenen Vergangenheit zu machen, wenn er seine Gegenwart bewältigen will. (Fs)

58a Damit hört, wie vorher die Historie, nun die Techne auf, eine untergeordnete Vorstufe der geistigen Entfaltung des Menschen zu sein, auch wenn sie in einem ausgesprochen geisteswissenschaftlich orientierten Bewusstsein noch immer einen gewissen Ruch von Barbarei behält. Von der geistigen Gesamtsituation her ist die Lage grundlegend geändert: Techne ist nicht länger ins Unterhaus der Wissenschaften verbannt oder richtiger: das Unterhaus ist auch hier das eigentlich Bestimmende geworden, vor dem das »Oberhaus« nur noch als ein Haus von adligen Pensionären erscheint. Techne wird zum eigentlichen Können und Sollen des Menschen. Was bis dahin zuunterst stand, steht jetzt zuoberst; zugleich verschiebt sich noch einmal die Perspektive: War der Mensch zuerst, in Antike und Mittelalter, dem Ewigen zugewandt gewesen, dann in der kurzen Herrschaft des Historismus dem Vergangenen, so verweist ihn nun das Faciendum, die Machbarkeit, auf die Zukunft dessen, was er selbst erschaffen kann. Wenn er vordem, etwa durch die Ergebnisse der Abstammungslehre, resigniert festgestellt haben mochte, dass er von seiner Vergangenheit her nur Erde, bloßer Zufall der Entwicklung ist, wenn er von solcher Wissenschaft desillusioniert war und sich degradiert erschien, so braucht ihn das jetzt nicht mehr zu stören, denn nun kann er, von wo auch immer er kommt, entschlossen seiner Zukunft entgegensehen, um sich selbst zu dem zu erschaffen, was er will; es braucht ihm nicht mehr als Unmöglichkeit zu erscheinen, sich selbst zum Gott zu erschaffen, der nun als Faciendum, als das Machbare, am Ende und nicht mehr als Logos, als Sinn, am Anfang steht. Das wirkt sich übrigens heute bereits ganz konkret in der Form der anthropologischen Fragestellung aus. Wichtiger als die Abstammungslehre, die praktisch schon wie etwas Selbstverständliches hinter uns liegt, erscheint heute bereits die Kybernetik, die Planbarkeit des neu zu erschaffenden Menschen, sodass auch theologisch die Manipu-lierbarkeit des Menschen durch sein eigenes Planen ein wichtigeres Problem darzustellen beginnt als die Frage der menschlichen Vergangenheit - obwohl beide Fragen nicht voneinander trennbar sind und in ihrer Richtung sich weithin gegenseitig bestimmen: Die Reduktion des Menschen auf ein »Faktum« ist die Voraussetzung für sein Verständnis als ein Faciendum, das aus Eigenem in eine neue Zukunft geführt werden soll. (Fs)

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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Thomas, F1_016

Titel: Wahrheit - Verstand

Index: Die Wahrheit ist im Verstande

Kurzinhalt: Wie man gut das nennt, worauf das Strebevermögen zielt, so nennt man das wahr, worauf der Verstand geht. Zwischen dem Strebevermögen und dem Verstande oder jedwedem Erkennen besteht aber ein Unterschied

Text: Respondeo ANTWORT: Wie man gut das nennt, worauf das Strebevermögen zielt, so nennt man das wahr, worauf der Verstand geht. Zwischen dem Strebevermögen und dem Verstande oder jedwedem Erkennen besteht aber ein Unterschied. Denn die Erkenntnis richtet sich darnach, wie das Erkannte im Erkennenden ist, das Strebevermögen aber darnach, wie das Strebende sich dem erstrebten Ding selbst zuneigt. Der Zielpunkt des Strebevermögens, das Gute, liegt also in dem erstrebten Ding. Der Zielpunkt des Erkennens aber, das Wahre, liegt in dem Verstande selbst. (79; Fs) (notabene)

Wie aber das Gute im Ding ist, soweit dieses auf das Strebevermögen hingeordnet ist - weshalb auch das Gutsein von dem begehrten Ding her auf das Begehrungsvermögen übertragen wird, dementsprechend das Begehrungsvermögen gut heißt, weil es auf ein Gut geht -, so wird notwendig das Wahrsein, da das Wahre im Verstande ruht, insofern er den erkannten Dingen gleichgeformt wird, vom Verstande her auf das erkannte Ding übertragen, so daß nun auch das erkannte Ding wahr heißt, insofern es eine Hinordnung zum Verstande hat. (79; Fs) (notabene)

Das erkannte Ding aber kann eine Hinordnung zum Verstande aufweisen an sich oder zufällig. An sich hat es eine Hinordnung zu dem Verstande, von dem es seinem Sein nach abhängt; und zufällig zu dem Verstande, von dem es erkannt werden kann. Ähnlich könnten wir sagen, ein Haus hat zum Verstande des Künstlers eine Beziehung an sich, eine zufällige aber zu jenem Verstande, von dem es nicht abhängt. Das Urteil über ein Ding wird nun nicht aus dem gebildet, was ihm zufällig, sondern aus dem, was ihm an sich zukommt. So heißt jedes Ding schlechthin wahr durch seine Hinordnung zum Verstande, von dem es abhängt. So werden auch die Kunstdinge durch ihre Hinordnung auf unseren Verstand wahr genannt. Denn das Haus wird wahr genannt, das Ähnlichkeit gewinnt mit der Form, welche im Geiste des Künstlers vorliegt. Und ein Satz heißt wahr, soweit er Zeichen einer wahren Erkenntnis ist. Gleicherweise heißen die Naturdinge wahr, soweit sie eine Ähnlichkeit erreichen mit den Wesensbildern im Geiste Gottes . Denn der Stein heißt wahr, der die dem Stein eigene Natur erreicht auf Grund der im Geiste Gottes vorhergefaßten Idee. So ist also Wahrheit ursprünglich im Verstande, in zweiter Linie aber in den Dingen, sofern diese zum Verstande als ihrem Ursprung bezogen sind. (79f; Fs)

Dementsprechend wird Wahrheit verschieden genommen. Augustinus sagt: 'Wahrheit ist das, worin sich das offenbart, was ist', und Hilarius: 'Das Wahre ist Erklärung und Offenbarung des Seins.' Und das eignet der Wahrheit, sofern sie im Verstande ist. Auf die Wahrheit aber, die dem Ding in seiner Hinordnung zum Verstande zukommt, geht die Bestimmung des Augustinus: 'Wahrheit ist eine feste Ähnlichkeit mit dem Urgrund ohne jede Unähnlichkeit.' Ebenso eine Bestimmung des Anselmus: 'Wahrheit ist dem Geiste allein faßbare Richtigkeit', denn richtig ist, was mit dem Urgrund übereinstimmt. Eine Begriffsbestimmung des Avicenna lautet: 'Wahrheit jedweden Dinges ist die Eigentümlichkeit seines Seins, die ihm unabänderlich bestimmt ist.' Die Aussage aber, daß Wahrheit vollkommene Angleichung von Sache und Verstand ist. kann beiden Auffassungen zugehören [22]. (80f; Fs)

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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Lonergan, Topics in Education

Titel: Wahrheit - medium in quo

Index: Verum est medium in quo ens cognoscitur

Kurzinhalt: In all cases, one is knowing by the true. The truth is the medium in which one knows being. Verum est medium in quo cognoscitur ens

Text: 48/7 There is a fourth stage of the notion of objectivity that combines elements from the other three and brings us back to the starting point equipped with what we have learnt on the way. Consider the set of true judgments: A is, B is , C is , D is . Again, A is not B nor C nor D; B is not C nor D, and so forth. And finally, I am A . In all cases, one is knowing by the true. The truth is the medium in which one knows being. Verum est medium in quo cognoscitur ens. And if A is, A is a being; if B is, it is a being; if C is, it is a being. A is not B nor C. There is a series of real distinctions between A , B, C, and D, and they are known through comparative negative propositions. A is not B. Saying 'I am A ' is the same as saying 'I am a knower.' I am the one who makes these judgments, and I have been named A . If that set of judgments is true, what is an object? An object is a being that is. There are two, three, four objects if there is a corresponding number of relevant negative comparative propositions ( A is not B, and so on). There is a subject really distinct from objects if I am one of the objects that is really distinct from the others. They are all on the level of truth and being. One is knowing a universe of objects and the subject as one of the objects in the universe. That is the statement, based upon being and truth, of what is true in the statement when you say that the objective is what is out there. If what is out there is, it is an object; if what is out there is rationally affirmed, it is a reality, and my knowledge of it is rational. But if I consider it real simply in virtue of my infantile notion of reality, then I am subscribing implicitly to quite a different philosophy from a philosophy which insists upon truth and being. If I insist on retaining as absolutely valid the notion of reality that I formed in infancy, then I am contracting the universe apprehended by Aquinas within the horizon of my earliest steps in seeking knowledge. (175f; Fs)

Cf.:
Summa theologiae, 1, q. 3, a. 4, ad am.
Truth is the medium in which we know the real: verum est medium in quo cognoscitur ens. This is a fundamental point in all we have been saying about knowing.

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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Lonergan, Bernard J.F., The Trinune God: Systematics

Titel: Wahrheit: Sein, Medium

Index: Wahrheit als Medium, in dem Sein erkannt wird

Kurzinhalt: For this reason, the true is said to be the medium in which being is known.

Text: 203e Furthermore, being and the true are convertible; whatever are convertible are not different in species; so being is also attained by the same act by which the true is attained. For this reason, the true is said to be the medium in which being is known. (Fs)

203f But the true is one thing, and sufficient evidence is another ; so the act by which evidence is grasped as sufficient is different from the act by which the true is affirmed and the false is denied. It is quite clear that these two acts are connected to each other by an intellectual emanation, for we are able to affirm the true because we have grasped evidence as sufficient. 131 56 I have explained precisely what evidence is sufficient in chapter 10 of Insight.

Therefore, as regards the second operation of intellect, by which we respond to the question, Is it? one must distinguish very carefully between the act of understanding by which the sufficiency of evidence is grasped and the act of affirming the true, which is a word uttered within. (Fs)

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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Thomas, Aquin von3, Von der Wahrheit

Titel: Wahrheit - Identität, Definition

Index: Wahrheit: dreifache Definition; Anpassung des Erkennenden an das Erkannte

Kurzinhalt: Demgemäß findet man, daß Wahrheit oder Wahres auf dreifache Art definiert werden. Erstens gemäß dem, was dem Sinngehalt von Wahrheit voraufgeht und worin Wahres grundgelegt ist.

Text: 9a Jede Erkenntnis aber vollzieht sich durch eine Anpassung des Erkennenden an das erkannte Ding, und zwar derart, daß die besagte Anpassung Ursache der Erkenntnis ist. Der Gesichtssinn beispielsweise erkennt eine Farbe dadurch, daß er in einen der Art dieser Farbe gemäßen Zustand gerät. Das erste Verhältnis des Seienden zum Verstand besteht also darin, daß Seiendes und Verstand zusammenstimmen, welche Zusammenstimmung Angleichung des Verstandes und des Dinges genannt wird, und darin vollendet sich der Sinngehalt von "Wahres". Dies also ist es, was "Wahres" zu "Seiendes" hinzufügt: die Gleichförmigkeit oder Angleichung eines Dinges und des Verstandes. Dieser Gleichförmigkeit folgt, wie gesagt, die Erkenntnis des Dinges. So also geht die Seiendheit eines Dinges dem Sinngehalt von Wahrheit vorauf, die Erkenntnis aber ist eine gewisse Wirkung der Wahrheit. Demgemäß findet man, daß Wahrheit oder Wahres auf dreifache Art definiert werden. Erstens gemäß dem, was dem Sinngehalt von Wahrheit voraufgeht und worin Wahres grundgelegt ist. So definiert Augustinus im Buch "Alleingespräche": "Wahres ist das, was ist", und Avicenna im 11. Buch der "Metaphysik": "Die Wahrheit jedweden Dinges ist die Eigenart seines Seins, welches ihm dauerhaft eignet", und ein gewisser Autor1 so: "Das Wahre ist die Ungeteiltheit von Sein und dessen, was ist". Zweitens wird definiert gemäß dem, worin der Sinngehalt von "Wahres" seine vollendete Form erreicht. Und so sagt Isaak2: "Wahrheit ist die Angleichung eines Dinges und des Verstandes", und Anselm3 im Buch: "Von der Wahrheit": "Wahrheit ist die Rechtheit, die nur durch den Geist erfaßt werden kann" - von dieser Rechtheit ist nämlich im Sinne einer gewissen Angleichung die Rede -; und der Philosoph sagt im 4. Buch der Metaphysik: Wir definieren das Wahre, indem wir sagen: "wenn man sagt was ist, ist, oder was nicht ist, ist nicht". Drittens wird das Wahre definiert gemäß der ihm folgenden Wirkung, und so sagt Hilarius4: "Wahres zeigt Sein an und macht es augenscheinlich", und Augustinus im Buch: "Von der wahren Religion": "Wahrheit ist, wodurch sich das zeigt, was ist", und in demselben Buch: "Wahrheit ist das, demgemäß wir über die niederen Dinge urteilen". (Fs) (notabene)

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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Leppin, Volker, Wilhelm von Ockham

Titel: Definition - Ockham

Index: Wahrheit, Definition: "Wahrheit ist eine wahre Proposition und Falschheit ist eine falsche Proposition"; "veritas est propositio vera et falsitas est propositio falsa";
Suppositionstheorie

Kurzinhalt: Diese klassische Wahrheitsdefinition stellte das Verhältnis zwischen innermentaler und extramentaler Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Dies änderte sich im Verständnis der neu aufgekommenen Logikbewegung völlig.

Text: 59a Eine solche Zentralstellung der Logik in der Wissenschaftstheorie war aber überhaupt nur deswegen möglich, weil sich für Ockham verschoben hatte, wie Wahrheit zu fassen sei: Wahrheit wurde traditionell seit Averroes und in der christlichen Scholastik seit Wilhelm von Auxerre (ca. 1140/50-1231) und Philipp dem Kanzler (ca. 1160/85-1236)1 als die adaequatio intellectus et rei verstanden, als die Angleichung des Verstandes an die erkannte Sache. Diese klassische Wahrheitsdefinition stellte das Verhältnis zwischen innermentaler und extramentaler Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Dies änderte sich im Verständnis der neu aufgekommenen Logikbewegung völlig. Für sie war Ausgangspunkt jeden Wahrheitsverständnisses der Satz, die Proposition. (Fs) (notabene)

59b Entsprechendes ist auch bereits für den Ockham der Oxforder Zeit vorauszusetzen, auch wenn die klassische Definition erst etwas später, in der Summe der Logik zu finden ist: "Wahrheit ist eine wahre Proposition und Falschheit ist eine falsche Proposition."2 Diese satzhafte Fassung der Wahrheit hängt unmittelbar mit der Zentralstellung der Logik in der Wissenschaftstheorie zusammen: Wenn Wahrheit nicht anders zu fassen ist denn als wahrer Satz, so kann auch entscheidendes Instrument zur Erkenntnis von Wahrheit nur dasjenige sein, das auf den Zusammenhang von Sätzen angewandt wird, eben die Logik. Alle Erkenntnis von Wahrheit wird mit einem solchen Verständnis letztlich zu einem innermentalen Geschehen, in dem Sätze auf Sätze bezogen werden. Von hier aus gewinnt der Ansatz Ockhams eine ungeheure Modernität: Das Wahre und Wissbare wird auf das dem Verstand unmittelbar Zugängliche zurückgeführt, ohne Rückgriff auf extramentale Voraussetzungen. (Fs)

59c Allerdings wird man die Absetzung Ockhams vom traditionellen adaequatio-Konzept nicht überpointieren dürfen. Unverkennbar ist zwar der Wille zu einem neuen Verständnis da, aber es handelt sich hier lediglich um eine Akzentverlagerung, denn die Wahrheit eines wahren Satzes kann wiederum nicht anders definiert werden als über den Bezug auf die außermentale Realität. Hierzu dient die Suppositionstheorie, die Ockham wiederum von den neuen Logikern übernommen hat: Insbesondere Wilhelm von Sherwood (ca. 1200/10-ca. 1266/72) und Petrus Hispanus (ca. 1226-1277) hatten in ihren Logikkommentaren die Theorie von der Supposition als Erklärung des Zusammenhanges zwischen sprachlichem Zeichen und extramentaler Realität entwickelt. Mit dieser Theorie des Supponierens, also des "Stehens für etwas" wurde es ermöglicht, bei der Analyse eines Satzes genau die jeweilige semantische Funktion der einzelnen Satzteile, das heißt der Begriffe, insofern sie in einem Satz grammatikalisch anderen Begriffen zugeordnet werden, zu bestimmen, also die Frage zu klären, ob sie für ein Einzelding in der extramentalen Realität, für eine bloße Lautfolge oder für einen Allgemeinbegriff stünden. (Fs)

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Stichwort: Wahrheit

Autor, Quelle: Sertillanges A. D. (Gilbert), Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Ewige Wahrheiten - Zukunft, Vergangenheit

Index: Wahrheit: Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft: W. als Verhältnis

Kurzinhalt: Die Wahrheit ist nichts Absolutes; sie ist ein 'Verhältnis', und zwar das Verhältnis des Seins zur Erkenntnis. Wenn es also keine Erkenntnis gibt, gibt es auch keine Wahrheit; wenn es kein Sein gibt, gibt es ebenfalls keine Wahrheit; ...

Text: 114 Diese Lehre von der Wahrheit wird noch deutlicher werden, wenn wir die Gottes- und die Erkenntnisfrage aufgreifen. Sie wird schon klarer, wenn wir sehn, wie Thomas [ausgehend von seinen Prinzipien] die berühmte Frage nach den 'ewigen Wahrheiten 'behandelt. Die Frage nach den ewigen Wahrheiten hat der augustinische Platonismus im Mittelalter mit einer solchen Leidenschaft gestellt, daß Thomas nicht gut an ihr vorübergehen konnte. 'Nichts ist ewiger als das Gesetz des Kreises', hatte Augustin gesagt; 'nichts ist ewiger, als daß zwei und drei gleich fünf ist1.' 'Man mag die wahren Dinge zerstören, die Wahrheit bleibt2', fügt Anselm hinzu. (61f; Fs; tblVrw)

115 Sagt man nicht mit Recht, daß die Allgemeinbegriffe außerhalb von Raum und Zeit stehn? Was ist nun allgemeiner als die Wahrheit? Die Wahrheit hat also weder Anfang noch Ende; was heute ist, von dem ist immer wahr gewesen, daß es sein werde, und es wird immer wahr sein, daß es gewesen ist, so daß, wenn man annähme, die Wahrheit habe angefangen oder höre auf, immer noch dies gelten würde, daß es in der angenommenen Vergangenheit oder Zukunft keine Wahrheit gäbe, und das wäre ja selbst eine Wahrheit; so sehr ist es also wahr, daß die Wahrheit von allem unabhängig und daß sie ewig ist. 'Mag man sagen: die Wahrheit hat einen Anfang und ein Ende, mag man behaupten, sie hat sie nicht: kein Prinzip und kein Ende schließen sie ein3.' (62; Fs) (notabene)

116 Diese dunkeln Gedanken hat der heilige Thomas mit einer vollendeten Klarheit aufgehellt. Die Wahrheit ist nichts Absolutes; sie ist ein 'Verhältnis', und zwar das Verhältnis des Seins zur Erkenntnis. Wenn es also keine Erkenntnis gibt, gibt es auch keine Wahrheit; wenn es kein Sein gibt, gibt es ebenfalls keine Wahrheit; (62; Fs) (notabene)

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