Inhalt


Stichwort: Tugend

Autor, Quelle: Rhonheimer, Verantwortung

Titel:

Index: Tugend: Keuschheit, Temperantia; Thomas

Kurzinhalt: ... sagt Thomas v. Aquin, die sinnlichen Strebungen seien "von Natur aus darauf angelegt, der Vernunft zu gehorchen":

Text: 79c Dazu zunächst folgende Bemerkung: Der Leib und seine sexuelle Triebstruktur sind nicht "Natur" im Sinne der Natur, die uns umgibt, "in der wir leben" oder "in der wir uns befinden" und "auf die wir handelnd einwirken". Die sexuelle Triebstruktur des menschlichen Leibes gehört nicht zu einer solchen Objekt-Welt oder Objekt-Natur, sondern zu jener Natur, die das wesentliche, substantielle Sein des Menschen mitkonstituiert und die deshalb zur Subjektivität des Menschen dazugehört. Wir sind ja, wie gesehen wurde, nicht einfach Geistwesen, die sich "in einer leiblichen Umwelt befinden". Wir "haben" nicht einen Leib, sondern wir sind Leib. Die sexuellen Triebe dieses Leibes sind also dazu berufen, durch das Leben des Geistes informiert zu werden, an diesem Leben teilzuhaben, das heißt: selbst Subjekt dieses geistigen Lebens zu werden. Daraus folgt: Akte prokreativer Verantwortung bestehen nicht in irgendeiner Art rationaler oder willentlicher "Kontrolle", "Leitung" oder gar "Unterdrückung" sexueller Triebe. Sexualität ist nicht einfach Objekt prokreativ verantwortlichen Handelns, sondern selbst Subjekt eines solchen Handelns und damit tragender Bestandteil desselben. Handlungen des Typs "prokreative Verantwortung" sind nicht Handlungen, die sich einfach auf Sexualität als ihren Gegenstand beziehen, sondern Handlungen, die selbst irgendwie Akte des Sexualtriebes selbst sind. Die leib-geistige Wesenseinheit des Menschen verlangt gerade, daß das Sexualverhalten - die sexuellen Akte selbst - durch die Erfordernisse der Verantwortung informiert seien. (Fs)
80a Dies gilt generell für die sittliche Tugend der temperantia (die Tugend des "Maßes"), zu der ja die Keuschheit gehört. Die Tugend der temperantia meint Modifizierung des Begehrens nach dem Maß der Vernunft; sie meint nicht, dieses Begehren zu unterdrücken, zu minimalisieren oder gar auszuschalten, sondern in dieses "das Siegel der Vernunft einzuprägen"1, - und damit auch das Siegel der Erfordernisse der Vernunft, um so das sinnliche Streben in der Weise zu vervollkommnen, daß es selbst verfolgt, was der Vernunft, d.h. was prokreativer Verantwortung entspricht. (Fs)

80b Im Anschluß an Aristoteles sagt Thomas v. Aquin, die sinnlichen Strebungen seien "von Natur aus darauf angelegt, der Vernunft zu gehorchen": "Und so können das konkupiszible und das iraszible Strebevermögen Subjekt menschlicher Tugend sein. Insofern sie nämlich an der Vernunft teilhaben, sind sie Prinzip der menschlichen Handlung"2. Der springende Punkt der Tugenden des Maßes und des Starkmutes besteht also gerade darin, daß sie das sinnliche Begehren zu vernunftgemäßen Handlungsprinzipien werden lassen, d.h. zu handlungsauslösenden und handlungsleitenden Ursachen, so daß die Anforderungen von Vernünftigkeit gerade mittels der sinnlichen Antriebe das Handeln gestalten. Das ist gleichbedeutend mit der genannten Integration dieser Antriebe in den Kontext der menschlichen Handlung, in Übereinstimmung mit ihrer grundlegenden anthropologischen Wahrheit (leib-geistige Wesenseinheit des Menschen). Dies trifft offensichtlich nicht auf jene leiblichen Funktionen zu, die nun eben nicht "von Natur aus darauf angelegt sind, der Vernunft zu gehorchen", wie das Schlagen des Herzens, der Blutkreislauf, die Funktionen der Leber, des Verdauungsapparates usw. Diese können nie Prinzipien menschlicher Handlungen sein (sondern höchstens ihr Gegenstand, z.B. Gegenstand von ärztlichen Handlungen, Eingriffen usw.), denn sie sind simple organische Funktionen des Leibes. Freilich sind auch in der Sexualität solche rein organischen Funktionen impliziert. Aber der Sexualtrieb selbst ist viel mehr als eine solche Funktion. Er ist ein der Herrschaft von Vernunft und Wille unterliegendes menschliches Streben, das zum Gegenstand hat, was wir ein menschliches Gut nennen, wie es das handelnde Subjekt in seinem freien, vernunftgeleitetem Willen entspringenden Handeln verfolgt. (Fs)

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Stichwort: Tugend

Autor, Quelle: Aristoteles,

Titel:

Index: Definition: Tugend (Aristoteles)

Kurzinhalt: 32/2 Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der (1107a) die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt

Text: Sechstes Kapitel

Dem Begriff nach ist die Tugend eine Mitte, dem Range nach ein Äußerstes. Grenzen der Anwendung der Kategorie der Mitte bei der sittlichen Beschreibung von Handlungen und Affekten.

32/2 Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der (1107a) die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und (5) des Mangels; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, daß das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird. (36; Fs)
Deshalb ist die Tugend nach ihrer Substanz und ihrem Wesensbegriff Mitte; insofern sie aber das Beste ist und alles gut ausführt, ist sie Äußerstes und Ende. (36; Fs)

33/2 Doch kennt nicht jede Handlung oder jeder Affekt eine (10) Mitte, da sowohl manche Affekte, wie Schadenfreude, Schamlosigkeit und Neid, als auch manche Handlungen, wie Ehebruch, Diebstahl und Mord, schon ihrem Namen nach die Schlechtigkeit in sich schließen. Denn alles dieses und ähnliches wird darum getadelt, weil es selbst schlecht ist, nicht sein Zuviel und Zuwenig. Demnach gibt es hier nie ein (15) richtiges Verhalten, sondern immer lediglich ein verkehrtes, und das Gute und Schlechte liegt bei solchen Dingen nicht in den Umständen, wie wenn es sich z. B. beim Ehebruch darum fragte, mit wem und wann und wie er erlaubt sei, sondern es ist überhaupt gefehlt, irgend etwas derartiges zu tun. (36; Fs)

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Stichwort: Tugend

Autor, Quelle: Rhonheimer, Tugend

Titel:

Index: Unterschied: moderne (McIntyre) - klassische Tugendethik

Kurzinhalt: Sittliche Tugend ist Potenzierung von Vernünftigkeit bezüglich des konkreten Handelns

Text: 24a Klassische Tugendethik ist jedenfalls weder nicht-kognitivistisch (sie behauptet also nicht, dass die Richtigkeit einer Handlungsweise einfach positiv zu bewertenden Motivationen entspringt und versteht "Tugend" als durchaus vernunftbezogenen Begriff1), noch kennt sie einen Gegensatz von Tugend und Pflicht. Tugend im klassischen Sinn versucht auch nicht einfach unsere gegebenen moralischen Intuitionen zu rechtfertigen und ist auch nicht in "neoaristotelischer" Weise an das jeweilige vorherrschende Ethos zurückgebunden. Als rationale Kategorie will Tugend auch unsere gegebenen und durch Erziehung, Gewohnheit, Ethos mitgeformten moralischen Intuitionen und Motivationen aufklären und sie gegebenenfalls verbessern. Anderseits reduziert klassische Tugendethik jedoch die Tugenden auch nicht, wie dies die neuzeitliche Moralphilosophie tut, auf bloß habituelle Aneignung von Prinzipien, Normen und Regeln, sondern ist ausgesprochene Glückslehre: sie versteht das Gute, Richtige, Gesollte immer im Hinblick auf das dem Erreichen wahren - wenn auch u. U. durchaus unvollkommenen - Glücks Zuträgliche. Klassische Tugendethik in aristotelischer Tradition versteht Tugend als jene emotionale bzw. affektive Verfasstheit des Subjekts, die (1) auf rational erkennbaren Prinzipien gründet und durch die (2) das Richtige, die Pflicht, das Sollen dann im Einzelfall erst adäquat erkennbar wird, weil sittliche Tugend die Affektivität vernunftgemäß disponiert und damit Vernünftigkeit im partikularen Handeln ermöglicht und sichert. (Fs)

24b Gerade dieser zweite Punkt ist das entscheidende Charakteristikum einer jeden echten Tugendethik. Gemäß einem gängigen, den Begriff der Tugend zur Trivialität herab stufenden Missverständnis, sind Tugenden einfach positiv zu bewertende Charaktereigenschaften2 oder, wie bereits erwähnt, Dispositionen der Erfüllung moralischer Regeln oder Normen, wichtig vor allem für Kinder, die noch nicht über die rationale Kompetenz des Verstehens moralischer Regeln und des differenzierten Umgangs mit ihnen verfügen3. Der springende Punkt ist nun gerade, dass einem nicht-trivialen Begriff der sittlichen Tugend gemäß "Tugend" nicht in einer Disposition, affektiven Verfassung oder Neigung besteht, "das jeweils Richtige zu tun", sondern darin, das Richtige aus affektiver Neigung zu tun, d. h. auf Grund der affektiven Verfassung oder Neigung jeweils das Richtige zu treffen. Wäre Tugend nur im trivialen Sinne zu verstehen als Disposition, das jeweils Richtige zu tun, so bedeutete dies ja, dass Tugend selbst gar keine Grundlage für die Bestimmung dieses "Richtigen" sein kann, da das jeweils der Tugend Gemäße vom "Richtigen" her bestimmt würde. Gemeint ist aber gerade das Umgekehrte: die tugendhafte Disposition ermöglicht es überhaupt erst, das im Konkreten Richtige zu erkennen und auch effektiv zu tun, weil Tugend praktische Vernunft affektiv leitet und sichert. Sittliche Tugend ist nicht einfach nur die affektive Verfassung oder Neigung, das jeweils Richtige (die "Pflicht") zu tun, sondern eine Neigung oder affektive Verfassung, durch die das hier und jetzt Richtige überhaupt erst adäquat als "Gutes" erfasst und im konkreten Tun auch effektiv getroffen wird (davon gibt es dann natürlich keine Theorie bzw. universale normative Aussagen). Sittliche Tugend ist Potenzierung von Vernünftigkeit bezüglich des konkreten Handelns. (Fs) (notabene)

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Stichwort: Tugend

Autor, Quelle: Rhonheimer, Tugend

Titel:

Index: Tugendethik vs. Diskursethik, Utilitarismus, Konsequentialismus

Kurzinhalt: Diskursethik ... wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen

Text: 18a Pointiert normenethische Ansätze philosophischer Art finden sich gegenwärtig vor allem in der Gestalt des Utilitarismus und der Diskursethik. Die Kantische Ethik hingegen ist nicht so sehr eine Normenethik, sondern eher eine Maximenethik1. Allerdings teilt sie mit Utilitarismus und Diskursethik die zentrale Charakteristik jeglicher Normenethik, Handlungen aus der Beobachterperspektive zu beurteilen, von einem Standpunkt außerhalb des handelnden Subjekts also. Dies ist natürlich wiederum Ausdruck der typisch modernen Entgegensetzung von Moralität und Eigeninteresse, die dazu führt, Moral dort beginnen zu lassen, wo das eigene Interesse durch die Interessen der anderen eingeschränkt wird. Tugendethiken in klassischer Tradition hingegen sind eudämonistisch und damit Ethiken der "Ersten Person", d.h. für sie lautet die grundlegende ethische Frage, worin das für den Handelnden Gute besteht, und zwar aus der Perspektive des Handelnden (was, wie bereits gesagt, nichts mit Egoismus zu tun hat, da in einem richtig, nicht hedonistisch fehl interpretierten Eudämonismus auch das Gut des anderen zum Gut des Handelnden gehört2). Dennoch bleiben bei Kant die subjektiven Handlungsmaximen zentral und sie drücken Wünsche und Interessen des Handelnden auf einer allerdings noch vor-moralischen Ebene aus. Dass es ein subjektives Interesse am Guten gibt, das nicht selbst wiederum "egoistisch" sondern bereits moralisch sein könnte, ist auch für Kant undenkbar. (Fs) (notabene)

18b Utilitarismus und Diskursethik - auch Mischformen sind möglich: vertragsethische Theorien tragen z. B. utilitaristische und diskursethische Züge - verfehlen, in je verschiedener Weise, aber konsequenter als Kantische Ethik, was hier als die "Perspektive der Moral" verstanden wird. Wie zu zeigen ist, klammert der Utilitarismus (oder Konsequentialismus) mit seinem eventistischen Begriff von Praxis gerade den handelnden Menschen zugunsten der Optimierung der durch sein Handeln verursachten Folgen und Sachverhalte aus. Konsequentialisten3 gehen davon aus, dass der Handelnde verpflichtet ist, jeweils jene Handlung auszuführen, durch die er voraussichtlich die Folgen für alle Betroffenen zu optimieren vermag. Konsequentialisten halten es nicht nur für evident, dass eine Handlung mit besseren Folgen einer solchen mit weniger guten Folgen vorzuziehen ist; ihnen gemäß ist dies auch der einzige Gesichtspunkt, unter denen die sittliche Richtigkeit von Handlungen sinnvollerweise beurteilt zu werden vermag. Mit tugendethischen Argumenten können sie deshalb wenig anfangen, denn für einen Konsequentialisten kann Tugend höchstes eine Name für die Disposition sein, jeweils die richtige, d.h. folgenoptimale Handlung auszuführen. Konsequentialisten kommen zu dieser Auffassung, weil sie gerade ausklammern, was für einen Tugendethiker zentral ist, dass nämlich das Handlungssubjekt selbst bzw. seine Handlungswahl gegenüber den von seinen Handlungen betroffenen Subjekten einen privilegierten Status besitzt, so dass Urteile der folgenden Art möglich sind: Eine Handlung x (z. B. das Töten eines Menschen in einem Erpressungsfall, um damit den Tod von vielen anderen zu verhindern) hätte zwar für alle Betroffenen bessere Folgen als die Unterlassung dieser Handlung; dennoch darf ich sie nicht ausführen, weil ich durch ihre Ausführung eine Ungerechtigkeit begehen und ein ungerechter Mensch würde. Aus konsequentialistischer Warte sind solche Urteile nicht möglich, da "gerecht" immer nur auf Grund der Handlungsfolgen für alle Betroffenen beurteit werden kann, wobei Handlungen und Unterlassungen gleicher Status zuerkannt wird. Kritiken tugendethischer Kritik am Konsequentialismus sind natürlich genau dann zirkulär, wenn sie bereits einen konsequentialistischen Begriff von "Tugend" voraussetzen4. In der Tradition des Utilitarismus besitzt also der Konsequentialismus die Eigenart, als "moralisch" nur gelten zu lassen, was die Interessen aller möglicherweise Betroffenen einschließt. Konsequentialistisch begründete moralische Normen reflektieren dann notwendigerweise diesen intersubjektiven Standpunkt. (Fs) (notabene)

19a Diskursethische Ansätze auf der anderen Seite scheinen von Anfang an den moralischen Diskurs des Einzelsubjekts zugunsten des intersubjektiv erzielten Konsenses bezüglich der Etablierung von gesamtgesellschaftlich, für alle Betroffenen akzeptierbaren Normen zurückzustellen oder gar für unmöglich zu erachten. Die Diskursethik setzt damit zum einen als moralische Subjekte konstituierte Diskursteilnehmer bereits voraus (ohne dafür allerdings eine ethische Theorie anzubieten, es sei denn, wie bei Habermas, in der Form sozialpsychologischer Entwicklungstheorien, oder, im Falle Apels, in einer, von Habermas wiederum abgelehnten, transzendentalen Analyse des Apriori kommunikativer Praxis, das als ethische Letztbegründung verstanden wird5) und verlangt zum andern nach einem die diskursethische Etablierung von Normen ergänzenden Anwendungsdiskurs, welcher den Charakter eines Klugheitsdiskurses besitzt6, in dem dann durchaus z. B. auch konsequentialistische Gesichtspunkte zum Tragen kommen können und - aber gewissermaßen zu spät, als dass die Diskursethik dazu noch etwas zu sagen hätte - sämtliche moralischen Grundfragen auftauchen. (Fs) (notabene)

20a Die Diskursethik manifestiert symptomatisch die Signatur moderner Moralphilosophie, insofern sie als kognitivistische Ethik davon ausgeht, dass unter neuzeitlichen Bedingungen einer "nachmetaphysischen" Epoche praktische Vernunft nicht mehr eine Antwort auf das "für mich Gute" zu finden vermag, sondern allein noch für das intersubjektiv und durch Konsens feststellbare "Was soll man tun?" zuständig sein kann7. Das führt folgerichtig zur Einsicht, dass ein Diskursethik eigentlich erst als Diskurstheorie des Rechts und der Politik durchführbar ist8, das Diskursprinzip selbst dann gar nicht mehr als Moralprinzip verstanden wird9, was wiederum zur Diagnose einer "definitiven Auflösung" der Diskursethik geführt hat10. Damit zeigt sich jedoch: Diskursethik ist keine Ergänzung zur praktischen Vernunft des Einzelnen, sondern höchstens eine Theorie darüber, wie gesellschaftliche Geltung von sittlichen Normen - letztlich als rechtliche Normen - erzeugt werden kann. Damit wird sie zur politischen Ethik - eine Tendenz, die ihr auf Grund ihres nur intersubjektive Vernunft und entsprechendes verständigungsorientiertes Handeln als Rationalitätskriterium geltend lassenden Charakters von Anfang an innewohnte11. (Fs) (notabene)

20b Tugendethik braucht freilich mit der Diskursethik nicht prinzipiell in Konkurrenz zu treten. Sofern man die politisch-rechtsethische Logik der Diskursethik und damit ihre im Gegensatz zur Tugendethik intersubjektive Legitimationsbasis unterstreicht, handelt es sich nicht eigentlich um alternative Paradigmen. Aus der Sicht klassischer Tugendethik wird man jedoch feststellen müssen, dass die Diskursethik gerade den eigentlich fundamentalen Gegenstand der Ethik verfehlt: das handelnde Subjekt in seinem ursprünglichen Streben nach dem Guten und seinem Interesse an der Richtigkeit dieses Strebens und der entsprechenden praktischen Wahrheit seines konkreten Tuns. Diskursethische Gesichtspunkte sind für eine politische Ethik, die eher Institutionenethik und Rechtsethik als Tugendethik ist, durchaus einschlägig. Institutionelle politisch-ethische Diskurse sind wesentlich auf Konfliktlösung angelegt. Und genau das will die Diskursethik (während hingegen utilitaristische Rationalität Konflikte zugunsten rationaler Sozialtechnologie eigentlich weg-argumentiert). Diskursethik verlagert das klassische, noch bei Kant dominierende Thema des Konflikts zwischen falschen, egozentrischen, unvernünftigen und wahren Interessen - gleichsam Kant in Rousseau rückübersetzend - auf die Ebene des gesellschaftlichen Diskurses, in dem ein für alle zwanglos akzeptierbarer Konsens die Vernunft der Moral repräsentiert, die alle partikulare, dem bloßen (zumindest unaufgeklärten) self interest verhaftete Vernunft hinter sich lässt. Die diskursethischen Erfordernisse der zwanglosen und sich auf alle Betroffenen erstreckenden Akzeptabilität der voraussichtlichen Folgen einer allgemein geltenden Norm und der diskursiven und konsensgeprägten Einlösung von normativen Geltungsansprüchen in einer idealen Sprechsituation werden damit zu alles tragenden Moralprinzipien, welche allerdings durchaus die "Anwendung eines substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes"12 einschließen, eines Gesichtspunktes allerdings, so wäre zu ergänzen, der eher für die politischrechtliche Ebene relevant zu sein scheint. Denn er begründet nicht substantielle Auffassungen über das Gute, sondern ist eher ein Prinzip der politischen Gerechtigkeit, dem gemäß - etwa im Sinne von Rawls' "overlapping consensus" - nicht allgemein akzeptierte bzw. akzeptierbare Auffassungen über das Gute von der öffentlichen Geltung auszuschließen sind13. (Fs)

21a Als Tugendethik beschäftigt sich "Die Perspektive der Moral" gerade mit der aller Möglichkeit von intersubjektiven Diskursen und verständigungsorientiertem Handeln vorausliegenden Ebene. Diese Ebene umfasst ein Zweifaches: Die Bedingungen dafür, dass diskursives Verhalten, Verständigungspraxis, überhaupt möglich ist (denn sie ist, was die Diskursethik nicht leugnet, aber auch nicht thematisiert, nur unter Subjekten möglich, die bereits vorgängig als moralische Subjekte mit entsprechenden Überzeugungen und einem für alle verständlichen moralischen Sprache konstituiert sind14); und zweitens umfasst sie die grundlegenden möglichen Inhalte von solchen Diskursen. Diskurse ohne nicht-formale d.h. substantielle Rationalitätskriterien - vornehmlich, aber nicht ausschliesslich, Gerechtigkeitskriterien - sind nicht möglich, nicht einmal im politischen Kontext. Dazu kommt dann aber noch eine dritte Ebene, die jedem normbezogenen Diskurs nach- und gleichzeitig übergeordnet ist und auch noch die Ebene von sog. Anwendungskursen hinter sich lässt: jene des konkreten Handelns des einzelnen Subjekts. Dazu bedarf es wiederum einer Ethik des partikularen Handlungsurteils (Klugheit). Hier ist keine intersubjektive Verständigung mehr gefragt, sondern persönliche Verantwortung. Das Moralische ist ja nicht unbedingt das, worüber Konsens besteht, sondern, wie Robert Spaemann betont, unter Umständen gerade, was aus allem Konsens ausbricht, ja ihm widerspricht, und dabei mit dem Anspruch des Richtigen auftritt15. Eine Ethik, die wie die Diskursethik, nur eine intersubjektive Verständigung über das Gute zulässt, muss diese letztlich entscheidende Ebene verfehlen bzw. ausblenden. Sie wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen16. (Fs) (notabene)

22a Im Folgenden wird es darum gehen, eine Einführung in die philosophische Ethik vorzulegen, der es besonders daran gelegen ist, gegenüber den verschiedenen Formen von Normenethik die genannte "Perspektive der Moral" herauszuarbeiten. Das hat nun freilich nichts mit "Moralismus" zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass sich die Antwort auf die Frage nach der Begründung sittlicher Normen bereits dort entscheidet, wo sie noch gar nicht ausdrücklich gestellt werden kann, nämlich auf der Ebene der Einsicht darin, was denn überhaupt "menschliches Handeln", "praktische Vernunft", kurz: was überhaupt der handelnde Mensch ist. Auffassungen darüber werden von Ethikern oft stillschweigend vorausgesetzt oder erst im Nachhinein, wenn alles schon gelaufen ist, erörtert. Diese Auffassungen sind es jedoch, die letztlich alles bestimmen. Gerade dazu lassen sich in der von Aristoteles über Thomas von Aquin verlaufenden Tradition der Tugendethik entscheidende Grundlagen erarbeiten. Hier sind nun allerdings noch einige Abgrenzungen und Differenzierungen notwendig. (Fs) (notabene)

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