Stichwort: Relativismus Autor, Quelle: Hösle, Titel: Index: Relativismus, ontogenetisch; Orientierungskrise; Veblen; tiefere Schichten der Seele; Zerstörung des Potentials der Jugend; Nietzsche, Wittgenstein Kurzinhalt: Unermeßlich ist in der Tat die Zerstörung des geistigen Entwicklungspotentials unserer Kultur, die man dem Relativismus zuzuschreiben hat ... Text: 20 Der geschilderte Prozeß der Ausbreitung des Relativismus gilt nicht nur phylogenetisch. Auch ontogenetisch läßt sich beobachten, wie junge Studenten - vorausgesetzt, daß sie noch nicht als überzeugte Relativisten die Schule verlassen - während der ersten Semester an der Universität in eine Orientierungskrise geraten und den Glauben an sittliche Werte verlieren: Das Studium der Philosophie scheint manche von ihnen auf eine Mondlandschaft zu versetzen, in der sie die Resultate ihrer eigenen Bewegungen nicht mehr vorhersehen können." (27)
21 "Auch wer den Eudämonismus in der Ethik scharf ablehnt, wird es ferner als Argument gegen die gegenwärtige Situation ansehen können, daß die Menschen, die schließlich zum Relativismus finden, nie und nimmer glücklich werden - es gibt in der menschlichen Seele Schichten, denen eine tiefere Befriedigung nur zuteil werden kann, wenn die normative Grundfrage gelöst wird, und das Leiden1, das eine Kultur insbesondere ihren jungen Menschen zufügt, indem sie ihnen keine substantiellen Lösungen jener Frage anbietet, ist ungeheuer: Sie verdammt gerade die Begabteren und Konsequenteren unter ihnen zu jenem Zynismus, aus dem es, wenn er einmal habituell geworden ist, keinen Ausbruch mehr gibt. Unermeßlich ist in der Tat die Zerstörung des geistigen Entwicklungspotentials unserer Kultur, die man dem Relativismus zuzuschreiben hat. Denn wenn ein junger Mensch sich schließlich davon überzeugt hat, daß es keine objektiven Werte gibt, dann wird er nicht motiviert sein, sein Bestes zu geben, um seine Talente voll auszuschöpfen. Höchstens extrinsische Faktoren wie die Aussicht auf Erfolg werden ihn bewegen, und solche Faktoren korrumpieren nicht nur moralisch - keiner geistigen Leistung, die sich primär ihnen verdankt, ist Dauer beschieden. Aber auch der einzelne, der sich dem Einfluß des Zeitgeistes zu entwinden vermag, wird in einer solchen Umgebung nicht all das leisten, was er leisten könnte - denn der menschliche Geist ist wesentlich intersubjektiv, und die Häufung bedeutender Kulturleistungen in bestimmten Epochen beweist aufs klarste, daß eine Begabung die andere fördert und mitreißt." (28f)
22 "Die Banalität, an der Nietzsche und Wittgenstein litten, war die der verdünnten Kultur ihrer Zeit, die einerseits nicht mehr christlich war, andererseits noch nicht den Mut aufbrachte, sich zum Verlust der eigenen Religion zu bekennen, und wenn der Eid gegen die Banalität das vornehmste Kennzeichen des Philosophen ist, dann war ihre Reaktion eine bedeutende philosophische Reaktion. Es ist aber schwer zu übersehen, daß Banalität heute das Hauptmerkmal des Relativismus geworden ist - und dies gibt in der Tat Anlaß zu Hoffnungen. Denn philosophische Persönlichkeiten müssen begreifen, daß dieser Relativismus nicht ihr Orientierungspunkt, sondern ihre Hauptzielscheibe sein muß; so würde ein Nietzsche heute seine Unzeitgemäßen Betrachtungen gegen die verschiedenen postmodernen Moden richten. Ihm könnte nicht der Sinn dafür abgehen, wie wenig an jenen Verkündern des Endes der Philosophie achtenswert ist, die sich von den Privilegien, die mit einer Philosophieprofessur verbunden sind, nicht zu trennen vermögen und die jene geistige und emotionale Anspannung verloren haben, die ihre Vorfahren kennzeichnete. Freilich ist dafür gesorgt, daß das negativistische intellektuelle Gefühl der Überlegenheit allem und jedem gegenüber, was substantieller als man selbst ist, der Wahn, alles durchschaut zu haben, was der eigene trübe Blick nicht in seiner ihm eigentümlichen Klarheit zu fassen vermag, nicht zu Seelenfrieden und Glück führt; aber wer sich einmal diese Optik zu eigen gemacht hat, der wird dieses Laster nur schwer wieder loswerden, so sehr er es auch wünschen mag. (31; Fs)
23 Der Veblen dieser relativistischen 'leisure class' - die glücklicherweise bei weitem nicht die Mehrzahl der Akademiker ausmacht, wenn auch eine laute Minderheit - steht noch aus.2 Themen für ihn dürften etwa sein der Geltungskonsum von je bedeutungsloseren und abgelegeneren, desto 'interessanteren' Ideen, eine ästhetische 'Sensibilität', die selbst nach den gediegensten Leistungen sich nie ganz als befriedigt ausgeben kann und die den Menschen adelnde Fähigkeit verloren hat, sich von Großem beeindrucken zu lassen, der Beziehungswahn und die irrationale Reiselust, die jede Gelegenheit zur Flucht vor sich selbst ergreift, die heteronome Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere Klassengenossen, die letztlich ebensowenig geachtet werden, wie man im Grunde seiner Seele mit sich selbst zufrieden ist, das herabsetzende Gerede über Kollegen, die keinen Deut schlechter sind als man selbst und denen man bei dem nächsten Kongreß doch einen Sonderdruck mit der Hoffnung in die Hand drückt, ein gutes Wort darüber zu hören, eine zum Selbstzweck gewordene Machtgier, die sich über die letztliche Bedeutungslosigkeit der eigenen Position durch kleine Bosheiten im eigenen Machtbereich hinwegtröstet - alles Themen, die ausreichen dürften, um ein lesenswertes, wenn auch bedrükckendes soziologisches Buch zu schreiben." (31f)
24 "So wäre es durchaus wichtig, wenn allgemein begriffen würde, daß 'progressiv' und 'konservativ' einander nicht ausschließen, weil Fortschritte konsolidiert und bewahrt werden müssen, weil ein Überhandnehmen kulturabbauender Prozesse ohne den Aufbau von Institutionen, die die zerstörten ersetzen könnten, nur zum Verfall einer Kultur beitragen kann und weil schließlich die westliche Kultur zahlreiche Momente enthält, die gegen zentrifugale, sich als fortschrittlich tarnende Tendenzen verteidigt werden müssen - was freilich nur möglich sein wird, wenn in bestimmten anderen Bereichen, im Bewußtsein wie in den Institutionen, radikale (möglicherweise revolutionäre) Änderungen stattfinden. Letzteres nicht einzusehen macht die große geistige Grenze eines Konservatismus aus, der sich zunehmend an die Industriegesellschaft angepaßt hat, ohne begreifen zu wollen, daß deren immanente Entwicklungstendenzen schlicht und einfach nicht fortsetzbar sind, und der die Wertrationalität immer mehr durch Zweckrationalität ersetzt. Entscheidend wäre, daß statt einer Apologie des Status quo auf der einen und abstrakter Utopien auf der anderen Seite eine inhaltliche Diskussion darüber stattfände, was wert ist, bewahrt zu werden, und was konkret verändert werden muß, gerade wenn man jenes andere bewahren oder gar auf eine höhere Stufe bringen möchte." (34f)
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