Inhalt


Stichwort: Vernunft, nous

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Vernunft - Psychopathologie 1

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 6); Psychopathologie; Vernunft als Struktur d. Realität (Struktur d. Psyche im Einklang mit d. göttlichen Kosmos; philia: Spannung zum Grund); Zusammenbruch westl. Ph.

Kurzinhalt: Vernunft als eine Struktur in der Realität differenziert sich aus den Erfahrungen von Glaube und Vertrauen (pistis) in den göttlich geordneten Kosmos, und von Liebe ... Sie differenziert sich aus dem amor Dei im Sinn Augustins, und nicht aus dem amor sui.

Text: II. Psychopathologie

28/6 Daß Platon und Aristoteles sich auf die konkreten Modi der Spannung konzentrieren, ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des nous-Symbols, weil dadurch der Erfahrungskontext angegeben wird, in dem sich ohne Zweifel die Differenzierung der Vernunft ereignet: Vernunft als eine Struktur in der Realität differenziert sich aus den Erfahrungen von Glaube und Vertrauen (pistis) in den göttlich geordneten Kosmos, und von Liebe (philia, eros) zu der göttlichen Quelle von Ordnung. Sie differenziert sich aus dem amor Dei im Sinn Augustins, und nicht aus dem amor sui. Die Realität, die durch die nous-Symbole zum Ausdruck gebracht wird, ist also die Struktur in der psyche eines Menschen, der sich in Einklang mit der göttlichen Ordnung im Kosmos befindet, nicht eines Menschen, der in der Revolte gegen diese Ordnung lebt. (139; Fs; tblStw: Ordnung, Vernunft)

29/6 Vernunft hat als bestimmten existentiellen Inhalt die Offenheit gegenüber der Realität in dem Sinn, in dem Bergson von der âme ouverte spricht. Bleibt dieser Kontext der klassischen Analyse unbeachtet und werden die Symbole nous oder Vernunft so behandelt, als bezögen sie sich auf irgendeine menschliche Fähigkeit, die unabhängig ist von der Spannung zum Grund, dann ist die empirische Basis, von der die Symbole ihre Gültigkeit herleiten, verloren gegangen. Sie werden zu Begriffen, die aus Nichts abstrahiert sind, und das Vakuum dieser Pseudo-Abstracta füllt sich bereitwillig mit verschiedenen nicht-rationalen Inhalten. (139f; Fs)

30/6 Der Begriff 'Spannung zum Grund', der sowohl die voranalytischen wie die noetischen Modi der Spannung bezeichnet, soll verhindern, daß der Begriff Vernunft mißverstanden wird, indem unzweideutig die existentielle philia als die Realität hervorgehoben wird, die in der philosophia und im bios theoretikos der klassischen Philosophen noetisch durchsichtig wird. Angesichts des Zusammenbruchs der Philosophie in der westlichen Gesellschaft der Neuzeit muß die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller philia, zwischen Vernunft und Offenheit gegenüber dem Grund ausdrücklich hervorgehoben werden. (140; Fs)

31/6 Da der Begriff Spannung die Verbindung zwischen Vernunft und Existenz in Offenheit gegenüber dem Grund deutlich macht, ist er unentbehrlich, um den grundlegenden Sachverhalt psychopathologischer Erscheinungen zu verstehen: Wenn Vernunft existentielle philia ist, wenn sie die Offenheit der Existenz ist im Zustand kritischen Bewußtseins, dann beeinflußt das Sich-Verschließen der Existenz oder jede Art von Widerstand gegen die Offenheit sicher die rationale Struktur der psyche in negativer Weise. (140; Fs)

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Stichwort: Vernunft, nous

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Fülle Gottes - Kolosserbrief

Index: Kolosserbrief; Gottes Fülle in Jesus

Kurzinhalt: 1:19 Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen,

Text: 1:19 Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen,
1:20 um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut. Eph 1,10 Aufruf an die Gemeinde: 1,21-23
1:21 Auch ihr standet ihm einst fremd und feindlich gegenüber; denn euer Sinn trieb euch zu bösen Taten. Eph 2,14-16
1:22 Jetzt aber hat er euch durch den Tod seines sterblichen Leibes versöhnt, um euch heilig, untadelig und schuldlos vor sich treten zu lassen.
1:23 Doch müßt ihr unerschütterlich und unbeugsam am Glauben festhalten und dürft euch nicht von der Hoffnung abbringen lassen, die euch das Evangelium schenkt. In der ganzen Schöpfung unter dem Himmel wurde das Evangelium verkündet; ihr habt es gehört, und ich, Paulus, diene ihm. Der Apostel und die Gemeinde: 1,24 - 2,23 Diener der Kirche für alle Menschen: 1,24-29
1:24 Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt. Die Leiden, die der Apostel in Ausübung seines Amtes zu ertragen hat, werden im Blick auf den Tod Jesu als stellvertretender Dienst für die Kirche gedeutet.
1:25 Ich diene der Kirche durch das Amt, das Gott mir übertragen hat, damit ich euch das Wort Gottes in seiner Fülle verkündige,
1:26 jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war. Jetzt wurde es seinen Heiligen offenbart; Röm 16,25f; 1 Kor 2,7; Eph 3,3.9
1:27 Gott wollte ihnen zeigen, wie reich und herrlich dieses Geheimnis unter den Völkern ist: Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit.
1:28 Ihn verkündigen wir; wir ermahnen jeden Menschen und belehren jeden mit aller Weisheit, um dadurch alle in der Gemeinschaft mit Christus vollkommen zu machen. Eph 4,13
1:29 Dafür kämpfe ich unter vielen Mühen; denn seine Kraft wirkt mit großer Macht in mir. Der Glaube der Gemeinde: 2,1-7
2:1 Ihr sollt wissen, was für einen schweren Kampf ich für euch und für die Gläubigen in Laodizea zu bestehen habe, auch für alle anderen, die mich persönlich nie gesehen haben.
2:2 Dadurch sollen sie getröstet werden; sie sollen in Liebe zusammenhalten, um die tiefe und reiche Einsicht zu erlangen und das göttliche Geheimnis zu erkennen, das Christus ist.
2:3 In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. Jes 45,3; Spr 2,2f
2:4 Das sage ich, damit euch niemand durch Überredungskünste täuscht.
2:5 Auch wenn ich fern von euch weile, bin ich im Geist bei euch. Mit Freude sehe ich, wie fest und geordnet euer Glaube an Christus ist.
2:6 Ihr habt Christus Jesus als Herrn angenommen. Darum lebt auch in ihm!
2:7 Bleibt in ihm verwurzelt und auf ihn gegründet, und haltet an dem Glauben fest, in dem ihr unterrichtet wurdet. Hört nicht auf zu danken! Eph 2,20; 3,17 Warnung vor Irrlehrern: 2,8-23
2:8 Gebt acht, daß euch niemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verführt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt, nicht auf Christus berufen. Die Verehrung und Anerkennung der wurde von manchen Irrlehrern gefordert (vgl. die Anmerkung zu Gal 4,3).
2:9 Denn in ihm allein wohnt wirklich die ganze Fülle Gottes.

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Stichwort: Vernunft, nous

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Vernunft - Psychopathologie 2

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 7); Psychopathologie 2; Heraklit (kosmos koinon - idios), Aischylos, Platon, Cicero, Chrysipp; existentielle Unordnung (apostrophe - epistrophe); Angst, Rationalisierung; Tusculanae Disputationes

Kurzinhalt: 'Diese Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine vorsätzliche Abwendung (apostrophe) vom logos.'

Text: 32/6 Die Phänomene existentieller Unordnung durch das Sichverschließen gegenüber dem Seinsgrund waren schon mindestens ein Jahrhundert vor den klassischen Philosophen beobachtet und artikuliert worden. Heraklit hatte unterschieden zwischen Menschen, die in der einen und gemeinsamen Welt (koinos kosmos) des logos leben, der das gemeinsame Band der Menschheit ist (homologia), und den Menschen, die in den verschiedenen Privatwelten (idios kosmos) ihrer Leidenschaft und ihrer Einbildung leben, zwischen den Menschen, die ein waches Leben führen, und den Schlafwandlern, die ihre Träume für Wirklichkeit ansehen (B 89). (140f; Fs)

33/6 Und Aischylos hatte die Prometheische Revolte gegen den göttlichen Grund als eine Krankheit oder Wahnsinn (nosos, nosema) diagnostiziert. Platon benutzte dann in der Politeia sowohl die herakliteischen wie die aischyleischen Symbole, um den Zustand von Einklang mit- und Sich-Verschließen gegen den Grund als Zustand existentieller Ordnung und Unordnung zu charakterisieren. Und doch bedurfte es der erschütternden Erfahrungen der ökumenischen Reichsbildungen, und in ihrem Gefolge der existentiellen Desorientierung als Massenphänomen, um die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller Ordnung in Begriffen festlegen zu können. Erst die Stoiker prägten die Ausdrücke oikeiosis und allotriosis, ins Lateinische übersetzt als conciliatio und alienatio, um zwischen den beiden existentiellen Zuständen zu unterscheiden, die das Leben der Vernunft ermöglichen bzw. Störungen der psyche bedingen. (141; Fs)

34/6 In den Tusculanae Disputationes referiert Cicero die grundlegenden stoischen Formulierungen: Wie es Krankheiten des Körpers gibt, gibt es auch Krankheiten des Geistes (morbi animorum); diese Krankheiten sind im allgemeinen durch eine Verwirrung des Geistes auf Grund verkehrter Meinungen verursacht (pravarum opinionum conturbatio), die in einen Zustand der Verderbtheit mündet (corruptio opinionum); die Krankheiten dieses Typs können nur auf Grund einer Zurückweisung der Vernunft (ex aspernatione rationis) entstehen; deshalb können Krankheiten des Geistes im Unterschied zu denen des Körpers nie ohne eigene Schuld auftreten (sine culpa); und da diese Schuld nur beim Menschen - weil er Vernunft hat -möglich ist, kommen diese Krankheiten bei Tieren nicht vor.1 (141; Fs)

35/6 Die Analyse, die hinter solchen Formeln steckt, kann aus einer Passage von Chrysipp erschlossen werden: 'Diese Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine vorsätzliche Abwendung (apostrophe) vom logos.'2. Die apostrophe ist die Bewegung, die der Richtung nach der periagoge oder epistrophe Platons entgegengesetzt ist. Indem der Mensch sich vom Grund abwendet, wendet er sich von seinem eigenen Selbst ab. Entfremdung ist also ein Sich-Entfernen von der menschlichen Natur, die durch die Spannung zum Grund konstituiert wird. (141f; Fs)

36/6 Darüberhinaus treten in diesem Zusammenhang die ersten Versuche auf, die Erfahrung von 'Angst' auszudrücken. Ciceros anxietas in den Tusculanae Disputationes ist in ihrer Bedeutung zu unbestimmt, um uneingeschränkt mit der modernen 'Angst' gleichgesetzt werden zu können. Sie bezeichnet vielleicht nur einen Geisteszustand, der sich unvernünftigen Befürchtungen überläßt.3 Aber Äußerungen, die Chrysipp zugeschrieben werden, machen klar, daß Angst als eine Spielart von Unwissenheit verstanden wird (agnoia). Ein Mensch ist völlig rasend, wird an der betreffenden Stelle gesagt, wenn er unwissend ist (agnoian echon) im Hinblick auf sein Selbst und das, was für sein Selbst von Belang ist. Diese Unwissenheit ist das Laster, das der Tugend wahrer Einsicht (phronesis) entgegengesetzt ist. Sie muß als ein existentieller Zustand charakterisiert werden, in dem die Begierden sich ohne Kontrolle und ohne Steuerung entwickeln, ein Zustand aufgeregter Unsicherheit und überreizter Leidenschaften, ein Zustand von Panik oder Schrecken, weil die Existenz ihre Richtung verloren hat. Diese Beschreibung wird in dem Ausdruck agnoia ptoiodes zusammengefaßt als der stoischen 'Definition' von Wahnsinn (mania).4 Dem zoon noun echon entspricht als sein pathologisches Gegenstück das zoon agnoian echon. (142; Fs)

37/6 Die Erforschung des pathologischen Gegentyps durch die Stoiker präzisiert den Sinn noetischer Existenz. Der kritische Punkt, der beachtet werden sollte, ist der Umstand, daß agnoia, Unwissenheit, als kennzeichnendes Merkmal sowohl im Zustand von Gesundheit (sanitas) als auch von Krankheit (insania) auftritt. Die fragende Unruhe, wie ich die Anfangsphase der noetischen Erfahrung neutral genannt habe, kann entweder der Anziehungskraft des Grundes folgen und sich zu noetischem Bewußtsein entfalten, oder sie kann sich vom Grund abkehren und anderen Anziehungskräften folgen. Die pathologische Entgleisung ereignet sich also in der Phase fragender Unruhe, in der Haltung des Menschen gegenüber der Spannungsstruktur seiner Existenz, und nicht auf den darauf aufbauenden Ebenen, auf denen die Entgleisung dann offenkundig wird in der Diskrepanz zwischen einem gutgeordneten Leben und einer Existenz ohne Orientierung, oder der Diskrepanz zwischen rationaler Artikulation der Realität und den in nicht geringerem Maße artikulierten 'verkehrten Meinungen', den pravae opiniones. (142f; Fs)

38/6 Natürlich ziehen die offenkundigen Symptome der Desorientierung die Aufmerksamkeit in erster Linie auf sich. Aus den Tusculanae Disputationes kann man eine lange Liste von Syndromen zusammenstellen, die ganz modern klingt: rastloses Geldverdienen, Streben nach gesellschaftlichem Prestige, Schürzenjägerei, übermäßiges Essen, Hang zu Delikatessen und Naschereien, Zechen, Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Ruhmsucht, Starrsinn, Unnachgiebigkeit und Ängste vor dem Kontakt mit anderen Menschen wie Weiberhaß oder allgemeine Menschenfeindlichkeit. Obwohl eine Symptomatologie dieser Art nützlich ist als Annäherung auf dem Niveau des gesunden Menschenverstands, ist sie jedoch analytisch nicht präzis genug. Denn es gibt nichts auszusetzen an den Leidenschaften als solchen, noch am Genuß von äußeren Gütern und denen des Körpers, noch an gelegentlichen Nachgiebigkeiten oder Exzessen. (143; Fs)

39/6 Wenn die Trennungslinien nicht genauer gezogen werden, wird man zu der Situation kommen, die Horaz in Satiren II 3 lächerlich gemacht hat. Deswegen unterscheidet Cicero sorgfältig zwischen akuten Äußerungen von Leidenschaften und Gewohnheiten, die chronisch geworden sind, zum Beispiel zwischen angor und anxietas, ira und iracundia. Und die Gewohnheitsbildung muß so gravierend sein, daß sie das Gleichgewicht der rationalen Ordnung der Existenz stört; sie muß auf eine Zurückweisung der Vernunft, auf eine aspernatio rationis hinauslaufen. Dieses letztere Kriterium steht in Zusammenhang mit einer früheren Stelle bei Chrysipp, wo er sich mit dem Menschen beschäftigt, der Argumenten nicht zugänglich ist, weil er seine Nachgiebigkeit gegenüber den Leidenschaften als ein ganz und gar rationales Verhalten ansieht. Das Phänomen rationalen Argumentierens zu dem Zweck, die Flucht aus der noetisch geordneten Existenz zu verteidigen, beeindruckte Chrysipp so stark, daß er annahm, der logos selbst könne korrumpiert werden. Poseidonios konnte nichts anderes tun, als diesen Irrtum zurückzuweisen und zu der Kraft in der menschlichen Existenz zurückzukehren, welche die Leidenschaften als Mittel benutzen kann, aus der noeti-schen Spannung zu fliehen, und gleichzeitig die Vernunft als Mittel, diese Flucht zu rechtfertigen.5 (143f; Fs)

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Stichwort: Vernunft, nous

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Vernunft - Psychopathologie 3

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 8); Psychopathologie 3; Ursprung d. Entgleisung in d. fragenden Unruhe (agnoia); neuzeitliche Geschichte der Unruhe: Hobbes, Hegel, Heidegger, Freud; Apperzeptionsverweigerung (Doderer), Frankl

Kurzinhalt: ... geht es dabei um mehr als um einen bloßen Unterschied in der Stimmung zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in aggressiver Weise für ihre geistige Krankheit den Status geistiger ...

Text: 40/6 Die Stoiker diagnostizierten also geistige Krankheit als eine Störung noetisch geordneter Existenz. Diese Störung betrifft sowohl die Leidenschaften als auch die Vernunft, aber sie ist weder durch das eine noch durch das andere verursacht. Sie hat ihren Ursprung in der fragenden Unruhe, der agnoia, und in der Freiheit des Menschen, das Ziel der menschlichen Natur, das in der Unruhe potentiell enthalten ist, zu verwirklichen oder dieses Ziel zu verfehlen. (144; Fs)

41/6 Gesundheit oder Krankheit der Existenz wird schon aus der Stimmungslage dieser Unruhe spürbar. Die klassische, besonders die aristotelische Unruhe ist unverkennbar freudig, da das Suchen in sich eine Richtung hat. Die Unruhe wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, in dem sich der nous als die göttlich ordnende Kraft in der psyche des Fragenden und im Kosmos in seiner Gesamtheit offenbart. Die Unruhe ist eine Einladung, dem Ziel, das sie anzeigt, bis zur Aktualisierung des noetischen Bewußtseins nachzuspüren. (144f; Fs)

42/6 Es gibt keinen Ausdruck für 'Angst'. Die Gefühlslage, in Panik oder Schrecken versetzt zu werden durch eine Frage, auf die keine Antwort gefunden werden kann, ist der klassischen Erfahrung in charakteristischer Weise fremd. Die 'Panik' wurde erst durch die Stoiker als ein pathologisches Phänomen durch das Adjektiv ptoiodes eingeführt. In der neuzeitlich-westlichen Geschichte der Unruhe dagegen, von Hobbes' 'Todesfurcht' bis zu Heideggers 'Angst' hat sich die Stimmung verschoben von freudiger Teilnahme an einer Theophanie zu der agnoia ptoiodes, zur feindseligen Entfremdung von einer Wirklichkeit, die sich mehr verbirgt, als daß sie sich offenbart. Hobbes ersetzt das summum bonum durch das summum malum als ordnende Kraft in der menschlichen Existenz; Hegel baut seinen eigenen Zustand der Entfremdung zu einem System aus und lädt alle Menschen ein, Hegelianer zu werden; Marx verwirft die aristotelische Suche nach dem Grund rundweg, und lädt uns ein, sich ihm als 'sozialistischer Mensch' in seinem Zustand der Entfremdung anzuschließen; Freud diagnostiziert die Offenheit zum Grund als eine 'Illusion', als 'neurotisches Relikt', als 'Infantilismus'; Heidegger wartet auf die 'Parusia des Seins', die nicht kommt, was die Erinnerung an Samuel Beckets 'Warten auf Godot' wachruft; Sartre fühlt sich 'zur Freiheit verdammt' und schlägt wild um sich bei dem Versuch, Ersatzziele zu entwerfen für das eine Ziel, das er verfehlt hat; Levy-Strauss versichert uns, daß man nicht Wissenschaft betreiben kann, wenn man nicht Atheist ist; das Symbol 'Strukturalismus' wird das Schlagwort einer modischen Bewegung der Flucht aus der noetischen Struktur der Realität. Und wo weiter.' (145; Fs)

43/6 Aber wie diese Fallsammlung zeigt, geht es dabei um mehr als um einen bloßen Unterschied in der Stimmung zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in aggressiver Weise für ihre geistige Krankheit den Status geistiger Gesundheit. Im Meinungsklima der Neuzeit hat das zoon agnoian echon das zoon noun echon ersetzt. Die Pervertierung der Vernunft infolge ihrer Aneignung durch geistig Kranke, die schon Chrysipp beunruhigt hatte, hat sich in der neuzeitlichen Periode des Kulturverfalls zu der mörderischen Groteske unserer Zeit ausgewachsen. (145f; Fs)

44/6 Von Pervertierung allein kann jedoch der Mensch nicht leben. Parallel zu der Kulmination der Groteske in Hitler, Stalin und der Orgie des 'Befreiungspöbels' nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs auch das Bewußtsein ihres pathologischen Charakters. Zwar hatte schon im 19. Jahrhundert Schelling, als er sich mit dem Progressivismus seiner Zeit befaßte, den Ausdruck 'Pneumopathologie' geprägt. Aber bis in die jüngste Zeit wäre es sinnlos gewesen, die 'Meinungen', die die öffentliche Szene beherrschen, als psychopathologische Phänomene zu behandeln. Mittlerweile aber sind der 'Trugschluß des Reduktionismus', die Hervorbringung imaginärer 'Zweiter Wirklichkeiten' und die Rolle von Geschichtsphilosophien bei der Erzeugung einer Illusion von 'Unsterblichkeit' weithin als pathologische Symptome bekannt geworden. Ein Autor wie Doderer hat in seinen Dämonen die 'Apperzeptionsverweigerung', die Weigerung wahrzunehmen, als das Syndrom des zoon agnoian echon erkannt. Und in der Existenzpsychologie, z. B. im Werk Viktor E. Frankls, ist die 'noologische Dimension' des Menschen, sowie die Behandlung seiner Leiden durch 'Logotherapie' wiederentdeckt worden. Es wäre nicht überraschend, wenn früher oder später Psychologen oder Sozialwissenschaftler die klassische Analyse noetischer Existenz als die angemessene theoretische Basis für die Psychopathologie des 'Zeitalters' entdecken würden. (146; Fs)

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