Inhalt


Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Hobbes - Ordnung, summum bonum

Index: Immanentisierung des Eschaton; fundamentale Gegenposition zur klassischen und christlichen Ethik (summum bonum); Ordnung: gemeinsame Teilnahme am nous (homonoia)

Kurzinhalt: Da Hobbes Ordnungsquellen in der Seele nicht anerkennt, kann die Inspiration nur durch eine Leidenschaft ausgetrieben werden, die noch stärker ist als der Stolz, ein Paraklet zu sein, und das ist die Furcht vor dem Tode

Text: 4.Hobbes

245a Die Funktion des Gnostizismus als der Ziviltheologie der westlichen Gesellschaft, seine Zerstörung der Wahrheit der Seele und seine Mißachtung der Existenzproblematik wurden ausführlich genug geschildert, um die schicksalhafte Bedeutung des Problems klarzumachen. Die Untersuchung kann jetzt zu dem großen Denker zurückkehren, der die Natur des Problems entdeckte und versuchte, es durch seine Repräsentationstheorie zu lösen. Im siebzehnten Jahrhundert schien die Existenz der englischen nationalen Gesellschaft in Gefahr, von den gnostischen Revolutionären zerstört zu werden, so wie heute in größerem Ausmaß dieselbe Gefahr die Existenz der gesamten westlichen Gesellschaft bedroht. Hobbes versuchte, dieser Gefahr durch die Entwicklung einer Ziviltheologie zu begegnen, welche das Existieren einer Gesellschaft zu der von ihr vertretenen Wahrheit machte - neben dieser sollte keine andere Wahrheit gelten. Das war zu seiner Zeit eine sehr vernünftige Idee, insofern sie das ganze Gewicht auf die Existenz legte, die von den Gnostikern arg vernachlässigt worden war. Aber ihr praktischer Wert stand und fiel mit der Annahme, daß die transzendente Wahrheit, welche die Gesellschaften zu repräsentieren versuchten, nachdem die Menschheit durch Philosophie und Christentum hindurchgegangen war, ihrerseits vernachlässigt werden konnte. Im Gegensatz zu den Gnostikern, die eine Gesellschaft nicht für existenzwürdig hielten, wenn ihre Ordnung nicht einen bestimmten Wahrheitstypus repräsentierte, erklärte Hobbes nachdrücklich, daß jede Ordnung gut sei, wenn sie nur die Existenz der Gesellschaft gewährleistet. Um diesem Gedanken Gültigkeit zu verleihen, mußte er seine neue Idee vom Menschen schaffen. Die menschliche Natur müßte in der bloßen Existenz ihre Erfüllung finden; eine über die Existenz hinausgehende Bestimmung des Menschen müßte verneint werden. Hobbes stellte der gnostischen Immanentisierung des Eschaton, welche die Existenz gefährdete, eine radikale Immanenz der Existenz entgegen, die das Eschaton leugnete. (Fs) (notabene)

246a Das Ergebnis dieser Bemühung war ambivalent. Um seine Stellung gegen die kämpfenden Kirchen und Sekten zu behaupten, mußte Hobbes bestreiten, daß deren Eifer von einer, wenn auch fehlgeleiteten Wahrheitssuche beseelt sei. Ihr Kampf mußte, vom Standpunkt der immanenten Existenz aus gesehen, als ein ungezügelter Ausdruck ihres Machttriebs interpretiert und ihr vorgeblich religiöses Anliegen als Tarnung ihrer existentiellen Leidenschaft entlarvt werden. Bei der Durchführung dieser Analyse erwies sich Hobbes als einer der größten Psychologen aller Zeiten; seine Demaskierung der libido dominandi hinter dem Vorwand religiösen Eifers und reformierenden Idealismus ist heute noch so gültig wie zur Zeit, als er sie niederschrieb. Diese großartige psychologische Leistung wurde jedoch teuer erkauft. Hobbes diagnostizierte richtig das korrumpierende Element der Leidenschaft in der Religiosität der puritanischen Gnostiker. Aber er interpretierte nicht die Leidenschaft als Quelle der Korruption im Leben - des Geistes, sondern das Leben des Geistes als das Extrem der existentiellen Leidenschaft. Er konnte daher die Natur des Menschen nicht von ihrer maximalen Differenzierung durch die Erfahrung der Transzendenz her interpretieren, und vor allem konnte er nicht die Leidenschaft und besonders die Grundleidenschaft der superbia als die stets gegenwärtige Gefahr des Abfalls von der wahren Natur erkennen. Er mußte im Gegenteil das Leben der Leidenschaft als die Natur des Menschen deuten, so daß die Phänomene des geistigen Lebens als Extreme der superbia erschienen. (Fs) (notabene)

247a Dieser Konzeption gemäß ist We have become completely secular die Natur des Menschen in seinen Leidenschaften zu suchen, während die Gegenstände, auf die sich die Leidenschaften richten, kein legitimer Gegenstand der Untersuchung sind.1 Das ist die fundamentale Gegenposition zur klassischen und christlichen Ethik. Die aristotelische Ethik geht von den Zwecken der Handlungen aus und erforscht die Ordnung des Menschenlebens im Sinne einer Ausrichtung aller Handlungen auf einen höchsten Zweck, das summum bonum. Hobbes hingegen betont, daß es das summum bonum, "von dem in den Büchern der alten Moralphilosophen gesprochen wird",2 nicht gebe. Mit dem summum bonum verschwindet jedoch die Quelle der Ordnung aus dem menschlichen Leben, und nicht nur aus dem Leben des Einzelmenschen, sondern auch aus dem der Gesellschaft. Denn - wie an früherer Stelle ausgeführt - die Ordnung des Lebens in der Gesellschaft beruht auf der homonoia im aristotelischen und christlichen Sinne, d. h. auf der Teilnahme am gemeinsamen nous. Hobbes steht daher vor der Aufgabe, eine Gesellschaftsordnung aus isolierten Einzelpersonen zu konstruieren, die nicht auf einen gemeinsamen Zweck ausgerichtet, sondern nur von ihren individuellen Leidenschaften angetrieben sind. (Fs) (notabene)

248a Die Einzelheiten der Konstruktion sind wohl bekannt. Es wird genügen, die Hauptpunkte ins Gedächtnis zurückzurufen. Menschliches Glück ist für Hobbes ein kontinuierliches Fortschreiten des Begehrens von einem Objekt zum anderen. Es ist das Ziel des Menschen, "nicht nur einmal und für die Dauer eines Augenblicks zu genießen, sondern die Bahn seines künftigen Begehrens auf immer zu sichern":1 "So daß ich an die erste Stelle als allgemeine Neigung der Menschheit ein beständiges, ruheloses Begehren von Macht über Macht setze, das erst im Tode endet."2 Eine Vielheit von Menschen ist nicht eine Gemeinschaft, sondern ein offenes Feld rivalisierender Zentren des Machttriebs. Der ursprüngliche Machttrieb wird daher durch Mißtrauen gegenüber dem Nebenbuhler und durch die Lust, sich an der erfolgreichen Überwindung des anderen zu erfreuen, noch verstärkt.3 "Wir müssen annehmen, daß dieser Wettlauf kein anderes Ziel, keinen anderen Siegeskranz kennt als den, der Erste zu sein." In diesem Wettlauf "beständig überholt zu werden ist Unglück. Beständig den Nächsten überholen ist Glückseligkeit. Und die Laufbahn verlassen heißt Sterben."4 Leidenschaft, die sich am Vergleich steigert, ist Stolz.5 Dieser Stolz kann verschiedene Formen annehmen, deren wichtigste in der Analyse der Politik für Hobbes der Stolz war, göttliche Inspirationen zu haben oder generell im Besitz unbestrittener Wahrheit zu sein. Solcher Stolz im Exzess ist Wahnsinn.6 "Wenn ein Mann in Bedlam (Irrenhaus von London) dich mit vernünftigem Gespräch unterhalten würde und du beim Abschied wissen wolltest, wer er sei, um ein andermal seine Höflichkeit erwidern zu können, und er dir sagen würde, er sei Gott Vater, dann, meine ich, bedürfte es keiner ungewöhnlichen Handlung mehr, um seinen Wahnsinn zu beweisen."7 Wird aber solcher Wahnsinn gewalttätig und versuchen die von der Inspiration Besessenen, sie anderen aufzuzwingen, so wird das Ergebnis in der Gesellschaft "das aufrührerische Gebrüll einer aus den Fugen geratenen Nation sein."8 (Fs) (notabene)

249a Da Hobbes Ordnungsquellen in der Seele nicht anerkennt, kann die Inspiration nur durch eine Leidenschaft ausgetrieben werden, die noch stärker ist als der Stolz, ein Paraklet zu sein, und das ist die Furcht vor dem Tode. Der Tod ist das größte Übel. Wenn das Leben nicht durch die Ausrichtung der Seele auf ein summum bonum geordnet werden kann, muß Ordnung sich auf die Furcht vor dem summum malum9 gründen. Aus der gegenseitigen Furcht erwächst die Bereitschaft, sich durch Vertrag einer Regierung zu unterwerfen. Wenn die vertragschließenden Parteien übereinkommen, eine Regierung zu haben, "übertragen sie all ihre Macht und Stärke einem Manne oder einer Versammlung von Männern, welche all ihren Willen durch Stimmenmehrheit auf einen einzigen Willen reduzieren kann."10 (Fs) (notabene)

250a Der Scharfsinn Hobbes zeigt sich am deutlichsten in seiner Erkenntnis, daß die Vertragssymbolik, die er in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten des siebzehnten Jahrhunderts verwandte, nicht das Wesentliche an der Sache ist. Der Zusammenschluß zu einem Gemeinwesen unter einem Souverän mag sich in Rechtsform vollziehen, aber seinem Wesen nach ist er eine psychologische Wandlung der sich zusammenschließenden Personen. Die Hobbes'sche Konzeption des Prozesses, durch welchen eine politische Gesellschaft existent wird, kommt der Auffassung Fortescues über die Schaffung eines neuen corpus mystycum durch die Eruption eines Volkes ziemlich nahe. Die Vertragspartner schaffen nicht etwa eine Regierung, die sie als Einzelpersonen repräsentiert. Durch den Vertragsakt hören sie auf, selbstbestimmende Personen zu sein und lassen ihre Machttriebe in einer neuen Person, dem Gemeinwesen, aufgehen, und der Träger dieser neuen Person, ihr Repräsentant, ist der Souverän. (Fs) (notabene)

251a Diese Konstruktion machte einige Distinktionen hinsichtlich der Bedeutung des Wortes "Person" erforderlich. "Eine Person ist derjenige, dessen Worte oder Handlungen entweder als seine eigenen angesehen werden oder als solche, welche die Worte und Handlungen eines anderen Menschen oder einer anderen Sache repräsentieren." Repräsentiert er sich selbst, so ist er eine natürliche Person; repräsentiert er einen anderen, so wird er eine künstliche Person genannt. Die Bedeutung des Wortes "Person" wird auf das lateinische persona und das griechische prosopon zurückgeführt, auf das Gesicht, die äußere Erscheinung oder die Maske des Schauspielers auf der Bühne. "So daß eine Person dasselbe ist wie ein Schauspieler, auf der Bühne wie auch in der gewöhnlichen Unterhaltung, und als Person auftreten heißt darstellen oder repräsentieren, sich selbst oder einen anderen."1 (Fs) (notabene)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Lonergan, Topics in Education

Titel:

Index: The Good of Order; Ordnungsgut; Zusammenarbeit, Voraussetzungen (Habitus, Institutionen, Material, Status)

Kurzinhalt: Now what are the general characteristics of a human good of order? It includes a number of things. We will discuss four:

Text: 3.1.2 The Good of Order

20/2 The good of order is the setup. The family, for instance, is not a particular good, but a flow of particular goods for father and mother and children. Another instance of the good of order is technology-economy-polity. The most obvious aspect here is the economy. There can be a depression, and it is not for lack of raw materials, nor for lack of factories and railways, nor for lack of capital - money is going begging. Nor is it for lack of people willing to work or for lack of people willing to invest. It is just that the whole setup has simply gone awry; it just will not work. That is a case of the evil in the depression. You can see the absence of the good of order. (34; Fs)

21/2 Again, an educational system is a good of order. An educational system is not the education of this child or this young man or this young lady. It is a flow of educations. It determines what flows and the direction in which it will flow. The church, too, is a good of order. It gets people to heaven - not just one, but a flow of people into heaven. The world of art, letters, sciences, philosophy - the world of learning - is a setup, a good of order. (34; Fs)

22/2 Now what are the general characteristics of a human good of order? It includes a number of things. We will discuss four: a regular recurrence of particular goods, coordinated human operations, a set of conditions of these operations, and personal status.1 (34; Fs) (notabene)

23/2 The most conspicuous aspect of a good of order is a regular recurrence of particular goods. If X is a good thing and occurs, it will recur when there is a good of order. If breakfast is a good thing, and if there is a good of order, you will have breakfast every morning. A theoretical analysis of the notion of recurrence can be found in Insight.2 The good of order is not a matter of mechanist planning. Planning has to work in every single detail or everything goes awry. But the good of order is a matter of sets of alternative schemes of recurrence.3 It is something like the way the water circulates on the surface of the earth: it goes up from the sea in water vapor and forms clouds that are carried over the land; the water then falls down in rain, which flows into brooks and streams and rivers, and finally returns to the sea. The circulation of water does not work like a machine, according to some set of rules. Rather, all along it works according to sets of probabilities. Thus, there are spots that are deserts, and others that have too much rain, and still others that have too much humidity. The regular recurrence of particular goods is a fundamental aspect of the good of order. When there is a regular recurrence of particular goods, there is a good of order behind it. (34f; Fs)

24/2 Next, that regular recurrence occurs through coordinated human operations. There is a recurrence of particular goods because men operate, and operate in some sort of coordinated fashion, with a certain interdependence. So the second element in the good of order consists in coordinated human operations. (35; Fs)

25/2 Thirdly, you can have the coordination and the operations only if certain conditions are fulfilled. We will distinguish three parts in this third element. First, there are the habits in the subject. What do I mean by a habit? A person has a habit of mind when he does not have to learn, when he already knows, when he can operate on his own, when you do not have to take the time to teach him. A person has a habit of will when you do not have to persuade him - 'Barkis is willin'.'4 A person has a habit of dexterity, of manual skills, when he does not have to learn how to do something. If he had to learn how to drive a car, there would be no use asking him to drive you downtown; you ask a person who already has the skill. Thus we can distinguish three kinds of habits: cognitional habits, volitional habits, and skills; not having to learn, not having to be persuaded, not having to acquire the skill. Habits are a condition of coordinated human operations. If every time something had to be done people had to take a year off to learn, or to be persuaded, or to acquire the skills, nothing would ever be done. (35; Fs)

26/2 The second condition of effective coordination lies in institutions. Institutions are like habits, but in the objective order. Everyone in the United States comes to an agreement about a way of doing things when the governruent passes a law. An institution is a mechanism set up for making decisions. There are many such mechanisms - not only governmental, but social institutions in general. Such institutions are objective conditions that result from human apprehensions and choices and facilitate the flow of coordinated operations. But you can count on the other fellow doing it: through these institutions individuals are socialized. For example, if every time you went out for a drive you were not sure whether there might be some lad driving around with the purpose of running into people, it would be a more hazardous enterprise; but because of socialization, we can count on no one but a madman doing that. (35f; Fs)

27/2 The third condition of coordinated operation is material equipment, the material means of facilitating cooperation.5 For example, a university without any buildings does not have the material equipment that is one element in an educational system. (36; Fs)

28/2 The final element in the good of order is personal status. When you have coordinated operations resulting in a flow of particular goods, there arise personal relations that are congruent with the structure of the good of order. Such personal relations give rise to status. Thus, the family is a good of order; a mother fulfils certain functions within the family; she plays a determinate role in the good of order that is the family, and by playing that role, fulfilling that part, she enters into certain relations with the other members of the family. Being in those relations with other members of the family is having a status in the family, a status that arises from the personal relations that result from coordinated human operations. Similar conditions obtain for pupil and teacher, doctor and client, and so on right along the line.6 The human good gives rise to determinate structures of interpersonal relations that result in status. (36; Fs)

29/2 So the good of order involves four aspects: a regular recurrence of particular goods, coordinated human operations, the triple condition of these coordinated human operations - habits, institutions, and material equipment - and finally, the personal status which results from the relations constituted by the cooperation. (36; Fs) (notabene)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Lonergan, Bernard J.F., The Trinune God: Systematics

Titel: Ordnung - Relation, intelligible Einheit

Index: Ordnung: im Sinn von Relation - intelligibler Einheit

Kurzinhalt: Note that order can be understood in two ways: first, according as relation is defined as the order of one to another; second, according as many things are ordered to one another ...

Text: 423d
Second, there is another formality of perfection, which is found in the unity of order. (Fs)

Note that order can be understood in two ways: first, according as relation is defined as the order of one to another; second, according as many things are ordered to one another in such a way as to constitute a unity. In the first sense, therefore, any relation is an order; but in the second sense, there is no order except insofar as many things compose an intelligible unity through many mutual relations. A pile of stones or of wood, for example, lacks the unity of order, and yet stones and wood properly arranged make one house. (Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - nous, Philosoph

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie); Entdeckung der Vernunft als Ordnungskraft und -kriterium (psyche, Seele); Symbole: Philosoph, spoudaios, daimonios aner, amathes, thnetos

Kurzinhalt: Vernunft ... ihre Differenzierung und Artikulierung durch Sprachsymbole ist ein geschichtliches Ereignis. Der Genius der hellenischen Philosophen entdeckte Vernunft als die Quelle von Ordnung in der psyche des Menschen

Text: Vernunft: Die Erfahrung der klassischen Philosophen

1/6 "Vernunft ist zu allen Zeiten das, was die menschliche Natur1 konstituiert, aber ihre Differenzierung und Artikulierung durch Sprachsymbole ist ein geschichtliches Ereignis. Der Genius der hellenischen Philosophen entdeckte Vernunft als die Quelle von Ordnung in der psyche2 des Menschen. Deshalb beschäftigt sich diese Untersuchung mit Vernunft im Sinn des platonisch-aristotelischen nous, mit den näheren Umständen und Folgen ihrer Differenzierung als eines Ereignisses in der geschichtlichen Entwicklung existentieller Ordnung. (127; Fs; tblStw: Ordnung)

2/6 Ich werde mich dabei nicht mit dem 'Begriff' oder einer nominalistischen 'Definition' von Vernunft befassen, sondern mit dem Prozeß in der Realität, in dem konkrete Menschen, die 'Liebhaber der Weisheit', die Philosophen, wie sie sich selbst nannten, sich in einem Akt des Widerstands gegen die persönliche und soziale Unordnung ihrer Zeit engagierten. Aus diesem Akt tauchte der nous auf als eine Kraft kognitiver Helligkeit, welche die Philosophen zum Widerstand veranlaßte und sie gleichzeitig befähigte, die Erscheinungen der Unordnung als solche zu erkennen im Licht einer menschlichen Natur, die durch den nous geordnet ist. Vernunft im noetischen Sinn wurde also entdeckt sowohl als Ordnungskraft wie als Ordnungskriterium. (127; Fs)

3/6 Als die Vernunft so zu klarem Bewußtsein ihrer selbst aufstieg, wurden sich die Philosophen gleichzeitig bewußt, daß dieses Ereignis einen epochalen Einschnitt darstellt, der eine Sinnrichtung3 in der Geschichte konstituierte. Sobald die Natur des Menschen für ihre Ordnung durchsichtig geworden war, konnte man von der Ebene, die durch diesen sinnkonstituierenden Erkenntnisschritt erreicht war, nicht mehr zu weniger differenzierten Formen der Erfahrung und ihrer Symbolisierung zurückkehren. Die Entdeckung der Vernunft teilte die Geschichte in ein Vor- und Nachher. (127f; Fs)

4/6 Dieses Epochenbewußtsein kam in der Bildung von Symbolen zum Ausdruck, welche die neue Struktur im Feld der Geschichte charakterisieren sollten. Das zentrale Symbol war dabei der 'Philosoph', in dessen psyche die menschliche Natur für ihre noetische Ordnung durchsichtig geworden war. Parallelsymbole waren Platons 'geistiger Mensch' (daimonios aner) und Aristoteles' 'reifer Mensch' (spoudaios). Der Mensch, der auf einem weniger differenzierten Bewußtseinsstand zurückblieb, war weiterhin der 'Sterbliche' (thnetos) der homerischen Sprache. Der Mensch schließlich, der sich aus Mangel an Empfänglichkeit diesem Erkenntnisschritt versperrte, sank zum 'törichten' oder 'stumpfsinnigen' Menschen ab, zum amathes. (128; Fs)

5/6 In der aristotelischen Metaphysik sind 'Mythos' und 'Philosophie' die Bezeichnungen für die beiden symbolischen Formen, durch die in historischem Nacheinander das kompakte kosmologische und das differenzierte noetische Bewußtsein ihre jeweiligen Realitätserfahrungen zum Ausdruck brachten. Und hinsichtlich desselben epochalen Schritts entwickelte Platon in den Nomoi eine triadische Symbolik für den geschichtlichen Prozeß, in dem das Zeitalter des Kronos und das des Zeus nun durch das Zeitalter des Dritten Gottes - des nous - abgelöst wurde. (128; Fs)

6/6 Obwohl sich also die klassischen Philosophen der epochalen Bedeutung dieses Schrittes bewußt waren, vermieden sie die Entgleisung in apokalyptische Erwartungen eines kommenden Endreiches. Sowohl Platon wie Aristoteles bewahrten die Balance ihres Bewußtseins. Zwar erkannten sie in dem noetischen Ausbruch das unwiderrufliche Ereignis in der Geschichte, das es wirklich war. Doch sie wußten auch, daß die Vernunft das Konstituens der menschlichen Natur schon gewesen war, noch bevor die Philosophen die Struktur der psyche differenzierten, und ihre Präsenz im Menschen es nicht verhindert hatte, daß die Ordnung der Gesellschaft in die Unordnung verfiel, zu der sie nun in Opposition standen. Es wäre unsinnig gewesen anzunehmen, die Differenzierung der Vernunft würde dem Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften ein Ende bereiten. Sie erwarteten nicht, Hellas werde sich nun zu der Art von Föderation paradigmatischer Poleis entwickeln, wie Platon sie für wünschenswert hielt. Im Gegenteil, Platon sah vorher, und Aristoteles erlebte es als Augenzeuge, daß die Polis einer Gesellschaft vom neuen Typ des ökumenischen Reiches unterlag. (128f; Fs)

7/6 Die klassischen Philosophen hielten so das Feld der Geschichte offen für gesellschaftliche Prozesse in einer Zukunft, die man nicht vorhersehen konnte, ebenso wie für die Möglichkeit einer weiteren Differenzierung des Bewußtseins. Besonders Platon war sich sehr wohl bewußt, daß der Mensch in seiner Spannung zum Grund der Existenz offen war in Richtung auf eine Tiefe der göttlichen Realität noch über das Stratum hinaus, das sich als nous enthüllt hatte. Als Philosoph ließ er das Bewußtsein für zukünftige Theophanien offen, ebenso für die pneumatischen Offenbarungen vom jüdisch-christlichen Typ wie für die späteren Differenzierungen in Gestalt von Mystik und Toleranz in dogmatischen Fragen. (129; Fs)

8/6 Es sollte klar geworden sein, daß Vernunft im noetischen Sinn der Geschichte nicht ein apokalyptisches Ende setzt, weder jetzt noch in einer progressivistischen Zukunft. Sie durchdringt vielmehr die Geschichte, die sie erst konstituiert, mit einer neuen Durchsichtigkeit der existentiellen Ordnung, in kritischer Auseinandersetzung mit den Leidenschaften, die diese Ordnung stören. Ihr modus operandi ist nicht Umsturz, Gewalttat oder Zwang, sondern Überzeugung, die peitho, die im Mittelpunkt von Platons philosophischer Existenz steht. Diese kann die Leidenschaften nicht beseitigen, aber sie kann der Vernunft Gehör verschaffen, so daß das noetische Bewußtsein eine überzeugende Ordnungskraft wird durch das helle Licht, das von ihm auf die Erscheinungen persönlicher und gesellschaftlicher Unordnung fällt. Es ist die epochale Leistung der klassischen Philosophen, daß sie die Spannung von existentieller Ordnung und Unordnung zur Durchsichtigkeit des noetischen Dialogs und Diskurses erhoben haben. Diese Epoche hat für das Leben der Vernunft in der Westlichen Kultur den Grund gelegt bis herauf in unsere eigene Zeit. Sie gehört deshalb nicht der Vergangenheit an, sondern ist die Epoche, in der wir immer noch leben. (129f; Fs)

9/6 Die Entdeckung der Vernunft als das epochale Ereignis in der geschichtlichen Entwicklung existentieller Ordnung kann in einem Aufsatz nicht erschöpfend dargestellt werden. Ich muß daher eine Auswahl treffen. Da unsere eigene Situation als Philosophen im 20. Jahrhundert der platonisch-aristotelischen Situation im 4. Jahrhundert v. Chr. sehr ähnlich ist, und da wir uns heute in derselben Art von kritischer Auseinandersetzung mit der Unordnung der Zeit befinden, empfiehlt es sich, daß ich mich auf die Entdeckung der Vernunft als der ordnenden Kraft in der menschlichen Existenz konzentriere. (130; Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - zoon politikon

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 2); Spannung d. Existenz (Grund, Staunen); nous als Struktur d. psyche (Seele); zoon politikon, politikon: Erfahrungsrealität; Kompaktheit u. Differenzierung; Symbolfelder (thaumazein, helkein, periagoge)

Kurzinhalt: ... zoon noetikon ... als eine zusammenfassende Kurzformel einer Analyse bezüglich der Realität von Ordnung in der psyche des Menschen... Wenn der Mensch sich als existent erfährt, entdeckt er seine spezifische menschliche Natur als die des Fragers ...

Text: I. Die Spannung der Existenz

10/6 In ihren Akten des Widerstands gegenüber der Unordnung der Zeit erfuhren und erforschten Sokrates, Platon und Aristoteles die Bewegungen einer Kraft, die der psyche des Menschen Struktur verlieh und sie befähigte, der Unordnung Widerstand zu leisten. Dieser Kraft, ihren Bewegungen und der sich daraus ergebenden Struktur gaben sie die Bezeichnung nous. Im Hinblick auf die ordnende Struktur seiner Natur charakterisierte Aristoteles den Menschen als das zoon noun echon, das Lebewesen, das nous besitzt. Diese Formulierung fand Anklang. Durch die lateinische Übersetzung des zoon noetikon als animal rationale ist der Mensch das vernünftige Lebewesen geworden und Vernunft zur Natur des Menschen. Auf der topischen Ebene philosophischer Sprache entwickelte sich diese Charakterisierung zu einer Art von Nominaldefinition. (130f; Fs)

11/6 Der Philosoph war jedoch nicht an Nominaldefinitionen interessiert, sondern an der Analyse der Realität. Die Charakterisierung des Menschen als des zoon noun echon, oder zoon noetikon, war nicht mehr als eine zusammenfassende Kurzformel einer Analyse bezüglich der Realität von Ordnung in der psyche des Menschen. Wenn die Analyse sich nicht mit der persönlichen Ordnung des Menschen befaßte, sondern mit der Ordnung seiner Existenz in der Gesellschaft, kam sie zu der zusammenfassenden Charakterisierung des Menschen als des zoon politikon. Und wenn die Analyse der menschlichen Existenz in geschichtlicher Realität, der 'Geschichtlichkeit' des Menschen, wie man dies heute nennt, von den klassischen Philosophen weiter geführt worden wäre, als es tatsächlich geschah, wären sie vielleicht zu der formelhaften Charakterisierung des Menschen als des zoon historikon gekommen. Alle drei Charakterisierungen sind richtig, insofern sie eine gültige Analyse der Erfahrungsrealität auf eine kurze Formel bringen, jede einzelne jedoch würde falsch, wenn sie die beiden anderen ausschlösse und beanspruchte, die einzige und die einzig gültige Definition der Natur des Menschen zu sein. (131; Fs)

12/6 Der Mensch ist ferner nicht eine körperlose Seele, die durch Vernunft geordnet wird. Durch seinen Körper partizipiert er an der organischen Wirklichkeit, sowohl an der der Tiere wie der Pflanzen, ebenso wie an dem Bereich der Materie. Und in seiner psyche erfährt er nicht nur die noetische Bewegung in Richtung auf Ordnung, sondern auch die Zugkraft der Leidenschaften. Außer seiner spezifischen Natur, der Vernunft, in ihren Dimensionen persönlicher, gesellschaftlicher und geschichtlicher Existenz, hat der Mensch das, was Aristoteles seine 'synthetische' Natur nennt. Von spezifischer und synthetischer Natur zusammen können wir als der 'integralen' Natur des Menschen sprechen. Diese integrale Natur, die sowohl die noetische psyche mit ihren drei Ordnungsdimensionen umfaßt als auch die Teilhabe des Menschen an der Hierarchie des Seins vom nous bis hinab zur Materie, ist nach Auffassung des Aristoteles der Gegenstand der philosophischen Untersuchung peri ta anthropina, der Untersuchung der Dinge, die sich auf die Natur des Menschen beziehen. (131f; Fs)

13/6 Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, wenn wir uns dieses umfassenden Feldes der menschlichen Realität bewußt sind als des Feldes, in dem Vernunft ihren Ort hat und die Funktion eines Ordnungszentrums erfüllt, von dem aus die Existenz geistig durchsichtig wird. Ich beginne nun mit der Untersuchung der klassischen Erfahrung und Symbolisierung dieser ordnenden Kraft in der psyche des Menschen. (132; Fs)

14/6 Die Realität, die von den Philosophen als spezifisch menschlich erfahren wird, ist die Existenz des Menschen in einem Zustand von Unruhe. Der Mensch ist nicht ein von ihm selbst geschaffenes, autonomes Wesen, das den Ursprung und Sinn seiner Existenz in sich selbst trüge. Er ist nicht eine göttliche causa sui. Vielmehr bricht aus der Erfahrung seines Lebens in unsicherer Existenz zwischen den Grenzen von Geburt und Tod die verwunderte Frage nach dem letzten Grund auf, der aitia oder prote arche, dem letzten Grund jeglicher Realität und besonders seiner eigenen. Die Frage ist der Erfahrung, aus der sie aufsteigt, inhärent. Das zoon noun echon, das sich selbst als ein lebendiges Wesen erfährt, ist sich gleichzeitig des fragwürdigen Charakters bewußt, der mit seinem Status verbunden ist. Wenn der Mensch sich als existent erfährt, entdeckt er seine spezifische menschliche Natur als die des Fragers nach dem Woher und Wohin, nach dem Grund und dem Sinn seiner Existenz. (132; Fs; tblStw: Ordnung)

15/6 Obwohl dieses Fragen der Selbsterfahrung des Menschen zu allen Zeiten inhärent ist, stellt, wie ich betont habe, die adäquate Artikulierung und Symbolisierung des fragenden Bewußtseins als des Konstituens der menschlichen Natur die epochale Leistung der Philosophen dar. Man kann in der Tat in den platonisch-aristotelischen Formulierungen noch die Erschütterung des Übergangs von den kompakten zu den differenzierten Modi des Bewußtseins erkennen. Bei Platon sind wir der Entdeckung noch näher. Der Sokrates des Theaitet erkennt in der Erfahrung (pathos) des Sich-Wunderns (thaumazein) das Merkmal des Philosophen. 'Philosophie hat in der Tat keinen anderen Ursprung.' (155d) (132f; Fs)

16/6 Eine Generation später, als die Wucht des ersten Eindrucks abgeklungen war, konnte Aristoteles seine Metaphysik mit der programmatischen Feststellung beginnen: 'Alle Menschen haben von Natur aus das Bestreben oregontai) zu wissen (eidenai).' Alle Menschen - nicht nur die Philosophen! Das Unternehmen der Philosophen ist für die Menschheit repräsentativ geworden. Jedermanns Existenz ist durch das thaumazein potentiell beunruhigt, aber einige drücken ihre Verwunderung in dem kompakteren Medium des Mythos aus, andere durch die Philosophie. Neben dem philosophos steht deshalb die Gestalt des philomythos, und 'der philomythos ist in gewissem Sinn ein philosophos.' (Met, 982b 18 ff.) Wenn Homer und Hesiod den Ursprung der Götter und aller Dinge bis zu Uranos, Gaia und Okeanos zurückverfolgen, drücken sie sich im Medium der theogonischen Spekulation aus, doch sind sie auf derselben Suche nach dem Grund wie Aristoteles selbst (Met. 983b 28 ff.). Die Stellung auf der Skala von Kompaktheit und Differenzierung berührt nicht die grundsätzliche Gleichheit der Struktur in der Natur des Menschen. (133; Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - noetische Erfahrung

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 3); noetische Erfahrung; Symbolfelder (Unruhe, Staunen, Verwirrung, Nichtwissen, Wissen, thaumazein, helkein, periagoge, agnoia, agnoein, amathia); differenzierte Existenzerfahrung

Kurzinhalt: Die Unruhe in der Seele eines Menschen kann so durchsichtig für sich selbst sein, daß sie sich versteht als verursacht durch Unwissenheit hinsichtlich des Grundes und des Sinns von Existenz ...

Text: 17/6 Und doch ist das epochale Ereignis der Differenzierung eingetreten, und die Philosophen haben den in sich kohärenten Komplex von Sprachsymbolen geschaffen, mit denen sie die einzelnen Stationen ihrer Analyse bezeichnen. Da ist an erster Stelle die Gruppe von Symbolen, welche die Erfahrung der Unruhe und Verwunderung ausdrücken: Sich-wundern - thaumazein; suchen, forschen - zetein; Untersuchung - zetesis; zweifelndes Fragen - aporein, diaporein. Ferner ist das zweifelnde Fragen in der Erfahrung mit dem Anzeichen der Dringlichkeit verbunden. Es ist nicht ein Spiel, das man spielt oder auch nicht. Der Philosoph fühlt sich durch eine unbekannte Kraft bewegt (kinein), die Fragen zu stellen, er fühlt sich in die Suche hineingezogen (helkein). Manchmal zeigt der verwendete Ausdruck ein drängendes Begehren als Moment des zweifelnden Fragens an, wie bei dem aristotelischen tou eidenai oregontai. Und manchmal ist der Zwang, die Frage zu stellen, großartig ausgestaltet, wie in Platons Höhlengleichnis, wo der Gefangene durch die unbekannte Kraft bewegt wird, sich herumzudrehen (periagoge) und den Aufstieg zum Licht zu beginnen. (133f; Fs; tblStw: Ordnung)

18/6 Nicht immer jedoch muß die unbekannte Kraft erst die Fesseln der Gleichgültigkeit sprengen. Die Unruhe in der Seele eines Menschen kann so durchsichtig für sich selbst sein, daß sie sich versteht als verursacht durch Unwissenheit hinsichtlich des Grundes und des Sinns von Existenz, so daß der Mensch ein aktives Begehren verspürt, diesem Zustand von Unwissenheit zu entkommen (pheugein ten agnoian, Met. 982b 21) und zum Wissen zu gelangen. Aristoteles drückt es kurz und bündig so aus: 'Ein Mensch in Verwirrung (aporon) oder Verwunderung (thaumazon) ist sich bewußt, in Unwissenheit zu sein (oietai agnoein).' (Met. 982b 18) Die Analyse erfordert also weitere Sprachsymbole: Nichtwissen - agnoia, agnoein, amathia; Flucht vor dem Nichtwissen - pheugein ten agnoian; sich herumdrehen - periagoge; Wissen - episteme, eidenai. (134; Fs)

19/6 Der bis jetzt artikulierte Teil der Erfahrung liefert den Unterbau für die noetischen Einsichten im eigentlichen Sinn. Ich habe ihn mit einiger Sorgfalt dargestellt, da er weniger bekannt ist, als er es sein sollte. Platon und Aristoteles waren so erfolgreich in der Exegese ihrer Erfahrungen, daß die nachklassische Entwicklung der Philosophie an die darüberliegende Schicht der noetischen 'Resultate' anknüpfen konnte, während die differenzierte Existenzerfahrung, die das Symbol 'Philosophie' hervorgebracht hatte, in das Halbdunkel des beinahe Vergessenen verdrängt wurde. Gegenüber dieser Vernachlässigung muß ich betonen, daß dieser Unterbau das katalytische Moment war, das die Beschäftigung der Vorsokratiker mit noetischen Problemen erst deutlich als ein Unternehmen in den Blick brachte, das sich mit der Ordnung der psyche durch ihre Spannung zum göttlichen Grund, dem aition aller Wirklichkeit, befaßte. Auf Grund dieser katalytischen Funktion ist diese Schicht der Erfahrung der Schlüssel zum Verständnis des nous im klassischen Sinn. (134f; Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - Parmenides, Anaxagoras, psyche

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 4); Parmenides (Grund d. Existenz, nous, logos, IST); Anaxagoras (G. d. Realität; nous als Quelle d. Ordnung im Kosmos); psyche (Seele): Ort des göttlichen aition; d. Grund d. Fragens als göttliche Gegenwart

Kurzinhalt: Der Mensch, der Fragen stellt, und der göttliche Grund, auf den sich die Fragen richten, verschmelzen miteinander in der Erfahrung des Fragens als einer göttlich-menschlichen Begegnung, und sie tauchen aus dieser Verschmelzung wieder auf als die ...

Text: 20/6 Der nous hatte die Aufmerksamkeit der vorsokratischen Denker, besonders des Parmenides und des Anaxagoras, auf sich gezogen im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen von verstehbaren Strukturen in der Realität. Parmenides hatte die Bezeichnung nous für die Fähigkeit des Menschen verwendet, zur Schau des Seins aufzusteigen, und die Bezeichnung logos für die Fähigkeit, den Inhalt dieser Schau zu analysieren. Er zog den präanalytischen Inhalt seiner Vision in den nicht-gegenständlichen Ausruf 'IST' zusammen. Die Erfahrung war so stark, daß sie zur Identifizierung von nous und Sein neigte, von noein und einai (B 3). Im Taumel der Vision verschmolzen der Erkennende und das Erkannte zu der einen wahren Realität (aletheia), um erst dann wieder getrennt zu werden, als der logos daranging, diese Erfahrung zu untersuchen und die geeigneten Sprachsymbole für ihren Ausdruck zu finden. Von diesem parmenideischen Ausbruch hat die Erfahrung der klassischen Philosophen die Erbschaft übernommen, daß der Mensch mit nous begabt ist (das aristotelische zoon noun echon), was seine Seele zu einem Sensorium des göttlichen aition macht, sowie das Gespür für die Konsubstantialität des menschlichen nous mit dem aition, das er in seinem Bewußtsein erfaßt. (135; Fs; tblStw: Ordnung)

Kommentar (vom 07/12/2008): Vgl. zu nous (nus): Schadewaldt, SCHWPH, 559 ff.

21/6 Während Parmenides die noetische Fähigkeit differenzierte, den Grund der Existenz zu erfassen, beschäftigte sich Anaxagoras mit der Erfahrung einer verstehbaren Struktur in der Realität. Konnte das göttliche aition wirklich eines der Elemente sein, wie frühere Denker angenommen hatten, die den Göttern des Mythos noch näher waren, oder mußte es nicht statt dessen eher eine gestaltende Kraft sein, die der Materie Form geben konnte? Anaxagoras entschied sich für den nous als die Quelle verstehbarer Ordnung im Kosmos und wurde für diese Einsicht von Aristoteles hoch gepriesen. Von zwei Seiten her also, der des Erkennenden und der des Erkannten, hatten sich die Erfahrungen von intellektueller Wahrnehmung und von einer intelligiblen Struktur, die geistig wahrgenommen werden konnte, zunächst unabhängig voneinander entwickelt. Jetzt standen sie bereit zu verschmelzen in der Entdeckung der menschlichen psyche als dem Sensorium des göttlichen aition und zugleich als dem Ort, an dem sich diese gestaltende Kraft manifestiert. (135f; Fs)

22/6 Die Differenzierung der psyche erweitert die Suche nach dem Grund um die Dimension kritischen Bewußtseins. Denn die kompakteren Symbole des Mythos oder der Vor-sokratiker können nicht unangefochten bleiben, sobald die Erfahrungsprozesse der psyche als die empirische Quelle erkannt worden sind, von der die Symbole ihre Gültigkeit ableiten. Der Mensch, der Fragen stellt, und der göttliche Grund, auf den sich die Fragen richten, verschmelzen miteinander in der Erfahrung des Fragens als einer göttlich-menschlichen Begegnung, und sie tauchen aus dieser Verschmelzung wieder auf als die Partizipierenden an dieser Begegnung, welche die Durchsichtigkeit und Struktur von Bewußtsein hat. (136; Fs)

23/6 In der platonisch-aristotelischen Erfahrung trägt die fragende Unruhe ihre beruhigende Antwort in sich, da der Mensch zu seiner Suche nach dem Grund bewegt wird durch den göttlichen Grund, nach dem er auf der Suche ist. Der Grund ist nicht ein räumlich entfernter Gegenstand, sondern eine göttliche Gegenwart, die in der Erfahrung der Unruhe und des Begehrens nach dem Wissen offenbar wird. Das Sich-verwundern und Fragen wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, das nur dann ganz durchsichtig für sich selbst werden kann, wenn es die entsprechende Antwort in der psyche konkreter Menschen findet - wie im Fall der klassischen Philosophen. Folglich ist Philosophie nicht ein Korpus von 'Ideen' oder 'Meinungen' über den göttlichen Grund, unter die Leute gebracht durch eine Person, die sich selbst Philosoph nennt, sondern der Sachverhalt, daß ein Mensch auf die fragende Unruhe antwortet und ihr nachspürt bis zu dem göttlichen Ursprung, der die Unruhe erregt hat. Wenn dieses Nachspüren jedoch wirklich dem göttlichen Beweger antwortend entgegenkommen soll, erfordert dies den Versuch, die Erfahrung durch geeignete Sprachsymbole zu artikulieren. Und dieser Versuch führt zu der Einsicht in die noetische Struktur der psyche. (136f; Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - Psychopathologie 1

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 6); Psychopathologie; Vernunft als Struktur d. Realität (Struktur d. Psyche im Einklang mit d. göttlichen Kosmos; philia: Spannung zum Grund); Zusammenbruch westl. Ph.

Kurzinhalt: Vernunft als eine Struktur in der Realität differenziert sich aus den Erfahrungen von Glaube und Vertrauen (pistis) in den göttlich geordneten Kosmos, und von Liebe ... Sie differenziert sich aus dem amor Dei im Sinn Augustins, und nicht aus dem amor sui.

Text: II. Psychopathologie

28/6 Daß Platon und Aristoteles sich auf die konkreten Modi der Spannung konzentrieren, ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des nous-Symbols, weil dadurch der Erfahrungskontext angegeben wird, in dem sich ohne Zweifel die Differenzierung der Vernunft ereignet: Vernunft als eine Struktur in der Realität differenziert sich aus den Erfahrungen von Glaube und Vertrauen (pistis) in den göttlich geordneten Kosmos, und von Liebe (philia, eros) zu der göttlichen Quelle von Ordnung. Sie differenziert sich aus dem amor Dei im Sinn Augustins, und nicht aus dem amor sui. Die Realität, die durch die nous-Symbole zum Ausdruck gebracht wird, ist also die Struktur in der psyche eines Menschen, der sich in Einklang mit der göttlichen Ordnung im Kosmos befindet, nicht eines Menschen, der in der Revolte gegen diese Ordnung lebt. (139; Fs; tblStw: Ordnung, Vernunft)

29/6 Vernunft hat als bestimmten existentiellen Inhalt die Offenheit gegenüber der Realität in dem Sinn, in dem Bergson von der âme ouverte spricht. Bleibt dieser Kontext der klassischen Analyse unbeachtet und werden die Symbole nous oder Vernunft so behandelt, als bezögen sie sich auf irgendeine menschliche Fähigkeit, die unabhängig ist von der Spannung zum Grund, dann ist die empirische Basis, von der die Symbole ihre Gültigkeit herleiten, verloren gegangen. Sie werden zu Begriffen, die aus Nichts abstrahiert sind, und das Vakuum dieser Pseudo-Abstracta füllt sich bereitwillig mit verschiedenen nicht-rationalen Inhalten. (139f; Fs)

30/6 Der Begriff 'Spannung zum Grund', der sowohl die voranalytischen wie die noetischen Modi der Spannung bezeichnet, soll verhindern, daß der Begriff Vernunft mißverstanden wird, indem unzweideutig die existentielle philia als die Realität hervorgehoben wird, die in der philosophia und im bios theoretikos der klassischen Philosophen noetisch durchsichtig wird. Angesichts des Zusammenbruchs der Philosophie in der westlichen Gesellschaft der Neuzeit muß die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller philia, zwischen Vernunft und Offenheit gegenüber dem Grund ausdrücklich hervorgehoben werden. (140; Fs)

31/6 Da der Begriff Spannung die Verbindung zwischen Vernunft und Existenz in Offenheit gegenüber dem Grund deutlich macht, ist er unentbehrlich, um den grundlegenden Sachverhalt psychopathologischer Erscheinungen zu verstehen: Wenn Vernunft existentielle philia ist, wenn sie die Offenheit der Existenz ist im Zustand kritischen Bewußtseins, dann beeinflußt das Sich-Verschließen der Existenz oder jede Art von Widerstand gegen die Offenheit sicher die rationale Struktur der psyche in negativer Weise. (140; Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - Psychopathologie 2

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 7); Psychopathologie 2; Heraklit (kosmos koinon - idios), Aischylos, Platon, Cicero, Chrysipp; existentielle Unordnung (apostrophe - epistrophe); Angst, Rationalisierung; Tusculanae Disputationes

Kurzinhalt: 'Diese Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine vorsätzliche Abwendung (apostrophe) vom logos.'

Text: 32/6 Die Phänomene existentieller Unordnung durch das Sichverschließen gegenüber dem Seinsgrund waren schon mindestens ein Jahrhundert vor den klassischen Philosophen beobachtet und artikuliert worden. Heraklit hatte unterschieden zwischen Menschen, die in der einen und gemeinsamen Welt (koinos kosmos) des logos leben, der das gemeinsame Band der Menschheit ist (homologia), und den Menschen, die in den verschiedenen Privatwelten (idios kosmos) ihrer Leidenschaft und ihrer Einbildung leben, zwischen den Menschen, die ein waches Leben führen, und den Schlafwandlern, die ihre Träume für Wirklichkeit ansehen (B 89). (140f; Fs)

33/6 Und Aischylos hatte die Prometheische Revolte gegen den göttlichen Grund als eine Krankheit oder Wahnsinn (nosos, nosema) diagnostiziert. Platon benutzte dann in der Politeia sowohl die herakliteischen wie die aischyleischen Symbole, um den Zustand von Einklang mit- und Sich-Verschließen gegen den Grund als Zustand existentieller Ordnung und Unordnung zu charakterisieren. Und doch bedurfte es der erschütternden Erfahrungen der ökumenischen Reichsbildungen, und in ihrem Gefolge der existentiellen Desorientierung als Massenphänomen, um die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller Ordnung in Begriffen festlegen zu können. Erst die Stoiker prägten die Ausdrücke oikeiosis und allotriosis, ins Lateinische übersetzt als conciliatio und alienatio, um zwischen den beiden existentiellen Zuständen zu unterscheiden, die das Leben der Vernunft ermöglichen bzw. Störungen der psyche bedingen. (141; Fs)

34/6 In den Tusculanae Disputationes referiert Cicero die grundlegenden stoischen Formulierungen: Wie es Krankheiten des Körpers gibt, gibt es auch Krankheiten des Geistes (morbi animorum); diese Krankheiten sind im allgemeinen durch eine Verwirrung des Geistes auf Grund verkehrter Meinungen verursacht (pravarum opinionum conturbatio), die in einen Zustand der Verderbtheit mündet (corruptio opinionum); die Krankheiten dieses Typs können nur auf Grund einer Zurückweisung der Vernunft (ex aspernatione rationis) entstehen; deshalb können Krankheiten des Geistes im Unterschied zu denen des Körpers nie ohne eigene Schuld auftreten (sine culpa); und da diese Schuld nur beim Menschen - weil er Vernunft hat -möglich ist, kommen diese Krankheiten bei Tieren nicht vor.1 (141; Fs)

35/6 Die Analyse, die hinter solchen Formeln steckt, kann aus einer Passage von Chrysipp erschlossen werden: 'Diese Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine vorsätzliche Abwendung (apostrophe) vom logos.'2. Die apostrophe ist die Bewegung, die der Richtung nach der periagoge oder epistrophe Platons entgegengesetzt ist. Indem der Mensch sich vom Grund abwendet, wendet er sich von seinem eigenen Selbst ab. Entfremdung ist also ein Sich-Entfernen von der menschlichen Natur, die durch die Spannung zum Grund konstituiert wird. (141f; Fs)

36/6 Darüberhinaus treten in diesem Zusammenhang die ersten Versuche auf, die Erfahrung von 'Angst' auszudrücken. Ciceros anxietas in den Tusculanae Disputationes ist in ihrer Bedeutung zu unbestimmt, um uneingeschränkt mit der modernen 'Angst' gleichgesetzt werden zu können. Sie bezeichnet vielleicht nur einen Geisteszustand, der sich unvernünftigen Befürchtungen überläßt.3 Aber Äußerungen, die Chrysipp zugeschrieben werden, machen klar, daß Angst als eine Spielart von Unwissenheit verstanden wird (agnoia). Ein Mensch ist völlig rasend, wird an der betreffenden Stelle gesagt, wenn er unwissend ist (agnoian echon) im Hinblick auf sein Selbst und das, was für sein Selbst von Belang ist. Diese Unwissenheit ist das Laster, das der Tugend wahrer Einsicht (phronesis) entgegengesetzt ist. Sie muß als ein existentieller Zustand charakterisiert werden, in dem die Begierden sich ohne Kontrolle und ohne Steuerung entwickeln, ein Zustand aufgeregter Unsicherheit und überreizter Leidenschaften, ein Zustand von Panik oder Schrecken, weil die Existenz ihre Richtung verloren hat. Diese Beschreibung wird in dem Ausdruck agnoia ptoiodes zusammengefaßt als der stoischen 'Definition' von Wahnsinn (mania).4 Dem zoon noun echon entspricht als sein pathologisches Gegenstück das zoon agnoian echon. (142; Fs)

37/6 Die Erforschung des pathologischen Gegentyps durch die Stoiker präzisiert den Sinn noetischer Existenz. Der kritische Punkt, der beachtet werden sollte, ist der Umstand, daß agnoia, Unwissenheit, als kennzeichnendes Merkmal sowohl im Zustand von Gesundheit (sanitas) als auch von Krankheit (insania) auftritt. Die fragende Unruhe, wie ich die Anfangsphase der noetischen Erfahrung neutral genannt habe, kann entweder der Anziehungskraft des Grundes folgen und sich zu noetischem Bewußtsein entfalten, oder sie kann sich vom Grund abkehren und anderen Anziehungskräften folgen. Die pathologische Entgleisung ereignet sich also in der Phase fragender Unruhe, in der Haltung des Menschen gegenüber der Spannungsstruktur seiner Existenz, und nicht auf den darauf aufbauenden Ebenen, auf denen die Entgleisung dann offenkundig wird in der Diskrepanz zwischen einem gutgeordneten Leben und einer Existenz ohne Orientierung, oder der Diskrepanz zwischen rationaler Artikulation der Realität und den in nicht geringerem Maße artikulierten 'verkehrten Meinungen', den pravae opiniones. (142f; Fs)

38/6 Natürlich ziehen die offenkundigen Symptome der Desorientierung die Aufmerksamkeit in erster Linie auf sich. Aus den Tusculanae Disputationes kann man eine lange Liste von Syndromen zusammenstellen, die ganz modern klingt: rastloses Geldverdienen, Streben nach gesellschaftlichem Prestige, Schürzenjägerei, übermäßiges Essen, Hang zu Delikatessen und Naschereien, Zechen, Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Ruhmsucht, Starrsinn, Unnachgiebigkeit und Ängste vor dem Kontakt mit anderen Menschen wie Weiberhaß oder allgemeine Menschenfeindlichkeit. Obwohl eine Symptomatologie dieser Art nützlich ist als Annäherung auf dem Niveau des gesunden Menschenverstands, ist sie jedoch analytisch nicht präzis genug. Denn es gibt nichts auszusetzen an den Leidenschaften als solchen, noch am Genuß von äußeren Gütern und denen des Körpers, noch an gelegentlichen Nachgiebigkeiten oder Exzessen. (143; Fs)

39/6 Wenn die Trennungslinien nicht genauer gezogen werden, wird man zu der Situation kommen, die Horaz in Satiren II 3 lächerlich gemacht hat. Deswegen unterscheidet Cicero sorgfältig zwischen akuten Äußerungen von Leidenschaften und Gewohnheiten, die chronisch geworden sind, zum Beispiel zwischen angor und anxietas, ira und iracundia. Und die Gewohnheitsbildung muß so gravierend sein, daß sie das Gleichgewicht der rationalen Ordnung der Existenz stört; sie muß auf eine Zurückweisung der Vernunft, auf eine aspernatio rationis hinauslaufen. Dieses letztere Kriterium steht in Zusammenhang mit einer früheren Stelle bei Chrysipp, wo er sich mit dem Menschen beschäftigt, der Argumenten nicht zugänglich ist, weil er seine Nachgiebigkeit gegenüber den Leidenschaften als ein ganz und gar rationales Verhalten ansieht. Das Phänomen rationalen Argumentierens zu dem Zweck, die Flucht aus der noetisch geordneten Existenz zu verteidigen, beeindruckte Chrysipp so stark, daß er annahm, der logos selbst könne korrumpiert werden. Poseidonios konnte nichts anderes tun, als diesen Irrtum zurückzuweisen und zu der Kraft in der menschlichen Existenz zurückzukehren, welche die Leidenschaften als Mittel benutzen kann, aus der noeti-schen Spannung zu fliehen, und gleichzeitig die Vernunft als Mittel, diese Flucht zu rechtfertigen.5 (143f; Fs)

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Stichwort: Ordnung

Autor, Quelle: Voegelin, Eric, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung - Psychopathologie 3

Index: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 8); Psychopathologie 3; Ursprung d. Entgleisung in d. fragenden Unruhe (agnoia); neuzeitliche Geschichte der Unruhe: Hobbes, Hegel, Heidegger, Freud; Apperzeptionsverweigerung (Doderer), Frankl

Kurzinhalt: ... geht es dabei um mehr als um einen bloßen Unterschied in der Stimmung zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in aggressiver Weise für ihre geistige Krankheit den Status geistiger ...

Text: 40/6 Die Stoiker diagnostizierten also geistige Krankheit als eine Störung noetisch geordneter Existenz. Diese Störung betrifft sowohl die Leidenschaften als auch die Vernunft, aber sie ist weder durch das eine noch durch das andere verursacht. Sie hat ihren Ursprung in der fragenden Unruhe, der agnoia, und in der Freiheit des Menschen, das Ziel der menschlichen Natur, das in der Unruhe potentiell enthalten ist, zu verwirklichen oder dieses Ziel zu verfehlen. (144; Fs)

41/6 Gesundheit oder Krankheit der Existenz wird schon aus der Stimmungslage dieser Unruhe spürbar. Die klassische, besonders die aristotelische Unruhe ist unverkennbar freudig, da das Suchen in sich eine Richtung hat. Die Unruhe wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, in dem sich der nous als die göttlich ordnende Kraft in der psyche des Fragenden und im Kosmos in seiner Gesamtheit offenbart. Die Unruhe ist eine Einladung, dem Ziel, das sie anzeigt, bis zur Aktualisierung des noetischen Bewußtseins nachzuspüren. (144f; Fs)

42/6 Es gibt keinen Ausdruck für 'Angst'. Die Gefühlslage, in Panik oder Schrecken versetzt zu werden durch eine Frage, auf die keine Antwort gefunden werden kann, ist der klassischen Erfahrung in charakteristischer Weise fremd. Die 'Panik' wurde erst durch die Stoiker als ein pathologisches Phänomen durch das Adjektiv ptoiodes eingeführt. In der neuzeitlich-westlichen Geschichte der Unruhe dagegen, von Hobbes' 'Todesfurcht' bis zu Heideggers 'Angst' hat sich die Stimmung verschoben von freudiger Teilnahme an einer Theophanie zu der agnoia ptoiodes, zur feindseligen Entfremdung von einer Wirklichkeit, die sich mehr verbirgt, als daß sie sich offenbart. Hobbes ersetzt das summum bonum durch das summum malum als ordnende Kraft in der menschlichen Existenz; Hegel baut seinen eigenen Zustand der Entfremdung zu einem System aus und lädt alle Menschen ein, Hegelianer zu werden; Marx verwirft die aristotelische Suche nach dem Grund rundweg, und lädt uns ein, sich ihm als 'sozialistischer Mensch' in seinem Zustand der Entfremdung anzuschließen; Freud diagnostiziert die Offenheit zum Grund als eine 'Illusion', als 'neurotisches Relikt', als 'Infantilismus'; Heidegger wartet auf die 'Parusia des Seins', die nicht kommt, was die Erinnerung an Samuel Beckets 'Warten auf Godot' wachruft; Sartre fühlt sich 'zur Freiheit verdammt' und schlägt wild um sich bei dem Versuch, Ersatzziele zu entwerfen für das eine Ziel, das er verfehlt hat; Levy-Strauss versichert uns, daß man nicht Wissenschaft betreiben kann, wenn man nicht Atheist ist; das Symbol 'Strukturalismus' wird das Schlagwort einer modischen Bewegung der Flucht aus der noetischen Struktur der Realität. Und wo weiter.' (145; Fs)

43/6 Aber wie diese Fallsammlung zeigt, geht es dabei um mehr als um einen bloßen Unterschied in der Stimmung zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in aggressiver Weise für ihre geistige Krankheit den Status geistiger Gesundheit. Im Meinungsklima der Neuzeit hat das zoon agnoian echon das zoon noun echon ersetzt. Die Pervertierung der Vernunft infolge ihrer Aneignung durch geistig Kranke, die schon Chrysipp beunruhigt hatte, hat sich in der neuzeitlichen Periode des Kulturverfalls zu der mörderischen Groteske unserer Zeit ausgewachsen. (145f; Fs)

44/6 Von Pervertierung allein kann jedoch der Mensch nicht leben. Parallel zu der Kulmination der Groteske in Hitler, Stalin und der Orgie des 'Befreiungspöbels' nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs auch das Bewußtsein ihres pathologischen Charakters. Zwar hatte schon im 19. Jahrhundert Schelling, als er sich mit dem Progressivismus seiner Zeit befaßte, den Ausdruck 'Pneumopathologie' geprägt. Aber bis in die jüngste Zeit wäre es sinnlos gewesen, die 'Meinungen', die die öffentliche Szene beherrschen, als psychopathologische Phänomene zu behandeln. Mittlerweile aber sind der 'Trugschluß des Reduktionismus', die Hervorbringung imaginärer 'Zweiter Wirklichkeiten' und die Rolle von Geschichtsphilosophien bei der Erzeugung einer Illusion von 'Unsterblichkeit' weithin als pathologische Symptome bekannt geworden. Ein Autor wie Doderer hat in seinen Dämonen die 'Apperzeptionsverweigerung', die Weigerung wahrzunehmen, als das Syndrom des zoon agnoian echon erkannt. Und in der Existenzpsychologie, z. B. im Werk Viktor E. Frankls, ist die 'noologische Dimension' des Menschen, sowie die Behandlung seiner Leiden durch 'Logotherapie' wiederentdeckt worden. Es wäre nicht überraschend, wenn früher oder später Psychologen oder Sozialwissenschaftler die klassische Analyse noetischer Existenz als die angemessene theoretische Basis für die Psychopathologie des 'Zeitalters' entdecken würden. (146; Fs)

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