Inhalt


Stichwort: Kunst

Autor, Quelle: Spaemann, Robert (und andere Autoren), Grundvollzüge der Person

Titel: Kunst - in einer Epoche sich zurückziehender Wirklichkeit

Index: Kunst - Anbahnung der Virtualisierung der Realität -> Weg zurück: quase-sakramentale Funktion (Beispiel: Documenta, versenkter Stab); Selbstüberschätzung d. Kunst; Claudius: Seht ihr den Mond dort stehen?

Kurzinhalt: Die Kunst war es, die den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat. Aber die Kunst ist es nun auch, die als erste auf diesem Weg Verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt... Frage, ob die Kunst sich damit nicht übernimmt und nicht auf ...

Text: 34b Ich möchte schließen mit einem Ausblick auf die bildende Kunst und ihre Rolle in einer Epoche sich zurückziehender Wirklichkeit. Jahrhunderte lang, wenigstens seit dem 17. Jahrhundert, war die europäische Kunst Illusionskunst. Entscheidend war die Einführung der Zentralperspektive in der Malerei. Das gleiche gilt auch für die Architektur und die Bildhauerei. Die Säulen unserer Barockkirchen sind in der Regel nicht aus Marmor, sondern sie sollen so aussehen, als wären sie aus Marmor. Und die Skulpturen, die so lebendig wirken, sind oft hohl und haben keine Rückseite. Die Kunst war es, die den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat. Aber die Kunst ist es nun auch, die als erste auf diesem Weg Verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt. In einer immer virtueller werdenden Welt übernimmt sie es, die Kostbarkeit des Seins darzustellen. Was bedeutet es, wenn in der Zeit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, wo das Original von der Simulation immer weniger unterscheidbar ist, die Authentizität des Originals eine geradezu magische Bedeutung gewinnt, eine Bedeutung, die nur mit der der „Gültigkeit" von Sakramenten vergleichbar ist? Diese Gültigkeit beruht ja auf der sinnlichen Realität einer Berührung, die auf der lückenlosen Folge von Handauflegen bis hin zum Stifter beruht. Die Authentizität des Kunstwerks beruht auf der originalen Berührung dieses Stückes Leinwand durch diesen Künstler. Bei der zu einem Osterhasen umgeschmolzenen Kaiserkrone von Beuys hängt alles daran, daß sich diese Geschichte wirklich zugetragen hat. Denn ansehen kann man sie dem Hasen nicht. In einer immer mehr den Schein kultivierenden Welt übernimmt die Kunst in Umkehrung des traditionellen Verhältnisses die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins, das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat. (Fs; tblStw: Kunst)

35a Beim verchromten Stab von ca. 1000 m Länge, den Walter de Maria anläßlich einer Kasseler Documenta in die Erde versenkt hat, sieht man die Schnittfläche des Stabes, eine kleine silberne Scheibe auf dem Boden. Das andere sieht man nicht, wie in dem Claudius-Gedicht: „Seht ihr den Mond dort stehen? -/ Er ist nur halb zu sehen/ und ist doch rund und schön./ So sind wohl manche Sachen,/ die wir getrost belachen,/ weil unsere Augen sie nicht sehn". Nicht was man sieht, ist das Wesentliche, sondern worauf es ankommt, ist, von der Wirklichkeit des versenkten Stabes zu wissen, die durch diese kleine Scheibe repräsentiert wird. Worauf es ankommt, ist, die Aktivität des Betrachters, der sich das, was er nicht sieht, ausdrücklich zu Bewußtsein bringt. Auch hier übernimmt die Kunst eine quasi sakramentale Funktion. Und es ist die große Frage, ob die Kunst sich damit nicht übernimmt und nicht auf einer Fährte ist, die nicht ihre eigene ist, weil ihr eigentliches Wesen das Sichtbarmachen ist. Aber um nachzuvollziehen, was sich hier vollzieht, ist es sinnvoll, diese Beispiele ins Auge zu fassen, weil sie wirklich das imitieren, was das Sakrament tatsächlich tut. Die Kunst macht etwas unsichtbar, damit es als wirklich erinnert wird. In einer virtuellen Welt, einer Fassadenwelt, übernimmt sie es, die verlorene Wirklichkeit als unsichtbare zu vergegenwärtigen. Denn nur als unsichtbare ist die Wirklichkeit unzerstörbar. (Fs) (notabene)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt