Autor: Hazard, Paul Buch: Die Krise des europäischen Geistes Titel: Die Krise des europäischen Geistes Stichwort: Leibniz; Reformation, Einigung der Kirchen; methodus reducendae unionis ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes; Arnauld; Systema theologicum Kurzinhalt: ... die Freidenker, die Deisten und sogar die Atheisten führen gegen den Glauben einen Kampf, der täglich an Kühnheit zunimmt und dem nur geteilte Kräfte begegnen. Wenn es dagegen Katholiken und Protestanten gelänge ... Textausschnitt: 259b Sobald man Europa betrachtet, fällt der Blick auf eine Wunde: seit der Reformation ist seine Einheit zerbrochen. Seine Bewohner sind in zwei Parteien gespalten, die sich feindlich gegenüberstehen. Kriege, Verfolgungen, bitterer Streit, Beschimpfungen sind das tägliche Brot dieser feindlichen Brüder. Die erste Aufgabe dessen, der von Harmonie träumt, muß es sein, eine Krankheit zu heilen, die von Tag zu Tag schlimmer wird. Seit 1660 ist der Kampf zwischen Katholiken und Protestanten tatsächlich wieder heftiger geworden. Bis zu welchem Übermaß wird er sich noch steigern? Wenn er andauert, wird es bald mit dem Glauben aus sein, mit jedem Glauben; denn die Freidenker, die Deisten und sogar die Atheisten führen gegen den Glauben einen Kampf, der täglich an Kühnheit zunimmt und dem nur geteilte Kräfte begegnen. Wenn es dagegen Katholiken und Protestanten gelänge, sich zu verständigen, so würde die versöhnte Christenheit in ihrer Einigkeit eine unwiderstehliche Kraft finden, gemeinsam gegen den Unglauben aufstehen und die Kirche Gottes retten. (Fs)
260a Leibniz stellt all seine Kräfte dem Werk der Einigung zur Verfügung. Er kennt die Ansprüche der beiden Parteien. Er hat die Streitschriften ausgiebig gelesen und weiß sogar, daß sie im allgemeinen nicht viel Gutes enthalten. Er kennt die Menschen. Er ist nicht der erste beste, da er durch seine Entdeckungen Anspruch auf einiges Ansehen bei denkenden Menschen hat: in allen Ländern Europas können erstklassige Gelehrte für ihn gutsagen. Er ist Lutheraner; aber er will, nach einem Wort, das er in der Bemühung um sein schönes Ziel, die Einigung der Kirchen, geäußert hat, nicht »unterscheiden, was unterscheidet. ..«. Um eine Methode zu finden, braucht er nur seiner natürlichen Neigung zu folgen, braucht er nur zu zeigen, daß die Abweichungen nicht wesentlich sind, daß die Ähnlichkeiten zahllos sind und fast einer Identität gleichkommen, und kann so versuchen, eine allgemeine Einigung auf Grund der einfachsten Formen des Glaubens, die zugleich die tiefsten sind, herbeizuführen. (Fs)
260b Zur Zeit seiner Reise nach Paris hatte er bei Arnauld, dem Jansenisten, ein Vaterunser gesprochen, das nach seiner Meinung alle akzeptieren konnten: »O Du einiger, ewiger und allmächtiger Gott, Du einziger wahrhaftiger und unendlich herrschender Gott; ich, Dein armseliges Geschöpf, glaube an Dich und hoffe auf Dich; ich liebe Dich über alles, ich bete zu Dir, lobe Dich, danke Dir und weihe mich Dir. Vergib mir meine Schuld und gib mir und allen Menschen das, was nach Deinem gegenwärtigen Willen für unser zeitliches und ewiges Wohl nützlich ist, und bewahre uns vor allem Übel. Amen.« Aber Arnauld hatte dieses Gebet zurückgewiesen, weil es den Namen Jesu Christi nicht enthielt. Es würde immer Leute geben, die seine Formulierungen zurückwiesen, und die Aufgabe würde nicht sehr einfach sein, aber zum mindesten wollte er sie in Angriff nehmen. Hatte er damit Erfolg, so würde er für sein Teil jene Harmonie verwirklichen, die das Gesetz des Universums ist. Mißlang es, so trugen andere die Verantwortung, die Verstockten, die Blinden; andere würden das Schisma verlängern, es unheilbar machen und den Zusammenbruch des religiösen Bewußtseins von Europa vollenden. (Fs)
261a Vorbereitende Arbeiten dehnen sich über Jahre aus. Sie beginnen schon 1676, als Leibniz, der seinen Weg auf dem Gebiet der Alchemie abtastet, in Nürnberg einen Adepten dieser Kunst, den Freiherrn v. Boinebourg, findet, einen bekehrten Protestanten, der seine besten Jahre den »irenischen Verhandlungen«, wie man damals sagte, widmete. Boinebourg nimmt ihn nach Frankfurt mit, dann an den Hof zu Mainz, wo die religiösen Kontroversen gerade in vollem Gange sind. Als Leibniz 1676 bei seiner Rückkehr aus Paris die Stelle eines Bibliothekars in Hannover annimmt, trifft er in der Person des Herzogs Johann Friedrich, eines katholischen, aber über protestantische Untertanen herrschenden Fürsten, auf den Mann, durch den Rom Norddeutschland zu bekehren hofft. Die Bewegung beschleunigt sich, die Akteure auf der Hannoveraner Bühne sind mächtig bei der Arbeit: Ernst August, der Nachfolger von Johann Friedrich, und der Bischof Spinola, ein Schützling des Kaisers, der zwischen Wien, den deutschen Fürstentümern und Rom hin und her fährt und die Fäden der Einigung spinnt. Im Jahie 1683 bringt Spinola eine Formulierung, die als Basis dienen soll, Regalae circa christianorum omnium ecclesiasticam reunionem. Die Theologen aus beiden Lagern versammeln sich, halten Besprechungen ab und arbeiten unter dem geistigen Einfluß von Molanus, dem Abt von Lockum - einem Menschen von großzügigem Geist und Herzen - eine Methode aus, die endlich die langersehnte Aussöhnung herbeiführen soll: Methodus reducendae unionis ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes. (Fs)
261b Leibniz geht weiter als alle. Um die Zeit, da im französischen Reich die Aufhebung des Ediktes von Nantes vorbereitet und vollzogen wird, bleibt er den vorübergehenden Gewalttaten gegenüber unempfindlich und überzeugt, daß der Geist der Einigkeit die Wahrheit und das Leben ist. Er sinnt nach und verfaßt jenes Glaubensbekenntnis, das man Systema theologicum nennt und das in einem so ernsten und schönen Ton gehalten ist: nachdem ich durch lange und inbrünstige Gebete den göttlichen Beistand erfleht habe, habe ich, soweit es dem Menschen möglich ist, jeden Parteigeist beiseite getan und über die religiösen Streitigkeiten so nachgesonnen, als ob ich aus einer neuen Welt käme ... Als einfältiger, mit keiner der Konfessionen vertrauter und von jeder Verpflichtung freier Neuling habe ich nach reiflicher Überlegung schließlich die Punkte niedergelegt, die ich nun darlegen werde: ich habe geglaubt, sie annehmen zu müssen, weil die Heilige Schrift, die Autorität des gläubigen Altertums, die gesunde und aufrechte Vernunft selbst und das zuverlässige Zeugnis der Tatsachen sich mir alle zu vereinigen scheinen, um jeden vorurteilsfreien Menschen davon zu überzeugen ... (Fs)
262a Welche Überzeugung meint er? Er hat nicht nur die Dogmen über die Existenz Gottes, die Erschaffung des Menschen und der Welt, die Erbsünde, die Mysterien nachgeprüft, sondern auch die am heftigsten umstrittenen Punkte der religiösen Praxis, die frommen Gelübde, die Werke, die Zeremonien, die Bilden den Heiligenkult. Er ist danach überzeugt, daß nichts im Wege steht, daß Katholiken und Protestanten sich einander nähern, sich einigen und, indem beide Teile in bezug auf ein paar scheinbare Schwierigkeiten nachgeben, die Einheit des Glaubens wiederherstellen. Folgendermaßen äußert er sich über die katholischen Ordensregeln, die gerade den Zorn oder die Verachtung seiner Glaubensbrüder, der Lutheraner, hervorrufen:
Ich gestehe, daß die religiösen Orden, die frommen Bruderschaften, die heiligen Vereinigungen und alle anderen derartigen Einrichtungen immer meine ganz besondere Bewunderung hervorgerufen haben. Sie sind so etwas wie auf Erden kämpfende himmlische Heerscharen, sofern man nur jeden Mißbrauch und jede Korruption fernhält, sie im Sinne und nach den Regeln ihrer Gründer leitet, und wenn der souveräne Pontifex sie zum Nutzen der universellen Kirche einsetzt. (Fs)
Oder noch besser: Die Töne der Musik, der sanfte Zusammenklang der Stimmen, die Poesie der Hymnen, die fromme Beredsamkeit, der Glanz der Lichter, die Wohlgerüche, die reichen Gewänder, die mit kostbaren Steinen verzierten Vasen, die reichen Geschenke, die die Frömmigkeit anregenden Statuen und Bilder, die Gesetze einer erfahrenen Architektur, die Wirkungen der Perspektive, die Feierlichkeit der öffentlichen Prozessionen und die reichen Teppiche, welche die Straßen schmücken, der Klang der Glocken, in einem Wort all jene Ehren, welche die Frömmigkeit des Volkes so gern darbringt, begegnen, glaube ich, bei Gott nicht jener Verachtung, welche die verdrießliche Einfachheit einiger Menschen unserer Tage zu empfinden vorgibt. Das bestätigen im übrigen sowohl die Vernunft als die Tatsachen ... (Fs)
263a Kann man sich danach wundern, daß man Leibniz in Rom, wohin ihn 1669 seine historiographischen Arbeiten und seine allumfassende Wißbegierde führen, die Leitung der Vatikanischen Bibliothek anbietet? Hat man dort nicht Grund anzunehmen, er sei im Herzen katholisch und ganz nahe daran, sich zu bekehren? (Fs) ____________________________Autor: Hazard, Paul Buch: Die Krise des europäischen Geistes Titel: Die Krise des europäischen Geistes Stichwort: Leibniz; Biographisches; Suche nach Harmonie; Infinitesimalrechnung, Kontinuität Kurzinhalt: Die Zurückführung auf die Einheit, das ist in der Tat die zweite große Leidenschaft von Leibniz. Er empfindet die Gegensätze weniger stark als die Übereinstimmungen und richtet sein Augenmerk darauf, die Reihe der winzigen Abstufungen zu erkennen ... Textausschnitt: 255a »Er war schmal und blaß. Seine mit unzähligen Runzeln bedeckten Hände liefen in dünne Finger aus. Da seine Augen von Anbeginn wenig scharf waren, fehlten ihm beherrschende visuelle Bilder. Er trug den Kopf geneigt und haßte alle brüsken Bewegungen. Er liebte Wohlgerüche und schöpfte daraus wahre Erholung. Er zog die Meditation und die einsame Lektüre dem Gespräch vor; aber wenn ein Gespräch sich entspann, so setzte er es gern fort. Er liebte die Nachtarbeit. Er machte sich nichts aus vergangenem Geschehen; der geringste gegenwärtige Gedanke fesselte ihn mehr als die größten weit zurückliegenden Dinge. So schrieb er denn auch unaufhörlich Neues und ließ es unvollendet; am nächsten Tag vergaß er es und gab sich keinerlei Mühe, es wieder aufzufinden ...1« (Fs)
255b So war Leibniz. Welch ein Wissenshunger war auf dem Grund seiner vielseitigen Seele! Er ist seine beherrschende Leidenschaft. Er möchte alles kennen bis zu den äußersten Grenzen des Realen und darüber hinaus bis zum Imaginären. Er sagt: Derjenige, der am meisten Bilder von Pflanzen und Tieren, am meisten Abbildungen von Maschinen, am meisten Beschreibungen und Darstellungen von Häusern oder Festungen gesehen hat, der am meisten erfindungsreiche Romane gelesen, am meisten interessante Erzählungen gehört hat, wird mehr Kenntnisse besitzen als andere, selbst wenn kein wahres Wort in all dem ist, was man ihm geschildert und erzählt hat ... Er hatte alles gelernt, zunächst Latein und Griechisch. Rhetorik und Poesie, so daß seine Lehrer, erstaunt über seine Unersättlichkeit, schon fürchteten, diese Anfangsstudien würden ihn nicht mehr loslassen. Aber gerade in diesem Augenblick machte er sich frei. Von der scholastischen Philosophie und der Theologie ging er zur Mathematik über, in der er später geniale Entdeckungen machen sollte, von der Mathematik kam er zur Jurisprudenz. Er befaßte sich mit Alchemie, denn er suchte ja das Verborgene, das Seltene, das, was vielleicht auf Wegen, die gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich sind, zur Erklärung der Erscheinungen führen kann. Jedes Buch, jeder Mensch, denen er zufällig begegnete, forderte seinen Erkenntnisdrang heraus. Sich »wie mit einem Nagel« an einen bestimmten Fleck, eine bestimmte Disziplin, eine bestimmte Wissenschaft zu heften, das eben konnte er nicht ertragen. Einen bestimmten Beruf wählen, Advokat werden oder Professor, sich jeden Tag zur gleichen Stunde der gleichen Beschäftigung hingeben - nur das nicht! Er reiste, sah deutsche Städte, sah Frankreich, England, Holland, Italien, besuchte die Museen, pflegte Umgang mit den gelehrten Gesellschaften, bereicherte seinen Geist durch tausend Beziehungen und machte sein Leben zu einem ständigen Neuerwerben. Er willigte schließlich ein, Bibliothekar zu werden, um so dem unaufhörlichen Ruf aller menschlichen Gedanken sein Ohr zu leihen. Er wurde Historiograph, um so viel wie irgend möglich vom Vergangenen und Gegenwärtigen zu erfassen. Er korrespondierte mit aller Welt, war ein Berater der Fürsten und eine lebende Enzyklopädie, die immer bereit war, Auskunft zu geben. Aber der Sinn seines Daseins war, in der Welt einen Dynamismus zu verkörpern, der unerschöpflich schien, weil er nie aufhörte, immer neue Tatsachen, Ideen, Gefühle, immer neue Menschlichkeit einzusaugen. (Fs)
256a Aus seinem ständig arbeitenden, die neuen Erkenntnisse jeder Art bewegenden und einschmelzenden Bewußtsein entsprangen, je nach der Laune des Tages, nützliche Erfindungen, philosophische Systeme oder großherzige Träume. Er beherrschte schließlich alle Wissenschaften und alle Künste, ganz abgesehen von dem unendlichen Material für seine idealen Konstruktionen. Er war, wie man von ihm gesagt hat, »Mathematiker, Physiker, Psychologe, Logiker, Metaphysiker, Historiker, Jurist, Philologe, Diplomat, Theologe und Moralist«, und an dieser märchenhaften Aktivität, die wir in diesem Maß wohl bei keinem andern Menschenkind finden, gefiel ihm am besten ihre Mannigfaltigkeit: utiqae enim delectat nos vaiietas. (Fs)
256b Utique delectat nos varietas, sed reducta in unitatem2. Die Zurückführung auf die Einheit, das ist in der Tat die zweite große Leidenschaft von Leibniz. Er empfindet die Gegensätze weniger stark als die Übereinstimmungen und richtet sein Augenmerk darauf, die Reihe der winzigen Abstufungen zu erkennen, die das Licht mit dem Schatten, das Nichts mit dem Unendlichen verbinden. Er möchte einen Zusammenschluß zwischen den Gelehrten herbeiführen: denn woher kommt es, daß die Wissenschaft so langsam vorankommt, wenn nicht von der Isolierung derer, die sie pflegen? Man schaffe in jedem Land Akademien, und diese mögen dann von Nation zu Nation die Verbindung aufnehmen, dann werden die Kanäle des Geistigen Fluten neuer Erkenntnis herbeitragen und die Erde befruchten. Und noch mehr! Leibniz möchte eine Universalsprache schaffen. In Wahrheit bietet die Welt ein schmerzliches Schauspiel der Uneinigkeit und Zerrissenheit: überall Barrieren, Anfragen, die ohne Antwort bleiben, Anläufe der Wahrheit entgegen, die verurteilt sind, im Nichts zu enden: eine Verwirrung, die seit Jahrhunderten andauert. Sollte es nicht möglich sein, wenigstens einige der Hindernisse zu beseitigen, deren Anblick allein die Vernunft beleidigt, und sollte man sich, um einen Anfang zu machen, nicht über den Sinn der Worte einigen können? Man müßte eine Sprache schaffen, die für alle Geltung hätte, und die nicht nur die internationalen Beziehungen erleichterte, sondern ihrem Wesen nach von solcher Klarheit, Präzision, Geschmeidigkeit und von einem solchen Reichtum wäre, daß sie in sich die vernünftige und sinnliche Evidenz darstellen würde. Man würde sich ihrer für alle geistigen Betätigungen bedienen, wie die Mathematiker es mit der Algebra tun: nur wäre es eine konkrete Algebra, in welcher jeder Terminus beim ersten Blick das Bild aller möglichen Beziehungen zu verwandten Ausdrücken aufsteigen ließe. Man besäße somit eine »universelle Charakteristik«, das feinste Instrument, dessen der menschliche Geist sich je bedient hätte. (Fs)
257a Leibniz leidet unter der Uneinigkeit Deutschlands, unter der Uneinigkeit Europas, das er befrieden und dessen Überfluß an kriegerischen Energien er notfalls nach dem Orient ablenken möchte. Und wenn wir in die tieferen Regionen seines Geistes vordringen, so finden wir dort die gleiche Sehnsucht: Seine große Entdeckung auf dem Gebiet der Mathematik, die Infinitesimalrechnung, bedeutet einen Übergang vom Unstetigen zum Stetigen; sein großes psychologisches Gesetz ist das der Kontinuität: eine deutliche Wahrnehmung ist an dunkle Wahrnehmungen gebunden, die uns allmählich über eine Reihe nicht wahrnehmbarer Abstufungen bis zur ursprünglichen Schwingung der Lebenskraft hinleiten. Harmonie bleibt die höchste metaphysische Wahrheit. In ihr lösen sich schließlich alle unvereinbar erscheinenden Mannigfaltigkeiten auf, indem sie sich zu einem Ganzen zusammenfügen, in dem jede auf Grund einer göttlichen Ordnung ihren Platz hat. Das Universum ist ein gewaltiger Chor; das Individuum bildet sich ein, es singe seinen Gesang alleine, aber in Wirklichkeit folgt es nur für sein Teil einer unendlichen Partitur, in der jede Note so eingefügt worden ist, daß alle Stimmen sich entsprechen und ihr Zusammenklang eine Musik hervorruft, die vollkommener ist als die Harmonie der Sphären, von der Plato träumte3. (Fs) (notabene)
258a Lesen wir noch einmal die schöne Stelle, in welcher Emile Boutroux die Schwierigkeiten hervorhebt, auf die ein so gearteter Geist in eben der Zeit stoßen mußte, in der er zur Welt kam. - »Die Aufgabe ist nicht die gleiche wie für die Menschen des Altertums. Er findet ausgesprochene Gegensätze vor, die durch das Christentum und das moderne Denken entstanden sind, Unvereinbarkeiten, wenn nicht sogar richtige Widersprüche in einem Ausmaß, wie sie die Antike nie gekannt hat. Das Allgemeine und Besondere, das Mögliche und das Tatsächliche, das Logische und das Metaphysische, das Mathematische und das Physikalische, Mechanismus und Teleologie, Materie und Geist, Erfahrung und angeborene Erkenntnis, universale Bindung und Spontaneität, Verkettung von Ursache und Wirkung und Freiheit des Menschen, die Vorsehung und das Böse, Philosophie und Religion, all diese Gegensätze sind ihrer gemeinsamen Elemente durch die Analyse mehr und mehr beraubt worden und stehen sich so schroff gegenüber, daß es unmöglich scheint, sie miteinander zu versöhnen, und daß sich einem nach Klarheit und Folgerichtigkeit trachtenden Denken die Entscheidung für die eine Seite unter völliger Ablehnung der anderen aufzudrängen scheint. Unter solchen Umständen setzt Leibniz sich das Ziel, die Aufgabe des Aristoteles wieder aufzunehmen und die Einheit und Harmonie der Dinge, die der menschliche Geist scheinbar nicht mehr begreifen kann und vielleicht sogar nicht mehr zugeben will, wieder aufzufinden4. (Fs)
259a So stellte sich dieser wunderbare, zugleich kühne und ruhige Kopf zu einer Zeit, da die Ideen mit einer bis dahin unbekannten Heftigkeit gegeneinander zum Kampf antraten, absichtlich auf einen so hohen Standpunkt, daß jede Wahl, die das Gegensätzliche ausschloß, ihm nicht ein Anzeichen der Stärke, sondern ein solches der Schwäche und des Verzichtes erschien. Würde er ans Ziel gelangen? Wenn er nun zu den Tatsachen hinuntersteigt, von der Spekulation zum Praktischen übergeht und das zerrissene und verwundete religiöse Bewußtsein seiner Zeitgenossen durch das Mittel der Versöhnung zu heilen versucht, so fragt sich, ob ihm das gelingen wird, oder ob er nichts tun wird, als dem bestehenden Schisma auch noch den Charakter der Unabänderlichkeit zu verleihen. War es möglich, selbst für ein Genie, von allen Überlieferungen gerade die Idee der »Christenheit« zu retten? (Fs) ____________________________Autor: Hazard, Paul Buch: Die Krise des europäischen Geistes Titel: Die Krise des europäischen Geistes Stichwort: Leibniz, Bossuet; Edikt von Nantes; Bruch Kurzinhalt: Aber Bossuet hat den Widerruf des Ediktes von Nantes gutgeheißen ... und hiermit vollzog sich der endgültige Bruch. Textausschnitt: 263b Bossuet ist es, den man erreichen müßte, um ans Ziel zu gelangen. »Sie sind wie ein zweiter Sankt Paulus, dessen Arbeiten nicht auf eine einzige Nation oder auf eine einzige Provinz beschränkt bleiben. Ihre Arbeiten sprechen gegenwärtig in den meisten europäischen Sprachen, und die von Ihnen Bekehrten verkünden Ihren Triumph in Sprachen, die Sie selbst nicht verstehen ...1«
263c Lange hatte Bossuet geglaubt, man könnte die Protestanten durch Disputationen zurückgewinnen. Als er im Jahre 1671 seine Exposition de la doctrine catholique herausgab, schien er die Hand auszustrecken, die Arme zu öffnen. Wie Leibniz wollte er nicht mehr »unterscheiden, was unterscheidet«, sondern das betonen, was einigen konnte. Indem er die katholische Doktrin von allem überflüssigen Beiwerk befreite, mit dem die Wirrköpfe und die Maßlosen sie überladen hatten, indem er aufzeigte, daß die fundamentalen Glaubenssätze die gleichen waren, indem er sich zum Heiligenkult, zu der Frage der Bilder und Reliquien, zum Ablaß, den Sakramenten, der Rechtfertigung durch die Gnade auf das verständigungsfreundlichste äußerte, indem er die Überlieferung und die Autorität der Kirche rechtfertigte; indem er nachwies, daß der Glaube an die Transsubstantiation die einzige wirkliche Schwierigkeit darstelle und daß zudem diese Schwierigkeit nicht unüberwindlich sei, machte er eine so großzügige, so warmherzige Geste, daß die ganze protestantische Welt davon gerührt war. Man hatte sogar seine Exposition für zu liberal erklärt, um rechtgläubig zu sein, aber mit der Zustimmung der Bischöfe und des Papstes selbst versehen, triumphierte sie, verbreitete sich über ganz Europa und tat ihre Wirkung: »Diese Darlegung unserer Lehre wird zweierlei gute Auswirkungen haben: die erste wird sein, daß mehrere Streitigkeiten ganz einschlafen werden, weil man erkennen wird, daß sie auf einer falschen Auslegung unseres Glaubens beruhen; die zweite wird sein, daß die verbleibenden Unterschiede nach den Grundsätzen der sogenannten Reformierten nicht so grundlegend erscheinen werden, wie sie zunächst haben glauben machen wollen, und daß sie auch nach eben diesen Grundsätzen nichts enthalten, was die Grundlagen des Glaubens verletzt...« (Fs)
264a Aber Bossuet hat den Widerruf des Ediktes von Nantes gutgeheißen (er entsprach in logischer Konsequenz seinem Denken), und hiermit vollzog sich der endgültige Bruch. Von dem Tage an, an dem er vor dem versammelten Hof über das Compelle intrare gepredigt hat - es war am Sonntag, dem 21. Oktober 1685 -, mußten die Protestanten ihn nicht nur zu ihren Gegnern, sondern zu ihren Feinden zählen. Und man weiß, welchen Sturm im Jahre 1688 die Veröffentlichung der Histoire des Variations des Églises protestantes hervorgerufen hat. Monate, Jahre hindurch erschienen Widerlegungen, Erwiderungen, Erwiderungen auf die Erwiderungen. Weder die einen noch die anderen waren sanft: »Man braucht nicht das ganze Meer auszutrinken, um zu wissen, daß sein Wasser salzig ist, noch braucht man uns alle Verleumdungen, die man uns anhängt, aufzutischen, damit wir uns darüber klar werden, wieviel Bitterkeit man gegen uns hegt1.«
265a Hier erhält Leibniz' Versuch seinen grandiosen Charakter und seine erhabene Bedeutung: nach der Aufhebung des Ediktes die Einigung erstreben! Von allen Seiten hatte man sie ersehnt. Es hatte Leute in Schweden, in England und selbst noch in Rußland gegeben, die versucht hatten, diejenigen, die guten Willens waren, zu einer Herde zu vereinigen. Aber jetzt, wo die Hirten nichts anderes mehr taten, als sich miteinander herumschlagen, noch immer an die Wiederversöhnung zu denken, welch Beginnen! Und doch war gerade das der Traum von Leibniz, und Bossuet war es, den er zu Hilfe herbeirief. (Fs)
265b Sie beginnen zu konferieren, nicht als Personen von Fleisch und Blut, wohl aber mit ihren Ideen, mit ihrem Wollen. Sie sitzen sich dabei nicht gegenüber, aber sie unterhandeln so ins einzelne gehend miteinander, als ob sie in irgendeinem schmucklosen Sitzungssaal zusammensäßen und unter einem Kruzifix. Mit Hilfe einiger Eingeweihter entspinnt sich in dem mystischen Halbdunkel, das sich für langwierige und schwierige Unterhandlungen eignet, zwischen diesen beiden großen Seelen eine ergreifende Diskussion. (Fs) ____________________________Autor: Hazard, Paul Buch: Die Krise des europäischen Geistes Titel: Die Krise des europäischen Geistes Stichwort: Leibniz, Bossuet; Versuch einer Versöhnung (Protestanten - Katholiken) Kurzinhalt: Es ist diese: man kann sich in Glaubenssachen irren, ohne ein Ketzer oder Schismatiker zu sein, sofern man nur nicht verstockt ist. Textausschnitt: 265c Wenn man eine erste Phase, die nichts war als ein rasch aufeinanderfolgender Austausch von Briefen und Höflichkeiten, nicht mitrechnet, so begann die Debatte um 1691 in ihrem vollen Umfang. Von Frankreich aus blickte eine kleine Gruppe religiöser Gemüter hoffnungsvoll nach Hannover: Pelisson, der ehemalige Freund Fouquets, gehörte dazu. Er war ursprünglich Hugenotte. Nachdem er in die Bastille gesperrt, wieder befreit und zum Katholizismus übergetreten war, war er Direktor der Konversionskasse geworden. Jetzt suchte er mit glühender Seele die Kirche, die er verlassen hatte, mit der römischen Kirche zu vereinigen. Ferner gehörte dazu Louise Hollandine (die Schwester der Herzogin von Hannover), die den Protestantismus abgeschworen und sich in die Abtei von Maubuisson bei Pontoise zurückgezogen hatte,- und Madame de Brinon, ihre voll Eifer zum Ruhme Gottes tätige Sekretärin. Wer weiß? Vielleicht würde die Herzogin von Hannover sich auch bekehren? Vielleicht würde ihr Gemahl ihrem Beispiel folgen? Und vielleicht würde dies hannoversche Land, wo die gute Saat aufzugehen schien, eine herrliche Ernte geben? Signale werden ausgetauscht: Leibniz und Pellisson korrespondieren, argumentieren, lernen sich über die Entfernung hinweg schätzen und lieben. Bossuet wird aufmerksam und »billigt den Plan«. (Fs)
266a Schon sind sie im Nahkampf. Leibniz sucht den geeigneten Punkt für eine Verständigung, die am schlechtesten bewachte oder am schwächsten verteidigte Stelle, durch die man in die Festung eindringen kann. Es ist diese: man kann sich in Glaubenssachen irren, ohne ein Ketzer oder Schismatiker zu sein, sofern man nur nicht verstockt ist. Wenn die Protestanten zugeben, daß jedes ökumenische Konzil über alles, was das Seelenheil betrifft, die Wahrheit verkündet, oder wenn sie sich irren, indem sie annehmen, das Konzil von Trident, das die endgültige Trennung sanktioniert hat, habe keinen ökumenischen Charakter gehabt, so irren sie sich doch ohne böse Absicht. Sie sind weder ketzerisch noch schismatisch und verbleiben durch ihre Bereitwilligkeit, sich den Entscheidungen eines zukünftigen ökumenischen Konzils zu unterwerfen, im Geiste in der Gemeinschaft der Kirche ... Welch große Hoffnung! Und welch einen Schritt dem Frieden der Seele entgegen täte man, wenn Bossuet ihm günstig gesinnt wäre! (Fs)
266b Daß man die von einem Konzil aufgestellten Grundsätze so herumdreht, bis man sie im Endergebnis als null und nichtig ansieht, das wird der Bischof von Meaux so leicht nicht zulassen. »Um sich bei diesen Einigungsprojekten nicht zu täuschen, muß man sich ganz klar darüber sein, daß die römische Kirche sich zwar je nach Zeit und Gelegenheit in unwichtigen Punkten und in solchen der Kirchenzucht nachgiebig erweisen wird, aber niemals in irgendeinem Punkt der festgelegten Doktrin, insbesondere nicht derjenigen, die vom Konzil von Trident festgelegt worden ist...« Den Lutheranern gewisse Genugtuungen, wie zum Beispiel das Abendmahl in beiderlei Gestalt, gewähren, das geht an, aber in bezug auf das Autoritätsprinzip, diesen Eckstein der Kirche, kapitulieren, bestimmt niemals. So geht Bossuet denn in seiner kraftvollen, für diplomatische Verhandlungen wenig geeigneten Art zur Offensive über: wenn Herr Leibniz an die Katholizität glaubt, wenn er erklärt, er erkenne die Glaubenssätze an, die das \Vesen der Katholizität ausmachen, liegt die Sache ja ganz einfach: er mag sich zum Katholizismus bekehren! (Fs)
267a Bossuet täuscht sich; er kennt seinen Gegner nicht richtig. Diesen unbestimmten Zwischenraum, diese kaum sichtbare Linie, die ihn von der römischen Kirche trennt, wird Leibniz nicht überschreiten. Er wird sie niemals überschreiten, weil das eine Angelegenheit des persönlichen Gewissens ist, auf die keinerlei äußerer Druck zu wirken vermag: und vor allem, weil das gar nicht der Punkt ist, um den es geht. Es handelt sich für die Protestanten nicht darum, abzudanken, sondern sich zu einigen; und er selbst ist ein Unterhändler, kein Überläufer. Bossuet mag sich darüber klarwerden, er mag seine allzu kurz angebundenen Befehlsmanieren aufgeben: »Man hat sehr große Schritte getan, um dem gerecht zu werden, was man der Nächsten- und Friedensliebe zu schulden glaubte. Man hat sich den Ufern des Flusses Bidassoa genähert, um einen Tag auf der Insel der Konferenz1 zu verbringen. Man hat absichtlich alle Manieren, die nach Streit schmecken, beiseite gelassen und all jenes Gebaren, das eine Überlegenheit andeutet, die jeder gewöhnlich seiner eigenen Partei zuerkennt ... jenen verletzenden Stolz, jenen Ausdruck der Sicherheit, in der beide Teile sich in der Tat befinden, mit der aber vor denen zu paradieren überflüssig und unangebracht ist, die ihrerseits nicht weniger davon ihr eigen nennen ...« Nochmals: die Frage, die man von Bossuet beantwortet haben möchte, ist die, ob, wenn man ohne böse Absicht der Ansicht ist, daß das Konzil von Trident kein ökumenisches war, seine Entscheidungen aufgehoben werden können. Die Antwort des Herrn Prälaten erfolgte übereilt, er möge die Voraussetzungen der Frage nachprüfen, man wird warten. (Fs)
268a Und Bossuet macht sich an die Arbeit: trotz seiner bereits erdrückenden Arbeitslasten studiert er im einzelnen die bis dahin redigierten Texte, die für die Einigung festgelegten Formulierungen. »Die erste Mußestunde, die ich finden werde, wird darauf verwandt werden, Ihnen meine Meinung in voller Offenheit zu sagen ...« - »Möge dies Jahr für Sie und alle die, welche ernsthaft die Einigung der Christen erstreben, ein glückliches sein1.« Er macht sich an die Arbeit. »Ich billige den Plan, und wenngleich ich mich nicht auf alle Mittel einlassen kann, so sehe ich doch, daß, wollte man dem Herrn Abbé Molanus und den anderen, gleich ihm Ehrenwerten, glauben, die Mehrzahl der Schwierigkeiten beseitigt wäre. Sie werden binnen kurzem meine Meinung erfahren ... « (Fs)
268b Leibniz wartet nicht tatenlos. Er sucht Argumente, die seine Sache unterstützen. Er hatte schon darauf hingewiesen, daß Frankreich selbst das Konzil von Trident nicht für ökumenisch gehalten habe: jetzt entdeckt er zu seiner großen Freude einen Tatsachenbeweis, einen Präzedenzfall, der ihm nicht bestreitbar scheint. Einmal zum mindesten - in Wahrheit auch in mehreren anderen Fällen, aber einmal zum mindesten und das in einem typischen Fall - hat die römische Kirche den Beschluß eines Konzils aufgehoben. Da die böhmischen Calixtiner die Autorität des Konzils von Konstanz, was das Abendmahl in beiderlei Gestalt anbetraf, nicht anerkannt hatten, gingen Papst Eugen und das Konzil von Basel über diesen Punkt hinweg und verlangten nicht von ihnen, sich zu unterwerfen, sondern verwiesen die Sache an eine neue Entscheidung der Kirche. Was hält Bossuet von der Beweiskraft eines solchen Präzedenzfalls? Ist es nicht in teiminis der gleiche Fall wie der, um den es sich heute handelt? »Entscheiden Sie, Monsieur, ob der größte Teil dessen, was Deutsch spricht, nicht zum mindesten ebensoviel Entgegenkommen verdient, wie man den Böhmen gezeigt hat ...« (Fs)
268c Endlich kam sie, die langerwartete Antwort; sie kam in Form einer Abhandlung, die Punkt für Punkt, den Pensées particulières sur le moyen de réunir l'Église protestante avec l'Église catholique romaine von Molanus folgte und ihre eigenen Schlüsse zog. Bossuet sagte, die vorgeschlagene Methode sei unangenehm, die Methode des Hinausschiebens nämlich, welche die Befriedung anerkannt sehen wolle, ehe noch die Prinzipien erörtert seien; allein angängig sei die Methode der Feststellung, welche die Prinzipien festlege, ehe man zu den Tatsachen überginge. Mit einer Versöhnung in der Praxis beginnen, dann eine Versammlung einberufen, die sich gütlich über die Doktrin einigt, und endlich mit einem Konzil schließen, das über die Punkte entscheidet, über die man sich nicht hat einigen können, welcher Irrweg! Als erstes ist ein Konzil erforderlich, das die Erklärung der Sinnesänderung der Protestanten entgegennimmt. Hierauf wird man sich zu verständigen suchen. Auf dem anderen Weg gibt man von vornherein im entscheidenden Punkt nach die Protestanten wollen in die Gemeinschaft der römischen Kirche zurückkehren, ehe sie sich unterworfen haben, weil sie ihren Irrtum nicht zugeben und sich weigern, die Autorität der Kirche anzuerkennen; darin liegt alles beschlossen. (Fs)
269a Die Methode bezieht tatsächlich schon die Ideen mit ein, um welche die Diskussion wesentlich geht. Die Kirche ist unfehlbar; die Entscheidungen des Konzils von Trident gelten auf ewig. Behaupten, Frankreich habe seinen ökumenischen Charakter nicht anerkannt, heißt sich selbst täuschen; denn die Weigerung Frankreichs betrifft nur den Vorrang, die Prärogativen, Freiheiten und Gebräuche des Königreichs und berührt in keiner Weise die Glaubensfragen. Das Beispiel der böhmischen Calixtiner heranziehen heißt gleichfalls sich täuschen: die Nachprüfung in Basel, die man zusagte, erfolgte nicht, um die Entscheidung von Konstanz erneut in Frage zu stellen, sondern um sie dadurch, daß man sie erläuterte, zu bestätigen. Und da Leibniz ausdrücklich fragt, ob Leute, die bereit sind, sich der Entscheidung der Kirche zu unterwerfen, die aber Gründe haben, ein bestimmtes Konzil für nicht ökumenisch zu halten, als Ketzer zu betrachten sind - so antwortet ihm Bossuet ausdrücklich: »Ja, diese Leute sind Ketzer; ja, diese Leute sind verstockt.« Danach kann Leibniz sich noch so viel verteidigen und antworten, es sei ein recht seltsamer Grundsatz zu sagen: »Gestein hat man solches geglaubt, daher muß man heute dasselbe glauben«; er wird keinen Schritt mehr vorankommen. Bossuet hat vor ihm eine Mauer errichtet, die er für lückenlos hält; und so könnte die Diskussion geschlossen werden. (Fs)
270a Trotzdem wurde sie wieder aufgenommen. Die Autoren zweiten Ranges verschwanden, vom Tode dahingerafft; aber Leibniz und Bossuet überdauerten, und solange sie lebten, gab es noch eine Hoffnung. Am 27. August 1698 verfaßte Leibniz im Kloster von Lockum ein neues Projet pour faciliter la réunion des protestants avec les catholiques romains, an dessen Schluß er ein erschütterndes Gebet zu Gott setzte, und nahm seine Korrespondenz mit Bossuet wieder auf. Aber die Argumente waren dieselben, bis auf eines. In seinem hartnäckigen Bestreben, zu zeigen, daß es nicht wahr sei, daß der Standpunkt der Kirche sich nie geändert habe, greift er die Frage der Echtheit der Heiligen Bücher auf. Die Kirche hält heute Schriften für authentisch, welche die alte Kirche für apokryph hielt; die Überlieferung hat sich also gewandelt ... Die Kontroverse geht, schwerfällig und ins einzelne gehend, weiter bis zu dem Augenblick, da Bossuet seinem Ende nahe ist. Die gewechselten Briefe werden zu langen Abhandlungen, von denen eine bis zu hundertundzweiund-zwanzig Artikeln umfaßt; aber man braucht wohl nicht zu sagen, daß Leibniz, als er die Echtheit der Heiligen Bücher in Frage zog, den Weg der Versöhnung verließ. (Fs) ____________________________Autor: Hazard, Paul Buch: Die Krise des europäischen Geistes Titel: Die Krise des europäischen Geistes Stichwort: Leibniz, Bossuet: Alter; Scheitern des Versuches einer konfessionellen Einigung; Ruinen; Swift (Zitat über Christentum) Kurzinhalt: Swift ... Es ist gefährlich, schreibt er, es ist unvorsichtig, gegen die Abschaffung des Christentums zu argumentieren zu einer Zeit, da alle Parteien einhellig entschlossen sind, es auszurotten, ...
Textausschnitt: 272b Nun ist es soweit; er hat zu lange gelebt, ist zu alt. Gerade die, welche ihn stützen sollten, verlassen ihn. Er leidet an Steinen, er stöhnt und schreit. Wenn sein Leiden ihm eine Atempause gewährt, läßt er sich in seine Sänfte setzen und macht sich auf den Weg zum König, bei dem er ehemals Kraft und Mut zurückgewann: aber der König, der selbst im Abstieg ist, kann das Wunder nicht vollbringen, die zu verjüngen, die auf dem Weg zum Grabe sind. (Fs)
273a Sich gegen das Leiden straffend, das ihn peinigt, und sich »mit Mühe auf den Beinen haltend«, versucht er mit rührender Ungeschicklichkeit dem höchsten Herrn seine Aufwartung zu machen. Er fällt auf in Versailles, und die Höflinge machen sich lustig über den großen, gebrechlichen Greis, der ein wenig lächerlich wirkt und überall im Wege ist. »Will er denn am Hof sterben?« murmelt die wenig barmherzige Madame de Maintenon. Als er 1703 an der Prozession zu Maria Himmelfahrt teilnimmt, bietet er einen traurigen Anblick, der seine Freunde betrübt, bei den Gleichgültigen Mitleid erweckt und die Höflinge zum Spott herausfordert. »Mut, Monsieur de Meaux«, sagt Madame ihm den ganzen Weg entlang, »wir werden das Ende erreichen.« Andere sagen: »Der arme Monsieur de Meaux!« Wieder andere: »Er hat sich tapfer gehalten.« Die Mehrzahl: »Er soll doch nach Hause gehen zum Sterben1!«
273b Leibniz hat es nicht viel besser. Er hängt seinen Träumen nach; man müßte China bekehren, nicht, indem man den Chinesen nachweist, daß sie sich irren, sondern indem man die Analogien, die zwischen ihrer und unserer Religion bestehen, und welche auf die im Wesen des menschlichen Geistes begründete Einheit zurückzuführen sind, hervorhebt... Aber die Realität hat ihn enttäuscht; sie ist keine Materie, die man nach seinem Belieben modeln kann; sie leistet unerschütterlichen Widerstand. Keine »universelle Charakteristik«, keine Einigung der Kirchen; alles eitle Projekte, unfaßbare Schatten. Als Fontenelle vor der Académie des Sciences in Paris sein Porträt zeichnet, schildert er ihn als Triumphator: »Gewissermaßen jenen Alten gleichend, welche die Geschicklichkeit besaßen, bis zu acht nebeneinander gespannte Pferde zu lenken, beherrschte er gleichzeitig alle Wissenschaften.« Aber Fontenelle kennt auch seine menschlichen Seiten: »Zu Hause war er der absolute Herr; denn er aß immer allein. Er richtete seine Mahlzeiten nicht nach bestimmten Stunden. Er führte keine Wirtschaft, er ließ von einem Restaurateur das erste beste holen ... Oft schlief er nur auf einem Stuhl sitzend und erwachte deshalb nicht weniger frisch um sieben oder acht Uhr morgens. Er begann sofort wieder zu arbeiten und hat oft ganze Monate lang seinen Stuhl nicht verlassen ...« Je älter Leibniz wird, um so mehr wird dies Bild von ihm das wahre. Er ist allein. Die Mächtigen dieser Welt, auf die er für sein Wirken gerechnet hatte, haben ihn im Stich gelassen. Nachdem der Kurfürst von Hannover im Juni 1714 König von England geworden war, hat man die Dienste des kränklichen Greises zurückgewiesen. Da er nicht in die Kirche geht und das Abendmahl nicht nimmt, hält man ihn für einen Ungläubigen, und die Pfarrer sind gegen ihn. Er stirbt am 14. November 1716. Man begräbt ihn ohne feierliches Leichenbegängnis, ohne Geleit, ohne Teilnahme: »eher wie einen Wegelagerer als wie einen Mann, der die Zierde seines Vaterlandes gewesen ist«. (Fs) (notabene)
274a Laßt uns träumen. Es gab einen Augenblick, in dem die Vereinigung der Kirchen möglich schien,- einen Augenblick, wie ihn »gewöhnlich ein Jahrhundert kaum einmal bietet«. »Gott hat seine Hand nicht von uns genommen«, schrieb Leibniz am 29. September 1691 an Madame de Brinon, »der Kaiser ist geneigt; Papst Innozenz XI und mehrere Kardinale und Ordensgenerale, der Maître du Sacré Palais sowie ernsthafte Theologen haben sich, sobald sie es richtig begriffen, aufs wohlwollendste geäußert. Ich habe selbst den Originalbrief von weiland Hochwürden Peter Noyelles, dem Jesuitengeneral, gelesen, der so präzis ist wie nur möglich, und man kann sagen, daß, wenn der König (von Frankreich) und die Prälaten und Theologen, auf die er in diesen Fragen hört, sich anschlössen, die Angelegenheit durchaus durchführbar wäre, denn sie wäre schon fast durchgeführt ...« So wird die Einigung vollendet, die katholische Kirche reformiert sich, die germanische und die lateinische Welt finden ihre geistige Gemeinschaft wieder, die Niederlande und England kehren ihrerseits in eine zugleich römische und reformierte Kirche zurück, und die Gläubigen, alle Gläubigen, stellen sich den auflösenden Kräften entgegen, die ihren Glauben bedrohen. (Fs) (notabene)
275a Kehren wir zur Wirklichkeit zurück. Katholiken und Protestanten vermögen sich nicht zu einigen; die günstige Stunde ist vorbei; der geschickteste und wohlmeinendste der Menschen ist mit der Aufgabe, die er auf sich genommen hatte, gescheitert: Die Feinde des Christentums jubeln und triumphieren. Welche Zerstörung! was für Ruinen! (Fs) (notabene)
275a Die Stelle des Gottes Israels, Isaaks und Jakobs will ein abstrakter Gott einnehmen, der nichts anderes ist als die Ordnung des Universums, vielleicht das Universum selbst. Dieser Gott kann keine Wunder tun; Wunder würden Anzeichen seiner Launen oder seines inneren Widerspruchs sein und würden daher, weit davon entfernt, seine Existenz zu beweisen, sie vielmehr verneinen. Die Autorität gilt nichts mehr, die Überlieferung lügt, der allgemeine Consensus läßt sich nicht beweisen, und wenn man ihn bewiese, so würde nichts ihn davor bewahren, mit Irrtümern befleckt zu sein. Das Gesetz Moses' ist nicht mehr das Wort, das Gott auf dem Berg Sinai diktiert hat und das sofort in seiner Gesamtheit niedergeschrieben worden ist. Es ist ein menschliches Gesetz, das noch die Spuren der Völker trägt, von denen die Hebräer es übernommen haben, und besonders die der Ägypter. Die Bibel ist ein Buch wie andere auch, voll von Abänderungen und vielleicht voll Ubermalungen, aus Rollen bestehend, die durch ungeschickte Hände aneinandergereiht worden sind, durch das nachlässige Werk plumper Köpfe, die nicht auf die Daten achtgegeben und manchmal den Anfang mit dem Schluß verwechselt haben. Sie erscheint nicht mehr göttlich. Noch weniger ist die königliche Macht von Gottes Gnaden; man hat das Recht des Widerstandes gegen sie verkündet. Überall hat man an die Stelle eines positiven Zeichens ein negatives gesetzt; und als Ludwig XIV. stirbt, scheint dieser Austausch vollzogen. (Fs) (notabene)
275b Niemals sind ohne Zweifel die Glaubenssätze, auf denen die alte Gesellschaft beruhte, solchen Erschütterungen ausgesetzt gewesen, und besonders niemals zuvor das Christentum. Swift gibt sich im Jahre 1717 einem seiner gewohnten Anfälle von Ironie hin. Es ist gefährlich, schreibt er, es ist unvorsichtig, gegen die Abschaffung des Christentums zu argumentieren zu einer Zeit, da alle Parteien einhellig entschlossen sind, es auszurotten, wie sie durch ihre Reden, ihre Schriften und ihre Handlungen beweisen. Nur ein paradoxer Geist kann sich unterfangen, es zu verteidigen, zu zeigen, daß sein Sturz nicht ohne einige Unannehmlichkeiten zu bewerkstelligen wäre und vielleicht nicht all die guten Wirkungen hervorrufen würde, die man sich davon verspricht2. Dieser Ausfall von Swift verrät die Besorgnis der verantwortungsbewußten Christen beim Anblick der Resultate einer Zerstörungsarbeit, die schon Jahre gedauert hat, und die nicht mit heimlichen und kleinlichen Angriffen vorgegangen ist, sondern offen, bei hellem Tage. (Fs) (notabene)
276a Aber Europa liebt die Ruinen nicht; es wird sie immer nur auf Grund einer vorübergehenden Laune dulden, um eine Verzierung für seine Gärten daraus zu machen, und dort werden sie außerdem zu nichts anderem dienen, als durch ihren Gegensatz den Auftrieb der Bäume und das pulsierende Leben der Blüten hervorzuheben. Selbst die skeptischsten unter den Geistern, deren Tätigkeit wir verfolgt haben, haben vor dem Nihilismus, zu dem ihr Zweifel sie zu führen drohte, haltgemacht. Sie haben jene »vollkommene Ruhe sowohl in bezug auf den Willen wie auf den Verstand« nicht genossen, in der Pyrrhon die Weisheit und das Glück sieht3: wenn ihr Verstand ihnen auch das Wider manchmal günstiger dargestellt hat als das Für, so hat ihr Wille sich doch nie aufgegeben. Sie haben erklärt, sie rissen das alte Haus nur nieder, um ein neues zu bauen, und sie haben seine Pläne gezeichnet, seine Grundsteine gelegt und seine Mauern errichtet - gerade inmitten der Trümmer. Zerstörung und zugleich Wiederaufbau. Wollen wir die Menschen vollends kennenlernen, die während dieser großen Krise gelebt haben, so müssen wir sie jetzt bei ihrem Versuch zum positiven Aufbau betrachten. (Fs)
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