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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Internet

Titel: Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos

Stichwort: Natur des Menschen, Selbsttranszendenz, cor curvatum in se ipsum (Augustinus); Nietzsche, Übermensch, Utopie; Fest - Freizeit

Kurzinhalt: Die Natur des Menschen, seine Menschlichkeit macht sich nicht "von Natur", nicht von selbst

Textausschnitt: 1 Die Natur des Menschen, seine Menschlichkeit macht sich nicht "von Natur", nicht von selbst. Menschen müssen, wie wir im Deutschen sagen, ihr "Leben führen". Sie müssen, um Menschen zu sein, ihrem Leben eine Gestalt geben. Das gelingt nur, wenn das Leben einen Inhalt hat, der über die bloße Selbsterhaltung und die Reproduktion der Gattung hinausgeht. Einen Inhalt, der den Menschen übersteigt. Der Mensch ist das Wesen der Selbsttranszendenz. Er braucht etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Das cor curvatum in se ipsum, von dem der heilige Augustinus spricht, das Herz, dem es nur noch um sich selbst geht, ist nicht mehr im eigentlichen Sinne menschlich. Was wir Kultur nennen, ist die Prägung des Lebens einer Gemeinschaft durch solche Inhalte, die das Leben strukturieren und ihm einen Sinn geben. (Fs) (notabene)

2 All diese Inhalte sind letzten Endes relativ. Den einzig adäquaten Gegenstand menschlicher Selbsttranszendenz nennen wir Gott. Friedrich Nietzsche hielt die christliche Idee der Gottesliebe für die höchste Idee der bisherigen Menschheit, weil sie den Menschen lehrte, sich auf etwas zu richten, das größer ist als der Mensch und weil so der Mensch über sich selbst hinauszuwachsen lernte. Nur dadurch wird der Mensch im eigentlichen Sinne menschlich. In diesem Sinne schrieb Andrej Sinjawski aus dem Zustand tiefster Erniedrigung im sibirischen GULAG: "Wir haben uns lange genug Gedanken über den Menschen gemacht. Es wird Zeit, an Gott zu denken!" (Fs)

3 Nietzsche hielt Gott für tot, und um die Lücke zu füllen, erfand er als funktionales Äquivalent der Gottesidee den Übermenschen. Die Utopie des Übermenschen war, wie alle Utopien der Neuzeit, Religionsersatz. Die Utopien sollten, wie Feuerbach und Marx sagten, dasjenige auf die künftige Erde zurückholen, was die Menschen bisher in den Himmel projiziert hatten. Der Sinn menschlichen Handelns sollte letzten Endes aus der irdischen Zukunft der Menschheit gewonnen werden. Nicht der Mensch "wie er geht und steht" ist für Marx verehrungswürdig, sondern nur der Mensch der Zukunft. Aber warum soll dieser Mensch besser sein, bloß weil es ihm besser geht? Zukunft wurde Opium des Volkes. Die Utopien projizierten freilich nur einen schwachen Abglanz dessen, was für den Gläubigen lebendige Gegenwart ist, in eine unbestimmte irdische Zukunft. Gott ist lebendige Gegenwart. Und die künftige Welt Gottes warf in christlichen Zeiten ihren Glanz vielfältig auf das tägliche Leben der Menschen voraus - nicht nur an Weihnachten und Ostern und nicht nur sonntags, obgleich an diesen Tagen besonders. (Fs) (notabene)

4 Dieser Glanz durchdrang das oft genug dürftige reale Leben der Menschen und entriß es der Banalität. Er machte auch die Armut zu "edler Armut", wie Johannes XXIII. im Blick auf seine Kindheit sagte. Die Gegenwart der göttlichen Welt in der menschlichen bedeutet auch, daß die Arbeit, daß alles, was gut und schön getan wird, nicht nur durch seinen späteren Nutzen gerechtfertigt ist, sondern hier und jetzt seinen Sinn hat, weil es, wie es in der Bibel heißt, "in Gott getan ist". Das aber macht Feste ebenso wie Arbeit zu Elementen menschlicher Kultur, wobei die Feste den Vorrang haben. Sie vergegenwärtigen immer wieder den präsenten Sinn des Ganzen. (Fs)

5 Die neuzeitliche Utopie ersetzte die Erwartung unsterblichen göttlichen Lebens für jeden, der sich danach ausstreckt, durch die Perspektive verbesserter irdischer Lebensbedingungen später lebender Menschen. Dazu bedurfte es der Verwandlung der Gesellschaft in eine zweckrationale Organisation, die diese Verbesserungen herbeiführen sollte. Das gegenwärtige Leben hat, auch wenn es schön und richtig gelebt wird, nicht mehr einen Ewigkeitssinn in sich selbst. Kultur existiert eigentlich noch gar nicht, sondern sie soll das künftige Ergebnis gegenwärtiger Arbeit sein. Es gibt auch nicht wirklich etwas zu feiern. An die Stelle des Festes tritt die Freizeit. Wieso allerdings die Verbesserung des Lebens künftiger Generationen dieses Leben der Banalität sollte entreißen können, kann die Utopie nicht einsichtig machen. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Internet

Titel: Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos

Stichwort: Antiutopie, banaler Nihilismus - Liberalismus; Richard Rorty; Nietzsche: der letzte Mensch

Kurzinhalt: Die Utopie ist inzwischen tot; Nietzsche hat diesen banalen Nihilismus bereits vor 100 Jahren hellsichtig im voraus charakterisiert ... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht ...

Textausschnitt: 6 Die Utopie ist inzwischen tot. Toter als es Gott je war. Es hat sich gezeigt, daß die Organisation der Gesellschaft im Dienst der Utopie materielle Verbesserungen eher behinderte als beförderte. Was bleibt aber, wenn der Religionsersatz sich als Illusion erwiesen hat? Natürlich legt sich die Rückkehr vom Ersatz zum Original nahe. Aber die Rückkehr zu Gott geschieht nie automatisch. Sie ist immer nur die Folge eines Aufbruchs eines jeden Menschen. Zu diesem Aufbruch gibt es immer eine Alternative. Wie sieht heute die Alternative aus? An die Stelle der Utopie als Religionsersatz tritt heute eine radikale Antiutopie, die dem Gedanken der Transzendenz des Menschen in jeder Weise absagt. Ein angesehener amerikanischer Philosoph der Gegenwart, Richard Rorty, hat unlängst die Antiutopie entworfen. Es handelt sich um das Wunschbild einer liberalen Gesellschaft, in der alle kognitiven, ethischen und religiösen Absolutheitsansprüche verschwunden sind und in der "nichts für wirklicher gehalten wird als Lust und Schmerz". Alles, worum es dem Menschen geht, alles, womit es ihm ernst ist, ist Illusion. Es soll uns mit nichts mehr ernst sein. Das höchste Resultat der Bildung ist Ironie. Im übrigen wollen wir uns wohlfühlen, das ist alles. An die Stelle des heroischen Nihilismus tritt das, was ich den "banalen Nihilismus" nennen möchte. (Fs) (notabene)

Kommentar (28.11.07): Diese Diagnose trifft sich in etwa mit Murreys Analyse des Atheisten des Theaters.

7 Nietzsche hat diesen banalen Nihilismus bereits vor 100 Jahren hellsichtig im voraus charakterisiert. Er sprach in diesem Zusammenhang von dem letzten Menschen". "'Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?' - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht... 'Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm. Denn man braucht Wärme... Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und keine Herde. Jeder will das gleiche. Jeder ist gleich. Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. 'Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln." (Fs) (notabene)

8 Der letzte Mensch Nietzsches: das ist die Verkörperung des banalen Nihilismus. Er nennt sich heute selbst "Liberalismus" und hat für alles, was sich ihm nicht fügt, die Einschüchtervokabel "Fundamentalismus" bereit. Ein Fundamentalist ist in diesem Sinne jeder, dem es mit irgend etwas ernst ist, das für ihn nicht zur Disposition steht. Für den banalen Liberalismus ist Freiheit: Vermehrung von Optionschancen. Er läßt aber keine Option gelten, für die es sich lohnte, auf alle übrigen zu verzichten. Von einer solchen Option aber spricht das Evangelium: von dem Schatz im Acker und der kostbaren Perle, für die der, der sie findet, alles verkauft. (Fs) (notabene)

9 Dieser Schatz war es, der der europäischen Kultur ihre vitale Mitte gab. Diejenigen, die für diesen Schatz wirklich alles verkauften, waren die Heiligen. Das christliche Europa bestand nicht überwiegend aus Heiligen. Im Gegenteil. Aber es existierte so lange, als es nicht daran zweifelte, daß die Heiligen den besten Teil erwählt hatten. Sie waren es, die die letztlich geltenden Wertmaßstäbe repräsentierten. Wenn Europa diesen Schatz verliert, bleibt ihm nur noch der banale Nihilismus, also das Ende jeder Kultur, die diesen Namen verdient. (Fs)

10 Wenn es deshalb in Gottes Plan liegen sollte, die Kirche in Europa noch einmal zur kulturell prägenden Kraft werden zu lassen, dann nur, wenn sie als Heimat derer sichtbar wird, die der Banalität überdrüssig sind, also als das wirklich Andere, als wirkliche Alternative zur Zivilisation der Banalität und das heißt: als Kirche der Heiligen. Die christliche Erneuerung Europas wird nicht von Symposien und Kongressen ausgehen, nicht von Planungsbüros, Katholischen Akademien und Theologischen Fakultäten und auch nicht von kirchlichen Institutionen sozialpädagogischer Art, die vielfach längst gar nicht mehr genügend gläubige Christen haben, um aus authentisch christlichem Geist zu arbeiten. Eine an den Geist der Zeit angepaßte Kirche wird in Zukunft immer weniger interessieren. Den großen christlichen Aufbrüchen gingen stets Epochen des Rückzugs, der Distanznahme und der Rückbesinnung voraus. Ohne den Rückzug des heiligen Benedikt in die Einsamkeit von Subiaco wäre dieser Heilige nicht Patron Europas geworden. Und noch der renouveau catholique, die scharenweise Hinwendung von Intellektuellen und Künstlern zur Kirche am Anfang des 20. Jahrhunderts war nicht eine Frucht des Aufklärungskatholizismus des 18. Jahrhunderts, sondern ihr ging voraus die Kampfansage des "Syllabus" des Pius IX. an den religiösen Liberalismus im 19. Jahrhundert, durch den die Kirche zeitweise in eine Art Ghetto geriet. Als Ausgangsposition für christliche Mission ist aber die zeitweise Verbannung ins sogenannte Ghetto offensichtlich günstiger als die Anpassung an den Zeitgeist, durch die das Salz allmählich schal wird. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Internet

Titel: Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos

Stichwort: Kultur, Mythos, Kirche, Europa; Transsubstantiation: Ausgangspunkt der Transzendierung und Humanisierung der Natur; sacrum commercium; Descartes, Euthanasie, Kontrazeption

Kurzinhalt: Wenn die Präsenz des Göttlichen in der Gesellschaft Kern jeder authentischen Kultur ist ... Darauf aber beruht wiederum alle Kultur. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Welt hat sein Analogon

Textausschnitt: 11 Wenn die Präsenz des Göttlichen in der Gesellschaft Kern jeder authentischen Kultur ist, dann besteht die kulturelle Leistung der Kirche für Europa zuerst und vor allem darin, diese Präsenz darzustellen. Ob also die Kirche für die Kultur Europas eine entscheidende Bedeutung haben wird, hängt davon ab, ob sie ganz sie selbst ist, ob sie in Lehre, Kult und Ethos ihre Identität bewahrt oder zurückgewinnt. Diese Präsenz hat eine doppelte Gestalt, eine kognitive und eine praktische, Mythos und Ethos. Die Mitte, aus der beide hervorgehen, das sacrum commercium, der heilige Austausch von göttlicher und menschlicher Welt, ist der Kult, das kultische Opfer. (Fs)

12 Unter Mythos verstehe ich eine Deutung der Wirklichkeit, die sich von wissenschaftlicher Deutung prinzipiell unterscheidet. Wissenschaft setzt die Welt als ganze immer schon voraus und stellt Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Welt fest. Wo die Naturwissenschaft statt dessen singuläre Geschichten erzählt - also die Geschichte von der Evolution des materiellen Universums -, da handelt es sich um hypothetische Rekonstruktionen aufgrund gegebener Ausgangsdaten und bekannter Naturgesetze. Der Mythos ist dagegen eine überlieferte Geschichte, die jeder Theorie vorausliegt. Sie bezieht sich auf die Welt als ganze, als einmaliges Ereignis, auf ihren Ursprung, auf ihr Ziel, auf den Grund ihrer unbefriedigenden Verfassung und auf den Weg zur Überwindung dieser Verfassung. Authentische Kultur setzt stets eine solche Erzählung voraus, die die Welt als Ganzes deutet. Der Mythos des Christentums beginnt mit der Erschaffung der Welt. Im Mittelpunkt steht das Erscheinen Gottes in der Welt in Gestalt des Jesus von Nazareth, seine Geburt von einer Jungfrau, sein Tod am Kreuz unter Pontius Pilatus und seine leibliche Auferstehung. Das Christentum versteht seinen Mythos im Gegensatz zu den Mythen der Heiden zugleich als geschichtliche Wahrheit. Also als etwas, das man in wahrheitsfähigen Sätzen ausdrücken kann. Der Glaube der Kirche artikuliert sich in solchen Sätzen, also in Dogmen. Um die Wahrheit wurden in Europa mörderische Bruderkriege geführt, bis dann das resignative Prinzip sich durchsetzte, das Thomas Hobbes so formulierte: "non veritas sed auctoritas facit legem". Die Kirche hat inzwischen gelernt, die ihr anvertraute Wahrheit als eine Sache zu begreifen, die ihrem Wesen nach nur in freier Zustimmung ergriffen werden kann und deren Verkündigung deshalb den öffentlichen Frieden nicht gefährden muß. Aber das ändert nichts am Absolutheitsanspruch dieser Verkündigung. Den religiösen Liberalismus kann die Kirche nach wie vor nur als Gegner sehen, so wie ihn John Henry Newman sah. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Christentum Ferment der europäischen Kultur bleiben oder wieder werden. Denn Relativismus und Skeptizismus sind nicht nur der spirituelle Tod der Seele, sondern auch der jeder vitalen Kultur. Vor allem aber der europäischen. Denn Europa kann seinen Mythos nicht als regionale Besonderheit relativieren, ohne ihn ganz aufzugeben. Christus ist entweder wirklich von einer Jungfrau geboren und von den Toten auferstanden, oder er ist es nicht. Tertium non datur. Weil sie auf die Wahrheit bezogen ist, ist die christliche Kultur Europas wesentlich universalistisch und deshalb hinsichtlich ihres Glaubenskerns missionarisch. Am cor curvatum in se ipsum eines Eurozentrismus, der sich selbst relativiert, müßte die europäische Kultur sterben. (Fs) (notabene)

13 Die Vergegenwärtigung des Mythos geschieht nicht durch anonyme Medien, sondern erstens durch Erzählung von Mund zu Mund realer Menschen, zweitens aber und vor allem durch den Kult. Lex orandi lex credendi. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit findet in ritueller Feier statt. "Laß uns durch das Mysterium dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen", so betet die katholische Kirche täglich in ihrer alten römischen Meßliturgie. (Es ist unbegreiflich, daß gerade dieser Text durch die Liturgiereform beseitigt wurde.)

[...]
17 Der rituelle Kult ist im Christentum Symbol für das ethische Leben des Christen als "innerer Kult", und die Transsubstantiation der innerste Ausgangspunkt der Transzendierung und Humanisierung der Natur. Darauf aber beruht wiederum alle Kultur. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Welt hat sein Analogon im sacrum commercium von Geist und Natur im Menschen selbst. Die moderne szientistische Zivilisation stellt, Descartes folgend, res cogitans und res extensa einander gegenüber. Es gibt einerseits ein abstraktes Subjekt, genannt "die Wissenschaft", und andererseits die gesamte natürliche Welt, die zum bloßen Objekt dieser Wissenschaft herabgesetzt wird. Wo aber der Geist keine natürliche Dimension und die Natur keine spirituelle hat, da kann von Kultur nicht mehr die Rede sein. Cultura heißt ursprünglich Ackerbau, also Veredelung der Natur. Die szientistische Zivilisation hat eine Tendenz sowohl zum Spiritualismus wie zum Materialismus, die beide kulturfeindlich sind. Der Kampf der katholischen Kirche für eine spirituelle Auffassung der menschlichen Natur und eine natürliche Auffassung menschlicher Personalität wirkt dieser Dekomposition entgegen und ist der wichtigste praktische Beitrag des Christentums zur Bewahrung einer humanen Kultur. Dieser Widerstand kommt zum Ausdruck ebenso im Kampf gegen Abtreibung wie gegen Euthanasie, Kontrazeption und In-vitro-fertilisation. Die Einheit von Natur und Personalität in einem lebendigen Menschen hat ja ihren Anfang in der Einheit von geschlechtlicher Vereinigung und Zeugung. Der Widerstand gegen die artifizielle Trennung beider, der Widerstand gegen die Herstellung von Menschen in der Retorte gründet im "genitum non factum", das für jeden Menschen gelten muß. Leider muß die Kirche bei diesem Widerstand weitgehend auf die Hilfe derer verzichten, die dazu berufen sind, den Sinn dieses Widerstands zu vermitteln und zu interpretieren. Katholische Akademien in meinem Land, die von Gläubigen bezahlt, aber von Bischöfen kontrolliert werden, stellen ihren Apparat in den Dienst der Propaganda gegen die diesbezügliche Lehre der Kirche. Und wenn die Bischöfe dazu schweigen, wird das naturgemäß von den Gläubigen nach der Regel interpretiert: "qui tacet consentire videtur". (Fs)

18 Was heute vielen Menschen als borniertes Festhalten der Kirche an traditionellen Verhaltensmustern erscheint, muß in einem neuen Lichte gesehen werden: als Widerstand gegen das, was C.S. Lewis "die Abschaffung des Menschen", die "abolition of man" genannt hat. Die szientistische Zivilisation mit ihrer Tendenz zum Spiritualismus und Materialismus, zur Dekomposition der menschlichen Natur ist die Tendenz zu dieser Abschaffung. Wenn Europa nicht die kostbare Perle wiederfindet, die seine Mitte war, wird es zum Ort, von dem die Abschaffung des Menschen auf diesem Planeten ausgeht. (E07 29.11.2007)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Mensch: Innenperspektive - Außenperspektive (Beispiel: Lebensversicherung); Christentum: Innenseite (Paulus) - Außenseite; Glaube - Universalität d. Vernunft

Kurzinhalt: Über die menschlichen Dinge kann man auf zweifache Weise sprechen, aus der Innen- und aus der Außenperspektive... Die Außenperspektive verspricht mancherlei Erkenntnisse, aber sie lebt von der Innenperspektive.

Textausschnitt: Vorwort

7a Über die menschlichen Dinge kann man auf zweifache Weise sprechen, aus der Innen- und aus der Außenperspektive. Stellen wir uns beispielsweise ein junges Paar vor, das einen Lebensversicherungsvertrag abschließt. Worum es dabei geht, ist klar: Die beiden wollen im Alter eine bestimmte Summe ausgezahlt bekommen und sich so gegen das Abgleiten in Armut schützen. Ob der Vertrag sinnvoll war, zeigt sich erst, wenn der Versicherungsfall eintritt und das Geld ausgezahlt wird. Die jungen Leute müssen einstweilen auf die Bonität der Versicherungsgesellschaft vertrauen und glauben, daß die Liquidität ausreichend ist. Allerdings hat ein solcher Vertrag auch eine Außenseite, die von der Berechtigung dieses Vertrauens unabhängig ist. Das Verhalten des Paares kann Gegenstand soziologischer und psychologischer Untersuchungen sein. Man kann untersuchen, wie viele junge Paare eine solche Versicherung abschließen und von welchen Faktoren dies abhängt. Man kann nach der Rückwirkung eines solchen Vertrags auf den gegenwärtigen Lebensstil der Menschen fragen, auf ihr Lebensgefühl, auf ihr Konsumverhalten, auf die Stabilität ihrer Beziehung, auf ihre Risikobereitschaft sowie ihre Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen. Die Außenperspektive verspricht mancherlei Erkenntnisse, aber sie lebt von der Innenperspektive. Wäre das Paar nicht überzeugt, daß die Versicherung imstande ist, den Vertrag bei Eintritt des Versicherungsfalls zu erfüllen, dann würde es den Vertrag nicht abschließen, und alle anderen Gesichtspunkte wären gegenstandslos. (Fs)

8a In diesem Sinn schreibt der Apostel Paulus an die Korinther: »Wäre Christus nicht auferstanden, dann wäre unsere Hoffnung vergeblich.« (1 Kor 15,14) Die christliche Religion ist nämlich in der gleichen Lage wie alle menschlichen Dinge, eine Innenseite und eine Außenseite zu haben. Ihre Innenseite ist der Glaube an die Wirklichkeit Gottes und die Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott. Aber solange sie lebendiger Glaube an diese Wirklichkeit ist, erfüllt sie zugleich vielfältige soziale und psychische Funktionen: Sie wirkt auf den Lebensstil der Menschen und auf ihre seelische Befindlichkeit zurück. Aber sie kann von diesen Wirkungen her nicht definiert werden. Sie steht und fällt mit ihrem kognitiven Gehalt. »Das ist das ewige Leben«, sagt Christus im Johannesevangelium, »daß sie dich, den allein wahren Gott, erkennen und den, den du gesandt hast, Jesus Christus.« (Joh 17,3) Und der oft zitierte Satz aus dem ersten Timotheusbrief »Gott will, daß alle Menschen gerettet werden ...« ist nicht vollständig und deshalb irreführend ohne seinen zweiten Teil »...und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.« (1 Tim 2,4) (Fs) (notabene)

8b Die Welt ist pluralistisch und war es immer. In einer pluralistischen Welt aber konkurrieren unvermeidlich Innen- und Außenperspektive miteinander. Wer Leute tanzen sieht, aber die Musik nicht hört, der versteht die Bewegungen nicht, die da vollführt werden. Und wer den christlichen Glauben nicht teilt, wird geneigt sein, ihn durch etwas anderes als durch die Wahrheit seines Gegenstandes zu erklären. Verstehen wird er den Gläubigen letzten Endes nicht. Wer in der Innenperspektive lebt, hält sich an die Worte des heiligen Paulus: »Der geisterfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen.« (1 Kor 2,15) (Fs) (notabene)

9a Wer aber unfähig ist, sich in die Außenperspektive zu versetzen, von denen aus die christliche Religion eine Weltsicht unter anderen ist, der wird zum Sektierer oder zum Fanatiker, der sich gegen die Universalität der Vernunft verschließt. Der christliche Glaube beansprucht die gleiche Universalität wie die Vernunft. Ja, er verlangt von der Vernunft, hinter ihrem Begriff nicht zurückzubleiben, und konstatiert, daß sie dahinter zurückbleibt, wenn sie die Frage nach Gott ausspart. Aber er weiß auch, daß das Urteil des »geistlichen Menschen« als universelle, jegliche Außenperspektive integrierende Wahrheit erst am Ende aller Zeiten offenbar werden wird. (Fs)

9b Unterdessen entspricht es der Wahrheit der Dinge, die Sprachen beider Perspektiven zu sprechen, je nach den Umständen, in denen wir uns befinden, und den Menschen, mit denen wir sprechen. Die hier versammelten Texte tun das. Es sind darunter Überlegungen >von außen<, die eher der Religionswissenschaft zugeordnet sind, aber auch Vorträge, in denen Jesus >der Herr< genannt wird und die sich an Mitchristen wenden, die wissen, wer gemeint ist. Und es sind schließlich Texte darunter, in denen sich der Verfasser auf der Grundlage eines prinzipiell allen Menschen offenstehenden rationalen Diskurses mit dem Nachdenken über Gott an Hörer oder Leser wendet, die zu solchem Nachdenken bereit sind. Er glaubt nämlich, daß - entgegen dem großen Pascal - der Gott der Philosophen kein anderer ist als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, so wie der Morgenstern kein anderer Stern ist als der Abendstern. Mit Platon denkt der Verfasser, daß der ein sehr kümmerlicher Mensch sein muß, der nicht bereit ist, gründlich über das nachzudenken, was, wenn es wahr ist, das Wichtigste, ja das allein wirklich Wichtige ist (Platon, Phaidon 85 b). Und wiederum ist es Platon, der einen Gesprächspartner des Sokrates sagen läßt, es komme darauf an, »die beste und unwiderleglichste der menschlichen Meinungen darüber zu nehmen und darauf wie auf einem Brett zu versuchen, durch das Leben zu schwimmen, solange jemand nicht sicherer und gefahrloser auf einem festeren Fahrzeug oder auf einem göttlichen Logos reisen kann« (Phaidon 86 a). Das festere Fahrzeug mag die Philosophie sein. Der Glaube, daß der göttliche Logos Fleisch geworden ist, damit man auf ihm reisen könne, ist nach Augustinus das einzige, was »die unsrigen« von den Platonikern unterscheidet. Platon selbst ist von dieser Unterscheidung nicht betroffen, weil das Ereignis zu seiner Zeit noch nicht geschehen war. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 01; JHWH - Gott der Philosophen; Frege: Unterscheidung zw. »Sinn« und »Bedeutung« eines Ausdrucks (nomen intentionis - nomen rei; Beispiel: Abendstern - Morgenstern);

Kurzinhalt: Daß heute viele Theologen auf die begleitende intentio recta, also auf die Frage nach der Referenz, der »Bedeutung« jenseits des »Sinnes« der Texte und damit nach deren Konvergenz, verzichten, ... Ihr Thema sind nur Texte... das heißt: fiction.

Textausschnitt: Das unsterbliche Gerücht

11a
1. In den siebziger Jahren drang aus dem sibirischen Gulag die Stimme Andrej Sinjawskijs zu uns, die sich »Eine Stimme im Chor« nannte: »Wir haben uns lange genug Gedanken über die Menschen gemacht. Es ist Zeit, an Gott zu denken.« Wenn Gott ist, ist es immer Zeit, an Gott zu denken. Aber bestimmte Situationen sind wohl geeigneter als andere, daran zu erinnern. Nur, was denkt man, wenn man an Gott denkt? Ist an ihn denken nicht schon alles? Kann man etwas über ihn denken? Wenn er ist, ist er das Ende des Denkens. Auch der Gedanke, Gott sei nicht, ist das Ende des Denkens. Aber das andere Ende. Nicht, wie der Gedanke an Gott, die überschwengliche Bestätigung des Denkens, sondern seine Selbstwiderlegung. Licht und Dunkel sind auf entgegengesetzte Weise Ende des Sehens. (Fs)

2. Daß ein Wesen ist, das auf deutsch »Gott« heißt, ist ein altes, nicht zum Schweigen zu bringendes Gerücht. Dieses Wesen ist nicht ein Teil dessen, was in der Welt vorkommt. Es soll vielmehr Grund und Ursprung des Universums sein. Daß allerdings in der Welt selbst Spuren dieses Ursprungs und Hinweise auf ihn zu entdecken sind, gehört mit zu dem Gerücht. Und das allein ist der Grund, warum man verschiedene Sätze über Gott sagen kann. (Fs)

12a
3. Unmittelbar wahrgenommen wurde Gott bisher von niemandem, wenn man absieht von der einen bekannten Ausnahme, von dem, der Gott seinen Vater nannte und der, wenn wir den zeitgenössischen Berichterstattern glauben dürfen, den Anspruch erhob, aus unmittelbarer Umgangserfahrung mit ihm zu sprechen und deshalb berechtigt zu sein, die Vorstellungen seiner jüdischen Umwelt von Gott zu modifizieren. Neue Gründe für die Annahme seiner Existenz brachte er nicht vor. Sie war in dieser Umwelt nicht kontrovers. Die Modifikationen waren zudem nicht so fundamental, daß sie es erforderlich gemacht hätten, den hebräischen Eigennamen JHWH abzulehnen, der den Juden, ihrer Überlieferung zufolge, von Gott selbst zum Gebrauch übergeben worden war, einem Gebrauch, der übrigens vorwiegend im Verschweigen bestand. Jesus lehrte nicht einen anderen Gott, sondern er sprach anders über denselben: »Er ist mein Vater, der mich ehrt, von dem ihr sagt: er ist unser Gott. Dabei kennt ihr ihn nicht. Ich aber kenne ihn.« (Joh 8,55)

4. Diente der Name JHWH als Eigenname zunächst der Unterscheidung des eigenen von den anderen »Göttern«, so enthielt doch die Bedeutung dieses Namens »Ich bin« bereits den Anspruch seines Trägers auf Singularität. Ursprung des materiellen Universums und, falls es eine solche gibt, einer »geistigen Welt« kann nur ein einziger sein, jedenfalls dann, wenn Schöpfung nicht nur Gestaltung aus einem vorgegebenen Chaos ist, sondern die metaphysische Macht voraussetzt, aus dem Nichtsein ins Dasein zu rufen. Beim Eintritt der Juden in die hellenistische Welt ergab sich die Identifikation von JHWH mit dem, den die Philosophen im Gegensatz zum antiken Götterhimmel »den Gott« nannten, fast von selbst. (Fs)

13a
5. Fremd war dieser Epoche noch die philologische und kulturrelativistische intentio obliqua, die diese Identifikation rückgängig zu machen sucht, weil hebräisches und griechisches Denken angeblich inkompatibel seien. Pascals »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Nicht Gott der Philosophen« scheint schon eine solche Inkompatibilität im Auge zu haben. Aber ein kulturrelativistisches Aperçu hätte Pascal nicht in sein Rockfutter eingenäht. Der Ausruf drückt den Unterschied zweier Erfahrungsweisen aus. (Fs)

6. Freges Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« eines Ausdrucks - nomen intentionis und nomen rei, sagten die Scholastiker - paßt hier gut. »Abendstern« und »Morgenstern« können in einem Gedicht ganz unterschiedliche Funktionen haben. Sie bedeuten denselben Stern, sogar dann, wenn die Benutzer der Worte das gar nicht wissen. In literarischen Texten gibt es keine Referenz, keine Bedeutung jenseits des Sinnes. Figuren solcher Texte sind nichts über das hinaus, was der Autor uns über sie mitteilt oder andeutet oder was sich aus diesen Mitteilungen und Andeutungen ergibt. Niemals sind zwei Figuren miteinander identisch, wenn der Autor nicht die Absicht hatte, sie als identisch zu präsentieren. Es ist die Aufgabe literarischer Kritik, wie sie zur biblischen Hermeneutik gehört, Unterschiede nicht nur zwischen hebräischen Bibeltexten und griechischen Philosophentexten, sondern auch Unterschiede biblischer Texte untereinander sichtbar zu machen. Daß heute viele Theologen auf die begleitende intentio recta, also auf die Frage nach der Referenz, der »Bedeutung« jenseits des »Sinnes« der Texte und damit nach deren Konvergenz, verzichten, das allerdings ist Indiz für eine theologia etsi deus non daretur. Ihr Thema sind nur Texte. Nur Texte aber, das heißt: fiction. (Fs) (notabene)

Kommentar (11.11.2014), vgl. zu oben: Wilhelmsen, Political Theory, Chapter 8, Jaffa, the school of Strauss ..., etwa 217b

14a
7. Es gibt Katechismen, die mit der Geschichte des Auszugs Israels aus Ägypten statt mit der Lehre von Gott und der Schöpfung beginnen. Sie behandeln den Schöpfungsbericht in der intentio obliqua der Geschichte seiner Entstehung. Sie zerschneiden das reale Band der Tradition des Gottesgerüchts, das die Christenheit mit dem Judentum verbindet. Man streitet auch nicht mehr mit den Juden, weil der gemeinsame Gegenstand abhanden gekommen ist, über den man streiten könnte, zugunsten eines vagen Bewußtseins religionshistorischer Filiation. De gustibus non est disputandum. Wenn es nur Gottesbilder und keinen Gott gibt, dann können die Bilderverehrer einander gelten lassen in jener »Empfindsamkeit, welche alles in seiner Art gut zu finden versichert«, von welcher Versicherung Hegel schreibt, daß sie »Gewalt an der Vernunft leidet, welche gerade darum etwas nicht gut findet, weil es eine Art ist«. Wenn der Gottesbegriff eine »Bedeutung« hat, wenn ihm also jenseits allen Meinens etwas in der Realität entspricht, dann meinen Juden, Christen, Muslime und die Texte der klassischen europäischen Philosophie denselben, wenn sie von Gott sprechen, und es bleibt sinnvoll, darüber zu streiten, wie man über ihn sprechen muß, um richtig zu sprechen. (Fs)

15a
8. Warum die Beschränkung auf Jerusalem und Athen, wenn von Gott die Rede sein soll? Könnten wir nicht zumindest mit Spinoza das Wort »Gott« überall dort substituieren, wo ein Absolutes als Grund gedacht wird, das in keiner Weise mehr daseinsrelativ ist auf etwas anderes Wirkliches? Könnten wir nicht das Ganze dessen, was ist, immer dort »Gott« nennen, wo es nicht reduktionistisch, also nicht so gedacht wird, daß es das Beste von dem, was ist, zwar erklären soll, aber zugleich unterbietet - der Fall des Materialismus? Oder könnten wir nicht »Gott« auch jenes Absolute nennen, das zwar nichts von dem, was ist, begründet, es aber statt dessen zum bloßen Schein herabsinken läßt, wie das Sein des Parmenides oder das Nirwana des Buddhismus? Wir können das Wort »Gott« gebrauchen, wie wir wollen. Aber wenn es uns auf die Eindeutigkeit der Referenz ankommt, dann sind wir nicht so frei. Bestimmtheit der Referenz gibt es nur, wo wir uns nicht auf etwas, sondern auf jemanden beziehen. Der Begriff »Gott« in seiner üblichen, von der biblischen Tradition inspirierten Bedeutung meint das Absolute als Person. Es scheint damit seiner mythologischen Herkunft näher zu bleiben als pantheistische oder buddhistische Vorstellungen. Allerdings scheint es nur, wenn Gott jemand ist, einen klaren und bestimmten Unterschied zu machen, ob wir die Existenz Gottes annehmen, leugnen oder für zweifelhaft halten. (Fs)

16a
9. Was macht es für einen Unterschied? Brechts Herr K., gefragt, ob es einen Gott gibt, antwortet pragmatisch: »Ich rate dir nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf die Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage: Du hast dich schon entschieden. Du brauchst einen Gott.« Herr K. meint natürlich nicht, daß der Frager wirklich Gott braucht. Was er, aufgrund seines interessebedingten falschen Bewußtseins, braucht, ist der Glaube an Gott. Herr K. nimmt die Frage nach einer möglichen wirklichen, von unserem Glauben ganz unabhängigen Existenz Gottes gar nicht zur Kenntnis. Damit wird deutlich, daß auch er sich schon entschieden hat. Herrn Keuners Argument ist nur die Umkehr des traditionellen christlichen Arguments gegen die Ungläubigen: Sie haben ein Interesse an der Nichtexistenz Gottes. Sie wollen ihm nicht danken, schreibt Paulus im Römerbrief. Danken ist, wie auch Klagen und Bitten, offensichtlich auch eine Weise des Verhaltens, während Herr K. vermutlich nur an Lebenspraktisches denkt. Und da er nicht unvernünftig ist, würde er also wohl, wenn er glaubte, daß Gott existiert, auch etwas dieser Art zu tun sich gedrängt fühlen, was er aber nicht gern möchte. So könnte der Frager ihm antworten: »Auch du hast dich schon entschieden. Dein Verhalten zeigt: Du brauchst die Nichtexistenz Gottes. Oder, genauer gesagt, du brauchst es, an die Nichtexistenz Gottes zu glauben oder wenigstens an seine Existenz nicht zu glauben.«

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 02; Gott: Einheit der Prädikate »mächtig« und »gut«; Ort d. Ursprungs als Ort d. Wahrheit vom Standpunkt Gottes aus; Antinomie: Unbedingtheit des Guten - U. dessen, was ist, wie es ist; Einheit d. unbedingten Macht u. d. schlechthin Guten

Kurzinhalt: ... daß das Sein der Dinge und das Leben der Sterblichen weder notwendig noch die Folge eines universellen Trägheitsprinzips ist, sondern in jedem Augenblick Hervorgang aus dem Ursprung. Der Ort des Ursprungs aber ist zugleich der Ort der Wahrheit ...

Textausschnitt: 17a
10. Ehe man nach dem Interesse an der Wahrheit oder Nichtwahrheit des Gottesgerüchts fragt, ist es gut, genauer zu fragen, was dieses Gerücht genauer besagt. Was meint der, der denkt, daß Gott ist? Es handelt sich um eine synthetische, nicht um eine analytische Wahrheit. Es handelt sich um die wesentliche und notwendige Einheit zweier Prädikate, die empirisch oft getrennt und nur manchmal und in kontingenter Weise zusammen auftreten, die Einheit der Prädikate »mächtig« und »gut«. Wer glaubt, daß Gott ist, glaubt, daß das, was der Fall ist, die Welt unserer Erfahrung einschließlich seiner selbst, eine »Tiefe«, eine Dimension hat, die sich der Erfahrung, auch der introspektiven, entzieht. Diese Dimension ist der Ort, wo das, was ist, aus seinem Ursprung hervorgeht. Und zwar nicht im Sinne eines zeitlichen Folgens auf Antezedensbedingungen, sondern als gemeinsames Hervorgehen mit den Entstehungsbedingungen und zugleich als Emanzipation von diesen, also als Selbstsein. An einen Schöpfer glauben heißt glauben, daß das Sein der Dinge und das Leben der Sterblichen weder notwendig noch die Folge eines universellen Trägheitsprinzips ist, sondern in jedem Augenblick Hervorgang aus dem Ursprung. Der Ort des Ursprungs aber ist zugleich der Ort der Wahrheit, der Dinge an sich, der Welt vom Gottesstandpunkt aus, wobei unentschieden sein kann, ob dieser Standpunkt uns im Prinzip zugänglich ist oder nicht. (Fs; tblStw: Schöpfung) (notabene)

18a
11. Nicht unentschieden bleiben kann, wie wir selbst an dem, was der Fall ist, mitwirken, was uns zu tun und zu lassen erlaubt ist und was nicht. Die Unbedingtheit, mit der sich dies im Gewissen geltend macht, ist das andere Prädikat, das der meint, der glaubt, daß Gott ist. Darum der Name »Stimme Gottes« für das Gewissen. Diese Unbedingtheit des Guten, die nicht mit sich handeln läßt, steht in einem eigentümlich antinomischen Verhältnis zu jener anderen, zur Unbedingtheit dessen, was ist, wie es ist, das keine Appellation aufgrund irgendeines Sollens zuläßt und mit dem sich abzufinden oder gar anzufreunden immer der Rat des Philosophen war. Der Protest gegen das Universum, gegen den Lauf der Dinge, ist absurd. Und doch ist Unbedingtheit auch dort, wo jemand es in Kauf nimmt, daß der Lauf der Dinge sich gegen ihn kehrt, um an der Stimme des Gewissens keinen Verrat zu begehen. Diese Unbedingtheit ist durch keine Faktizität widerlegbar, so wenig wie diese durch jene. An Gott glauben heißt, die Antinomie der beiden Unbedingtheiten nicht als das letzte Wort gelten lassen. Gott ist, das heißt: Die unbedingte Macht und das schlechthin Gute sind in ihrem Grund und Ursprung eins - ein Exzeß der Harmonisierung vom Standpunkt der alltäglichen Empirie, ein Exzeß der Hoffnung. Die Weigerung, die Alternative zu wählen und das Absurde als letztes Wort hinzunehmen, ist wohl nur zusammen mit Pascals Wort zu haben: »Vere tu es Deus absconditus.« (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 03; Gott - Verborgenheit; Antinomie: mächtig - gut -> Gnostiker, Urschuld; Wille Gottes - List der Vernunft (Mephisto); Thomas: zwei Willen Gottes; Richtschnur d. Handelns (das sittlich Gebotene ... Beispiel: König, Frau)

Kurzinhalt: Der absolute Wille Gottes zeigt sich in dem, was geschieht. Er ist uns in seinem Grund verborgen und kann uns deshalb nicht zur Richtschnur des Handelns dienen. Es wäre sogar böse, schreibt Thomas, immer zu wollen, was Gott will. Richtschnur unseres ...

Textausschnitt: 19a
12. Warum ist Gott verborgen? Gegenfrage: Warum sollte er nicht verborgen sein? Warum müssen die Zuschauer von Platons Höhlenkino wissen, daß sie in einer Höhle sind und daß es ein Draußen gibt? Weil sie Menschen sind, zu denen es gehört, wissen zu wollen, »was in Wahrheit ist« (Hegel). Und weil sie eine Erfahrung von Unbedingtheit haben, die im Kontext des Films, den sie sehen, nicht verstehbar ist. Warum also ist dann Gott verborgen? Mit der absurden Konsequenz - absurd, wenn Gott ist -, daß das Dasein Gottes den Status einer kontroversen Hypothese hat? Die Gnostiker lösten das Problem, indem sie die beiden antinomischen Prädikate auf zwei Träger verteilten, einen bösen Schöpfer beziehungsweise Demiurgen und Fürsten dieser Welt und den »ganz Anderen«, den Gott des Lichtes, das von ferne leuchtet. Dies ist der Verzicht auf das, was das Gerücht sagt. Die andere Antwort erzählt die Geschichte von einer unvordenklichen Schuld, die das Mächtige und das Gute trennte und deren anfängliche Einheit ins Verborgene geraten ließ, dorthin, wo wir nicht sind, in den »Himmel«. (Fs)

13. Aber gehört es nicht zum Begriff Gottes, daß sein Wille immer geschieht? Ja, aber nicht wie im Himmel, so auf Erden, das heißt so, daß menschlicher Wille und göttlicher Wille im Einklang sind, sondern als »List der Vernunft«, die sich gegen die Absicht der Handelnden durch ihr Handeln vollzieht. Mephisto weiß sich als »Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. In die gleiche Richtung weist das Wort: »Der Menschensohn muß zwar verraten werden, aber wehe dem Menschen, durch den er verraten wird.« Die Ambivalenz im Begriff eines göttlichen Willens, die in der Spannung von Geschichtsphilosophie und Moralphilosophie bei Kant und bei Hegel ihren letzten Ausdruck fand, ist am präzisesten gefaßt in der Lehre von den zwei Willen Gottes bei Thomas von Aquin. Der absolute Wille Gottes zeigt sich in dem, was geschieht. Er ist uns in seinem Grund verborgen und kann uns deshalb nicht zur Richtschnur des Handelns dienen. Es wäre sogar böse, schreibt Thomas, immer zu wollen, was Gott will. Richtschnur unseres Handelns ist das, wovon Gott will, daß wir es wollen. Und das können wir wissen. Es ist das sittlich Gebotene, über das uns Vernunft und Offenbarung belehren. Es ist im übrigen nicht für alle Menschen dasselbe. Thomas’ Beispiel ist der König, der die Pflicht hat, nach einem Verbrecher fahnden zu lassen, und die Frau des Verbrechers, deren Pflicht es ist, ihren Mann zu verstecken. Keiner von beiden darf dem anderen die Erfüllung seiner Pflicht zum Vorwurf machen, und jeder muß den Willen Gottes in dem verehren, was dann wirklich geschieht. Denn, wie Martin Luther es formuliert: »Es ist das gewiß Zeichen eines bösen Willens, daß er nicht leiden kann seine Verhinderung.« Aktivität und Resignation gehen hier Hand in Hand und spiegeln die Ambivalenz im Begriff eines Willens Gottes, die doch nur deshalb existiert, weil die kreatürlichen Willen nicht a priori mit dem übereinstimmen, »wovon Gott will, daß wir es wollen«. (Fs; tblStw: Wille) (Fs) (notabene)
Kommentar (11.11.2014), zu oben, vgl. S. th. I—II, q. 19, a. 10
Spaemann, RationalityFaith, 625b f.

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 04; Einheit von Gottes Allmacht und Güte -> Theodizee; List der Vernunft (Kant, Hegel) - Vorzug der Spägeborenen?; Buch Hiob; kein Gegensatz: Macht - Liebe

Kurzinhalt: Die einzige Antwort auf die Theodizeefrage, die diese Frage zum Verstummen bringt, gibt das Buch Hiob... Die Botschaft des Neuen Testaments, daß Gott die Liebe ist, verliert ihre Pointe, wenn ...

Textausschnitt: 21a
14. Die Einheit von Allmacht und Güte, die wir denken, wenn wir Gott denken, macht die Theodizeefrage unvermeidlich, also die Frage nach der Vereinbarkeit der Übel der Welt mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes. Zahlreich sind die Antworten. Von der Gnosis war schon die Rede. Von »Tzim-Tzum« sprachen die Kabbalisten, von dem Sich-Zurücknehmen Gottes, einer Selbstbeschränkung seiner Allmacht, um Platz für etwas außerhalb seiner einzuräumen, dem unvermeidlichen Preis der kreatürlichen Freiheit. Leibniz meinte, daß Gott es besser nicht kann - die weniger euphemistische Formel für die beste aller möglichen Welten. Etwas Ähnliches sagt Klaus Berger, indem er den biblischen Gott in einen Demiurgen zurückverwandelt, der nicht ins Dasein ruft, sondern nur gestaltet und deshalb die Welt nicht besser machen kann, als es das vorgegebene Material erlaubt. Schließlich gibt es die Antwort Kants und Hegels: den Hinweis auf die List der Vernunft im Gang der Weltgeschichte, die am Ende alles zum Guten führt. Aber wieso zählen die später Lebenden mehr als die Früheren, die den Preis zahlten? Zeigen uns Lenin und Stalin, wie Gott ist? (Fs; tblStw: Theodizee)

21b Wenn Gott ist, gibt es keine solche Rechnung. Die einzige Antwort auf die Theodizeefrage, die diese Frage zum Verstummen bringt, gibt das Buch Hiob: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sag mir’s, wenn du so klug bist... Wer mit dem Allmächtigen rechnet, kann der ihm etwas vorschreiben? ... Gürte wie ein Mann deine Lenden. Ich will dich fragen, lehre mich. Willst du mein Urteil zunichte machen und mich schuldig sprechen, damit du recht behältst? Hast du einen Arm wie Gott und kannst du mit gleicher Stimme donnern wie er?« Und darauf Hiobs Antwort: »Ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und was ich nicht verstehe. .. Ich hatte dich nur vom Hörensagen vernommen. Aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.« Damit hat Gott die Wette gegen den Ankläger der Menschen gewonnen, und Hiob wird in den prächtigen Status quo ante wieder eingesetzt. Die Botschaft des Neuen Testaments, daß Gott die Liebe ist, verliert ihre Pointe, wenn sie so oft wiederholt wird, bis man vergessen hat, von wem dies gesagt wird. Das erste Prädikat Gottes ist die Macht. »Gott ist, wie sich alles verhält«, heißt es bei Wittgenstein. »Für den Gott sind alle Dinge gut, schön und gerecht« bei Heraklit, und »Ich bin der, der tötet und lebendig macht«, sagt JHWH beim Propheten. Die Hoffnung auf Rettung vor dem endgültigen Tod kann sich nur unter dieser Bedingung auf ihn richten. Wer nicht Ursprung des Alpha im Kentauren ist, kann nicht versprechen, Omega zu sein. Gott als ohnmächtig denken, um ihn ohne Schwierigkeit als gut denken zu können, heißt das Gute verloren geben. Es gibt Gott nicht - oder es gilt: »Tout ce qui arrive est adorable.« (Léon Bloy) (Fs) (Fs) (notabene)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 05; Religion - Kontingenzbewältigung 1; Begriff "möglicher Welten" - Glaube an freie Schöpfung; atheistische Kontingenzbewältigung - > Kontingenzbeseitigung (absurd: Abwesenheit von erwartetem Sinn)

Kurzinhalt: Die Idee der Kontingenz der Welt wird philosophisch erst im Raum des Islam und des Christentums entwickelt, genauso wie der in der modernen Logik so wichtig gewordene Begriff »möglicher Welten«.

Textausschnitt: 22a
15. Kontingenzbewältigung sei, worum es in der Religion geht, so werden wir heute belehrt. Das paßt zu den zwei Prädikaten Gottes. »Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille. Wie er fängt meine Sachen an, so will ich halten stille.« Hermann Lübbe liebt diese Lieder, und sie sind ja auch schön. Kontingenzbewältigung, das soll heißen, sich mit dem abfinden, was man nicht ändern kann, obwohl man sich denken und wünschen kann, daß es anders wäre. Sich abfinden oder sich anfreunden? Es gibt auch eine atheistische Kontingenzbewältigung, die es dabei bewenden läßt, daß die Dinge sind, wie sie sind, eine Lebenskunst, die darin besteht, sich mit Enklaven von Sinn und Freude in einem absurden Ganzen zu begnügen. Aber was heißt hier absurd? Absurd ist Abwesenheit von Sinn dort, wo wir ihn erwarten. Wenn wir, zum Beispiel mit Hilfe der Wissenschaft, gelernt haben, im Ganzen dessen, was ist, nicht so etwas wie Sinn zu suchen, werden wir auch nicht mehr von Absurdität sprechen. (Fs)

Der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd,
sagen die Dichter alle, sei mehr
als der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd.
Mir aber, der sich nicht vorstellen kann,
was der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd,
anders sein könne
als der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd, ist er wirklich nicht mehr
als der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd.
Fernando Pessoa

24a Die Wahrheit ist, daß der Glaube an das Dasein Gottes jene Kontingenz, die er »bewältigt«, überhaupt erst erzeugt oder zumindest außerordentlich verschärft. Die Idee der Kontingenz der Welt wird philosophisch erst im Raum des Islam und des Christentums entwickelt, genauso wie der in der modernen Logik so wichtig gewordene Begriff »möglicher Welten«. Denn was soll es heißen, etwas könnte anders sein, als es ist? Es kann heißen, daß das Anderssein nicht aus logischen Gründen ausgeschlossen wäre. Es kann heißen, daß es aus dem, was vorausging, naturgesetzlich notwendig folgt. Aber schon dies ist zweideutig. Denn wenn auch zwei Ereignisreihen sich aus Naturgesetzen ergeben, so gibt es doch nicht immer ein weiteres Naturgesetz, aus dem sich das Ereignis ergibt, das aus der Interferenz dieser Reihen folgt. Wir sprechen hier von Zufall und meinen, es hätte auch etwas anderes geschehen können. Aber was heißt hier »können«? Der Zufall ist nach Aristoteles genauso »Ursache« wie andere Ursachen. Die Tatsache, daß dem Ereignis nichts vorausging, was sein Eintreten determinierte, bedeutet nicht irgendein »Können« mit Bezug auf einen alternativen Gang der Dinge. Mit einer Ausnahme: Wo wir selbst oder andere Menschen, die wir als freie Subjekte von Handlungen betrachten, im Spiel sind, da hat es Sinn, von einem alternativen Können zu sprechen und mit Bezug auf bestimmte Handlungsergebnisse zu sagen, wir hätten auch etwas anderes tun können. Nur mit Bezug auf frei handelnde Wesen haben kontrafaktische Annahmen einen mehr als metaphorischen Sinn. Der Gedanke, die Welt könnte anders sein, als sie ist, ja sogar die Naturgesetze seien kontingent, konnte erst entstehen auf dem Hintergrund des Gedankens eines Ursprungs der Welt aus einer freien Entschließung. Gottesglaube als Kontingenzbewältigung kann deshalb nichts anderes heißen, als daß die Wunde nur geheilt werden kann durch das Eisen, das sie schlug. Darum taugt dieser Gedanke kaum für eine funktionalistische Religionsbegründung. Die atheistische Kontingenzbewältigung ist radikaler als die religiöse. Sie ist Kontingenzbeseitigung. Dies ist allerdings vielleicht aus psychologischen Gründen unmöglich. Menschen können sich schwer von dem Gedanken trennen, etwas könnte anders sein, als es ist. Aber das heißt vermutlich nur, daß Menschen sich schwer vom Gedanken an Gott trennen können. (Fs) (notabene)

25a
16. Kontingenzbewältigung kann allerdings noch etwas anderes bedeuten. Manchmal sind die Dinge besser, als wir annehmen konnten. Manchmal geschieht etwas Herrliches. Und es gibt Augenblicke, wo wir das eigene Dasein als reines Geschenk erleben, als Wunder. Glaube an Gott ist Wunderglaube. »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.« (Wittgenstein) Einen Zwang, nach dem eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit. Moderne Theologen wollen oft Gott auf die Ebene der sogenannten Erstursache, das heißt einer Art transzendentaler Bedingung für das Geschehen in der Welt verbannen, die sich aus dem Geschehen selbst herauszuhalten hat. Aber sie können dafür keinen Grund angeben außer dem Vorurteil, das Wittgenstein nennt. Wer prinzipiell an Wunder glaubt, ist in Gefahr, den gesunden Menschenverstand zu verlieren und leichtgläubig zu sein, weil er die Kriterien des Wahrscheinlichen verloren hat. Aber diese Gefahr ist gering. In der Regel sind Menschen, die an Gott glauben, skeptisch gegenüber Wunderberichten; geneigt, ihnen keinen Glauben zu schenken, gleichzeitig aber jederzeit auf das Wunder zu warten, das sie überzeugt. Die höchste Form des Bedürfnisses der Kontingenzbewältigung ist das Bedürfnis, dankbar zu sein. Hier kann der Atheismus keinen Ersatz bieten, denn Kontingenzbeseitigung wäre hier gleichbedeutend mit der Beseitigung des Glücks, danken zu können. Es ist eine schöne und wahre Armut der deutschen Sprache, daß sie für felicitas und fortuna nur das eine Wort >Glück< besitzt. Dank gibt es nur gegenüber einem Adressaten. Sonst wird er zur Façon de parler. Wo die Klage keinen Adressaten hat, hat auch der Dank keinen. Er kann nur wirklich sein, wenn der Adressat wirklich ist. »We really never advance a step beyond ourselves« - wenn dieser programmatische Satz Humes wahr ist, dann können wir uns weiterhin vielfältig amüsieren. Auf Freude im emphatischen Sinn des Wortes müssen wir verzichten. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 06; Religion - Kontingenzbewältigung 2; Naturgesetze: keine Erklärung. d Natur (Wittgenstein); kein physik., nur logische Notwendigkeit; Glück, danken zu können; ein Adressat als Voraussetzung für Dank

Kurzinhalt: »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.« (Wittgenstein) ... Die höchste Form des Bedürfnisses der Kontingenzbewältigung ist das Bedürfnis ...

Textausschnitt: 25a
16. Kontingenzbewältigung kann allerdings noch etwas anderes bedeuten. Manchmal sind die Dinge besser, als wir annehmen konnten. Manchmal geschieht etwas Herrliches. Und es gibt Augenblicke, wo wir das eigene Dasein als reines Geschenk erleben, als Wunder. Glaube an Gott ist Wunderglaube. »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.« (Wittgenstein) Einen Zwang, nach dem eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit. Moderne Theologen wollen oft Gott auf die Ebene der sogenannten Erstursache, das heißt einer Art transzendentaler Bedingung für das Geschehen in der Welt verbannen, die sich aus dem Geschehen selbst herauszuhalten hat. Aber sie können dafür keinen Grund angeben außer dem Vorurteil, das Wittgenstein nennt. Wer prinzipiell an Wunder glaubt, ist in Gefahr, den gesunden Menschenverstand zu verlieren und leichtgläubig zu sein, weil er die Kriterien des Wahrscheinlichen verloren hat. Aber diese Gefahr ist gering. In der Regel sind Menschen, die an Gott glauben, skeptisch gegenüber Wunderberichten; geneigt, ihnen keinen Glauben zu schenken, gleichzeitig aber jederzeit auf das Wunder zu warten, das sie überzeugt. Die höchste Form des Bedürfnisses der Kontingenzbewältigung ist das Bedürfnis, dankbar zu sein. Hier kann der Atheismus keinen Ersatz bieten, denn Kontingenzbeseitigung wäre hier gleichbedeutend mit der Beseitigung des Glücks, danken zu können. Es ist eine schöne und wahre Armut der deutschen Sprache, daß sie für felicitas und fortuna nur das eine Wort >Glück< besitzt. Dank gibt es nur gegenüber einem Adressaten. Sonst wird er zur Façon de parler. Wo die Klage keinen Adressaten hat, hat auch der Dank keinen. Er kann nur wirklich sein, wenn der Adressat wirklich ist. »We really never advance a step beyond ourselves« - wenn dieser programmatische Satz Humes wahr ist, dann können wir uns weiterhin vielfältig amüsieren. Auf Freude im emphatischen Sinn des Wortes müssen wir verzichten. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 07; Gottesliebe: Freude, dass Gott ist; Sinn der Welt außerhalb ihrer (Wittgenstein); Nietzsche, Übermensch (Erdfloh): funktionales Äquivalent für Gott; moralische Konsequenz aus d. Existenz Gottes (Sartre); Konsequenzialismus

Kurzinhalt: Es macht eben diesen Unterschied: Gott ist oder er ist nicht... Es gibt allerdings eine moralische Konsequenz aus dem Glauben an Gott. Wenn Gott ist, müssen Menschen tun, wovon Gott will, daß sie es wollen, ... Der Konsequenzialismus ist ein Bruch mit ...

Textausschnitt: 26a
17. Freude darüber, daß Gott ist, heißt in der traditionellen Sprache Gottesliebe. Sie ist mehr als der abstrakte moralische Universalismus, der das eigene Interesse zu relativieren bereit ist. Sie ist eine Verwandlung des Interesses selbst. Für die christlichen Mystiker, aber auch für Luther war die resignatio in infernum, die Akzeptanz der eigenen Verdammnis, wenn sie der Wille Gottes ist, ein Durchgangsstadium und Prüfstein dieser Verwandlung. Wenn Gott ist, dann ist dies das Wichtigste. Wo immer mein Schicksal mich hinführt, wie sinnvoll oder sinnlos mein Leben verläuft, der Sinn selbst, das Heilige und Schöne ist und ist unzerstörbar. »Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen, denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nicht zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muß außerhalb der Welt liegen.« (Wittgenstein) »Freude am Glück eines anderen«, so definiert Leibniz Liebe. Es gehört zum Begriff Gottes, ihn als glücklich zu denken und deshalb als gut. (Fs) (notabene)

27a
18. Nietzsche hat diese Freude verstanden, wenn er es als das »bis jetzt vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist«, bezeichnete, den Menschen zu lieben um Gottes willen. Da er glaubte, daß es Gott nicht gibt, wollte er ein funktionales Äquivalent für ihn ersinnen, den Übermenschen. Die Alternative wäre sonst der banale Nihilismus des »letzten Menschen«, der wie der Erdfloh, nur noch mit der Manipulation eigener Lustzustände beschäftigt, am längsten lebt, mit virtuellen Welten als Onaniervorlage. Aber auch der Übermensch ist virtuell. Es gehört zur Funktion Gottes, durch keine Funktion definierbar, also auch durch kein funktionales Äquivalent substituierbar zu sein. Nicht also zu etwas gut, sondern derjenige, für den etwas gut sein muß, um gut zu sein. Zu jeder Funktion des Gottesglaubens gibt es auch eine Entgegensetzung. Gott ist Grund jedes unbedingten Anspruchs an den Menschen und zugleich Subjekt des Verzeihens jeder Schuld, er ist Legitimationsinstanz jeder den Menschen verpflichtenden Autorität und Legitimationsinstanz des Ungehorsams gegen jede Tyrannis, er ist Herr der Geschichte und Richter über die, die Geschichte »machen«. Der Glaube an Gott inspiriert die größten Anstrengungen, Leiden zu lindern, und die größte Bereitschaft, sie anzunehmen. Er motivierte die Ketzerrichter genauso wie die Ketzer. Er motiviert die Weltverbesserer, die Weltflüchtigen und die, die in der Welt nur ihre alltäglichen Pflichten tun. Er veranlaßt uns, alles, was wir tun, für Gott zu tun, und lehrt, daß wir mit nichts von dem, was wir tun, Gott etwas geben können. Er lehrt, sich anzustrengen und indifferent zu sein gegenüber dem Ergebnis der Anstrengung. Er lehrt, daß Gott in allem ist und alles in Gott, und er lehrt, daß er »jenseits« ist, außerhalb der Welt, »im Himmel«. Auf die Frage, welchen Unterschied es macht, ob Gott ist oder nicht, gibt es deshalb nur eine Antwort: Es macht eben diesen Unterschied: Gott ist oder er ist nicht. (Fs) (notabene)

29a
19. Es gibt allerdings eine moralische Konsequenz aus dem Glauben an Gott. Wenn Gott ist, müssen Menschen tun, wovon Gott will, daß sie es wollen, und dürfen nicht versuchen, die Rolle Gottes zu spielen als Herren dessen, was geschieht. Jean-Paul Sartre schreibt in seinen nachgelassenen Cahiers pour une morale, daß ein Atheist radikaler »Verantwortungsethiker« sein muß, bereit, jedes Verbrechen zu begehen, wenn es zum Besten der Menschheit ist. Der Versuch, sich saubere Hände und eine weiße Weste zu bewahren, ist nichts als moralischer Egoismus. Anders, so schreibt er, ist es für den Gläubigen. Er trägt in erster Linie Verantwortung für sein eigenes Leben, weil es für ihn eine Instanz gibt, vor der er sein Leben zu verantworten hat. Sein Versuch, sich nicht mit dem Bösen zu kompromittieren, ist nicht Egoismus, sondern Gottesdienst. Die Verantwortung für die Unterlassung von Verbrechen aber braucht er nicht zu tragen. Sartre hat diese Sache besser verstanden als ein großer Teil der heutigen christlichen, insbesondere katholischen Moraltheologen, die für die teleologische Moral des Konsequenzialismus optiert haben, nach welcher die sittliche Qualität einer Handlung die Funktion der Gesamtheit ihrer voraussichtlichen Folgen ist, also der Zweck die Mittel heiligt. Und wenn inzwischen sogar Bischöfe diejenigen als moralische Egoisten beschimpfen, die die neutestamentliche Forderung, »sich unbefleckt zu bewahren von dieser Welt«, ernst zu nehmen suchen, dann sollten sie vielleicht darüber nachdenken, ob nicht ein bestimmter Verantwortungsbegriff ebenso utopisch wie atheistisch ist. »Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt«, meinte Dostojewski. »Unter Umständen und eine gute Absicht vorausgesetzt«, fügt der Konsequenzialist hinzu. »Uns ist alles erlaubt«, sagte Lenin in der Überzeugung, daß er wisse, was für alle das Beste ist, und daß es keinen Gott gibt, der das weiß. Der Konsequenzialismus ist ein Bruch mit der Grundlage einer jahrtausendealten menschlichen Gesittung. Und er ist totalitär, weil er den, der zu wissen glaubt, was für alle das Beste ist, zum Herrn der Gewissen derer macht, die das nicht wissen. (Fs; tblStw: Ethik, Moral) (notabene)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 08; Gottesbeweise: 2 Gruppen; klass. Gottesbeweise: Voraussetzung von Wahrheit; W. als Selbsttäuschung (Nietzsche, R. Rorty); argumentum ad hominem vs. Dialektik: Naturalismus - Spiritualismus; Person, Freiheit, Wahrheitsfähigkeit; Verzicht

Kurzinhalt: Erkenntnisse sind nicht Repräsentationen dessen, was erkannt wird, sondern kausale Wirkungen von etwas, das gerade nicht erkannt wird... Wenn Gott ist ... Dann ist eine »natürliche« Erklärung nicht gleichbedeutend mit einer reduktionistischen, weil ...

Textausschnitt: 30a
20. Was ist, wenn Gott ist? Dann ist Gott, und der Glaube an ihn ist wahr. Schön ist er gewiß, aber »qui sait si la vérité n’est pas triste?« (Renan) Es macht die Würde des Menschen aus, wissen zu wollen, was ist. Als Sinjawskij schrieb, es sei Zeit, an Gott zu denken, fügte er hinzu: »Man soll nicht aus alter Gewohnheit glauben, nicht aus Angst vor dem Tod, nicht für alle Fälle, nicht deshalb, weil uns jemand zwingt, nicht aus humanistischen Grundsätzen, nicht deshalb, um die Seele zu retten oder um originell zu sein. Man soll glauben aus dem einfachen Grund, weil es Gott gibt.« Ob es Gott gibt, ist kontrovers. Wahrscheinlich ja, hat Richard Swinburne gesagt und ausführlich begründet. Wahrscheinlich nein, hat John L. Mackie gesagt und es annähernd ebenso ausführlich begründet. Für den, der an Gott glaubt, wird aus der wahrscheinlichen Hypothese unvermeidlich Gewißheit, weil er betet. Man kann nicht im Ernst dauerhaft und mit wachsender Intimität auf jemanden hören und mit jemandem sprechen, dessen Existenz den Status einer Hypothese hat. Und auch der Ungläubige läßt die Sache nicht in der Schwebe - er verzichtet auf die Realisierung einer solchen Beziehung. (Fs)

31a Die Geschichte der Argumente für die Existenz Gottes ist gewaltig. Immer haben Menschen versucht, sich der Vernünftigkeit ihres Glaubens zu versichern. Die Gottesbeweise zerfallen in zwei Gruppen. In der einen wird versucht, aus dem Inhalt der Gottesidee oder aber aus ihrem Vorhandensein im menschlichen Bewußtsein auf die Realität dessen zu schließen, was in dieser Idee gedacht wird. Anselm von Canterbury, Descartes und Hegel sind die Namen, die sich mit diesem »ontologischen Argument« verbinden. Thomas von Aquin und Kant hielten diesen Weg für ungangbar. Zwar ist Gott, wenn er ist, mit Notwendigkeit, und seine Existenz ist im Unterschied zu jeder anderen Existenz von vollkommener innerer Einsichtigkeit. Aber, so der Einwand, wir haben keine hinreichende Einsicht in das, was wir meinen, wenn wir »Gott« sagen, um eine solche apriorische Gewißheit erreichen zu können. Die andere Gruppe der Argumente ging von den Elementen der Erfahrung aus, die nicht verstehbar sind, ohne über sich hinaus auf ein Unbedingtes zu verweisen. Eine dritte Gruppe schließlich, für die Pascal, Kant und William James stehen, enthält nicht Argumente dafür, daß Gott existiert, sondern dafür, daß wir, angesichts einer theoretischen Pattsituation, aus »existentiellen« Gründen besser beraten sind, an die Existenz Gottes zu glauben, als nicht daran zu glauben - also aus Gründen, die Sinjawskij nicht gelten lassen möchte. (Fs)

32a
21. Seit Hume, spätestens aber seit Nietzsche befindet sich die Argumentation für das Dasein Gottes in einer neuen Situation. Die klassischen Gottesbeweise versuchten zu zeigen, daß es wahr ist, daß Gott ist. Sie setzten voraus, daß es Wahrheit gibt und daß die Welt verstehbare, dem Denken zugängliche Strukturen besitzt. Diese haben ihren Grund zwar im göttlichen Ursprung der Welt, aber sie sind uns unmittelbar zugänglich und deshalb geeignet, uns zu diesem Grund zu führen. Diese Voraussetzung wird seit Hume und vor allem seit Nietzsche bestritten. Nietzsche schrieb, »daß auch wir Aufklärer, wir freien Geister des 19. Jahrhunderts, unser Feuer noch von dem Christenglauben nehmen, der auch der Glaube Platons war, daß Gott die Wahrheit, daß die Wahrheit göttlich ist«. Aber eben dieser Gedanke ist für Nietzsche eine Selbsttäuschung. Es gibt nicht Wahrheit, es gibt nur nützliche und schädliche Idiosynkrasien. »Wir müssen uns nicht einbilden, daß die Welt uns ein lesbares Gesicht zuwendet«, heißt es bei Foucault, und bei Richard Rorty: »Ein höheres Forschungsziel namens Wahrheit gäbe es nur dann, wenn es so etwas wie eine letzte Rechtfertigung gäbe, also keine Rechtfertigung vor einem bloß endlichen Auditorium menschlicher Hörer, sondern eine Rechtfertigung vor Gott.« Mit der Idee Gottes wird auch die einer wahren Welt hinfällig, mit dem intellectus archetypus auch das »Ding an sich« - für Kant das, was so ist, wie es für den intellectus archetypus ist. Rorty ersetzt inzwischen Erkenntnis durch Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wobei nicht einmal mehr gesagt werden kann, worin diese bestehen soll und worin die Eignung der Mittel zu diesem Ziel. Denn zumindest Aussagen hierüber müßten ja wahr zu sein versuchen. (Fs)

33a
22. In dieser Situation können Argumente dafür, das Absolute als Gott zu denken, nur noch Argumente ad hominem sein. Sie gehen nicht von unbezweifelbaren Prämissen aus, um zu ebenso unbezweifelbaren Schlußfolgerungen zu kommen. Sie sind holistisch. Sie zeigen die wechselseitige Abhängigkeit der Überzeugung vom Dasein Gottes und von der Wahrheitsfähigkeit, also Personalität des Menschen auf und suchen gleichzeitig nach Zustimmung für beides - im Gegensatz zu der Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus, die heute unsere Zivilisation bestimmt. Die beherrschende Macht in ihr ist ein abstraktes, transzendentales Subjekt, genannt »die Wissenschaft« auf der einen Seite, die anscheinend unabhängig von allen natürlichen, biologischen und psychischen Bedingtheiten ist. Sie reduziert die Welt auf subjektlose Objektivität. Sie erklärt uns, was wir als Menschen sind, indem sie uns erklärt, wie wir entstanden sind. Das Wahre und das Gute sind unter diesem Aspekt nichts als überlebensdienliche Idiosynkrasien; sogenannte Erkenntnisse sind nicht Repräsentationen dessen, was erkannt wird, sondern kausale Wirkungen von etwas, das gerade nicht erkannt wird. Daraus folgt, daß auch alle Ideen von personaler Selbstbestimmung Selbstmißverständnisse sind. Aber auch dies könnten wir ja, wenn es so wäre, nicht »wissen«. Wenn Gott ist, verhält es sich anders. Dann ist eine »natürliche« Erklärung nicht gleichbedeutend mit einer reduktionistischen, weil die Natur selbst sich einer unvordenklichen Freiheit verdankt und in der Hervorbringung freier, wahrheitsfähiger und zurechnungsfähiger Wesen nur zu dem zurückkehrt, was sie im Ursprung ist. Wenn Gott ist, können wir sein, wofür wir nicht umhin können, uns zu halten: Personen. Wenn wir das nicht wollen, gibt es kein Argument, das uns vom Dasein Gottes überzeugen könnte. Auch wenn wir es wollen, gibt es allerdings keine Nötigung, an Gott zu glauben. Es bleibt uns immer die Alternative, auf Verstehen zu verzichten, also darauf zu verzichten, das, als was wir uns selbst erfahren, in Einklang zu bringen mit dem, was die Wissenschaft über uns sagt. Wir können Hermeneutik und Naturgeschichte unvermittelt lassen. Es bleibt immer die Möglichkeit der intellektuellen Resignation:

Ich habe mich oft gefragt
Und keine Antwort gefunden
Woher das Sanfte und das Gute kommt.
Weiß es auch jetzt noch nicht Und muß nun gehn.
Gottfried Benn

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 09; Zusammenhang: Wahrheit - Wirklichkeit; Futurum exactum; Virtualisierung der Welt - Entbehrlichkeit Gottes; argumentum ad hominem (Leibniz): in Wirklichkeit jeder Beweis

Kurzinhalt: Mit dem Gedanken der Wahrheit bricht auch der Gedanke der Wirklichkeit zusammen... Die Unvermeidlichkeit des Futurum exactum impliziert die Unvermeidlichkeit, einen »Ort« zu denken, wo alles, was geschieht, für immer aufgehoben ist. Oder wir müssen ...

Textausschnitt: 35a
23. Mit dem Gedanken der Wahrheit bricht auch der Gedanke der Wirklichkeit zusammen. Unser Sprechen und Denken über das, was ist, ist unaufhebbar zeitlich strukturiert. Wir können nicht etwas als wirklich denken, ohne es in der Gegenwart, also als jetzt wirklich zu denken oder aber so, daß es einmal gegenwärtig, einmal »jetzt« war. Etwas, das immer nur vergangen war oder immer nur künftig sein wird, war nie und wird nie sein. Ebenso aber gilt: Was jetzt ist, war einmal zukünftig und wird einmal gewesen sein. Das Futurum exactum ist vom Präsens unzertrennlich. Von einem Ereignis der Gegenwart sagen, es werde einmal nicht mehr gewesen sein, heißt sagen, daß es in Wirklichkeit auch jetzt nicht ist. In diesem Sinn ist alles Wirkliche ewig. Der Zeitpunkt kann nicht eintreten, an dem es nicht mehr wahr sein wird, daß jemand einen Schmerz oder eine Freude empfunden hat, die er jetzt empfindet. Und diese vergangene Wirklichkeit ist ganz unabhängig davon, daß wir uns ihrer erinnern. Das jetzige Bewußtsein von dem, was jetzt ist, impliziert das Bewußtsein des künftigen Gewesenseins, oder es hebt sich selbst auf. Aber was ist der ontologische Status dieses Gewesenseins, wenn alle Spuren verweht sein werden, wenn das Universum nicht mehr sein wird? Vergangenheit ist immer die Vergangenheit einer Gegenwart. Was wird aus der Vergangenheit, wenn keine Gegenwart mehr sein wird? Die Unvermeidlichkeit des Futurum exactum impliziert die Unvermeidlichkeit, einen »Ort« zu denken, wo alles, was geschieht, für immer aufgehoben ist. Oder wir müssen den absurden Gedanken akzeptieren, daß einmal nicht mehr gewesen sein wird, was jetzt ist, und was eben deshalb auch jetzt nicht wirklich ist. (Fs)

36a Die totale Virtualisierung der Welt macht das Dasein Gottes entbehrlich. Wenn wir das Wirkliche als wirklich denken wollen, müssen wir Gott denken. »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben«, schrieb Nietzsche. Er hätte auch schreiben können: »...weil wir nicht aufhören können, uns selbst als wirklich zu denken.« Ein argumentum ad hominem. Aber Leibniz, der etwas von Beweistheorie verstand, schreibt, daß jeder Beweis in Wirklichkeit ein argumentum ad hominem ist. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 1, Vorgeschichte; N.: Klärung aus dem jeweiligen Gegenbegriff (nomos, techne, voluntas); Sophistik (nomos - physis) - Platon (kalón als das agatón); Krise d. N.-begriffs. Hume, Boyle, Sturm; Natur als Emanzipationsbegriff

Kurzinhalt: Im 17. und 18. Jahrhundert wird die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs ausdrücklich zum Problem. David Hume nennt »Natur« ein »vages unbestimmtes Wort... Aber die gleiche Bewegung, die sich als Emanzipation der Natur begreift, wird von anderen Autoren ...

Textausschnitt: 3. Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18.Jahrhundert

85a Vieldeutig ist der Naturbegriff immer gewesen. Seit der antiken Antithese von physis und nomos hatte er eine spezifische Bedeutung fast stets aus dem jeweiligen Gegenbegriff gewonnen, sei es der Begriff der techne gewesen oder der des Zwanges (in der aristotelischen Entgegensetzung von natürlicher und gewaltsamer Bewegung), sei es bei Cicero und im Mittelalter in der Antithese »natura-voluntas« der Begriff des freien Willensaktes.1 Bei Thomas von Aquin wird im Willen selbst noch einmal eine »natura« statuiert und vom »liberum arbitrium« abgehoben: das formelle Streben nach dem »bonum« beziehungsweise, subjektiv gewendet, der »beatitudo«, das nach Augustin wie Thomas von Aquin den Willen als Willen allererst konstituiert, wird vom eigentlich freien Willensakt als dessen Ermöglichung unterschieden.2 Die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs wird jedoch bis zum 17. Jahrhundert nicht eigentlich zum Problem. Sie stört nämlich die Verständigung nicht. Und zwar stört sie diese nicht, solange das Wort »Natur« in den verschiedenen Gegensatzpaaren jeweils eine analoge Funktion erfüllt. Die Eindeutigkeit des Naturbegriffs wird durch die Eindeutigkeit seines Gegensatzes gewährleistet. Immer bezeichnet Natur ein vom nomos, von der techne, von der Freiheit nicht Gesetztes; immer gleichzeitig aber eine vom menschlichen Lebenszusammenhang vorausgesetzte Bedingung seiner Möglichkeit. Und fast immer ist der Begriff der Natur schon unausdrücklich dialektisch in dem Sinne, daß er sein eigenes Gegenteil mit umgreift, so wie die Wahrheit den Schein. Gerade dort, wo, wie in der Sophistik, die physis dem nomos in kritischer und emanzipatorischer Absicht entgegengesetzt wird, da wird dem nomos ein ihn legitimierender Ursprung jenseits der physis abgesprochen: Die Entlarvung besteht gerade darin, den natürlichen Ursprung des naturwidrigen nomos aufzuweisen. Und Platons Gegenkritik besteht nicht darin, dem nomos einen nichtphysischen Ursprung zu vindizieren, sondern er bildet den Begriff der physis selbst so um, daß der nomos als die Erfüllung der teleologisch gedachten Natur des Menschen erscheint, das kalón als das agatón, das Edle als das zugleich Zuträgliche. (Fs) (notabene)

86a Im 17. und 18. Jahrhundert wird die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs ausdrücklich zum Problem. David Hume nennt »Natur« ein »vages unbestimmtes Wort, welcher die Menge alles zuschreibt«.3 Robert Boyle will das Wort überhaupt abschaffen und durch »mechanismus« ersetzen.4 Johann Christoph Sturm schreibt in seiner Schrift >De naturae agentis superstitioso conceptu<: »Es gibt in der gesamten Naturphilosophie wohl kaum ein Wort, das zweideutiger und äquivoker wäre als jenes, das ihr selbst den Namen gegeben hat, nämlich das Wort >physis<, das die Lateiner mit >Natur< wiedergegeben haben.«5 Und im Rückblick auf die Französische Revolution und ihre theoretischen Grundlagen schreibt 100 Jahre später der Philosoph der Restauration de Bonald die Irrtümer der revolutionären Theorie der Zweideutigkeit der Worte »Natur« und »natürlich« zu.6 (Fs) (notabene)

87a Eine Darstellung des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert müßte dieser Zweideutigkeit nachfragen, oder genauer dem Grund, warum sie plötzlich zum Problem wird. Denn dies ist ja doch auffallend: Die einzigartige Wendung zur Natur in der Weise der Naturwissenschaften ist es, durch die der Begriff Natur selbst in Frage gestellt wird, so bei Boyle, so bei Sturm, so bei Hume, so dann bei Voltaire, der in seinem >Dialogue entre le philosophe et la nature< die Natur sagen läßt: »Man hat mir einen Namen gegeben, der mir nicht zukommt: Man nennt mich Natur, und ich bin doch ganz Kunst.«7 (Fs) (notabene)

87b Und dies muß ferner auffallen: Natur war in der Sophistik ein Emanzipationsbegriff. Dies ist er auch im 18. Jahrhundert. Die neue Ordnung der Emanzipation aus den alteuropäischen Strukturen wird vom Baron Holbach als »Systeme de la nature« konstruiert, und der Abbé Morelly entwirft für sie einen »code de la nature«. Aber die gleiche Bewegung, die sich als Emanzipation der Natur begreift, wird von anderen Autoren und manchmal sogar von denselben als »Herausgehen aus der Natur« bestimmt, so etwa wenn Kant schreibt, der Mensch solle aus dem ethischen Naturzustande herausgehen, um Glied eines ethischen Gemeinwesens zu werden.8 Von der gleichen Emanzipation aus der Natur aber sagt Kant an anderer Stelle, die Natur habe sie gewollt, sie sei die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur.9 Schiller spricht vom Übergang vom »Naturstaat« zum »Vernunftstaat«.10 Und noch Marx nennt jene feudalen Bindungen, aus denen die bürgerliche Revolution befreit, »naturwüchsige Verhältnisse«.11 (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 2; Zweideutigkeit des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert: N. als Bedürfnisstruktur d. Menschen u. als hypothetischer Anfangszustand; mechanische Naturdeutung: theologischer Ursprung (J. Buridan, causa finalis); Krise d. N-begriffs (Grund 1)

Kurzinhalt: In der Idee der Entelechie war jene Zweideutigkeit des Naturbegriffs als Anfang und als ein das Andere seiner selbst als »telos« Umgreifendes aufgehoben. Die Abkehr von der Idee der Entelechie ... Die mechanische Naturdeutung, später als gottlos ...

Textausschnitt: 88a Die Zweideutigkeit des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert läßt sich grob und schematisch so bestimmen: Natur ist einerseits jene individuelle, durch Selbsterhaltungstrieb primär bestimmte Vermögensausstattung und Bedürfnisstruktur des Menschen, die hervortritt, wenn der Mensch die Überformung der traditionellen christlichen Geschichtswelt abstreift. Natur ist andererseits ein hypothetischer, dieser Geschichte vorauf liegender Anfangszustand des Menschen. Je nach dem, ob die bisherige Geschichte als Entfernung von der anfänglichen Natur oder als innerhalb dieser verbleibend gedacht wird, erscheint die Emanzipation als Rückkehr zur Natur oder als Heraustreten aus ihr. Beide Betrachtungsweisen sind möglich, vor allem, wenn wir einen dritten Sinn des Wortes Natur hinnehmen: Natur als Totalzusammenhang der Erscheinungen. So unterscheidet Kant in den >Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft< »Natur in materieller Bedeutung« als

Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das Ganze aller Erscheinungen, d. i. der Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nichtsinnlichen Objekte, verstanden wird,

und »Natur in formaler Bedeutung als das erste innere Prinzip alles dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört«.1 (Fs)

89a Die bisherige Geschichte nun, als Geschichte der Repression verstanden, ist antinatürlich in dem Sinne, daß es die Natur in formaler Bedeutung ist, der Gewalt angetan wird. Insofern ist die Emanzipation Befreiung der Natur. Aber die gleiche Geschichte ist natürlich in dem Sinne, daß die Gewalt, die ein Wesen dem andern antut, ja keinen außernatürlichen Ursprung hat, sondern selbst das Gesetz der Natur in materieller Bedeutung ist, das Gesetz der Erfahrung und der Sinnenwelt, gerade insofern in ihr noch nicht eine Gesetzgebung aus Vernunft die die Natur ständig vergewaltigende Naturgesetzlichkeit abgelöst hat. Insofern ist Emanzipation Befreiung von der Natur. Das 18. Jahrhundert steckt in dieser Dialektik des Naturbegriffs und denkt sie infolgedessen noch nicht. (Fs)

90a Der Begriff scheint in eine beziehungslose Zweideutigkeit auseinanderzufallen. Zwei Gründe lassen sich für diesen Vorgang angeben; zwei Gründe, die freilich auf eine Weise zusammenhängen, die noch näher zu klären sein wird. Der erste Grund ist die Abkehr von der teleologischen Naturbetrachtung, von der aristotelischen Idee der Entelechie. Diese ist, nach dem Worte Bacons, »tamquam virgo Deo consecrata, quae nihil parit«.2 In der Idee der Entelechie war jene Zweideutigkeit des Naturbegriffs als Anfang und als ein das Andere seiner selbst als »telos« Umgreifendes aufgehoben. Die Abkehr von der Idee der Entelechie wird nun von Boyle und dem erwähnten Sturm als Abkehr vom Naturbegriff selbst verstanden. So etwa, wenn der »horror vacui« als Mystifikation eines mechanischen Prinzips entlarvt wird. Es gibt jene Natur nicht, die vor irgend etwas einen Horror oder zu irgend etwas eine Neigung hat. Die Welt ist für die Cartesianer ein aufgezogenes Uhrwerk, für dessen Ablauf es keines Archäus, keines hylarchischen Prinzips, keiner »Natur« bedarf, sondern nur eines Uhrmachers. So wird denn auch die Maschinentheorie der Welt als eine gottesfürchtige Theorie, als »vindicatio gloriae supremae numinis«3 betrachtet. Tatsächlich ist es denn auch gerade die christliche Theologie gewesen, die schon lange zuvor die klassische Entelechie ausgehöhlt hatte. Das Argument des Johannes Buridan gegen die »causa finalis«, ein Ziel könne nicht wirken, sondern nur ein zielsetzender Geist,4 dieses Argument findet sich schon bei Thomas von Aquin. Wenn dieser aus der teleologischen Struktur des Lebendigen einen Gottesbeweis macht, dann eben mit diesem Argument:

Die Dinge aber, die keine Erkenntnis besitzen, streben nach einem Ziel nur, wenn sie von einem erkennenden und intelligenten Wesen ins Ziel gelenkt werden wie der Pfeil vom Schützen.5

91a So wird alle Teleologie letzten Endes aus der Welt herausbefördert und in den göttlichen Geist verlegt. Damit aber wird die Welt zur Maschine. Die mechanische Naturdeutung, später als gottlos gescholten, ist selbst theologischen Ursprungs. Sie geht ja dann auch bis ins 18. Jahrhundert Hand in Hand mit einer dem Mittelalter in dieser Form unbekannten Universalteleologie, das heißt dem Versuch, die zweckmäßige - und zwar auf den Menschen als Endzweckbezogene - Konstruktion dieser Weltmaschine aufzuweisen. (Fs) (notabene)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 3; Krise d. Naturbegriffs (Grund 2): natura - gratia; desiderium naturale - Heil als Rechtsanspruch -> natura pura; finis naturalis - potentia oboedientialis - supernaturalis; Reformatoren (Luther), Paradies: Gerechtigkeit - N.; Bellarmin

Kurzinhalt: Erstens werden in der Antithese »natura-gratia« alle vorhergehenden, phänomenal ausgewiesenen Distinktionen eingeebnet:... Das System der »natura pura« wurde dann in der Auseinandersetzung mit Bajus

Textausschnitt: 91b Für den Gebrauch des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert innerhalb der Sozialtheorien aber scheint mir noch ein zweites, ebenfalls theologisches Motiv eine Rolle zu spielen, ein Motiv, das mit dem erstgenannten von Anfang an merkwürdig verschränkt ist. Ich nannte einleitend die großen Antithesen, in denen der Naturbegriff auftaucht und von denen her er seine jeweilige Bedeutung gewinnt. Ich habe dabei eine Antithese unerwähnt gelassen, die in der frühen Neuzeit an Bedeutung alle anderen übertraf, die Antithese »natura-gratia«, und später »naturale« und »supernaturale«. Diese Antithese vor allem ist es, die den sozialtheoretischen Naturbegriff des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Ich möchte hier nicht auf den Ursprung des Begriffs des »supernaturale« eingehen. Er geht letzten Endes auf das ... [epekeina tes ousias] (jenseits des Wesens) Platons zurück.1 Was uns hier interessiert, sind nicht so sehr die Ursprünge als vielmehr die Folgen der neuen Antithese. In ihr nämlich erfährt der Naturbegriff eine tiefgreifende Wandlung. Und zwar in doppelter Weise:

92a Erstens werden in der Antithese »natura-gratia« alle vorhergehenden, phänomenal ausgewiesenen Distinktionen eingeebnet: Unter dem theologischen Naturbegriff wird alles subsumiert, was zuvor als Gegensatz zur Natur begriffen worden war. Alle humane Sittlichkeit wird als Reich der natürlichen und moralischen Tugenden den übernatürlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe entgegengesetzt. (Fs)

93a Alles menschliche Tun und Machen rückt hinsichtlich des nun maßgebenden Gegensatzes »natura-gratia« auf die Seite der Natur. Die menschliche »voluntas« wird hinsichtlich der Möglichkeit einer Transzendenz, die in der »Caritas« eröffnet wird, zur bloßen Natur, so wie schon bei Paulus die autonome menschliche Vernunft unter dem Begriff des »Fleisches« subsumiert worden war. (Fs)

93b Gewiß ist die Unterscheidung von Natur und Gnade in ihren Grundlagen so alt wie die christliche Theologie. Aber das ganze Mittelalter hindurch hält sich doch die platonische Lehre von der Seele als etwas Göttlichem, dessen Behandlung eher zur Theologie als zur Physik gehört, so bei Boetius, Cassiodor, Isidor von Sevilla, Hugo von St. Viktor. Thomas von Aquin unterscheidet die »natura intellectualis« von der »creatura naturalis« oder der »res naturalis«.2 (Wie überhaupt zu bemerken ist, daß der Terminus »naturalis« immer sehr viel spezifischer ist als der der »natura«.) Vor allem aber: Für den teleologischen Dynamismus der hochmittelalterlichen Philosophie und Theologie gibt es eine unmittelbare Finalität der menschlichen Natur auf das Ziel einer nur durch Gnade zu erreichenden Seligkeit. So heißt es im Boetiuskommentar des Thomas von Aquin:

Obgleich der Mensch von Natur auf das letzte Ziel hin geneigt ist, so kann er es doch nicht von Natur erreichen, sondern nur durch die Gnade..., und zwar wegen der Erhabenheit dieses Zieles.3

94a Und Thomas versucht hierfür sogar die Nikomachische Ethik heranzuziehen:

Das, was wir durch göttliche Hilfe können, ist uns nicht schlechthin unmöglich, nach dem Wort des Aristoteles: >Was wir durch Freunde können, können wir in gewisser Weise durch uns selbst<.4

94b Aber dieser Gedanke einer immanenten Teleologie, die doch wegen der Unendlichkeit des Telos nicht selbst imstande sein sollte, dieses Telos hervorzubringen, war natürlich durchaus unaristotelisch. Und unter Berufung auf Aristoteles haben die späteren Scholastiker, und zwar gerade die thomistischen, diesen Gedanken aufgegeben. So schreibt Sylvester von Ferrara:

Wenn Gott das natürliche Ziel wäre, das heißt das Ziel, zu dem die Natur strebt, andererseits aber nur auf übernatürliche Weise erreichbar, dann würde das bedeuten, daß die Natur ihr Subjekt auf etwas ausrichtete, das hervorzubringen diesem doch unmöglich wäre. Ein in allen Naturen vorhandenes Streben aber, das auf keine Weise von Natur erfüllbar wäre, würde in der Natur vergeblich vorkommen... Es ist sinnlos, daß etwas durch einen Naturtrieb - die einzige Form natürlicher Neigung - erstrebt wird und daß der Mensch dennoch zu diesem Ziel nicht durch irgendeine natürliche Fähigkeit gelangen kann, denn die Natur hat von sich her nur Neigungen innerhalb der Grenzen der Natur.5

95a Alle Thomisten des 16. Jahrhunderts zitieren in diesem Zusammenhang Aristoteles:
Wenn die Natur den Himmelskörpern die Neigung zur geradlinigen Bewegung gegeben hätte, hätte sie auch die Mittel zu einer solchen Bewegung gegeben.6

95b Das sich hier anmeldende Naturverständnis bewegt sich in der Richtung auf die cartesisch-spinozistische Definition der Substanz als das, was begriffen werden kann ohne den Begriff eines anderen. Ein spezifisch theologisches Motiv wirkt in der gleichen Richtung: Der Gedanke eines »desiderium naturale«, das in der Natur über diese hinausweist, würde, so folgern die Theologen des 16. Jahrhunderts, aus dem Heil einen Rechtsanspruch machen; die Gnade würde aufhören, Geschenk zu sein. Die Folgerung war, daß man der faktischen heilsgeschichtlichen Bestimmung des Menschen eine hypothetische, rein natürliche Bestimmung, einen »finis naturalis«, unterschob: Die folgenreiche Konstruktion einer »natura pura« entstand. Gott hätte, so ist die These, den Menschen auch »in puris naturalibus« erschaffen können. Die Heilsbestimmung ist hinsichtlich der menschlichen Natur bloß akzidentell. Die Hinordnung der Natur auf diese Bestimmung besteht nur in einer sogenannten »potentia oboedientialis«, einer passiven Fähigkeit, durch die göttliche Allmacht in eine solche neue Bestimmung hineingenommen zu werden. Und nun erst wird auch der Gebrauch des Wortes »supernaturalis« für diese Heilsbestimmung üblich. (Fs)

96a Das System der »natura pura« wurde dann in der Auseinandersetzung mit Bajus in der katholischen Theologie herrschend.7 Um der Gratuität der Gnade willen wird von den Theologen die Autonomie der Natur zu einem Postulat gemacht, demgegenüber die Gnade nur den Charakter eines »superadditum« hat. Es ist nicht zuletzt das Vordringen juristischer Kategorien in der Interpretation der Heilsgeschichte, die diese Entwicklung begünstigt. Der Gedanke, der Mensch könne angewiesen sein auf etwas, das notwendigerweise den Charakter des freien Geschenkes hat, tritt zurück. Entweder ist die Natur auf etwas angewiesen, dann besitzt sie einen einklagbaren Versorgungsanspruch. Oder sie besitzt diesen nicht, dann muß sie sich allenfalls auch selbst genügen können. Das ist die Logik, aus der die Idee des »status naturae purae« entspringt. (Fs) (notabene)

96b Übrigens folgen die Reformatoren genau der gleichen Logik in umgekehrter Richtung, wenn sie die paradiesische Verfassung des Menschen als »natürlich« bestimmen und ihren Geschenkcharakter ausdrücklich leugnen. So Luther im Genesiskommentar:
Wir sollten nicht behaupten, die Gerechtigkeit sei sozusagen ein Geschenk gewesen, das von außen, getrennt von der Natur des Menschen, zu ihm hinzugekommen sei: Sie war vielmehr etwas ganz Natürliches, so daß es die Natur Adams war, Gott zu lieben, Gott zu glauben, Gott zu erkennen usw. ... Das alles beweist, daß die ursprüngliche Gerechtigkeit zur Natur des Menschen gehörte; wenn sie also durch die Sünde verloren ging, dann ist klar, daß das Natürliche nicht intakt blieb, wie die Scholastiker spinnen.8

97a Die Idee der totalen Verderbtheit der menschlichen Natur durch den Sündenfall folgt hieraus. Dagegen fassen Theoretiker der »natura pura«, etwa Suarez oder Bellarmin, die Sünde als Verlust eben jener akzidentellen übernatürlichen Bestimmung und setzen den Zustand des nachparadiesischen Menschen, seine Mühsal, das Sterbenmüssen und so weiter, dem »status naturae purae« gleich, der auch nicht besser gewesen wäre: denn
der Zustand des Menschen nach dem Fall Adams würde sich von seinem reinen Naturzustand nicht mehr unterscheiden, als sich der Ausgeplünderte vom Nackten unterscheidet.9

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 4; Folgen d. theolog. N. als Funktion d. Geschichte; N. als Substanz ohne Relation (Deus sive natura); konfessionelle Ggs. in Naturtheorien (natura pura - Hobbes; Rousseau als Übergang)

Kurzinhalt: 1. Durch die Einfügung der Natur in einen heilsökonomischen Zusammenhang wird der Naturbegriff selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie... 2. Der Naturbegriff wird durch den Gegensatz zum Übernatürlichen so ausgeweitet, daß ...

Textausschnitt: 98a Ich kann nun an dieser Stelle die Konsequenzen der beiden Konzeptionen für den Naturbegriff und die Geschichtstheorie der Neuzeit nur andeuten. Zweierlei ist zunächst wichtig. (Fs)

1. Durch die Einfügung der Natur in einen heilsökonomischen Zusammenhang wird der Naturbegriff selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie. War für die Antike das, was meistens geschieht, Kriterium für das, was als natürlich angesehen werden muß, so ist nun, was meistens geschieht, möglicherweise Folge eines Zustandes, der bereits aus einer Entfernung von der Natur resultiert. Was Natur dann heißt, muß also erst mit Hilfe irgendeiner Methode erschlossen werden; es zeigt sich nicht für die Empirie. (Fs) (notabene)

2. Der Naturbegriff wird durch den Gegensatz zum Übernatürlichen so ausgeweitet, daß er dort, wo die Idee des Übernatürlichen dem kritischen Verdikt der Aufklärung verfällt, zum Begriff für die Totalität des Seins wird, da er nun überhaupt kein Gegenüber mehr hat. Natur wird zur Substanz, die ohne Bezug auf einen anderen Begriff gedacht werden kann: Deus sive natura. »Je suis le grand tout«, sagt die Natur bei Voltaire. Aber eben damit fällt das Spezifische des Begriffs weg: »Je suis tout art«,1 heißt es bei Voltaire weiter, und der Begriff wird zweideutig, in sich selbst dialektisch, wie es mit jedem spekulativen Begriff geschieht, der den Bezug aufsein Gegenüber verliert. (Fs) (notabene)

99a Zu untersuchen wäre, wieweit sich die konfessionellen Gegensätze in der Fassung des Naturbegriffs innerhalb der philosophischen Naturtheorien durchhalten. Mir scheint dies erkennbar zu sein. Die aufklärerische Durchführung eines geschlossenen Systems der »natura pura« geschieht im katholischen Frankreich. Die geschichtsphilosophischen Varianten der Sündenfalltheorie, die Vorstellung vom notwendigen Verlassen des Zustandes einer radikal bösen oder aber böse gewordenen Natur finden sich im protestantischen Idealismus, aber zuvor schon bei Thomas Hobbes mit seinem kategorischen Postulat: »Wir glauben, ... daß man aus dem Naturzustand herausgehen muß.«2 Zwischen beiden steht Rousseau. Er, der zweimalige Konvertit, bildet den Übergang von der einen Konzeption zur anderen. Er hat den Naturbegriff der Aufklärung radikal zu Ende gedacht und eben deshalb das »système de la nature« verlassen. An ihm möchte ich die Konsequenzen der skizzierten Voraussetzungen verdeutlichen. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5a; N.begriff v. Rousseau (Discours, Émile); Verlust d. Teleologie in d. N. -> Frage nach dem guten Leben als Ursprungsfrage (status naturae); Ggs. dazu das beste Leben (Aristoteles); homme naturel als sprachloses Wesen; Spinoza, Substanz, Physik

Kurzinhalt: Der »status naturalis« wird zu einem nicht mehr faktisch-historischen, sondern rein hypothetischen Zustand, der aus methodischen Gründen angenommen werden muß. [In diesem] Zusammenhang bezieht sich Rousseau auf den »status naturae purae« der Theolologen

Textausschnitt: 99b Thematisiert wird der Naturbegriff von Rousseau in zwei Schriften, im zweiten >Discours<, dem über die Ungleichheit, und im >Émile<. Die Frage, auf die die zweite Preisschrift eine Antwort gibt, lautet, welches der Ursprung der Ungleichheit sei und ob sie gerechtfertigt sei durch das Naturrecht. Bezeichnenderweise wird die Frage nach der Legitimation als Ursprungsfrage gestellt. Seit dem Verschwinden des teleologischen Naturbegriffs kann die Frage nur noch so gestellt werden. Für die platonisch-aristotelische Tradition war die Frage nach dem, was von Natur recht ist, eine Frage nach dem, was für den Menschen das beste ist, nach dem, worin das gute Leben besteht. Von Natur zum Herrschen berufen sind deshalb die, die Einsicht in das Gute besitzen. Der konfessionelle Bürgerkrieg hatte gezeigt, daß die Frage nach dem Guten nun eher geeignet war, jedes politische Zusammenleben unmöglich zu machen. Die Konsequenz daraus berührt sich mit der Tendenz zur Aufgabe der teleologischen Sicht: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts anderes als das wirkliche Wesen des Dinges selbst«,3 schreibt Spinoza, nachdem die Physik dieses Prinzip bereits für die Gesetze der Bewegung statuiert hatte. Und Hobbes zieht die Konsequenz fürs Politische, indem es nun nicht mehr ums gute, sondern ums nackte Leben geht. Pufendorff aber verwirft ausdrücklich das Herrscherrecht der von Natur Einsichtigeren: »Es wäre ganz absurd zu meinen, die Natur habe den Klügeren über die Dümmeren auch schon ein Herrschaftsrecht gegeben.«4 (Fs) (notabene)

100a Die Frage nach der naturrechtlichen Legitimation von Herrschaft kann also nur genetisch gestellt werden, ausgehend von einer ursprünglich angesetzten Gleichheit. Die Frage nach dem Naturrecht wird zur Frage nach einem vorgesellschaftlichen »status naturae«: »Um die Gesetze der Natur kennenzulernen«, schreibt Montesquieu5,

muß man einen Menschen betrachten vor der Gründung der Gesellschaft. Die Gesetze der Natur werden die sein, die er in einem solchen Zustand empfangen würde. (Fs)

101a Natur ist also das Anfängliche. Dieses wird erschlossen durch Abstraktion von allem Institutionellen, geschichtlich Gewordenen. Es ist bekannt, daß Rousseau in dieser Abstraktion, Hobbes folgend, sehr viel weiter als dieser gegangen ist. Sein Einwand gegen Hobbes ist der, daß Hobbes zwar von den politischen Institutionen abstrahiert, aber den Menschen läßt, wie er ihn innerhalb der Gesellschaft vorfindet. Die Natur des Menschen hat jedoch durch die Geschichte eine so tiefgreifende Deformierung erfahren, daß durch bloße Empirie ein zureichender Begriff des Natürlichen nicht mehr gewonnen werden kann. Totale Abstraktion von allem, was nicht »physei« ist, muß ja sogar von der Sprachlichkeit abstrahieren, denn es gibt keine natürliche Sprache. Konsequenterweise setzt dann auch Rousseau den »homme naturel« als sprachloses Wesen an. Denn natürlich ist nur das, was aus der Vermögensstruktur des einzelnen Individuums entwickelt werden kann. Daraus folgt, daß der »homme naturel« auch nicht mehr dort gesucht werden kann, wo ihn das 18. Jahrhundert so gern suchte: im Primitiven. Der »status naturalis« wird zu einem nicht mehr faktisch-historischen, sondern rein hypothetischen Zustand, der aus methodischen Gründen angenommen werden muß. Und in eben diesem Zusammenhang bezieht sich Rousseau auf den »status naturae purae« der Theologen. »Lassen wir also zuerst einmal alle Tatsachen beiseite«, heißt es, und »freilich haben sich die Menschen nie im reinen Naturzustand (pur état de nature) befunden«.6 Dieser Naturzustand wird konstruiert, »indem dieses Wesen aller übernatürlichen Gaben, die es hat empfangen können, und aller künstlichen Fähigkeiten entkleidet wird«.7 Die Methode, mit deren Hilfe die Natur in ihrem positiven Gehalt ermittelt wird, ist die der Reflexion auf die eigene, noch nicht sprachlich vermittelte Spontaneität, eine »méditation sur les premières et plus simples opérations de l'âme humaine«.8 (Fs) (notabene)

102a Gesucht werden dabei die »Prinzipien, die der Vernunft vorausliegen«. Rousseau hat das Problem allerdings umgangen, das schon Fénelon klar vor Augen hatte, wie nämlich die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird. Er selbst schreibt ja: »Der Zustand der Reflexion ist ein widernatürlicher Zustand.«9 Die These von der Güte des »homme naturel« ist die These von der Reinheit der Spontaneität. »Seine erste Regung ist immer gut«, sagt Rousseau von Voltaire in einem Gespräch mit Bernardin de Saint Pierre, »die Reflexion erst ist es, die ihn bösartig macht.«10 Der »status naturae purae« ist nach Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen Indiviuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich hinaus. Die Frage ist, woher es dann überhaupt zu einem Heraustreten aus der Natur kommt, und zwar einem so radikalen, daß die Natur zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Rousseau gibt die Antwort mit der Statuierung einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der daraus folgenden Perfektibilität. Der Terminus scheint etwas Teleologisches zu beinhalten, aber Rousseau weist dies ausdrücklich ab. Die Perfektibilität ist keine Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften. Eine Möglichkeit, die nur durch ein »zufälliges Zusammentreffen verschiedener äußerer Gründe«11 realisiert werden kann, also genau entsprechend der »potentia oboedientialis« der Spätscholastiker und des Suarez, die ja ebenfalls jedes positive »desiderium naturale« nach einer mehr als natürlichen Verfassung geleugnet hatten. Was den Naturzustand charakterisiert, ist kurz gesagt die totale Selbstbezüglichkeit des Individuums. »Die Natur ist stets auf sich selbst zurückgekrümmt«,12 dieses aus der augustinischen Tradition stammende Axiom findet in allen neuzeitlichen Naturtheorien seine Ausführung. So heißt es im >Émile<:

Der natürliche Mensch ist alles für sich; er ist numerische Einheit, absolutes Ganzes; er hat nur zu sich selbst und zu seinesgleichen Beziehung.13

104a Das Heraustreten aus dem Naturzustand löst den Menschen aus der einzigen Daseinsweise, die ihm einen festen Stand im Universum gibt. Es bleibt in seinem Sinn, seiner Rechtfertigung immer zweideutig. Die Stimme, die den Menschen aus dem »état naturel« ruft, ist die Stimme Gottes und des Bösen in einem. Seit Rousseau werden in der säkularen Deutung der Paradiesgeschichte die Berufung des Menschen in eine übernatürliche Ordnung und der Sündenfall in eins gesehen. Das Wort Augustins von der »felix culpa« und dem »quasi necessarium Adae peccatum« geht hier vorauf. Es war dem Zeitalter auch wohl durch das Zitat in Leibniz' Theodizee geläufig. Unmittelbar wirksam ist jedoch die protestantische Deutung des Paradieszustandes als eines Naturzustandes. Der Begriff des »supernaturale« hat für Luther ebenso wie für die Jansenisten erst einen Sinn für die Erlösungsgnade. Die Zweideutigkeit des Heraustretens aus dem Naturstand wird bei Rousseau deutlich, wo er auf den Einwand jener antwortet, die ihm die Predigt eines »retour à la nature« unterstellen:

O ihr, die ihr die göttliche Stimme niemals vernommen habt und die ihr nur als einzige Bestimmung eures Geschlechts erkennt, das kurze Leben in Frieden dahinzubringen; die ihr alles Schädliche, das ihr euch zugezogen habt, eure unruhigen Gemüter, eure verkehrten Herzen, eure ungebundenen Begierden in den Städten zurücklassen könnt, nehmt eure alte und erste Unschuld wieder an, es liegt nur an euch: Sucht die Wälder auf, um dort die Laster eurer Zeitgenossen aus den Augen und aus dem Andenken zu verlieren, fürchtet euch nicht, das menschliche Geschlecht zu entehren, wenn ihr seinen Einsichten entsagt, um zugleich seinen Lastern zu entsagen. Was aber die Menschen meinesgleichen betrifft, deren Leidenschaften schon auf ewig ihre ursprüngliche Einfalt unterdrückt haben, die nicht mehr von Kräutern und Eicheln leben und die weder Gesetze noch Oberherren entbehren können, jene, deren erste Väter mit übernatürlichen Lehren beehrt worden sind, jene, welche in der Absicht, den menschlichen Handlungen sogleich eine Sittlichkeit zu verschaffen, die sie sonst in sehr langer Zeit nicht hätten erlangen können, welche in dieser Absicht, sage ich, den Grund finden, warum ein Gebot gegeben wurde, das an sich gleichgültig und in keinem anderen System zu erklären ist, mit einem Worte, jene, welche überzeugt sind, daß die göttliche Stimme das ganze menschliche Geschlecht zu den Einsichten und zu der Glückseligkeit der himmlischen Geister gerufen hat, sie alle, sage ich, werden sich durch die Ausübung solcher Tugenden, zu welchen sie sich verpflichten, indem sie sie lehren, um den ewigen Preis bemühen, den sie dafür zu erwarten haben. Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind, hochschätzen, sie werden ihren Nächsten lieben und ihm, soviel in ihrer Macht steht, dienen, sie werden die Gesetze gewissenhaft beobachten, und denjenigen, die sie gegeben haben und die sie verwalten, Gehorsam leisten..., aber sie werden dessenungeachtet eine Verfassung verachten, die nicht anders erhalten werden kann als vermittels so vieler ehrwürdiger Leute, die man öfter wünscht, als man sie findet, und aus welcher trotz aller Vorsorge immer noch mehr wirkliche Drangsale als scheinbare Vorteile entspringen.14

106a Eine himmlische Stimme ist es, die zu einem höheren Dasein aus der Natur herausruft, einem Dasein des Lasters und der Tugend zugleich anstelle der natürlichen Unschuld. Aber diese Stimme ist ein »superadditum«. Wer sich ihr zu entziehen und im »status naturae purae« zu verharren vermag, den trifft keine Schuld. Der Weg zur höheren Bestimmung des Menschen vielmehr ist es, der durch die Schuld führt. Das Dasein außerhalb des »status naturae purae« ist und bleibt ein entfremdetes Dasein. Der spätere Begriff der Entfremdung ist unzertrennlich verknüpft mit dem rousseauschen Naturbegriff. Da das Dasein, einmal aus dem Naturstand herausgetreten, von keiner Naturteleologie umfaßt bleibt, kann es auch an keinem naturrechtlichen Ideal mehr gemessen werden. Vom rückwärts gewendeten Ideal des Beisichseins des natürlichen Menschen her kann sehnsüchtig, kritisch oder ironisch jede Kulturgestalt desavouiert werden15 - auch und gerade die des Gemeinwesens, das Rousseau im >Contrat social< konstruiert. Rousseau schreibt im >Contrat social<, daß die antike politische Freiheit, die für ihn immer der Inbegriff politischer Freiheit ist, an die Sklaverei als ihre notwendige Voraussetzung geknüpft war, und er fährt fort:

Wie: Die Freiheit hält sich nur aufrecht mit Hilfe der Knechtschaft? Vielleicht. Die beiden Extreme berühren sich. Alles, was nicht in der Natur liegt, hat seine Unzuträglichkeiten, und die bürgerliche Gesellschaft mehr als alles übrige.16 (Fs)

107a Das Höchste, was der «homme civil« erreichen kann, ist die Integration in eine »société close«, die so total ist, daß sie die verlorene Naturbindung zu ersetzen vermag. Eine »mère commune« nennt Rousseau in einem Enzyklopädieartikel den Staat.17 Die politische Totalität setzt aber gerade die völlige Aufhebung der unschuldigen Selbstbezogenheit des »homme naturel« voraus. Deshalb sagt Rousseau: »Die guten sozialen Institutionen sind die, die es am besten verstehen, den Menschen zu denaturieren.«18 Und von Lykurg hebt er rühmend hervor: »Er hat das Herz des Menschen denaturiert.«19 Natur hat seit alters auch die Bedeutung von Wahrheit, Sein, gegen den Schein gehabt; Rousseaus politisches Ideal ist es, den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur verschwindet. Ein Schein, der kein Sein mehr als Gegenüber hat, ist nämlich selbst zum Sein geworden. So geht für Rousseau nur aus der totalen Selbstaufgabe der »indépendance naturelle« die politische Freiheit hervor. (Fs) (notabene)

108a Man hat Rousseau so interpretiert, daß er die Naturferne der eigenen Zeit beklage. Das ist falsch. Er beklagt das Zerbrechen der politischen Totalität und das partielle Wiederhervortreten der Natur. Denn dies führt zu der »existence double«, durch die das eigene Zeitalter charakterisiert ist. Die »existence double« macht das Wesen jenes Typus aus, der weder »citoyen« noch »homme naturel« ist: des Bourgeois. Der Bourgeois ist definiert als der Mensch, »der in der bürgerlichen Ordnung den Primat der natürlichen Gefühle erhalten will«.20,21 Er ist das Ergebnis der Auflösung der politischen Totalität. (Fs) (notabene)

109a Schuld an diesem Ende ist das Christentum. Durch seine Trennung des geistlichen vom politischen System, so heißt es im >Contrat social<, hat es die Einheit des Staates zerstört. Jede »gute Politie ist in christlichen Staaten unmöglich«. Rousseau bekennt sich hier ausdrücklich zur Sicht des Hobbes, ohne aber dessen Heilmittel, die erneute Einheit von Kirche und Staat, für möglich zu halten. Das Christentum ist seinem Wesen nach »natürliche Religion, Religion des Menschen, göttliches Naturrecht«22 und als solches unpolitisch, ja antisozial. Dennoch ist seine Macht unwiderstehlich, denn sie beruht auf seiner Wahrheit. Das Christentum zerbricht jenen wohltätigen Schein, auf den die antike politische Einheit gegründet war, denn diese war immer »gegründet auf Irrtum und Lüge«.23 (Fs) (notabene)

109b Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der politischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der >Contrat social< ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang. Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »homme naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen Zwittererziehung entgegengesetzt ist. Was aber heißt nun in diesem Zusammenhang »natürlich«, »Natur«? Rousseau antwortet: Diejenige Erziehung sei natürlich, die sich zum Ziel das »Ziel der Natur« setze.24 Aber was ist das Ziel der Natur? Wir haben ja gesehen, daß es ein solches den Kulturprozeß umgreifendes Ziel der Natur für Rousseau nicht gibt. Im »état naturel« bedarf es gar keiner Erziehung. Émile jedoch wird in allen Errungenschaften der Kultur seiner Zeit unterrichtet. Inwiefern kann da von einer natürlichen Erziehung die Rede sein? Darum, weil in ihr die totale Selbstbezogenheit des natürlichen Subjekts wiederhergestellt wird. Émile wird erzogen »einzig für sich selbst«.25 Und zwar wird durch das höchst künstliche Arrangement einer totalen Erziehungswelt Vorsorge getroffen, daß der Bruch der Natürlichkeit, der für die Menschheitsgeschichte charakteristisch ist, umgangen wird. (Fs) (notabene)

110a Die Natürlichkeit aber, die aus der Emanzipation und aus der »éducation naturelle« hervorgeht, ist in höherem Maße natürlich zu nennen als die des »homme naturel«. Der »état naturel« war ja nur dadurch möglich, daß die natürlichen Anlagen des Menschen gerade nicht zur Entfaltung kamen. Denn die Entfaltung war nur durch Sozialisierung und diese nur durch Denaturierung möglich. Nun aber ist der voll entfaltete Mensch das Ziel. Geben wir diesem die vorgeschichtliche Autarkie zurück, so ist er erst der wahre »homme naturel«. Denn in ihm wird das Ziel der Natur auf höhere Weise erreicht als beim anfänglichen »homme naturel«, jenes Ziel der Natur, das Rousseau bezeichnet als »sentiment de notre existence«.26 Also ein Ziel, das gerade nichts mit Teleologie zu tun hat, sondern im einfachen Selbstgenuß besteht, in der totalen fühlenden Rückbeziehung eines lebendigen Wesens auf sich selbst. Dieses »sentiment de l'existence« wird erst in der Kulturwelt durch die »éducation naturelle« zur höchsten Intensität gesteigert. Die höchste Intensität aber ist das Gewissen. Das Gewissen tritt als höhere Form der Selbstbezogenheit an die Stelle der ekstatischen und unnatürlichen Leidenschaft des Patriotismus, die das Handeln des »citoyen« motiviert. Im Gewissen kehrt der Mensch zu sich zurück, er wird wieder natürlich. Eine solche »éducation naturelle«, eine Erziehung, die die natürlichen Anlagen des Menschen entfaltet und auf das »sentiment de l'existence« zurückbezieht, ist überhaupt erst im »état civil« angebracht und möglich. Diesen Gedanken spricht Wolmar in der Nouvelle Héloïse< aus.27 Natur in diesem vollen Sinne ist ein Spätprodukt. Erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei. Und es wird, wie Leo Strauss einmal bemerkt hat, in den Augen Rousseaus die höchste Rechtfertigung dieser Gesellschaft, daß sie es einem bestimmten Typ von Individuen erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus ihr, der Gesellschaft, das heißt durch ein Leben an ihrem Rande zu genießen.28 (Fs) (notabene)

111a Ich möchte zum Abschluß nur noch kurz darauf hinweisen, daß die konterrevolutionäre Kritik des Vicomte de Bonald in der Kritik am Naturbegriff des 18. Jahrhunderts ihren Mittelpunkt hat. Mit dem ihm eigenen Blick für das Wesentliche bezeichnet er in seiner 1792 erschienenen >Théorie du pouvoir< die Gleichsetzung des Natürlichen mit dem Anfänglichen als das proton pseudos der revolutionären Naturtheorie, das so verschiedene Autoren wie Montesquieu, Holbach und Rousseau miteinander verbindet. Bonald hat noch einmal versucht, einen ideologischen Naturbegriff einzuführen, und vorgeschlagen, den anfänglichen Zustand als »état natif« vom »état naturel« zu unterscheiden. Der Indianer ist ein »homme natif«; Bossuet, Fénelon und Leibniz sind »hommes naturels«.29 (Fs)

112a Wenn Rousseau von der göttlichen Stimme spricht, die den Menschen aus dem »état naturel« herausruft, so hat diese Redeweise für Bonald keinen Sinn: Jene göttliche Stimme eben ist die Natur. Natur ist eine Abstraktion, ein »être de raison«, das weder Stimme noch Organ hat. Ihre Wirklichkeit ist eine rein rationale: der göttliche Plan. Inhalt dieses Plans aber ist die Selbsterhaltung alles Seienden. Repression ist natürlich, wenn sie im Dienste von Erhaltung steht. Die Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung kann nicht unnatürlich genannt werden. Deshalb ist die zivilisierteste Gesellschaft die natürlichste. Rousseaus »volonté générale« ist, richtig betrachtet, nichts anderes als die Natur der Erhaltungsordnung. Sie hat mit den Velleitäten der Subjektivität nichts zu tun. Es gibt auch bei Rousseau diesen bei ihm allerdings unspezifischen Gebrauch des Wortes Natur, im Sinne einer »Natur der Sache«. So heißt es im >Contrat social< an einer Stelle:

Wenn der Gesetzgeber sich über seinen Gegenstand täuscht, und ein Prinzip wählt, das verschieden von dem ist, das aus der Natur der Dinge hervorgeht,... dann wird der Staat nicht aufhören in Unruhe zu sein, bis er zerstört ist oder sich gewandelt hat und die unbesiegbare Natur ihre Herrschaft wieder aufgerichtet hat.30

113a Während die rousseausche Naturtheorie mit ihrem Pathos der Befreiung für die revolutionären Bewegungen bis zum Marxismus maßgebend wird, wird seine Sozialtheorie und ihr Begriff der »Natur der Sache« auf dem Wege über de Bonald bestimmend für die positivistische Theorie der Gesellschaft. (Fs)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5b; N.begrifff von Rousseau; Spontaneität - Reflexion (Widerspruch: Fenelon); Frage nach d. Heraustreten aus d. N. (Zweideutigkeit); Freiheit - Perfektibilität (kein Telos, nur Disposition) - potentia oboedientialis; Augustinus: zurückgekrümmte N.

Kurzinhalt: Das Heraustreten aus dem Naturzustand löst den Menschen aus der einzigen Daseinsweise, die ihm einen festen Stand im Universum gibt... Unmittelbar wirksam ist jedoch die protestantische Deutung des Paradieszustandes als eines Naturzustandes.

Textausschnitt: 102a Gesucht werden dabei die »Prinzipien, die der Vernunft vorausliegen«. Rousseau hat das Problem allerdings umgangen, das schon Fénelon klar vor Augen hatte, wie nämlich die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird. Er selbst schreibt ja: »Der Zustand der Reflexion ist ein widernatürlicher Zustand.«9 Die These von der Güte des »homme naturel« ist die These von der Reinheit der Spontaneität. »Seine erste Regung ist immer gut«, sagt Rousseau von Voltaire in einem Gespräch mit Bernardin de Saint Pierre, »die Reflexion erst ist es, die ihn bösartig macht.«10 Der »status naturae purae« ist nach Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen Indiviuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich hinaus. Die Frage ist, woher es dann überhaupt zu einem Heraustreten aus der Natur kommt, und zwar einem so radikalen, daß die Natur zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Rousseau gibt die Antwort mit der Statuierung einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der daraus folgenden Perfektibilität. Der Terminus scheint etwas Teleologisches zu beinhalten, aber Rousseau weist dies ausdrücklich ab. Die Perfektibilität ist keine Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften. Eine Möglichkeit, die nur durch ein »zufälliges Zusammentreffen verschiedener äußerer Gründe«11 realisiert werden kann, also genau entsprechend der »potentia oboedientialis« der Spätscholastiker und des Suarez, die ja ebenfalls jedes positive »desiderium naturale« nach einer mehr als natürlichen Verfassung geleugnet hatten. Was den Naturzustand charakterisiert, ist kurz gesagt die totale Selbstbezüglichkeit des Individuums. »Die Natur ist stets auf sich selbst zurückgekrümmt«,12 dieses aus der augustinischen Tradition stammende Axiom findet in allen neuzeitlichen Naturtheorien seine Ausführung. So heißt es im >Émile<:

Der natürliche Mensch ist alles für sich; er ist numerische Einheit, absolutes Ganzes; er hat nur zu sich selbst und zu seinesgleichen Beziehung.13

104a Das Heraustreten aus dem Naturzustand löst den Menschen aus der einzigen Daseinsweise, die ihm einen festen Stand im Universum gibt. Es bleibt in seinem Sinn, seiner Rechtfertigung immer zweideutig. Die Stimme, die den Menschen aus dem »état naturel« ruft, ist die Stimme Gottes und des Bösen in einem. Seit Rousseau werden in der säkularen Deutung der Paradiesgeschichte die Berufung des Menschen in eine übernatürliche Ordnung und der Sündenfall in eins gesehen. Das Wort Augustins von der »felix culpa« und dem »quasi necessarium Adae peccatum« geht hier vorauf. Es war dem Zeitalter auch wohl durch das Zitat in Leibniz' Theodizee geläufig. Unmittelbar wirksam ist jedoch die protestantische Deutung des Paradieszustandes als eines Naturzustandes. Der Begriff des »supernaturale« hat für Luther ebenso wie für die Jansenisten erst einen Sinn für die Erlösungsgnade. Die Zweideutigkeit des Heraustretens aus dem Naturstand wird bei Rousseau deutlich, wo er auf den Einwand jener antwortet, die ihm die Predigt eines »retour à la nature« unterstellen:

O ihr, die ihr die göttliche Stimme niemals vernommen habt und die ihr nur als einzige Bestimmung eures Geschlechts erkennt, das kurze Leben in Frieden dahinzubringen; die ihr alles Schädliche, das ihr euch zugezogen habt, eure unruhigen Gemüter, eure verkehrten Herzen, eure ungebundenen Begierden in den Städten zurücklassen könnt, nehmt eure alte und erste Unschuld wieder an, es liegt nur an euch: Sucht die Wälder auf, um dort die Laster eurer Zeitgenossen aus den Augen und aus dem Andenken zu verlieren, fürchtet euch nicht, das menschliche Geschlecht zu entehren, wenn ihr seinen Einsichten entsagt, um zugleich seinen Lastern zu entsagen. Was aber die Menschen meinesgleichen betrifft, deren Leidenschaften schon auf ewig ihre ursprüngliche Einfalt unterdrückt haben, die nicht mehr von Kräutern und Eicheln leben und die weder Gesetze noch Oberherren entbehren können, jene, deren erste Väter mit übernatürlichen Lehren beehrt worden sind, jene, welche in der Absicht, den menschlichen Handlungen sogleich eine Sittlichkeit zu verschaffen, die sie sonst in sehr langer Zeit nicht hätten erlangen können, welche in dieser Absicht, sage ich, den Grund finden, warum ein Gebot gegeben wurde, das an sich gleichgültig und in keinem anderen System zu erklären ist, mit einem Worte, jene, welche überzeugt sind, daß die göttliche Stimme das ganze menschliche Geschlecht zu den Einsichten und zu der Glückseligkeit der himmlischen Geister gerufen hat, sie alle, sage ich, werden sich durch die Ausübung solcher Tugenden, zu welchen sie sich verpflichten, indem sie sie lehren, um den ewigen Preis bemühen, den sie dafür zu erwarten haben. Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind, hochschätzen, sie werden ihren Nächsten lieben und ihm, soviel in ihrer Macht steht, dienen, sie werden die Gesetze gewissenhaft beobachten, und denjenigen, die sie gegeben haben und die sie verwalten, Gehorsam leisten..., aber sie werden dessenungeachtet eine Verfassung verachten, die nicht anders erhalten werden kann als vermittels so vieler ehrwürdiger Leute, die man öfter wünscht, als man sie findet, und aus welcher trotz aller Vorsorge immer noch mehr wirkliche Drangsale als scheinbare Vorteile entspringen.14

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5b; N.begriff v. Rousseau; Dasein außerhalb d. status naturae purae (höhere Stimme, Schuld) - Entfremdung; totale Zivilgesellschaft (Contrat social): Ersatz für Naturzustand; Denaturierung d. Menschen; totaler Schein ersetzt Sein -> pol. Freiheit

Kurzinhalt: Das Höchste, was der «homme civil« erreichen kann, ist die Integration in eine »société close«, die so total ist... Rousseaus politisches Ideal ist es, den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur verschwindet.

Textausschnitt: 106a Eine himmlische Stimme ist es, die zu einem höheren Dasein aus der Natur herausruft, einem Dasein des Lasters und der Tugend zugleich anstelle der natürlichen Unschuld. Aber diese Stimme ist ein »superadditum«. Wer sich ihr zu entziehen und im »status naturae purae« zu verharren vermag, den trifft keine Schuld. Der Weg zur höheren Bestimmung des Menschen vielmehr ist es, der durch die Schuld führt. Das Dasein außerhalb des »status naturae purae« ist und bleibt ein entfremdetes Dasein. Der spätere Begriff der Entfremdung ist unzertrennlich verknüpft mit dem rousseauschen Naturbegriff. Da das Dasein, einmal aus dem Naturstand herausgetreten, von keiner Naturteleologie umfaßt bleibt, kann es auch an keinem naturrechtlichen Ideal mehr gemessen werden. Vom rückwärts gewendeten Ideal des Beisichseins des natürlichen Menschen her kann sehnsüchtig, kritisch oder ironisch jede Kulturgestalt desavouiert werden15 - auch und gerade die des Gemeinwesens, das Rousseau im >Contrat social< konstruiert. Rousseau schreibt im >Contrat social<, daß die antike politische Freiheit, die für ihn immer der Inbegriff politischer Freiheit ist, an die Sklaverei als ihre notwendige Voraussetzung geknüpft war, und er fährt fort:

Wie: Die Freiheit hält sich nur aufrecht mit Hilfe der Knechtschaft? Vielleicht. Die beiden Extreme berühren sich. Alles, was nicht in der Natur liegt, hat seine Unzuträglichkeiten, und die bürgerliche Gesellschaft mehr als alles übrige.16 (Fs)

107a Das Höchste, was der «homme civil« erreichen kann, ist die Integration in eine »société close«, die so total ist, daß sie die verlorene Naturbindung zu ersetzen vermag. Eine »mère commune« nennt Rousseau in einem Enzyklopädieartikel den Staat.17 Die politische Totalität setzt aber gerade die völlige Aufhebung der unschuldigen Selbstbezogenheit des »homme naturel« voraus. Deshalb sagt Rousseau: »Die guten sozialen Institutionen sind die, die es am besten verstehen, den Menschen zu denaturieren.«18 Und von Lykurg hebt er rühmend hervor: »Er hat das Herz des Menschen denaturiert.«19 Natur hat seit alters auch die Bedeutung von Wahrheit, Sein, gegen den Schein gehabt; Rousseaus politisches Ideal ist es, den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur verschwindet. Ein Schein, der kein Sein mehr als Gegenüber hat, ist nämlich selbst zum Sein geworden. So geht für Rousseau nur aus der totalen Selbstaufgabe der »indépendance naturelle« die politische Freiheit hervor. (Fs) (notabene)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5c; N.begriff v. Rousseau; Bourgeois (existence double): weder citoyen noch homme naturel; Schuld: Christentum; Contrat social (Abgesang) -> »éducation naturelle; Erziehung: Wiederherstellung d. totalen Selbstbezogenheit; Natur als Spätprodukt

Kurzinhalt: [Rousseau] beklagt das Zerbrechen der politischen Totalität und das partielle Wiederhervortreten der Natur... »sentiment de notre existence«. Also ein Ziel, das gerade nichts mit Teleologie zu tun hat, sondern im einfachen Selbstgenuß besteht...

Textausschnitt: 108a Man hat Rousseau so interpretiert, daß er die Naturferne der eigenen Zeit beklage. Das ist falsch. Er beklagt das Zerbrechen der politischen Totalität und das partielle Wiederhervortreten der Natur. Denn dies führt zu der »existence double«, durch die das eigene Zeitalter charakterisiert ist. Die »existence double« macht das Wesen jenes Typus aus, der weder »citoyen« noch »homme naturel« ist: des Bourgeois. Der Bourgeois ist definiert als der Mensch, »der in der bürgerlichen Ordnung den Primat der natürlichen Gefühle erhalten will«.20,21 Er ist das Ergebnis der Auflösung der politischen Totalität. (Fs; tblStw: Politik) (notabene)

109a Schuld an diesem Ende ist das Christentum. Durch seine Trennung des geistlichen vom politischen System, so heißt es im >Contrat social<, hat es die Einheit des Staates zerstört. Jede »gute Politie ist in christlichen Staaten unmöglich«. Rousseau bekennt sich hier ausdrücklich zur Sicht des Hobbes, ohne aber dessen Heilmittel, die erneute Einheit von Kirche und Staat, für möglich zu halten. Das Christentum ist seinem Wesen nach »natürliche Religion, Religion des Menschen, göttliches Naturrecht«22 und als solches unpolitisch, ja antisozial. Dennoch ist seine Macht unwiderstehlich, denn sie beruht auf seiner Wahrheit. Das Christentum zerbricht jenen wohltätigen Schein, auf den die antike politische Einheit gegründet war, denn diese war immer »gegründet auf Irrtum und Lüge«.23 (Fs) (notabene)

109b Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der politischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der >Contrat social< ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang. Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »homme naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen Zwittererziehung entgegengesetzt ist. Was aber heißt nun in diesem Zusammenhang »natürlich«, »Natur«? Rousseau antwortet: Diejenige Erziehung sei natürlich, die sich zum Ziel das »Ziel der Natur« setze.24 Aber was ist das Ziel der Natur? Wir haben ja gesehen, daß es ein solches den Kulturprozeß umgreifendes Ziel der Natur für Rousseau nicht gibt. Im »état naturel« bedarf es gar keiner Erziehung. Émile jedoch wird in allen Errungenschaften der Kultur seiner Zeit unterrichtet. Inwiefern kann da von einer natürlichen Erziehung die Rede sein? Darum, weil in ihr die totale Selbstbezogenheit des natürlichen Subjekts wiederhergestellt wird. Émile wird erzogen »einzig für sich selbst«.25 Und zwar wird durch das höchst künstliche Arrangement einer totalen Erziehungswelt Vorsorge getroffen, daß der Bruch der Natürlichkeit, der für die Menschheitsgeschichte charakteristisch ist, umgangen wird. (Fs) (notabene)

110a Die Natürlichkeit aber, die aus der Emanzipation und aus der »éducation naturelle« hervorgeht, ist in höherem Maße natürlich zu nennen als die des »homme naturel«. Der »état naturel« war ja nur dadurch möglich, daß die natürlichen Anlagen des Menschen gerade nicht zur Entfaltung kamen. Denn die Entfaltung war nur durch Sozialisierung und diese nur durch Denaturierung möglich. Nun aber ist der voll entfaltete Mensch das Ziel. Geben wir diesem die vorgeschichtliche Autarkie zurück, so ist er erst der wahre »homme naturel«. Denn in ihm wird das Ziel der Natur auf höhere Weise erreicht als beim anfänglichen »homme naturel«, jenes Ziel der Natur, das Rousseau bezeichnet als »sentiment de notre existence«.26 Also ein Ziel, das gerade nichts mit Teleologie zu tun hat, sondern im einfachen Selbstgenuß besteht, in der totalen fühlenden Rückbeziehung eines lebendigen Wesens auf sich selbst. Dieses »sentiment de l'existence« wird erst in der Kulturwelt durch die »éducation naturelle« zur höchsten Intensität gesteigert. Die höchste Intensität aber ist das Gewissen. Das Gewissen tritt als höhere Form der Selbstbezogenheit an die Stelle der ekstatischen und unnatürlichen Leidenschaft des Patriotismus, die das Handeln des »citoyen« motiviert. Im Gewissen kehrt der Mensch zu sich zurück, er wird wieder natürlich. Eine solche »éducation naturelle«, eine Erziehung, die die natürlichen Anlagen des Menschen entfaltet und auf das »sentiment de l'existence« zurückbezieht, ist überhaupt erst im »état civil« angebracht und möglich. Diesen Gedanken spricht Wolmar in der Nouvelle Héloïse< aus.27 Natur in diesem vollen Sinne ist ein Spätprodukt. Erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei. Und es wird, wie Leo Strauss einmal bemerkt hat, in den Augen Rousseaus die höchste Rechtfertigung dieser Gesellschaft, daß sie es einem bestimmten Typ von Individuen erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus ihr, der Gesellschaft, das heißt durch ein Leben an ihrem Rande zu genießen.28 (Fs) (notabene)

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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5d; N.begriff v. Rousseau; de Bonald: Kritik am Naturbegriff;

Kurzinhalt:

Textausschnitt: 111a Ich möchte zum Abschluß nur noch kurz darauf hinweisen, daß die konterrevolutionäre Kritik des Vicomte de Bonald in der Kritik am Naturbegriff des 18. Jahrhunderts ihren Mittelpunkt hat. Mit dem ihm eigenen Blick für das Wesentliche bezeichnet er in seiner 1792 erschienenen >Théorie du pouvoir< die Gleichsetzung des Natürlichen mit dem Anfänglichen als das proton pseudos der revolutionären Naturtheorie, das so verschiedene Autoren wie Montesquieu, Holbach und Rousseau miteinander verbindet. Bonald hat noch einmal versucht, einen ideologischen Naturbegriff einzuführen, und vorgeschlagen, den anfänglichen Zustand als »état natif« vom »état naturel« zu unterscheiden. Der Indianer ist ein »homme natif«; Bossuet, Fénelon und Leibniz sind »hommes naturels«.29 (Fs)

112a Wenn Rousseau von der göttlichen Stimme spricht, die den Menschen aus dem »état naturel« herausruft, so hat diese Redeweise für Bonald keinen Sinn: Jene göttliche Stimme eben ist die Natur. Natur ist eine Abstraktion, ein »être de raison«, das weder Stimme noch Organ hat. Ihre Wirklichkeit ist eine rein rationale: der göttliche Plan. Inhalt dieses Plans aber ist die Selbsterhaltung alles Seienden. Repression ist natürlich, wenn sie im Dienste von Erhaltung steht. Die Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung kann nicht unnatürlich genannt werden. Deshalb ist die zivilisierteste Gesellschaft die natürlichste. Rousseaus »volonté générale« ist, richtig betrachtet, nichts anderes als die Natur der Erhaltungsordnung. Sie hat mit den Velleitäten der Subjektivität nichts zu tun. Es gibt auch bei Rousseau diesen bei ihm allerdings unspezifischen Gebrauch des Wortes Natur, im Sinne einer »Natur der Sache«. So heißt es im >Contrat social< an einer Stelle:

Wenn der Gesetzgeber sich über seinen Gegenstand täuscht, und ein Prinzip wählt, das verschieden von dem ist, das aus der Natur der Dinge hervorgeht,... dann wird der Staat nicht aufhören in Unruhe zu sein, bis er zerstört ist oder sich gewandelt hat und die unbesiegbare Natur ihre Herrschaft wieder aufgerichtet hat.30

113a Während die rousseausche Naturtheorie mit ihrem Pathos der Befreiung für die revolutionären Bewegungen bis zum Marxismus maßgebend wird, wird seine Sozialtheorie und ihr Begriff der »Natur der Sache« auf dem Wege über de Bonald bestimmend für die positivistische Theorie der Gesellschaft. (Fs)

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