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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; Reduktion auf subjektive Gewissheit

Kurzinhalt: Die Identifikation des Gewissens mit dem Oberflächenbewusstsein und die Reduktion des Menschen auf seine Subjektivität befreit nicht, sondern versklavt

Textausschnitt: 107a An dieser Stelle unserer Überlegungen ist es möglich, erste Konsequenzen zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Gewissens zu ziehen. Wir können jetzt sagen: Es geht nicht an, das Gewissen des Menschen mit dem Selbstbewusstsein des Ich, mit seiner subjektiven Gewissheit über sich und sein moralisches Verhalten zu identifizieren. Dieses Bewusstsein kann einerseits bloßer Reflex des sozialen Umfelds und der dort verbreiteten Meinungen sein. Es kann andererseits auf einen Mangel an Selbstkritik, an Hören auf die Tiefe der eigenen Seele verweisen. Was nach dem Sturz der marxistischen Systeme im Osten Europas zutage kam, bestätigt diese Diagnose. Die wachsten und lautersten Geister der befreiten Völker sprechen von einer ungeheuren seelischen Verwahrlosung, die in den Jahren der geistigen Verbildung eingetreten sei; von einer Abstumpfung des moralischen Sinns, die als Verlust und Gefahr schwerer wiege als die wirtschaftlichen Schäden, die eingetreten sind. (Fs) (notabene)

107b Der Moskauer Patriarch hob dies zum Beginn seines Wirkens im Sommer 1990 eindrucksvoll hervor: Die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen, die in einem System des Betrugs lebten, habe sich verdunkelt. Die Gesellschaft habe die Fähigkeit zur Barmherzigkeit eingebüßt, und die menschlichen Gefühle seien verloren gegangen. Eine ganze Generation sei für das Gute, für Taten der Menschlichkeit verloren. "Wir müssen die Gesellschaft zu den ewigen moralischen Werten zurückführen", das heißt: das fast erloschene Gehör für den Zuspruch Gottes im Herzen des Menschen wieder entwickeln. Der Irrtum, das irrende Gewissen, ist nur im ersten Augenblick bequem. Dann aber wird das Verstummen des Gewissens zur Entmenschlichung der Welt und zur tödlichen Gefahr, wenn man ihm nicht entgegenwirkt. (Fs)

107c Anders ausgedrückt: Die Identifikation des Gewissens mit dem Oberflächenbewusstsein und die Reduktion des Menschen auf seine Subjektivität befreit nicht, sondern versklavt; sie macht uns erst vollends abhängig von den herrschenden Meinungen und erniedrigt das Niveau der herrschenden Meinungen selbst von Tag zu Tag. Wer das Gewissen mit oberflächlicher Überzeugtheit gleichsetzt, identifiziert es mit einer schein-rationalen Sicherheit, die aus Selbstgerechtigkeit, Konformismus und Trägheit gewoben ist. Das Gewissen wird zum Entschuldigungsmechanismus degradiert, während es doch die Transparenz des Subjekts für das Göttliche und so die eigentliche Würde und Größe des Menschen darstellt. Die Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewissheit bedeutet zugleich den Entzug der Wahrheit.

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen und Wahrheit; zwei Konzepte; Gewissensmoral und Autoritätsmoral als zwei gegensätzliche Modelle im Kampf miteinander

Kurzinhalt: ... ein erneuertes Verständnis seines Wesens, das den christlichen Glauben vom Grund der Freiheit her und als Prinzip der Freiheit entfaltet, und ein überholtes "vorkonziliares" Modell, das ...

Textausschnitt: 100a Die Frage nach dem Gewissen ist heute, besonders im Bereich der katholischen Moraltheologie, zum Kernpunkt des Moralischen und seiner Erkenntnis geworden. Diese Auseinandersetzung kreist um die Begriffe Freiheit und Norm, Autonomie und Heteronomie, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung durch Autorität. Das Gewissen erscheint dabei als das Bollwerk der Freiheit gegenüber den Einengungen der Existenz durch die Autorität. Dabei werden dann zwei Konzeptionen des Katholischen gegenübergestellt: ein erneuertes Verständnis seines Wesens, das den christlichen Glauben vom Grund der Freiheit her und als Prinzip der Freiheit entfaltet, und ein überholtes "vorkonziliares" Modell, das die christliche Existenz der Autorität unterwirft, die das Leben bis in die intimen Bereiche hinein normiert und dadurch ihre Macht über die Menschen aufrechtzuerhalten versucht. So scheinen Gewissensmoral und Autoritätsmoral als zwei gegensätzliche Modelle im Kampf miteinander zu liegen; die Freiheit des Christenmenschen würde dann durch den Ursatz moralischer Überlieferung gerettet, dass das Gewissen die oberste Norm ist, der der Mensch - auch gegen die Autorität - zu folgen hat. Wenn die Autorität, das heißt in diesem Fall das kirchliche Lehramt, in Dingen der Moral spricht, so könnte sie demnach dem Gewissen Material für seine eigene Urteilsbildung liefern, die aber doch das letzte Wort behalten müsste. Diese Letztinstanzlichkeit des Gewissens wird von manchen Autoren auf die Formel gebracht, das Gewissen sei unfehlbar1. (Fs) (notabene)

101a An dieser Stelle kann nun allerdings Widerspruch aufsteigen. Dass man einem klaren Gewissensspruch immer folgen muss, zumindest nicht gegen ihn handeln darf, ist unbestritten. Aber ob das Gewissensurteil oder was man für ein solches ansieht, auch immer recht habe, ob es unfehlbar sei, ist eine andere Frage. Denn wenn es so wäre, würde dies ja heißen, dass es keine Wahrheit gibt - zumindest in Sachen der Moral und der Religion, also im Bereich der eigentlichen Grundlagen unserer Existenz. Denn die Gewissensurteile widersprechen sich; es gäbe also nur eine Wahrheit des Subjekts, die sich auf dessen Wahrhaftigkeit reduzieren würde. Aus dem Subjekt würde dann keine Tür und kein Fenster herausführen ins Ganze und ins Gemeinsame hinein. Wer dieses zu Ende denkt, wird zur Erkenntnis kommen, dass dann aber auch keine wirkliche Freiheit existiert und dass die vermeintlichen Gewissenssprüche nur Reflexe sozialer Vorgegebenheiten sind. Das müsste dann zu der Einsicht führen, dass die Gegenüberstellung von Freiheit und Autorität irgend etwas auslässt; dass es noch etwas Tieferes geben muss, wenn Freiheit und damit Menschsein einen Sinn haben sollen. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Newman; Gewissen, Subjektivität - Autotität - Mittelbegriff Wahrheit

Kurzinhalt: Autorität und Subjektivität; der Mittelbegriff, der bei Newman den Zusammenhang von beidem herstellt, ist die Wahrheit

Textausschnitt: 109a Wem fiele beim Thema Newman und das Gewissen nicht der berühmte Satz aus dem Brief an den Herzog von Norfolk ein: Wenn ich - was höchst unwahrscheinlich ist - einen Toast auf die Religion ausbringen müsste, würde ich auf den Papst trinken. Aber zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst1. Nach Newmans Absicht sollte dies - im Gegenüber zu den Einlassungen Gladstones - ein klares Bekenntnis zum Papsttum sein, aber auch - gegenüber Fehlformen des "Ultramonatismus" - eine Interpretation des Papsttums, das nur dann recht begriffen ist, wenn es zusammengesehen wird mit dem Primat des Gewissens - ihm nicht entgegengesetzt, sondern auf ihm gründend und ihn verbürgend. Dies zu verstehen ist für den modernen Menschen schwierig, der aus der Entgegensetzung von Autorität und Subjektivität heraus denkt. Für ihn steht das Gewissen auf Seiten der Subjektivität und ist Ausdruck der Freiheit des Subjekts, während Autorität als deren Einschränkung oder gar Bedrohung und Negation erscheint. So müssen wir hier etwas tiefer gehen, um eine Vision wieder verstehen zu lernen, in der diese Art von Gegensatz nicht gilt. (Fs)

110a Der Mittelbegriff, der bei Newman den Zusammenhang von beidem herstellt, ist die Wahrheit. Ich stehe nicht an zu sagen, dass Wahrheit der zentrale Gedanke von Newmans geistigem Ringen ist; das Gewissen ist bei ihm deshalb zentral, weil die Wahrheit in der Mitte steht. Anders gesagt: Die Zentralität des Gewissensbegriffs bei Newman ist gebunden an die vorgängige Zentralität des Wahrheitsbegriffs und nur von dieser her zu verstehen. Die Dominanz der Idee des Gewissens bedeutet bei Newman nicht, dass er nun, im 19. Jahrhundert und im Gegenüber zur "objektivistischen" Neuscholastik, sozusagen eine Philosophie oder Theologie der Subjektivität vertritt. Gewiss, das Subjekt findet bei Newman eine Aufmerksamkeit, wie es sie in katholischer Theologie vielleicht seit Augustin nicht mehr erfahren hatte. Aber es ist eine Aufmerksamkeit auf der Linie Augustins und nicht auf derjenigen der subjektivistischen Philosophie der Neuzeit. (Fs)

[...]"1 Es ging Newman vielmehr darum, erkannter Wahrheit mehr gehorchen zu müssen als eigenem Geschmack, also auch gegen das eigene Empfinden und gegen Bindungen der Freundschaft wie des gemeinsamen Weges. Es scheint mir bezeichnend, dass Newman in der Reihenfolge der Tugenden den Vorrang der Wahrheit vor der Güte betonte oder, für uns verständlicher ausgedrückt: ihren Vorrang vor dem Konsens, vor der Gruppenverträglichkeit. (Fs)

111a Ich würde sagen: Diese Haltungen sind gemeint, wenn wir von einem Mann des Gewissens sprechen. Ein Mann des Gewissens ist ein Mensch, der niemals Verträglichkeit, Wohlbefinden, Erfolg, öffentliches Ansehen und Billigung von Seiten der herrschenden Meinung durch den Verzicht auf Wahrheit erkauft. Darin berührt sich Newman mit dem anderen großen Gewissenszeugen Britanniens, mit Thomas Morus, für den das Gewissen keineswegs Ausdruck seines subjektiven Beharrungswillens oder eines eigensinnigen Heroismus war. Er hat sich selbst zu den ängstlichen Märtyrern gezählt, die nur unter Stocken und vielen Fragen sich den Gehorsam gegen das Gewissen abringen: den Gehorsam gegen die Wahrheit, die höher stehen muss als jede soziale Instanz und als jede Art von persönlichem Geschmack2. So zeigen sich zwei Maßstäbe für die Anwesenheit eines wirklichen Gewissenswortes: Es fällt nicht zusammen mit den eigenen Wünschen und dem eigenen Geschmack; es fällt nicht zusammen mit dem, was das sozial Günstigere ist, mit dem Konsens der Gruppe, mit den Ansprüchen politischer oder sozialer Macht. (Fs) (notabene)

111b An dieser Stelle liegt ein Seitenblick auf die Problematik unseres Zeitalters nahe. Der Einzelne darf seinen Aufstieg, sein Wohlbefinden nicht durch Verrat an der erkannten Wahrheit erkaufen. Die Menschheit darf es nicht. Hier berühren wir den eigentlich kritischen Punkt der Neuzeit: Der Begriff Wahrheit ist praktisch aufgegeben und durch den des Fortschritts ersetzt worden. Der Fortschritt selbst "ist" die Wahrheit. Aber durch diese scheinbare Erhöhung wird er richtungslos und hebt sich selber auf. Denn wenn es keine Richtung gibt, kann alles sowohl Fortschritt wie Rückschritt sein. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; Sokrates als Prophet Jesu Christi; Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit; Märtyrer als Zeugen des Gewissens

Kurzinhalt: Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie

Textausschnitt: 112b An dieser Stelle wird die ganze Radikalität des heutigen Disputs um die Ethik und um ihr Zentrum, das Gewissen, sichtbar. Mir scheint, dass ihre eigentliche geistesgeschichtliche Parallele der Streit zwischen Sokrates - Platon und den Sophisten sei, in dem der Urentscheid zwischen zwei Grundhaltungen durchgeprobt worden ist: dem Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit des Menschen einerseits und einer Weltsicht andererseits, in der nur der Mensch sich selbst seine Maßstäbe schafft1. (Fs) (notabene)

113a Dass Sokrates, der Heide, in gewisser Hinsicht zum Propheten Jesu Christi werden konnte, liegt meiner Überzeugung nach in dieser Urfrage begründet: Ihr Aufnehmen ist es, das der von ihm inspirierten Weise des Philosophierens sozusagen ein heilsgeschichtliches Privileg gegeben hat und sie als Gefäß für den christlichen Logos geeignet machte, bei dem es um Befreiung durch Wahrheit und zur Wahrheit geht. Wenn man den Streit des Sokrates aus den Zufälligkeiten der Zeitgeschichte löst, wird man schnell erkennen, wie sehr er - mit anderen Argumenten und mit anderen Namen - in der Sache der Streit der Gegenwart ist. Die Resignation gegenüber der Wahrheitsfähigkeit des Menschen führt zunächst zu einem rein formalistischen Gebrauch von Worten und Begriffen. Das Ausfallen der Inhalte wiederum führt zu einem reinen Formalismus des Urteilens, damals wie heute. Man fragt heute vielerorts nicht mehr, was ein Mensch denkt. Man hat das Urteil über sein Denken schon in der Hand, wenn man es einer entsprechenden formalen Kategorie zuordnen kann: konservativ, reaktionär, fundamentalistisch, progressiv, revolutionär. Die Zuordnung zu einem formalen Schema genügt, um die Auseinandersetzung mit dem Inhalt unnötig zu machen. Das Gleiche zeigt sich verstärkt in der Kunst: Was sie aussagt, ist gleichgültig; sie kann Gott oder den Teufel verherrlichen - der einzige Maßstab ist ihr formales Gekonntsein. (Fs)

113b Hier sind wir am eigentlichen Brennpunkt angelangt: Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie - revolutionär oder reaktionär. Dies ist genau die perverse Form von Gottähnlichkeit, von der die Sündenfallsgeschichte spricht: Der Weg des bloßen Könnens, der Weg der reinen Macht ist Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit. Das Kennzeichen des Menschen als Menschen ist es, dass er nicht nach dem Können, sondern nach dem Sollen fragt und dass er sich die Stimme der Wahrheit und ihres Anspruchs öffnet. Dies war, wie mir scheint, der letzte Inhalt des sokratischen Ringens, und es ist der tiefste Inhalt im Zeugnis aller Märtyrer: Sie stehen ein für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen als Grenze aller Macht und als Gewähr seiner Gottähnlichkeit. Gerade so sind die Märtyrer die großen Zeugen des Gewissens, der dem Menschen verliehenen Fähigkeit über das Können hinaus das Sollen zu vernehmen und damit wirklichen Fortschritt, wirklichen Aufstieg zu eröffnen. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; Synderesis - Anamnesis (Paulus, Basilius, Augustinus); Papst als Hüter des Gewissens und Gedächtnisses

Kurzinhalt: Auf dieser Anamnese des Schöpfers, die mit dem Grund unserer Existenz identisch ist, beruhen Möglichkeit und Recht der Mission. Das Evangelium darf, ja muss den Heiden verkündet werden, weil sie selbst im Verbogenen darauf warten

Textausschnitt: 114a Nach all diesen Wanderungen durch die Geistesgeschichte wird es nun Zeit, zu Ergebnissen zu kommen, also einen Begriff des Gewissens zu formulieren. Der mittelalterlichen Tradition möchte ich darin recht geben, dass der Gewissensbegriff zwei Ebenen umfasst, die man gut unterscheiden, aber auch stets aufeinander beziehen muss1. Viele unannehmbare Thesen zur Frage des Gewissens scheinen mir darauf zu beruhen, dass man entweder die Unterscheidung oder die Beziehung vernachlässigt hat. Der Hauptstrom der Scholastik hat die zwei Ebenen des Gewissens in den Begriffen Synderesis und Conscientia ausgedrückt. Das Wort Synderesis (Synteresis) war aus der stoischen Mikrokosmoslehre in die mittelalterliche Gewissenstradition geraten2. Es blieb in seiner genauen Bedeutung unklar und wurde so zu einem Hindernis für eine sorgsame Entfaltung dieser wesentlichen Ebene der ganzen Frage nach dem Gewissen. Ich möchte deshalb, ohne in geistesgeschichtliche Dispute einzutreten, dieses problematische Wort durch den viel deutlicher bestimmten platonischen Begriff der Anamnesis ersetzen, der nicht nur sprachlich klarer sowie philosophisch tiefer und reiner ist, sondern vor allem auch mit wesentlichen Motiven des biblischen Denkens und der von der Bibel her entwickelten Anthropologie zusammenklingt. (Fs) (notabene)

115a Mit dem Wort Anamnesis soll hier genau das ausgesagt sein, was Paulus im zweiten Kapitel des Römerbriefs so ausgedrückt hat: "Wenn also Heiden, die das Gesetz nicht haben, von sich aus tun, was das Gesetz will, sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie erweisen, dass das vom Gesetz geforderte Werk in ihre Herzen geschrieben ist, wobei ihr Gewissen Zeugnis ablegt..." (2, 14f.). (Fs)

115b Derselbe Gedanke findet sich eindrucksvoll entfaltet in der großen Mönchsregel des heiligen Basilius. Dort lesen wir: "Die Liebe zu Gott beruht nicht auf einer von außen uns auferlegten Disziplin, sondern sie ist konstitutiv als Fähigkeit und Notwendigkeit unserem Vernunftwesen eingestiftet." Basilius spricht mit einem in der mittelalterlichen Mystik wichtig gewordenen Wort von dem "Funken göttlicher Liebe, der in uns eingeboren ist"3. Im Geist der johanneischen Theologie weiß er, dass die Liebe im Halten der Gebote besteht, und deswegen bedeutet der uns schöpfungsmäßig eingesenkte Funke der Liebe dies: "Fähigkeit und Bereitschaft zum Vollzug aller göttlichen Gebote haben wir im Voraus innen empfangen [...] sie sind nicht etwas von außen Auferlegtes." Das Gleiche auf seinen einfachen Kern zurückführend, sagt Augustinus dazu: "Wir könnten nicht urteilend sagen, dass das eine besser sei als das andere, wenn uns nicht ein Grundverständnis des Guten eingeprägt wäre."4 (Fs)

115c Das bedeutet: Die erste, sozusagen ontologische Schicht des Phänomens Gewissens besteht darin, dass uns so etwas wie eine Urerinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) eingefügt ist; dass es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt. Sein Sein selbst klingt von seinem Ursprung her mit dem einen zusammen und steht im Widerspruch mit dem anderen. Diese Anamnese des Ursprungs, die sich aus der gottgemäßen Konstitution unseres Seins ergibt, ist nicht ein begrifflich artikuliertes Wissen, ein Schatz von abrufbaren Inhalten. Sie ist sozusagen ein innerer Sinn, eine Fähigkeit des Wiedererkennens, sodass der davon Angesprochene und inwendig nicht verborgene Mensch das Echo darauf in sich erkennt. Er sieht: Das ist es, worauf mein Wesen hinweist und hin will. (Fs)

116a Auf dieser Anamnese des Schöpfers, die mit dem Grund unserer Existenz identisch ist, beruhen Möglichkeit und Recht der Mission. Das Evangelium darf, ja muss den Heiden verkündet werden, weil sie selbst im Verbogenen darauf warten (vgl. Jes 42, 4). Die Mission rechtfertigt sich dann, wenn ihre Adressaten bei dem Begegnen mit dem Wort des Evangeliums wieder erkennen: Ja, das ist es, worauf ich gewartet habe. In diesem Sinn kann Paulus sagen: Die Heiden sind sich selbst Gesetz - nicht in der Weise des neu-zeitlich-liberalistischen Autonomiegedankens mit seiner Unübersteiglichkeit des Subjekts, sondern in dem viel tieferen Sinn, dass mir nichts so wenig gehört wie ich mir selbst, dass mein eigenes Ich der Ort der tiefsten Selbstüberschreitung und des Berührtseins von dem ist, woher ich komme und wohin ich gehe. Paulus drückt in diesen Sätzen die Erfahrung aus, die er selbst als Heidenmissionar gemacht hatte und die vorher schon Israel im Umgang mit den "Gottesfürchtigen" erleben durfte: Israel hatte in der Heidenwelt erleben können, was die Boten Jesu Christi erneut bestätigt fanden. Ihre Verkündigung antwortete einer Erwartung. Sie traf auf ein ihr vorgängiges Grundwissen um die wesentlichen Konstanten des in den Geboten schriftlich gewordenen Gotteswillens, das sich in allen Kulturen findet und sich um so reiner entfaltet, je weniger zivilisatorische Eigenmacht dieses Urwissen verstellt. Je mehr der Mensch aus der "Gottesfurcht" lebt - man vergleiche die Kornelius-geschichte (bes. Apg 10, 34) -, desto konkreter und klarer wird diese Anamnese auch wirksam. (Fs)

[...]

117b Von der Anthropologie des Gewissens her, wie wir sie in diesen Überlegungen allmählich zu ertasten versuchen, stellen sich die Dinge ganz anders dar. Die unserem Sein eingesenkte Anamnese braucht sozusagen die Nachhilfe von außen, damit sie ihrer selbst inne wird. Aber dies Äußere ist doch nicht etwas ihr Entgegengesetztes, sondern ihr zugeordnet: Es hat mäeutische Funktion, legt ihr nicht Fremdes auf, sondern bringt ihr eigenes, ihre eigene innere Eröffnetheit für die Wahrheit zum Vollzug. Wo es um Glaube und Kirche geht, deren Radius vom erlösenden Logos her über die Gabe der Schöpfung hinausreichen, müssen wir allerdings noch eine weitere Ebene hinzunehmen, die besonders in den Johanneischen Schriften entwickelt ist. Johannes kennt die Anamnesis des neuen Wir, das uns in der Einkörperung in Christus (ein Leib, d. h.: ein Ich mit ihm) zuteil geworden ist. Erinnernd begriffen sie, heißt es verschiedentlich im Evangelium. Die Urbegegnung mit Jesus hat den Jüngern das gegeben, was nun alle Generationen durch ihre grundlegende Begegnung mit dem Herrn in Taufe und Eucharistie empfangen: die neue Anamnese des Glaubens, die sich ähnlich wie die Schöpfungsanamnese im ständigen Dialog von innen und außen entfaltet. Gegenüber der Anmaßung gnostischer Lehrer, die den Gläubigen einreden wollten, Ihr naiver Glaube müsse ganz anders aufgefasst und gewendet werden, konnte Johannes daher sagen: Ihr braucht solcher Belehrung nicht; als Gesalbte (Getaufte) wisst ihr alles (1 Joh 2, 20). Das bedeutet nicht ein inhaltliches Alles-Wissen der Gläubigen, aber es bedeutet die Untrüglichkeit des christlichen Gedächtnisses, das zwar immer lernt, aber aus seiner sakramentalen Identität heraus von innen her unterscheidet zwischen dem, was Entfaltung des Erinnerns und was seine Zerstörung oder Verfälschung ist. (Fs)

118a Die Kraft dieses Erinnerns und die Wahrheit des apostolischen Wortes erfahren wir heute in der Krise der Kirche ganz neu, wo weit mehr als die hierarchische Weisung die Unterscheidungskraft des einfachen Glaubensgedächtnisses zur Scheidung der Geister führt. Nur in diesem Zusammenhang kann man den Primat des Papstes und seinen Zusammenhang mit dem christlichen Gewissen richtig verstehen. Der wahre Sinn der Lehrgewalt des Papstes besteht darin, dass er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist. Der Papst legt nicht von außen auf, sondern er entfaltet das christliche Gedächtnis und verteidigt es. Deshalb muss in der Tat der Toast auf das Gewissen demjenigen auf den Papst vorangehen, weil es ohne Gewissen gar kein Papsttum gäbe. Alle Macht, die es hat, ist Macht des Gewissens - Dienst an der doppelten Erinnerung, auf der der Glaube ruht und die immer wieder neu geeignet, erweitert und verteidigt werden muss gegen die Zerstörung des Gedächtnisses, das sowohl durch eine den eigenen Grund vergessende Subjektivität wie durch den Zwang sozialer und kultureller Konformität bedroht ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; conscientia (Thomas)

Kurzinhalt: Weil zum Beispiel Thomas nur diese zweite Ebene als Conscientia bezeichnet, ist folgerichtig für ihn das Gewissen kein "habitus", das heißt keine dauernde seinshafte Qualität des Menschen, sondern "actus" - ein Geschehen im Vollzug

Textausschnitt: 118b Nach diesen Erwägungen über die erste - wesentlich ontologische - Ebene des Gewissensbegriffs müssen wir uns nun dessen zweiter Schicht zuwenden, die in der mittelalterlichen Tradition allein mit dem Wort Conscientia - Gewissen - bezeichnet wird. Vermutlich hat diese terminologische Tradition nicht unerheblich zur neuzeitlichen Schrumpfung des Gewissensbegriffs beigetragen. Weil zum Beispiel Thomas nur diese zweite Ebene als Conscientia bezeichnet, ist folgerichtig für ihn das Gewissen kein "habitus", das heißt keine dauernde seinshafte Qualität des Menschen, sondern "actus" - ein Geschehen im Vollzug. Thomas setzt aber dabei selbstverständlich die ontologische Grundlage der Anamnese (Synderesis) als gegeben voraus; er beschreibt diese letzte als ein inneres Widersprechen gegen das Böse und eine innere Zugeordnetheit zum Guten in uns. Der Gewissensakt wendet dieses Grundwissen in den einzelnen Situationen an. Er gliedert sich nach Thomas in drei Elemente: Das Wiedererkennen (recognoscere), das Zeugnisablegen (testificari) und schließlich das Urteilen (iudicare). Man könnte von einem Zusammenspiel zwischen Kontrollfunktion und Entscheidungsfunktion sprechen1. Thomas sieht diesen Vorgang von der aristotelischen Tradition her im Modell eines Schlussverfahrens. Aber er betont sehr nachdrücklich das Spezifische dieses Handlungswissens, dessen Schlussfolgerungen nicht aus bloßem Wissen oder Denken kommen2. (Fs)

119a Ob hier etwas erkannt oder nicht erkannt wird, hängt immer auch vom Willen ab, der Erkenntnis versperrt oder zur Erkenntnis führt. Es hängt also von einer schon gegebenen moralischen Prägung ab, die dann entweder weiter verformt oder weiter gereinigt wird3. (Fs)

119b Auf dieser Ebene, der Ebene des Urteilens (Conscientia im engeren Sinn), gilt, dass auch das irrige Gewissen bindet. Dieser Satz ist aus der rationalen Tradition der Scholastik heraus völlig klar. Niemand darf gegen seine Überzeugung handeln, wie es schon der hl. Paulus gesagt hatte (Rom 14, 23)4. Aber dass die gewonnene Überzeugung selbstverständlich im Augenblick des Handelns bindet, bedeutet keine Kanonisierung der Subjektivität. Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen - man muss es sogar. Aber es kann sehr wohl Schuld sein, dass man zu so verkehrten Überzeugungen gelangt ist und den Widerspruch der Anamnese des Seins niedergetreten hat. Die Schuld liegt dann woanders, tiefer: nicht in dem jetzigen Akt, nicht in dem jetzigen Gewissensurteil, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Innern. Deshalb bleiben Überzeugungstäter wie Hitler und Stalin schuldig. Diese krassen Exempel sollen aber nicht dazu dienen, uns über uns selbst zu beruhigen, sondern sie sollten uns aufschrecken und uns den Ernst der Bitte eindrücklich machen: Von meiner unerkannten Schuld befreie mich (Ps 19,13). (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Zweifel und Glaube - die Situation des Menschen vor der Gottesfrage; Beispiele: Clown (H. Cox), P. Claudel (Bild, Metapher: Schiffbrüchiger, Kreuz), M. Buber (vielleicht ist es wahr); Glaube - Zweifel; Gläubiger - Ungläubiger

Kurzinhalt: Niemand kann dem andern Gott und sein Reich auf den Tisch legen, auch der Glaubende sich selbst nicht. Aber wie sehr sich auch der Unglaube dadurch gerechtfertigt fühlen mag, es bleibt ihm die Unheimlichkeit des »Vielleicht ist es doch wahr«.

Textausschnitt: ERSTES KAPITEL

Glauben in der Welt von heute

1. Zweifel und Glaube -die Situation des Menschen vor der Gottesfrage

33a Wer heute über die Sache des christlichen Glaubens vor Menschen zu reden versucht, die nicht durch Beruf oder Konvention im Innern des kirchlichen Redens und Denkens angesiedelt sind, wird sehr bald das Fremde und Befremdliche eines solchen Unterfangens verspüren. Er wird wahrscheinlich bald das Gefühl haben, seine Situation sei nur allzu treffend beschrieben in der bekannten Gleichniserzählung Kierkegaards über den Clown und das brennende Dorf, die Harvey Cox kürzlich in seinem Buch »Stadt ohne Gott?« wieder aufgegriffen hat1. Diese Geschichte sagt, dass ein Reisezirkus in Dänemark in Brand geraten war. Der Direktor schickte daraufhin den Clown, der schon zur Vorstellung gerüstet war, in das benachbarte Dorf, um Hilfe zu holen, zumal die Gefahr bestand, dass über die abgeernteten, ausgetrockneten Felder das Feuer auch auf das Dorf übergreifen würde. Der Clown eilte in das Dorf und bat die Bewohner, sie möchten eiligst zu dem brennenden Zirkus kommen und löschen helfen. Aber die Dörfler hielten das Geschrei des Clowns lediglich für einen ausgezeichneten Werbetrick, um sie möglichst zahlreich in die Vorstellung zu locken; sie applaudierten und lachten bis zu Tränen. Dem Clown war mehr zum Weinen als zum Lachen zumute; er versuchte vergebens, die Menschen zu beschwören, ihnen klarzumachen, dies sei keine Verstellung, kein Trick, es sei bitterer Ernst, es brenne wirklich. Sein Flehen steigerte nur das Gelächter, man fand, er spiele seine Rolle ausgezeichnet - bis schließlich in der Tat das Feuer auf das Dorf übergegriffen hatte und jede Hilfe zu spät kam, so dass Dorf und Zirkus gleichermaßen verbrannten. (Fs; tblStw: Glaube)

33b Cox erzählt diese Geschichte als Beispiel für die Situation des Theologen heute und sieht in dem Clown, der seine Botschaft gar nicht bis zum wirklichen Gehör der Menschen bringen kann, das Bild des Theologen. Er wird in seinen Clownsgewändern aus dem Mittelalter oder aus welcher Vergangenheit auch immer gar nicht ernst genommen. Er kann sagen, was er will, er ist gleichsam etikettiert und eingeordnet durch seine Rolle. Wie er sich auch gebärdet und den Ernstfall darzustellen versucht, man weiß immer im Voraus schon, dass er eben - ein Clown ist. Man weiß schon, worüber er redet, und weiß, dass er nur eine Vorstellung gibt, die mit der Wirklichkeit wenig oder nichts zu tun hat. So kann man ihm getrost zuhören, ohne sich über das, was er sagt, ernstlich beunruhigen zu müssen. In diesem Bild ist ohne Zweifel etwas von der bedrängenden Wirklichkeit eingefangen, in der sich Theologie und theologisches Reden heute befinden; etwas von der lastenden Unmöglichkeit, die Schablonen der Denk- und Sprechgewohnheiten zu durchbrechen und die Sache der Theologie als Ernstfall menschlichen Lebens erkennbar zu machen. (Fs)

34a Vielleicht aber muss unsere Gewissenserforschung sogar noch radikaler sein. Vielleicht müssen wir sagen, dass dieses erregende Bild - so viel Wahres und Bedenkenswertes es auch enthält - noch immer die Dinge vereinfacht. Denn danach sieht es ja so aus, als wäre der Clown, das heißt der Theologe, der völlig Wissende, der mit einer ganz klaren Botschaft kommt. Die Dörfler, zu denen er eilt, das heißt die Menschen außerhalb des Glaubens, wären umgekehrt die völlig Unwissenden, die erst belehrt werden müssen über das ihnen Unbekannte; der Clown brauchte dann eigentlich nur das Kostüm zu wechseln und sich abzuschminken - dann wäre alles in Ordnung. Aber ist die Sache denn wirklich so einfach? Brauchen wir nur zum Aggiornamento zu greifen, uns abzuschminken und uns in das Zivil einer säkularen Sprache oder eines religionslosen Christentums zu stecken, damit alles in Ordnung sei? Genügt der geistige Kostümwechsel, damit die Menschen freudig herbeilaufen und mithelfen, den Brand zu löschen, von dem der Theologe behauptet, dass es ihn gebe und dass er unser aller Gefahr sei? Ich möchte sagen, dass die tatsächlich abgeschminkte und in modernes Zivil gekleidete Theologie, wie sie vielerorten heute auf den Plan tritt, diese Hoffnung als recht naiv erscheinen lässt. Freilich ist es wahr: wer den Glauben inmitten von Menschen, die im heutigen Leben und Denken stehen, zu sagen versucht, der kann sich wirklich wie ein Clown vorkommen, oder vielleicht noch eher wie jemand, der, aus einem antiken Sarkophag aufgestiegen, in Tracht und Denken der Antike mitten in unsere heutige Welt eingetreten ist und weder sie verstehen kann noch verstanden wird von ihr. Wenn indes der, der den Glauben zu verkündigen versucht, selbstkritisch genug ist, wird er bald bemerken, dass es nicht nur um eine Form, um eine Krise der Gewänder geht, in denen die Theologie einherschreitet. In der Fremdheit des theologischen Unterfangens den Menschen unserer Zeit gegenüber wird der, der seine Sache ernst nimmt, nicht nur die Schwierigkeit der Dolmetschung, sondern auch die Ungeborgenheit seines eigenen Glaubens, die bedrängende Macht des Unglaubens inmitten des eigenen Glaubenwollens erfahren und erkennen. So wird jemand, der heute redlich versucht, sich und anderen Rechenschaft vom christlichen Glauben zu geben, einsehen lernen müssen, dass er gar nicht bloß der Verkleidete ist, der sich nur umzuziehen brauchte, um andere erfolgreich belehren zu können. Er wird vielmehr zu verstehen haben, dass seine Situation sich gar nicht so vollständig von derjenigen der anderen unterscheidet, wie er anfangs denken mochte. Er wird innewerden, dass in beiden Gruppen die gleichen Mächte anwesend sind, wenn auch freilich in jeweils unterschiedlichen Weisen. (Fs)

35a Zunächst: Im Gläubigen gibt es die Bedrohung der Ungewissheit, die in Augenblicken der Anfechtung mit einem Mal die Brüchigkeit des Ganzen, das ihm gewöhnlich so selbstverständlich scheint, hart und unversehens in Erscheinung treten lässt. Verdeutlichen wir uns das an ein paar Beispielen. Therese von Lisieux, die liebenswerte, scheinbar so naiv-unproblematische Heilige, war in einem Leben völliger religiöser Geborgenheit aufgewachsen; ihr Dasein war von Anfang bis Ende so vollständig und bis ins Kleinste vom Glauben der Kirche geprägt, dass die Welt des Unsichtbaren ein Stück ihres Alltags - nein: ihr Alltag selbst geworden und nahezu greifbar zu sein schien und nicht daraus wegzudenken war. Für sie war »Religion« wirklich eine selbstverständliche Vorgegebenheit ihres täglichen Daseins, sie ging damit um, wie wir mit den fassbaren Gewöhnlichkeiten unseres Lebens umgehen können. Aber gerade sie, die scheinbar in ungefährdeter Sicherheit Geborgene, hat uns aus den letzten Wochen ihrer Passion erschütternde Geständnischiffren hinterlassen, die ihre Schwestern dann in ihrer literarischen Hinterlassenschaft erschrocken abgemildert hatten und die erst jetzt durch die wörtlichen Neuausgaben zutage getreten sind, so etwa, wenn sie sagt: »Die Gedankengänge der schlimmsten Materialisten drängen sich mir auf«. Ihr Verstand wird bedrängt von allen Argumenten, die es gegen den Glauben gibt; das Gefühl des Glaubens scheint verschwunden, sie erfährt sich »in die Haut der Sünder« versetzt. Das heißt: In einer scheinbar völlig bruchlos verfugten Welt wird hier jählings einem Menschen der Abgrund sichtbar, der unter dem festen Zusammenhang der tragenden Konventionen lauert - auch für ihn. In einer solchen Situation steht dann nicht mehr dies oder jenes zur Frage, um das man sonst vielleicht streitet - Himmelfahrt Marias oder nicht, Beichte so oder anders -, all das wird völlig sekundär. Es geht dann wirklich um das Ganze, alles oder nichts. Das ist die einzige Alternative, die bleibt, und nirgendwo scheint ein Grund sich anzubieten, auf dem man in diesem jähen Absturz sich dennoch festklammern könnte. Nur noch die bodenlose Tiefe des Nichts ist zu sehen, wohin man auch blickt. (Fs)

36a Paul Claudel hat in der Eröffnungsszene des »Seidenen Schuhs« diese Situation des Glaubenden in eine große und überzeugende Bildvision gebannt. Ein Jesuitenmissionar, Bruder des Helden Rodrigo, des Weltmanns, des irrenden und ungewissen Abenteurers zwischen Gott und Welt, wird als Schiffbrüchiger dargestellt. Sein Schiff wurde von Seeräubern versenkt, er selbst an einen Balken des gesunkenen Schiffes gebunden, und so treibt er nun an diesem Stück Holz im tosenden Wasser des Ozeans2. Mit seinem letzten Monolog beginnt das Schauspiel: »Herr, ich danke dir, dass du mich so gefesselt hast. Zuweilen geschah mir, dass ich deine Gebote mühsam fand, und meinen Willen im Angesicht deiner Satzung ratlos, versagend. Doch heute kann ich enger nicht mehr an dich angebunden sein, als ich es bin, und mag ich auch meine Glieder eines um das andere durchgehn, keines kann sich auch nur ein wenig von dir entfernen. Und so bin ich wirklich ans Kreuz geheftet, das Kreuz aber, an dem ich hänge, ist an nichts mehr geheftet. Es treibt auf dem Meere«. (Fs)

Ans Kreuz geheftet - das Kreuz aber an nichts, treibend über dem Abgrund. Die Situation des Glaubenden von heute könnte man kaum eindringlicher und genauer beschreiben, als es hier geschieht. Nur ein über dem Nichts schwankender, loser Balken scheint ihn zu halten, und es sieht aus, als müsse man den Augenblick errechnen können, in dem er versinken muss. Nur ein loser Balken knüpft ihn an Gott, aber freilich: er knüpft ihn unausweichlich, und am Ende weiß er, dass dieses Holz stärker ist als das Nichts, das unter ihm brodelt, das aber dennoch die bedrohende, eigentliche Macht seiner Gegenwart bleibt. (Fs)
37a Das Bild enthält darüber hinaus noch eine weitere Dimension, die mir sogar das eigentlich Wichtige daran zu sein scheint. Denn dieser schiffbrüchige Jesuit ist nicht allein, sondern in ihm wird gleichsam vorgeblendet auf das Schicksal seines Bruders; in ihm ist das Geschick des Bruders mit anwesend, des Bruders, der sich für ungläubig hält, der Gott den Rücken gekehrt hat, weil er als seine Sache nicht das Warten ansieht, sondern »das Besitzen des Erreichlichen ..., als könnte er anderswo sein, als Du bist«. (Fs)

37b Wir brauchen hier nicht den Verschlingungen der Claudel'schen Konzeption nachzugehen, wie er das Ineinander der scheinbar gegensätzlichen Geschicke als Leitfaden behält, bis zu dem Punkt hin, wo am Ende Rodrigos Geschick dasjenige seines Bruders berührt, indem der Welteroberer als Sklave auf einem Schiff endigt, der froh sein muss, wenn eine alte Nonne mit rostigen Bratpfannen und Lumpen auch ihn als wertlose Ware mitnimmt. Wir können vielmehr ohne Bild zu unserer eigenen Situation zurückkehren und sagen: Wenn der Glaubende nur immer über dem Ozean des Nichts, der Anfechtung und der Fragwürdigkeiten seinen Glauben vollziehen kann, den Ozean der Ungewissheit als den allein möglichen Ort seines Glaubens zugewiesen erhalten hat, so ist doch auch umgekehrt der Ungläubige nicht undialektisch als bloß Glaubensloser zu verstehen. So wie wir bisher erkannt hatten, dass der Gläubige nicht fraglos dahinlebt, sondern stets vom Absturz ins Nichts bedroht, so werden wir jetzt das Ineinandergeschobensein der menschlichen Geschicke anerkennen und sagen müssen, dass auch der Nichtglaubende keine rund in sich geschlossene Existenz darstellt. Denn wie forsch er sich auch immer als reiner Positivist gebärden mag, der die supranaturalen Versuchungen und Anfälligkeiten längst hinter sich gelassen hat und jetzt nur noch im unmittelbar Gewissen lebt - die geheime Ungewissheit, ob der Positivismus wirklich das letzte Wort habe, wird ihn doch nie verlassen. Wie es dem Glaubenden geschieht, dass er vom Salzwasser des Zweifels gewürgt wird, das ihm der Ozean fortwährend in den Mund spült, so gibt es auch den Zweifel des Ungläubigen an seiner Ungläubigkeit, an der wirklichen Totalität der Welt, die zum Totum zu erklären er sich entschlossen hat. Er wird der Abgeschlossenheit dessen, was er gesehen hat und als das Ganze erklärt, nie restlos gewiss, sondern bleibt von der Frage bedroht, ob nicht der Glaube dennoch das Wirkliche sei und es sage. So wie also der Gläubige sich fortwährend durch den Unglauben bedroht weiß, ihn als seine beständige Versuchung empfinden muss, so bleibt dem Ungläubigen der Glaube Bedrohung und Versuchung seiner scheinbar ein für allemal geschlossenen Welt. Mit einem Wort - es gibt keine Flucht aus dem Dilemma des Menschseins. Wer der Ungewissheit des Glaubens entfliehen will, wird die Ungewissheit des Unglaubens erfahren müssen, der seinerseits doch nie endgültig gewiss sagen kann, ob nicht doch der Glaube die Wahrheit sei. Erst in der Abweisung wird die Unabweisbarkeit des Glaubens sichtbar. (Fs)

39a Vielleicht ist es angebracht, an dieser Stelle eine jüdische Geschichte anzuhören, die Martin Buber aufgezeichnet hat; in ihr kommt das eben geschilderte Dilemma des Menschseins deutlich zur Anschauung. »Einer der Aufklärer, ein sehr gelehrter Mann, der vom Berditschewer gehört hatte, suchte ihn auf, um auch mit ihm, wie er's gewohnt war, zu disputieren und seine rückständigen Beweisgründe für die Wahrheit seines Glaubens zuschanden zu machen. Als er die Stube des Zaddiks betrat, sah er ihn mit einem Buch in der Hand in begeistertem Nachdenken auf und ab gehen. Des Ankömmlings achtete er nicht. Schließlich blieb er stehen, sah ihn flüchtig an und sagte: >Vielleicht ist es aber wahr<. Der Gelehrte nahm vergebens all sein Selbstgefühl zusammen - ihm schlotterten die Knie, so furchtbar war der Zaddik anzusehen, so furchtbar sein schlichter Spruch zu hören. Rabbi Levi Jizchak aber wandte sich ihm nun völlig zu und sprach ihn gelassen an: >Mein Sohn, die Großen der Thora, mit denen du gestritten hast, haben ihre Worte an dich verschwendet, du hast, als du gingst, darüber gelacht. Sie haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und auch ich kann es nicht. Aber, mein Sohn, bedenke, vielleicht ist es wahr<. Der Aufklärer bot seine innerste Kraft zur Entgegnung auf; aber dieses furchtbare >Vielleicht<, das ihm da Mal um Mal entgegenscholl, brach seinen Widerstand«5. (Fs)

40a Ich glaube, hier ist - bei aller Fremdheit der Einkleidung -die Situation des Menschen vor der Gottesfrage sehr präzis beschrieben. Niemand kann dem andern Gott und sein Reich auf den Tisch legen, auch der Glaubende sich selbst nicht. Aber wie sehr sich auch der Unglaube dadurch gerechtfertigt fühlen mag, es bleibt ihm die Unheimlichkeit des »Vielleicht ist es doch wahr«. Das »Vielleicht« ist die unentrinnbare Anfechtung, der er sich nicht entziehen kann, in der auch er in der Abweisung die Unabweisbarkeit des Glaubens erfahren muss. Anders ausgedrückt: Der Glaubende wie der Ungläubige haben, jeder auf seine Weise, am Zweifel und am Glauben Anteil, wenn sie sich nicht vor sich selbst verbergen und vor der Wahrheit ihres Seins. Keiner kann dem Zweifel ganz, keiner dem Glauben ganz entrinnen; für den einen wird der Glaube gegen den Zweifel, für den andern durch den Zweifel und in der Form des Zweifels anwesend. Es ist die Grundgestalt menschlichen Geschicks, nur in dieser unbe-endbaren Rivalität von Zweifel und Glaube, von Anfechtung und Gewissheit die Endgültigkeit seines Daseins finden zu dürfen. Vielleicht könnte so gerade der Zweifel, der den einen wie den anderen vor der Verschließung im bloß Eigenen bewahrt, zum Ort der Kommunikation werden. Er hindert beide daran, sich völlig in sich selbst zu runden, er bricht den Glaubenden auf den Zweifelnden und den Zweifelnden auf den Glaubenden hin auf, für den einen ist er seine Teilhabe am Geschick des Ungläubigen, für den andern die Form, wie der Glaube trotzdem eine Herausforderung an ihn bleibt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Der Sprung des Glaubens - vorläufiger Versuch einer Wesensbestimmung des Glaubens; Religion - Glaube; Beziehung: totale Andersheit (Transzendenz) d. biblischen Gottes - G.; Umkehr, Bekehrung (G. als Wende des Seins)

Kurzinhalt: Gott ist nicht nur der, der jetzt tatsächlich außerhalb des Sehfeldes liegt, aber so, dass man ihn sehen könnte, wenn es möglich wäre weiterzugehen; nein, er ist der, der wesentlich außerhalb davon steht, wie sehr unser Blickfeld auch immer ...

Textausschnitt: 2. Der Sprung des Glaubens - vorläufiger Versuch einer Wesensbestimmung des Glaubens

41a Wenn wir mit allem Gesagten das Bild vom unverständlichen Clown und von den ahnungslosen Dörflern als ungenügend erwiesen haben, um das Zueinander von Glaube und Unglaube in unserer heutigen Welt zu beschreiben, so werden wir andererseits nicht bestreiten dürfen, dass es ein spezifisches Problem des Glaubens heute ausdrückt. Denn die Grundfrage einer Einführung ins Christentum, die aufzuschließen versuchen muss, was es heißt, wenn ein Mensch sagt »Ich glaube« - diese Grundfrage stellt sich uns mit einem ganz bestimmten zeitlichen Index. Sie kann von uns angesichts unseres Geschichtsbewusstseins, das ein Teil unseres Selbstbewusstseins, unseres Grundverständnisses des Menschlichen geworden ist, nur noch in der Form gestellt werden: Was heißt und was bedeutet das christliche Bekenntnis »Ich glaube« heute, unter den Voraussetzungen unserer gegenwärtigen Existenz und unserer gegenwärtigen Stellung zum Wirklichen insgesamt? (Fs; tblStw: Glaube)

41b Damit sind wir zugleich bei einer Analyse des Textes angelangt, der den Leitfaden unserer ganzen Überlegungen abgeben soll: des »Apostolischen Glaubensbekenntnisses«, das von seinem Ursprung her >Einführung ins Christentum< und Zusammenfassung seiner wesentlichen Inhalte sein will. Dieser Text beginnt symptomatisch mit den Worten »Ich glaube ...«. Wir verzichten freilich zunächst darauf, dieses Wort von seinem inhaltlichen Zusammenhang her auszulegen; wir unterlassen es auch vorerst noch zu fragen, was es bedeutet, dass diese Grundaussage »Ich glaube« in einer geprägten Formel, in Verbindung mit bestimmten Gehalten und entworfen von einem gottesdienstlichen Zusammenhang her auftritt. Beiderlei Kontext, der der gottesdienstlichen Form wie der der inhaltlichen Bestimmungen, prägt allerdings den Sinn dieses Wörtchens »Credo« mit, so wie umgekehrt das Wörtchen »Credo« alles Nachfolgende und den gottesdienstlichen Rahmen trägt und prägt. Dennoch müssen wir beides einstweilen zurückstellen, um radikaler zu fragen und ganz grundsätzlich zu bedenken, was für eine Einstellung überhaupt damit gemeint ist, wenn christliche Existenz sich zunächst und zuerst einmal im Verbum »Credo« ausdrückt und damit - was keineswegs selbstverständlich ist - den Kern des Christlichen dahin bestimmt, dass es ein »Glaube« sei. Allzu unreflektiert setzen wir ja meist voraus, dass »Religion« und »Glaube« allemal das Gleiche seien und jede Religion daher ebenso gut als »Glaube« bezeichnet werden könne. Das trifft aber tatsächlich nur in begrenztem Maße zu; vielfach benennen sich die anderen Religionen anders und setzen damit andere Schwerpunkte. Das Alte Testament hat sich als Ganzes nicht unter dem Begriff »Glaube«, sondern unter dem Begriff »Gesetz« beschrieben. Es ist primär eine Lebensordnung, in der freilich dann der Akt des Glaubens immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die römische Religiosität wiederum hat praktisch unter religio vorwiegend das Einhalten bestimmter ritueller Formen und Gepflogenheiten verstanden. Für sie ist nicht entscheidend, dass ein Glaubensakt an Supranaturales gesetzt wird; er kann sogar völlig fehlen, ohne dass man dieser Religion untreu wird. Da sie wesentlich ein System von Riten ist, ist deren sorgfältige Beobachtung für sie das eigentlich Entscheidende. So ließe sich das durch die ganze Religionsgeschichte verfolgen. Aber diese Andeutung mag genügen, um zu verdeutlichen, wie wenig es sich von selbst versteht, dass das Christsein sich zentral in dem Wort »Credo« ausdrückt, dass es seine Form von Stellungnahme zum Wirklichen in der Haltung des Glaubens benennt. Damit wird freilich unsere Frage nur um so dringlicher: Welche Einstellung ist eigentlich gemeint mit diesem Wort? Und weiter: Wie kommt es, dass uns das Eintreten unseres je persönlichen Ich in dieses »Ich glaube« so schwer wird? Wie kommt es, dass es uns immer wieder fast unmöglich erscheint, unser heutiges Ich - jeder das seinige, das von dem des andern untrennbar geschieden ist - in die Identifizierung mit jenem von Generationen vorbestimmten und vorgeprägten Ich des »Ich glaube« zu versetzen?

43a Machen wir uns nichts vor: In jenes Ich der Credo-Formel einzutreten, das schematische Ich der Formel in Fleisch und Blut des persönlichen Ich umzuwandeln, das war schon immer eine aufregende und schier unmöglich scheinende Sache, bei deren Vollzug nicht selten, statt das Schema mit Fleisch und Blut zu füllen, das Ich in ein Schema umgewandelt worden ist. Und wenn wir heute als Glaubende in unserer Zeit vielleicht ein wenig neidisch sagen hören, im Mittelalter sei man in unseren Landen ausnahmslos gläubig gewesen, dann tut es gut, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, wie ihn uns die historische Forschung heute gestattet. Sie kann uns darüber belehren, dass es auch damals schon die große Schar der Mitläufer und die verhältnismäßig geringe Zahl der wirklich in die innere Bewegung des Glaubens Eingetretenen gab. Sie kann uns zeigen, dass für viele der Glaube doch nur ein vorgefundenes System von Lebensformen war, durch das für sie das aufregende Abenteuer, welches das Wort »Credo« eigentlich meint, wenigstens ebenso sehr verdeckt wie eröffnet wurde. Das alles einfach deshalb, weil es zwischen Gott und Mensch eine unendliche Kluft gibt; weil der Mensch so beschaffen ist, dass seine Augen nur das zu sehen vermögen, was Gott nicht ist, und daher Gott der für den Menschen wesentlich Unsichtbare, außerhalb seines Sehfeldes Liegende ist und immer sein wird. Gott ist wesentlich unsichtbar - diese Grundaussage biblischen Gottesglaubens im Nein zur Sichtbarkeit der Götter ist zugleich, ja zuerst, eine Aussage über den Menschen: Der Mensch ist das schauende Wesen, dem der Raum seiner Existenz durch den Raum seines Sehens und Greifens abgesteckt scheint. Aber in diesem Raum seines Sehens und Greifens, der den Daseinsort des Menschen bestimmt, kommt Gott nicht vor und wird er nie vorkommen, wie sehr auch immer dieser Raum ausgeweitet werden mag. Ich glaube, es ist wichtig, dass im Prinzip diese Aussage im Alten Testament gegeben ist: Gott ist nicht nur der, der jetzt tatsächlich außerhalb des Sehfeldes liegt, aber so, dass man ihn sehen könnte, wenn es möglich wäre weiterzugehen; nein, er ist der, der wesentlich außerhalb davon steht, wie sehr unser Blickfeld auch immer ausgeweitet werden wird. (Fs)

44a Damit zeigt sich aber nun ein erster Umriss der Haltung, die das Wörtchen »Credo« meint. Es bedeutet, dass der Mensch Sehen, Hören und Greifen nicht als die Totalität des ihn Angehenden betrachtet, dass er den Raum seiner Welt nicht mit dem, was er sehen und greifen kann, abgesteckt ansieht, sondern eine zweite Form von Zugang zum Wirklichen sucht, die er eben Glauben nennt, und zwar so, dass er darin sogar die entscheidende Eröffnung seiner Weltsicht überhaupt findet. Wenn es aber so ist, dann schließt das Wörtchen Credo eine grundlegende Option gegenüber der Wirklichkeit als solcher ein; es meint nicht ein Feststellen von dem und jenem, sondern eine Grundform, sich zum Sein, zur Existenz, zum Eigenen und zum Ganzen des Wirklichen zu Verhalten. Es bedeutet die Option, dass das nicht zu Sehende, das auf keine Weise ins Blickfeld rücken kann, nicht das Unwirkliche ist, sondern dass im Gegenteil das nicht zu Sehende sogar das eigentlich Wirkliche, das alle übrige Wirklichkeit Tragende und Ermöglichende darstellt. Und es bedeutet die Option, dass dieses die Wirklichkeit insgesamt Ermöglichende auch das ist, was dem Menschen wahrhaft menschliche Existenz gewährt, was ihn als Menschen und als menschlich Seienden möglich macht. Nochmal anders gesagt: Glauben bedeutet die Entscheidung dafür, dass im Innersten der menschlichen Existenz ein Punkt ist, der nicht aus dem Sichtbaren und Greifbaren gespeist und getragen werden kann, sondern an das nicht zu Sehende stößt, sodass es ihm berührbar wird und sich als eine Notwendigkeit für seine Existenz erweist. (Fs)

45a Solche Haltung ist freilich nur zu erreichen durch das, was die Sprache der Bibel »Umkehr«, »Be-kehrung« nennt. Das natürliche Schwergewicht des Menschen treibt ihn zum Sichtbaren, zu dem, was er in die Hand nehmen und als sein Eigen greifen kann. Er muss sich innerlich herumwenden, um zu sehen, wie sehr er sein Eigentliches versäumt, indem er sich solchermaßen von seinem natürlichen Schwergewicht ziehen lässt. Er muss sich herumwenden, um zu erkennen, wie blind er ist, wenn er nur dem traut, was seine Augen sehen. Ohne diese Wende der Existenz, ohne die Durchkreuzung des natürlichen Schwergewichts gibt es keinen Glauben. Ja, der Glaube ist die Be-kehrung, in der der Mensch entdeckt, dass er einer Illusion folgt, wenn er sich dem Greifbaren allein verschreibt. Dies ist zugleich der tiefste Grund, warum Glaube nicht demonstrierbar ist: Er ist eine Wende des Seins, und nur wer sich wendet, empfängt ihn. Und weil unser Schwergewicht nicht aufhört, uns in eine andere Richtung zu weisen, deshalb bleibt er als Wende täglich neu, und nur in einer lebenslangen Bekehrung können wir innewerden, was es heißt, zu sagen: Ich glaube. (Fs)

45b Von da aus ist es zu verstehen, dass Glaube nicht erst heute und unter den spezifischen Bedingungen unserer modernen Situation problematisch, ja nahezu etwas unmöglich Scheinendes ist, sondern dass er, vielleicht etwas verdeckter und weniger leicht erkennbar, dennoch immer schon das Springen über eine unendliche Kluft, nämlich aus der dem Menschen sich aufdrängenden Greifbarkeitswelt, bedeutet: Immer schon hat Glaube "etwas von einem abenteuerlichen Bruch und Sprung an sich, weil er zu jeder Zeit das Wagnis darstellt, das schlechthin nicht zu Sehende als das eigentlich Wirkliche und Grundgebende anzunehmen. Nie war Glaube einfach die dem Ge-fälle [es: sic] des menschlichen Daseins von selbst zu-fallende Einstellung; immer schon war er eine die Tiefe der Existenz anfordernde Entscheidung, die allzeit ein Sichherumwenden des Menschen forderte, das nur im Entschluss erreichbar ist. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: frühe Kirche: Option für Philosophie, Logos gegen Mythos; Zusammenbruch der antiken Religion

Kurzinhalt: Die Entscheidung der frühen Kirche für die Philosophie; Antike: Kluft zwischen Gott des Glaubens und Gott der Philosophen

Textausschnitt: 1. Die Entscheidung der frühen Kirche für die Philosophie

126a Die Wahl, die im biblischen Gottesbild getroffen ist, musste im Aufgang des Christentums und der Kirche noch einmal wiederholt werden, sie muss es im Grunde in jeder geistigen Situation von neuem; sie bleibt immer ebenso Aufgabe wie Gabe. Die frühchristliche Verkündigung und der frühchristliche Glaube standen wiederum in einer göttergesättigten Umwelt und so noch einmal vor dem Problem, das Israel in seiner Ursprungssituation und in der Auseinandersetzung mit den Großmächten der exilischen und nachexilischen Zeit zugefallen war. Wieder galt es, auszusagen, welchen Gott der christliche Glaube eigentlich meinte. Die frühchristliche Entscheidung konnte freilich dabei an das ganze vorangegangene Ringen, besonders an dessen letztes Stück, an das Werk Deuterojesajas und der Weisheitsliteratur, an den Schritt, der in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments geschehen war, und schließlich an die Schriften des Neuen Testamentes, besonders an das Johannesevangelium, sich anschließen. Im Gefolge dieser ganzen Geschichte hat die frühe Christenheit ihre Auswahl und ihre Reinigung entschlossen und kühn vollzogen, indem sie sich für den Gott der Philosophen, gegen die Götter der Religionen entschied. Wenn die Frage aufstand, welchem Gott der christliche Gott entspreche, dem Zeus vielleicht oder dem Hermes oder dem Dionysos oder sonst einem, so lautete die Antwort: Keinem von allen. Keinem von den Göttern, zu denen ihr betet, sondern einzig und allein dem, zu dem ihr nicht betet, jenem Höchsten, von dem eure Philosophen reden. Die frühe Kirche hat den ganzen Kosmos der antiken Religionen entschlossen beiseite geschoben, ihn insgesamt als Trugwerk und Blenderei betrachtet und ihren Glauben damit ausgelegt, dass sie sagte: Nichts von alledem verehren und meinen wir, wenn wir Gott sagen, sondern allein das Sein selbst, das, was die Philosophen als den Grund alles Seins, als den Gott über allen Mächten herausgestellt haben - nur das ist unser Gott. In diesem Vorgang liegt eine Wahl und eine Entscheidung vor, die nicht weniger schicksalhaft ist und prägend für das Kommende, als es seinerzeit die Wahl von El und »jah« gegen Moloch und Baal und die Entwicklung beider zu Elohim und auf Jahwe, auf den Seinsgedanken hin, gewesen war. Die Wahl, die so getroffen wurde, bedeutete die Option für den Logos gegen jede Art von Mythos, die definitive Entmythologisierung der Welt und der Religion. (Fs) (notabene)

127a War diese Entscheidung für den Logos gegen den Mythos der richtige Weg? Um darauf Antwort zu finden, müssen wir alles im Auge behalten, was wir bisher über die innere Entfaltung des biblischen Gottesbegriffes bedacht haben, durch deren letzte Schritte der Sache nach bereits die Standortbestimmung des Christlichen in der hellenistischen Welt in diesem Sinn festgelegt war. Auf der anderen Seite ist es nötig zu beachten, dass die antike Welt selbst in sehr ausgeprägter Form das Dilemma zwischen Gott des Glaubens und Gott der Philosophen kannte. Zwischen den mythischen Göttern der Religionen und der philosophischen Gotteserkenntnis hatte sich im Lauf der Geschichte ein immer stärkeres Spannungsverhältnis entwickelt, das in der Mythenkritik der Philosophen von Xenophanes bis Platon in Erscheinung tritt, der geradezu mit dem Versuch umging, den klassischen homerischen Mythos abzuschaffen und ihn durch einen neuen, logosgemäßen Mythos zu ersetzen. Die heutige Forschung kommt dabei immer mehr zu der Einsicht, dass es eine ganz erstaunliche Parallele zeitlicher und sachlicher Art zwischen der philosophischen Mythenkritik in Griechenland und der prophetischen Götterkritik in Israel gibt. Beide gehen zwar von völlig verschiedenen Voraussetzungen aus und haben völlig verschiedene Ziele. Aber die Bewegung des Logos gegen den Mythos, wie sie sich im griechischen Geist in der philosophischen Aufklärung zugetragen hat, sodass sie schließlich auf den Sturz der Götter zutreiben musste, steht in einer inneren Parallelität zu der Aufklärung, die Propheten- und Weisheitsliteratur betrieben in ihrer Entmythologisierung der göttlichen Mächte zugunsten des alleinigen Gottes. Beide Bewegungen koinzidieren bei all ihrer Gegensätzlichkeit in dem Hinstreben auf den Logos. Die philosophische Aufklärung und ihre »physische« Betrachtung des Seins hat den mythischen Schein immer mehr verdrängt, freilich ohne die religiöse Form der Verehrung der Götter zu beseitigen. Die antike Religion ist denn auch an der Kluft zwischen Gott des Glaubens und Gott der Philosophen, an der totalen Diastase zwischen Vernunft und Frömmigkeit zerbrochen. Dass es nicht gelungen ist, beides in eins zu bringen, sondern dass in zunehmendem Maße Vernunft und Frömmigkeit auseinander getreten sind, Gott des Glaubens und Gott der Philosophen sich trennten, das bedeutete den inneren Zusammenbruch der antiken Religion. Die christliche hätte kein anderes Schicksal zu erwarten, wenn sie sich auf eine gleichartige Abschneidung von der Vernunft und auf einen entsprechenden Rückzug ins rein Religiöse einließe, wie ihn Schleiermacher gepredigt hat und wie er in gewissem Sinn paradoxerweise auch bei Schleiermachers großem Kritiker und Gegenspieler Karl Barth vorliegt. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Paradox der antiken Philosophie; Paulus; Tertullian; Neuplatonismus; Theologie: physische, politische, mythische; Gegenwart; Interpretationschristentum

Kurzinhalt: Das Paradox der antiken Philosophie besteht; Tertullian: Christus hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Gewohnheit

Textausschnitt: 129a Das gegensätzliche Schicksal von Mythos und Evangelium in der antiken Welt, das Ende des Mythos und der Sieg des Evangeliums sind, geistesgeschichtlich betrachtet, wesentlich zu erklären aus dem gegensätzlichen Verhältnis, das beide Male zwischen Religion und Philosophie, zwischen Glaube und Vernunft errichtet worden ist. Das Paradox der antiken Philosophie besteht, religionsgeschichtlich gesehen, darin, dass sie denkerisch den Mythos zerstört hat, aber gleichzeitig religiös ihn neu zu legitimieren versuchte - das heißt: dass sie religiös nicht revolutionär, sondern höchstens evolutionär war, Religion als Sache der Lebensordnung und nicht als Sache der Wahrheit behandelt hat. Paulus hat im Anschluss an die Weisheitsliteratur diesen Vorgang im Römerbrief (1,18-31) in der Sprache der prophetischen Predigt (bzw. der alttestamentlichen Weisheitsrede) völlig exakt beschrieben. Bereits im Weisheitsbuch, c 13-15, findet sich der Hinweis auf dieses tödliche Schicksal der antiken Religion und auf die Paradoxie, die in jener Auseinandertrennung von Wahrheit und Frömmigkeit liegt. Paulus greift das dort ausführlich Gesagte in wenigen Versen auf, in denen er das Geschick der antiken Religion aus diesem Zusammenhang der Trennung von Logos und Mythos schildert: »Es ist ja, was an Gott erkennbar ist, unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbar gemacht ... Aber, obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihm nicht als Gott Ehre und Dank erwiesen ... Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Nachbildung eines vergänglichen Menschen, fliegender, vierfüßiger und kriechender Tiere ...«(Rom 1,19-23). (Fs) (notabene)

129b Die Religion geht nicht den Weg des Logos, sondern verharrt bei dem als wirklichkeitslos durchschauten Mythos. Damit war ihr Untergang unvermeidlich; er folgte aus der Abtrennung von der Wahrheit, die dazu führte, dass sie als bloße »institutio vitae«, das heißt als bloße Lebenseinrichtung und Form der Lebensgestaltung, angesehen wurde. Dieser Situation gegenüber hat Tertullian in einem großartig kühnen Wort mit Nachdruck die christliche Position beschrieben, wenn er sagt: »Christus hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Gewohnheit«1. Ich glaube, dass dies einer der wirklich großen Sätze der Väter-Theologie ist. Der Kampf der frühen Kirche und die bleibende Aufgabe, die dem christlichen Glauben gestellt ist, wenn er er selbst bleiben will, ist darin in einzigartiger Dichte zusammengefasst. Der Vergötzung der consuetudo Romana, des »Herkommens« der Stadt Rom, die ihre Gewohnheiten zum selbstgenügsamen Maßstab des Verhaltens machte, tritt der Alleinanspruch der Wahrheit entgegen. Das Christentum hat sich damit entschlossen auf die Seite der Wahrheit gestellt und sich so von einer Vorstellung von Religion abgewandt, die sich damit begnügt, zeremonielle Gestalt zu sein, der man schließlich auf dem Weg der Interpretation auch irgendeinen Sinn beilegen kann. (Fs)

130a Noch ein Hinweis mag das Gesagte verdeutlichen. Die Antike hatte sich schließlich das Dilemma ihrer Religion, ihrer Abgeschiedenheit von der Wahrheit des philosophisch Erkannten, zurechtgelegt in der Idee dreier Theologien, die es gebe: physische, politische und mythische Theologie. Sie hatte das Auseinandertreten von Mythos und Logos gerechtfertigt mit der Rücksicht auf das Empfinden des Volkes und mit der Rücksicht auf den Nutzen des Staates, insofern mythische Theologie zugleich politische Theologie ermögliche. Anders ausgedrückt: Sie hatte in der Tat Wahrheit gegen Gewohnheit, Nützlichkeit gegen Wahrheit gestellt. Die Vertreter der neuplatonischen Philosophie gingen einen Schritt weiter, indem sie den Mythos ontologisch interpretierten, ihn als Symbol-Theologie auslegten und ihn damit auf dem Weg der Auslegung zur Wahrheit hin zu vermitteln versuchten. Aber was nur noch durch Interpretation bestehen kann, hat in Wirklichkeit aufgehört zu bestehen. Der menschliche Geist wendet sich mit Recht der Wahrheit selbst zu und nicht dem, was mit der Methode der Interpretation auf Umwegen als mit der Wahrheit noch vereinbar erklärt werden kann, selbst jedoch keine Wahrheit mehr hat. (Fs)

131a Beide Vorgänge haben etwas bedrängend Gegenwärtiges an sich. In einer Situation, in der die Wahrheit des Christlichen zu entschwinden scheint, zeichnen sich im Kampf um das Christentum heute gerade die beiden Methoden wieder ab, mit denen einst der antike Polytheismus seinen Todeskampf bestritten und nicht bestanden hat. Auf der einen Seite steht der Rückzug aus der Wahrheit der Vernunft in einen Bereich bloßer Frömmigkeit, bloßen Glaubens, bloßer Offenbarung; ein Rückzug, der in Wirklichkeit, gewollt oder ungewollt, zugegeben oder nicht, in fataler Weise dem Rückzug der antiken Religion vor dem Logos, der Flucht vor der Wahrheit in die schöne Gewohnheit, vor der Physis in die Politik gleicht. Auf der anderen Seite steht ein Verfahren, das ich abkürzend als Interpretationschristentum bezeichnen möchte. Hier wird mit der Methode der Interpretation der Skandal des Christlichen aufgelöst und, indem es solchermaßen unanstößig gemacht wird, zugleich auch seine Sache selbst zur verzichtbaren Phrase gemacht, zu einem Umweg, der nicht nötig ist, um das Einfache zu sagen, das hier durch komplizierte Auslegungskünste zu seinem Sinn erklärt wird. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Auferstehung; Paradox der Liebe; Unsterblichkeit im anderen; Zusammenhang: Sünde - Tod; Teilhard de Chardin

Kurzinhalt: Liebe fordert Unendlichkeit, Unzerstörbarkeit, ja sie ist gleichsam ein Schrei nach Unendlichkeit. Damit aber besteht zusammen, dass dieser ihr Schrei unerfüllbar ist, ...; ... was allein Unsterblichkeit zu schaffen vermag: Das Sein im anderen,

Textausschnitt: 4. »Auferstanden von den Toten«

284a Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu Christi ist für den Christen der Ausdruck der Gewissheit, dass das Wort wahr ist, das nur ein schöner Traum zu sein scheint: »Stark wie der Tod ist die Liebe« (Hl 8,6). Im Alten Testament steht dieser Satz im Rahmen einer Lobpreisung der Macht des Eros. Aber das bedeutet keineswegs, dass wir ihn einfach als eine hymnische Übertreibung beiseite tun können. In dem grenzenlosen Anspruch des Eros, in seinen scheinbaren Übertreibungen und Maßlosigkeiten kommt in Wirklichkeit ein Grundproblem, ja das Grundproblem der menschlichen Existenz zur Sprache, insofern das Wesen und die innere Paradoxie der Liebe darin sichtbar werden: Liebe fordert Unendlichkeit, Unzerstörbarkeit, ja sie ist gleichsam ein Schrei nach Unendlichkeit. Damit aber besteht zusammen, dass dieser ihr Schrei unerfüllbar ist, dass sie Unendlichkeit verlangt, aber nicht geben kann; dass sie Ewigkeit beansprucht, aber in Wahrheit in die Todeswelt, in ihre Einsamkeit und in ihre Zerstörungsmacht einbezogen ist. Von hier aus erst kann man verstehen, was »Auferstehung« bedeutet. Sie ist das Stärkersein der Liebe gegenüber dem Tod. (Fs)

284b Zugleich ist sie der Erweis dafür, was allein Unsterblichkeit zu schaffen vermag: Das Sein im anderen, der noch steht, wenn ich zerfallen bin. Der Mensch ist jenes Wesen, das selbst nicht ewig lebt, sondern notwendig dem Tod anheimgegeben ist. Weiterleben kann für ihn, da er in sich selbst nicht Bestand hat, rein menschlich gesprochen doch nur dadurch möglich werden, dass er in einem anderen fortbesteht. Die Aussagen der Schrift über den Zusammenhang von Sünde und Tod sind von hier aus zu begreifen. Denn nun wird klar, dass der Versuch des Menschen, »wie Gott zu sein«, sein Streben nach Autarkie, durch das er nur in sich selber stehen will, seinen Tod bedeutet, denn er selbst steht nun einmal nicht. Wenn der Mensch - was das eigentliche Wesen der Sünde ist - in Verkennung seiner Grenzen dennoch nur ganz aus sich, völlig »autark« sein will, liefert er sich gerade dadurch dem Tode aus. (Fs) (notabene)

285a Natürlich begreift der Mensch dann doch, dass sein Leben allein nicht standhält und dass er so anstreben muss, in anderen zu sein, um durch sie und in ihnen im Land der Lebendigen zu bleiben. Zwei Wege sind vor allem versucht worden. Zunächst das Fortleben in den eigenen Kindern: Von daher kommt es, dass Ehelosigkeit und Kinderlosigkeit bei Naturvölkern als der furchtbarste Ruch gilt; sie bedeuten hoffnungslosen Untergang, endgültigen Tod. Umgekehrt bietet die größtmögliche Kinderzahl zugleich die größtmögliche Chance des Überlebens, Hoffnung auf Unsterblichkeit und so den eigentlichen Segen, den der Mensch erhoffen kann. Ein anderer Weg tut sich auf, wenn der Mensch entdeckt, dass er in seinen Kindern doch nur sehr uneigentlich fortbesteht; er wünscht, dass mehr von ihm selbst bleibe. So flieht er in die Idee des Ruhms, der wirklich ihn selbst unsterblich machen soll, wenn er im Gedächtnis der anderen alle Zeiten hindurch weiterlebt. Aber auch dieser zweite Versuch des Menschen, sich Unsterblichkeit durch das Sein-im-anderen selber zu verschaffen, scheitert nicht weniger als der erste: Was bleibt, ist nicht das Selbst, sondern nur sein Echo, ein Schatten. Und so ist die selbstgeschaffene Unsterblichkeit wirklich nur ein Hades, eine Scheol: mehr Nichtsein als Sein. Das Ungenügen beider Wege gründet darin, dass der andere, der in ein Sein nach meinem Tode festhält, gar nicht dieses Sein selbst, sondern eben nur seinen Nachhall zu tragen vermag; es gründet noch mehr darin, dass auch der andere selbst, dem ich meinen Fortbestand gleichsam anvertraut habe, nicht stehen wird - auch er zerfällt. (Fs) (notabene)

286a Das führt uns zum nächsten Schritt. Wir haben bisher gesehen, dass der Mensch für sich selbst keinen Bestand hat und folglich nur im anderen stehen kann, dass er aber im andern immer nur schattenhaft ist und wieder nicht endgültig, weil auch er zerfällt. Wenn es so ist, dann könnte nur einer wahrhaft Halt geben: derjenige, der »ist«, der nicht wird und vergeht, sondern mitten im Werden und im Vorübergang bleibt: der Gott der Lebendigen, der nicht nur den Schatten und das Echo meines Seins hält, dessen Gedanken nicht bloße Nachbilder des Wirklichen sind. Ich selbst bin sein Gedanke, der gleichsam ursprünglicher mich selber setzt, als ich in mir bin; sein Gedanke ist nicht der nachträgliche Schatten, sondern die Ursprungskraft meines Seins. In ihm kann ich nicht nur als Schatten stehen, sondern in ihm bin ich in Wahrheit näher bei mir, als wenn ich bloß bei mir zu sein versuche. (Fs) (notabene)

286b Bevor wir von hier aus zur Auferstehung zurückkehren, versuchen wir das Gleiche nochmal von einer etwas anderen Seite her zu sehen. Wir können dazu wiederum beim Wort von Liebe und Tod anknüpfen und sagen: Nur wo für jemanden der Wert der Liebe über dem Wert des Lebens steht, das heißt, nur wo jemand bereit ist, das Leben zurückzustellen hinter der Liebe und um der Liebe willen, nur da kann sie auch stärker und mehr sein als der Tod. Damit sie mehr werden kann als der Tod, muss sie zuerst mehr sein als das bloße Leben. Wo sie das aber dann nicht bloß dem Wollen, sondern der Wirklichkeit nach zu sein vermöchte, da würde das zugleich heißen, dass die Macht der Liebe sich über die bloße Macht des Biologischen erhoben und sie in ihren Dienst genommen hätte. In der Terminologie von Teilhard de Chardin gesprochen: Wo das stattfände, da wäre die entscheidende »Komplexität« und Komplexion geschehen; da wäre auch der Bios umgriffen und einbegriffen von der Macht der Liebe. Da würde sie seine Grenze - den Tod - überschreiten und Einheit schaffen, wo er trennt. Wenn die Kraft der Liebe zum andern irgendwo so stark wäre, dass sie nicht nur dessen Gedächtnis, den Schatten seines Ich, sondern ihn selbst lebendig zu halten vermöchte, dann wäre eine neue Stufe des Lebens erreicht, die den Raum der biologischen Evolutionen und Mutationen hinter sich ließe und den Sprung auf eine ganz andere Ebene bedeuten würde, in der Liebe nicht mehr unter dem Bios stünde, sondern sich seiner bediente. Eine solche letzte »Mutations«- und »Evolutions«stufe wäre dann selbst keine biologische Stufe mehr, sondern würde den Ausbruch aus der Alleinherrschaft des Bios bedeuten, die zugleich Todesherrschaft ist; sie würde jenen Raum eröffnen, den die griechische Bibel »Zoe« nennt, das heißt endgültiges Leben, welches das Regiment des Todes hinter sich gelassen hat. Die letzte Stufe der Evolution, deren die Welt bedarf, um an ihr Ziel zu kommen, würde dann nicht mehr innerhalb des Biologischen geleistet, sondern vom Geist, von der Freiheit, von der Liebe. Sie wäre nicht mehr Evolution, sondern Entscheidung und Geschenk in einem. (Fs) (notabene)

287a Aber was hat das alles mit dem Glauben an die Auferstehung Jesu zu tun? Nun, wir hatten bisher die Frage der möglichen Unsterblichkeit des Menschen von zwei Seiten her bedacht, die sich freilich jetzt als Aspekte ein und desselben Sachverhalts erweisen. Wir hatten gesagt, da der Mensch in sich selbst keinen Bestand hat, könne sein Weiterleben nur dadurch zustande kommen, dass er in einem anderen fortlebt. Und wir hatten, von diesem »anderen« her, gesagt, nur die Liebe, die den Geliebten in sich selbst, ins Eigene aufnimmt, könne dieses Sein im andern ermöglichen. Diese beiden sich ergänzenden Aspekte spiegeln sich, wie mir scheint, wider in den zwei neutestamentlichen Aussageformen für die Auferstehung des Herrn: »Jesus ist auferstanden« und »Gott (der Vater) hat Jesus auferweckt«. Beide Formeln treffen sich in der Tatsache, dass die totale Liebe Jesu zu den Menschen, die ihn ans Kreuz führt, sich in der totalen Überschreitung auf den Vater hin vollendet und darin stärker wird als der Tod, weil sie darin zugleich totales Gehaltensein von ihm ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Auferstehung; Liebe - Unsterblichkeit; Bios - Zoe; nach der Auferstehung: "Erscheinungen"; Dialektik der Aussagen; Emmaus

Kurzinhalt: Liebe gründet Unsterblichkeit, und Unsterblichkeit kommt allein aus Liebe; Darum sind die Begegnungen mit ihm »Erscheinungen«

Textausschnitt: 288a Von hier aus ergibt sich ein weiterer Schritt. Wir können jetzt sagen, dass die Liebe immer irgendeine Art von Unsterblichkeit gründet, selbst schon in ihren vormenschlichen Vorstufen weist sie als Erhaltung der Art in diese Richtung. Ja, solches Gründen von Unsterblichkeit ist nichts Beiläufiges für sie, nicht etwas, das sie unter anderem auch tut, sondern es macht recht eigentlich ihr Wesen aus. Dieser Satz ist umkehrbar und besagt dann, dass Unsterblichkeit immer aus Liebe hervorkommt, nie aus der Autarkie dessen, das sich selbst genügt. Wir dürfen sogar verwegen genug sein, zu behaupten, dass dieser Satz, recht verstanden, selbst noch in Bezug auf Gott zutrifft, wie ihn der christliche Glaube sieht. Auch Gott ist deshalb allem Vergehenden gegenüber schlecht-hinniges Stehen und Bestehen, weil er Zuordnung der drei Personen aufeinander, ihr Aufgehen im Füreinander der Liebe ist, Akt-Substanz der absoluten und darin ganz »relativen« und nur im Bezogensein aufeinander lebenden Liebe. Nicht die Autarkie, die niemand als sich selber kennt, ist göttlich, so sagten wir früher; die Revolution des christlichen Welt- und Gottesbildes gegenüber der Antike fanden wir darin, dass es das »Absolute« als absolute »Relativität«, als »Relatio subsistens«, verstehen lehrt. (Fs) (notabene) (notabene)

288b Kehren wir zurück. Liebe gründet Unsterblichkeit, und Unsterblichkeit kommt allein aus Liebe. Diese Aussage, die wir nun erarbeitet haben, bedeutet dann ja auch, dass der, der für alle geliebt hat, für alle Unsterblichkeit gegründet hat. Das genau ist der Sinn der biblischen Aussage, dass seine Auferstehung unser Leben ist. Die für unser Empfinden zunächst so eigenartige Argumentation des heiligen Paulus in seinem ersten Korintherbrief wird von hier aus verständlich: Wenn er auferstanden ist, dann auch wir, denn dann ist die Liebe stärker als der Tod; wenn er nicht auferstanden ist, dann auch wir nicht, denn dann bleibt es dabei, dass der Tod das letzte Wort hat, nichts sonst (vgl. 1 Kor 15,16 f). Dolmetschen wir es uns, da es um eine zentrale Aussage geht, nochmals auf andere Weise: Entweder ist Liebe stärker als der Tod, oder sie ist es nicht. Wenn sie es in ihm geworden ist, dann gerade als Liebe für die anderen. Das heißt dann freilich auch, dass unsere eigene, allein gelassene Liebe nicht ausreicht, den Tod zu überwinden, sondern für sich genommen ein unerfüllter Ruf bleiben müsste. Es bedeutet, dass allein seine mit Gottes eigener Lebens- und Liebesmacht ineinander fallende Liebe unsere Unsterblichkeit gründen kann. Trotzdem bleibt dabei bestehen, dass die Weise unserer Unsterblichkeit von unserer Weise zu lieben abhängen wird. Darauf werden wir bei dem Abschnitt über das Gericht zurückkommen müssen. (Fs) (notabene)

288b Kehren wir zurück. Liebe gründet Unsterblichkeit, und Unsterblichkeit kommt allein aus Liebe. Diese Aussage, die wir nun erarbeitet haben, bedeutet dann ja auch, dass der, der für alle geliebt hat, für alle Unsterblichkeit gegründet hat. Das genau ist der Sinn der biblischen Aussage, dass seine Auferstehung unser Leben ist. Die für unser Empfinden zunächst so eigenartige Argumentation des heiligen Paulus in seinem ersten Korintherbrief wird von hier aus verständlich: Wenn er auferstanden ist, dann auch wir, denn dann ist die Liebe stärker als der Tod; wenn er nicht auferstanden ist, dann auch wir nicht, denn dann bleibt es dabei, dass der Tod das letzte Wort hat, nichts sonst (vgl. 1 Kor 15,16 f). Dolmetschen wir es uns, da es um eine zentrale Aussage geht, nochmals auf andere Weise: Entweder ist Liebe stärker als der Tod, oder sie ist es nicht. Wenn sie es in ihm geworden ist, dann gerade als Liebe für die anderen. Das heißt dann freilich auch, dass unsere eigene, allein gelassene Liebe nicht ausreicht, den Tod zu überwinden, sondern für sich genommen ein unerfüllter Ruf bleiben müsste. Es bedeutet, dass allein seine mit Gottes eigener Lebens- und Liebesmacht ineinander fallende Liebe unsere Unsterblichkeit gründen kann. Trotzdem bleibt dabei bestehen, dass die Weise unserer Unsterblichkeit von unserer Weise zu lieben abhängen wird. Darauf werden wir bei dem Abschnitt über das Gericht zurückkommen müssen. (Fs) (notabene)

289a Aus dem bisher Bedachten geht noch ein Weiteres hervor. Es versteht sich von da aus von selber, dass das Leben des Auferstandenen nicht wieder »Bios«, die biologische Form unseres innergeschichtlichen Todeslebens ist, sondern »Zoe«, neues, anderes, endgültiges Leben; Leben, das den Todesraum der Bios-Geschichte überschritten hat, der hier durch eine größere Macht überstiegen worden ist. Die Auferstehungsberichte des Neuen Testaments lassen uns denn auch ganz deutlich erkennen, dass das Leben des Auferstandenen nicht innerhalb der Bios-Geschichte liegt, sondern außerhalb und oberhalb davon. Ebenso gilt freilich, dass sich dies neue Leben in der Geschichte bezeugt hat und bezeugen musste, weil es ja für sie da ist und christliche Verkündigung im Grunde nichts anderes ist als das Weitergeben dieses Zeugnisses, dass Liebe hier den Durchbruch durch den Tod vermocht und so unser aller Situation von Grund auf gewandelt hat. Von diesen Einsichten aus ist es nicht mehr schwer, die rechte »Hermeneutik« für das schwierige Geschäft der Auslegung der biblischen Auferstehungstexte zu finden, das heißt Klarheit zu gewinnen, in welcher Richtung sie sinngerecht verstanden werden müssen. Selbstverständlich können wir hier nicht eine ins Einzelne gehende Diskussion der entsprechenden Fragen versuchen, die sich heute schwieriger darstellen denn je zuvor, zumal historische und - meist ungenügend reflektierte - philosophische Aussagen immer unentwirrbarer ineinander gemengt werden und Exegese sich nicht selten ihre eigene Philosophie schafft, die dem Außenstehenden als eine aufs Letzte verfeinerte Erhebung des biblischen Befundes erscheinen soll. Im Einzelnen wird hier immer vieles diskutabel bleiben, aber eine grundsätzliche Grenze zwischen Auslegung, die Auslegung bleibt, und eigenmächtigen Adaptationen ist durchaus zu erkennen. (Fs)

290a Es ist zunächst völlig klar, dass Christus bei der Auferstehung nicht wieder in sein voriges irdisches Leben zurückgekehrt ist, wie solches etwa vom Jüngling zu Naim und von Lazarus gesagt wird. Er ist auferstanden ins endgültige Leben hinein, das nicht mehr den chemischen und biologischen Gesetzen eingefügt ist und deswegen außerhalb der Todesmöglichkeit steht, in jener Ewigkeit, welche die Liebe gibt. Darum sind die Begegnungen mit ihm »Erscheinungen«; darum wird der, mit dem man noch zwei Tage zuvor zu Tische gesessen war, von seinen besten Freunden nicht wiedererkannt und bleibt auch als Erkannter fremd: Nur wo er das Sehen gibt, wird er gesehen; nur wo er die Augen auftut und das Herz sich auftun lässt, kann mitten in unserer Todeswelt das Angesicht der todesüberwindenden ewigen Liebe erkennbar werden und in ihr die neue, die andere Welt: die Welt des Kommenden. Darum auch ist es für die Evangelien so schwierig, ja geradezu unmöglich, die Begegnungen mit dem Auferstandenen zu beschreiben; darum stammeln sie nur noch, wenn sie davon reden, und scheinen sich zu widersprechen, wenn sie sie darstellen. In Wirklichkeit sind sie überraschend einheitlich in der Dialektik ihrer Aussagen, in der Gleichzeitigkeit von Berühren und Nichtberühren, von Erkennen und Nichterkennen, von völliger Identität zwischen Gekreuzigtem und Auferstandenem und völliger Verwandeltheit. Man erkennt den Herrn und erkennt ihn doch wieder nicht; man berührt ihn, und er ist doch der Unberührbare; er ist derselbe und doch ganz anders. Diese Dialektik ist, wie gesagt, immer die gleiche; nur die Stilmittel, mit denen sie ins Wort gebracht wird, wechseln. (Fs) (notabene)

291a Sehen wir uns etwa die Geschichte von den Emmaus-Jüngern, [...]


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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Himmel, Hölle; Himmelfahrt - Höllenfahrt; Auferstehung; Dreistöckigkeit der Welt - metaphysische Realität;

Kurzinhalt: Hölle, Existieren in der endgültigen Verweigerung des »Seins-für«; Hölle ist das Nur-selbst-sein-Wollen; Der »Himmel« ist vom Wesen her das nicht Selbstgemachte

Textausschnitt: 293a Die Rede von der Himmelfahrt bedeutet unserer von Bultmann kritisch erweckten Generation zusammen mit derjenigen vom Höllenabstieg den Ausdruck jenes dreistöckigen Weltbildes, das wir mythisch nennen und für definitiv überwunden ansehen. Die Welt ist »oben« und »unten« überall nur Welt, überall von denselben physikalischen Gesetzen regiert, überall grundsätzlich auf dieselbe Art erforschbar. Sie hat keine Stockwerke, und die Begriffe »oben« und »unten« sind relativ, abhängig vom Standort des Beobachters. Ja, da es keinen absoluten Bezugspunkt gibt (und die Erde ganz gewiss keinen solchen darstellt), kann man im Grund überhaupt nicht mehr von »oben« und »unten« - oder auch von »links« und »rechts« sprechen; der Kosmos weist keine festen Richtungen mehr auf. (Fs)

293b Niemand wird heute im Ernst mehr solche Einsichten bestreiten wollen. Eine örtlich verstandene Dreistöckigkeit der Welt gibt es nicht mehr. Aber ist sie denn eigentlich gemeint gewesen in den Glaubensaussagen von Höllenabstieg und Himmelfahrt des Herrn? Sicher hat sie das Vorstellungsmaterial dafür geliefert, aber das sachlich Entscheidende war sie ebenso sicher nicht. Die beiden Sätze drücken vielmehr, zusammen mit dem Bekenntnis zum geschichtlichen Jesus, die Gesamtdimension des menschlichen Daseins aus, das zwar nicht drei kosmische Stockwerke, wohl aber drei metaphysische Dimensionen umspannt. Insofern ist es umgekehrt konsequent, dass die augenblicklich sich modern dünkende Einstellung nicht nur Himmelfahrt und Höllenabstieg, sondern auch den geschichtlichen Jesus beiseite räumt, das heißt alle drei Dimensionen des menschlichen Daseins; was übrig bleibt, kann nur noch ein verschieden drapiertes Gespenst sein, auf das nicht zufällig niemand mehr ernstlich bauen will. (Fs) (notabene)

294a Was aber sagen denn unsere drei Dimensionen wirklich? Wir haben uns bereits früher klargemacht, dass die Höllenfahrt nicht eigentlich auf eine äußere Tiefe des Kosmos verweist; diese ist völlig entbehrlich für sie: In dem grundlegenden Text, dem Gebet des Gekreuzigten zu dem Gott, der ihn verlassen hat, fehlt jede kosmische Anspielung. Unser Satz lenkt unseren Blick vielmehr hin auf die Tiefe der menschlichen Existenz, die in den Todesgrund, in die Zone der unberührbaren Einsamkeit und der verweigerten Liebe hinabreicht und damit die Dimension der Hölle umschließt, sie als Möglichkeit ihrer selbst in sich trägt. Hölle, Existieren in der endgültigen Verweigerung des »Seins-für«, ist nicht eine kosmographische Bestimmtheit, sondern eine Dimension der menschlichen Natur, ihr Abgrund, in den sie hinunterreicht. Mehr denn je wissen wir heute, dass eines jeden Existenz diese Tiefe berührt; da die Menschheit im Letzten »ein Mensch« ist, geht diese Tiefe freilich nicht nur den Einzelnen an, sondern betrifft den einen Körper des Menschengeschlechtes insgesamt, das diese Tiefe daher als Ganzes mitaustragen muss. Von hier aus ist noch einmal zu verstehen, dass Christus, der »neue Adam«, diese Tiefe mitzutragen unternommen hat und nicht in erhabener Unberührtheit von ihr getrennt bleiben wollte; umgekehrt ist freilich jetzt erst die totale Verweigerung in ihrer vollen Abgründigkeit möglich geworden. (Fs)

295a Die Himmelfahrt Christi hinwiederum verweist auf das andere Ende der nach oben und unten unendlich über sich selbst ausgestreckten menschlichen Existenz. Als Gegenpol zur radikalen Vereinsamung, zur Unberührbarkeit der verweigerten Liebe, trägt diese Existenz die Möglichkeit der Berührung mit allen anderen Menschen in der Berührung mit der göttlichen Liebe in sich, sodass das Menschsein gleichsam seinen geometrischen Ort im Innern des Selbstseins Gottes finden kann. Freilich sind die beiden Möglichkeiten des Menschen, die so in den Worten Himmel und Hölle vor den Blick kommen, von je völlig anderer Art, auf ganz unterschiedliche Weise Möglichkeiten des Menschen. Die Tiefe, die wir Hölle nennen, kann nur der Mensch sich selber geben. Ja, wir müssen es schärfer ausdrücken: Sie besteht förmlich darin, dass er nichts empfangen und gänzlich autark sein will. Sie ist der Ausdruck der Verschließung ins bloß Eigene. Das Wesen dieser Tiefe besteht demnach eben darin, dass der Mensch nicht empfangen will, dass er nichts nehmen, sondern nur gänzlich auf sich selbst stehen, sich selbst genügen möchte. Wenn diese Haltung letzte Radikalität gewinnt, dann ist er der Unberührbare, der Einsame, der Verweigerte geworden. Hölle ist das Nur-selbst-sein-Wollen, das, was wird, wenn der Mensch sich ins Eigene versperrt. Umgekehrt ist es das Wesen jenes Oben, das wir Himmel genannt haben, dass es nur empfangen werden kann, so wie man sich die Hölle nur selbst zu geben vermag. Der »Himmel« ist vom Wesen her das nicht Selbstgemachte und Selbstmachbare; in der Sprache der Schule hatte man gesagt, er sei als Gnade ein »donum indebitum et superadditum naturae« (ein un-geschuldet der Natur dreingegebenes Geschenk). Der Himmel kann als erfüllte Liebe dem Menschen immer nur geschenkt werden; seine Hölle aber ist die Einsamkeit dessen, der das nicht annehmen will, der den Bettlerstatus verweigert und sich auf sich selbst zurückzieht. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Zusammenhang: Himmel - Himmelfahrt; Definition: Himmel; Naheschatologie; Naherwartung; Jenseits - Diesseits; Bittgebet; Ewigkeit

Kurzinhalt: Der Himmel ist zu definieren als das Sichberühren des Wesens Mensch mit dem Wesen Gott; Ewigkeit steht nicht etwa beziehungslos neben der Zeit, sondern sie ist die schöpferisch tragende Macht aller Zeit ...

Textausschnitt: 296a Von hier aus lässt sich nun überhaupt erst zeigen, was christlich gesehen eigentlich mit Himmel gemeint ist. Er ist nicht zu verstehen als ein ewiger, überweltlicher Ort, aber auch nicht einfach als eine ewige metaphysische Region. Wir müssen vielmehr sagen, dass die Wirklichkeiten »Himmel« und »Himmelfahrt Christi« untrennbar zusammenhängen; erst von diesem Zusammenhang her wird der christologische, personale, geschichtsbezogene Sinn der christlichen Botschaft vom Himmel deutlich. Setzen wir noch einmal anders an: Himmel ist nicht ein Ort, der vor der Himmelfahrt Christi aus einem positivistischen Strafdekret Gottes heraus abgesperrt gewesen wäre, um dann eines Tages ebenso positivistisch aufgeschlossen zu werden. Die Wirklichkeit Himmel entsteht vielmehr allererst durch das Ineinstreten von Gott und Mensch. Der Himmel ist zu definieren als das Sichberühren des Wesens Mensch mit dem Wesen Gott; dieses Ineinstreten von Gott und Mensch ist in Christus mit seinem Überschritt über den Bios durch den Tod hindurch zum neuen Leben endgültig geschehen. Himmel ist demnach jene Zukunft des Menschen und der Menschheit, die diese sich nicht selbst geben kann, die ihr daher, solange sie nur auf sich selbst wartet, verschlossen ist und die erstmals und grundlegend eröffnet worden ist in dem Menschen, dessen Existenzort Gott war und durch den Gott ins Wesen Mensch eingetreten ist. (Fs) (notabene)

[...] Eine der auffälligsten Gegebenheiten des biblischen Befundes, wovon Exegese und Theologie seit etwa einem halben Jahrhundert zutiefst bedrängt und umgetrieben werden, bildet die so genannte Naheschatologie; das will sagen: In der Botschaft Jesu und der Apostel sieht es so aus, als würde das Weltende als unmittelbar bevorstehend angekündigt. Ja, man kann den Eindruck gewinnen, dass die Botschaft vom nahen Ende sogar der eigentliche Kern der Predigt Jesu und der beginnenden Kirche gewesen sei. Die Gestalt Jesu, sein Tod und seine Auferstehung werden in einer Weise mit dieser Vorstellung in Verbindung gebracht, die uns ebenso befremdlich wie unverständlich ist. Selbstverständlich kann hier nicht im Einzelnen auf den weit erstreckten Fragebereich eingegangen werden, der damit berührt ist. Aber ist nicht mit unseren letzten Überlegungen der Weg sichtbar geworden, auf dem dafür die Antwort gesucht werden kann? Wir haben Auferstehung und Himmelfahrt beschrieben als das endgültige Ineinandertreten des Wesens Mensch mit dem Wesen Gott, das dem Menschen die Möglichkeit immerwährenden Seins eröffnet. Wir haben beides zu verstehen versucht als das Stärkersein der Liebe gegenüber dem Tod und so als die entscheidende »Mutation« von Mensch und Kosmos, in der die Biosgrenze aufgebrochen und ein neuer Daseinsraum geschaffen ist. Wenn das alles zutrifft, dann bedeutet es den Beginn der »Eschatologie«, des Weltendes. Mit der Überschreitung der Todesgrenze ist die Zukunftsdimension der Menschheit eröffnet, ihre Zukunft hat in der Tat schon begonnen. So wird aber auch sichtbar, wie die Unsterblichkeitshoffnung des Einzelnen und die Ewigkeitsmöglichkeit der Menschheit insgesamt ineinander greifen und beides sich in Christus trifft, der ebenso die »Mitte« wie, recht verstanden, das »Ende« der Geschichte heißen darf. [...]

299a Das heutige Denken lässt sich meist von der Vorstellung leiten, dass die Ewigkeit gleichsam in ihre Unveränderlichkeit eingeschlossen sei; Gott erscheint als der Gefangene seines »vor allen Zeiten« gefassten ewigen Planes. »Sein« und »Werden« vermischen sich nicht. Ewigkeit wird so rein negativ verstanden als Zeitlosigkeit, als das andere gegenüber der Zeit, das schon deshalb nicht in die Zeit einwirken kann, weil es damit ja aufhören würde, unveränderlich zu sein, und selbst zeitlich würde. Diese Gedanken verbleiben im Grund in einer vorchristlichen Auffassung, in welcher der Gottesbegriff gar nicht zur Kenntnis genommen ist, der sich im Glauben an Schöpfung und Menschwerdung zu Worte meldet. Sie setzen - was hier nicht ausgeführt werden kann - letztlich den antiken Dualismus voraus, und sie sind Zeichen einer denkerischen Naivität, die Gott doch wieder nach Menschenweise betrachtet. Denn wenn man meint, was Gott »vor« Ewigkeit geplant habe, könne er nicht nachträglich wieder ändern, so wird Ewigkeit unvermerkt doch wieder mit dem Schema der Zeit, im Unterscheiden von »Vor« und »Nach«, gedacht. (Fs)

299b Ewigkeit aber ist nicht das Uralte, das vor der Zeit war, sondern sie ist das ganz Andere, das zu jeder vorübergehenden Zeit sich als ihr Heute verhält, ihr wirklich heutig ist; sie ist nicht selbst wieder in ein Vor und Nach versperrt, sie ist vielmehr die Macht der Gegenwart in aller Zeit. Ewigkeit steht nicht etwa beziehungslos neben der Zeit, sondern sie ist die schöpferisch tragende Macht aller Zeit, die die vorübergehende Zeit in ihrer einigen Gegenwart umspannt und ihr so das Seinkönnen gibt. Sie ist nicht Zeitlosigkeit, sondern Zeitmächtigkeit. Als das Heute, das allen Zeiten gleichzeitig ist, kann sie auch in jede Zeit hineinwirken. (Fs)

299c Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, kraft deren der ewige Gott und der zeithafte Mensch in einer einzigen Person ineinander treten, ist nichts anderes als die letzte Konkretwerdung der Zeitmächtigkeit Gottes. Gott hat an diesem Punkt der menschlichen Existenz Jesu die Zeit ergriffen und in sich selbst hineingezogen. Seine Zeitmächtigkeit steht gleichsam leibhaftig vor uns in ihm. Christus ist wirklich, wie es das Johannesevangelium sagt, die »Tür« zwischen Gott und Mensch (Jo 10,9), ihr »Mittler« (1 Tim 2,5), in dem der Ewige Zeit hat. In Jesus können wir Zeitliche den Zeitlichen anreden, unseren Zeitgenossen; in ihm, der mit uns Zeit ist, berühren wir aber zugleich den Ewigen, weil er mit uns Zeit und mit Gott Ewigkeit ist. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Bultmann; Kosmos - Geist -> Weltgeschichte; Komplexion; Notwendigkeit: "Positivismus" der Christologie; der Einzelne als Mitte der Geschichte

Kurzinhalt: ... zu richten die Lebendigen und die Toten; dass der Kosmos Bewegung ist; dass es nicht bloß in ihm eine Geschichte gibt, sondern ...; Dies einzusehen rechtfertigt auch noch einmal den scheinbaren Positivismus der Christologie ...

Textausschnitt: 301a Rudolf Bultmann rechnet, wie Höllenfahrt und Himmelfahrt des Herrn, auch den Glauben an »das Ende der Welt« durch die richtende Wiederkunft des Herrn zu jenen Vorstellungen, die für den modernen Menschen »erledigt« sind: Jeder Vernünftige sei davon überzeugt, dass die Welt weitergehe, wie sie nun schon fast zweitausend Jahre nach der eschatologischen Verkündigung des Neuen Testamentes weitergegangen ist. Eine solche Bereinigung des Denkens scheint hier um so mehr gefordert zu sein, als die biblische Botschaft in dieser Sache unbestreitbar auch stark kosmologische Elemente enthält, also in jenen Bereich ausgreift, den wir als das Feld der Naturwissenschaften vor Augen haben. Zwar bedeutet in der Redeweise vom Weltende das Wort »Welt« zunächst nicht den physikalischen Bau des Kosmos, sondern die Menschenwelt, die menschliche Geschichte; unmittelbar will diese Redeweise also sagen, dass diese Art von Welt - die Menschenwelt - an ein von Gott verfügtes und vollzogenes Ende kommen werde. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Bibel dieses wesentlich anthropologische Ereignis in kosmologischen (zum Teil auch in politischen) Bildern vorstellt. Wieweit es sich dabei nur um Bilder handelt und wieweit die Bilder doch die Sache selbst
betreffen, wird schwer zu entscheiden sein. (Fs)

301b Sicher kann man darüber nur vom größeren Zusammenhang der ganzen Weltansicht der Bibel her etwas sagen. Für sie aber sind Kosmos und Mensch gar nicht zwei reinlich trennbare Größen, sodass der Kosmos etwa den zufälligen Schauplatz des Menschseins bilden würde, das man an sich auch davon abtrennen und weltlos sich vollziehen lassen könnte. Welt und Menschsein gehören vielmehr beide notwendig zueinander, sodass weder ein weltloses Menschsein noch auch eine menschenlose Welt denkbar erscheint. Das Erste ist uns heute wieder ohne weiteres einsichtig; das Zweite sollte uns, etwa nach den Belehrungen, die wir von Teilhard empfangen haben, auch nicht mehr ganz unverständlich bleiben. Von da aus möchte man versucht sein, zu sagen, dass die biblische Botschaft vom Weltende und von der Wiederkunft des Herrn nicht einfach Anthropologie in kosmischen Bildern sei; auch nicht bloß einen kosmologischen Aspekt neben einem anthropologischen aufweise, sondern in der inneren Konsequenz der biblischen Gesamtansicht das Ineinsfallen von Anthropologie und Kosmologie in der definitiven Christologie und eben darin das Ende der »Welt« darstelle, die in ihrer zweieinigen Konstruktion aus Kosmos und Mensch immer schon auf diese Einheit als ihren Zielpunkt verweist. Kosmos und Mensch, die je schon zueinander gehören, wenn sie auch so oft gegeneinander stehen, werden eins sein durch ihre Komplexion im Größeren der den Bios überschreitenden und umgreifenden Liebe, wie wir vorhin sagten: Damit wird hier noch einmal sichtbar, wie sehr das End-Eschatologische und der in der Auferstehung Jesu geschehene Durchbruch real eins sind; es wird noch einmal deutlich, dass das Neue Testament mit Recht diese Auferstehung als das Eschatologische hinstellt. (Fs)

302a Um vorwärts zu kommen, müssen wir unseren Gedanken noch etwas deutlicher auseinander falten. Wir hatten eben gesagt, der Kosmos sei nicht bloß ein äußerer Rahmen der menschlichen Geschichte, nicht ein statisches Gebilde - eine Art Behälter, in dem allerlei Lebewesen vorkommen, die man an sich auch ebensogut in einen anderen Behälter umfüllen könnte. Das bedeutet positiv, dass der Kosmos Bewegung ist; dass es nicht bloß in ihm eine Geschichte gibt, sondern dass er selbst Geschichte ist: Er bildet nicht bloß den Schauplatz der menschlichen Geschichte, sondern ist selbst vor ihr schon und mit ihr dann »Geschichte«. Letztlich gibt es nur eine einzige umfassende Welt-geschichte, die in allem Auf und Ab, in allem Vorwärts und Rückwärts, das sie aufweist, doch eine Gesamtrichtung hat und »vorwärts«geht. Gewiss, für denjenigen, der nur einen Ausschnitt sieht, erscheint dieses Stück, selbst wenn es verhältnismäßig groß sein mag, nur wie ein Kreisen im ständig Gleichen. Eine Richtung ist nicht zu erkennen. Erst wer anfängt, das Ganze zu sehen, bemerkt sie. In dieser kosmischen Bewegung aber ist, wie wir früher schon sahen, der Geist nicht irgendein zufälliges Nebenprodukt der Entwicklung, das fürs Ganze nichts zu bedeuten hätte; vielmehr konnten wir feststellen, dass in ihr die Materie und deren Entfaltung die Vorgeschichte des Geistes bilden. (Fs)

303a Der Glaube an die Wiederkunft Jesu Christi und an die Vollendung der Welt in ihr ließe sich von da aus erklären als die Überzeugung, dass unsere Geschichte auf einen Punkt Omega zuschreitet, in dem endgültig deutlich und unübersehbar sein wird, dass jenes Stabile, das uns gleichsam als der tragende Wirklichkeitsboden erscheint, nicht die bloße, ihrer selbst nicht bewusste Materie ist, sondern dass der eigentliche, feste Boden der Sinn ist: Er hält das Sein zusammen, er gibt ihm Wirklichkeit, ja, er ist die Wirklichkeit - nicht von unten, sondern von oben her empfängt das Sein seinen Bestand. Dass es diesen Vorgang der Komplexion des materiellen Seins durch den Geist und von diesem her dessen Zusammenfassung in eine neue Form der Einheit gibt, können wir in gewissem Sinn schon heute erfahren in der Umschaffung der Welt, wie sie sich durch die Technik zuträgt. In der Manipulierbarkeit des Wirklichen beginnen sich uns bereits die Grenzen zwischen Natur und Technik zu verwischen, beides ist nicht mehr eindeutig voneinander zu trennen. Gewiss ist dieses Analogon in mehr als einer Hinsicht fragwürdig zu nennen. Dennoch deutet sich uns in solchen Vorgängen eine Weltgestalt an, in der Geist und Natur nicht einfach nebeneinander stehen, sondern in einer neuen Komplexion der Geist das scheinbar bloß Naturale in sich einbezieht und damit eine neue Welt erschafft, die zugleich notwendig den Untergang der alten bedeutet. Nun ist das Weltende, an das der Christ glaubt, gewiss etwas ganz anderes als der totale Sieg der Technik. Aber die Verschmelzung von Natur und Geist, die in ihr geschieht, ermöglicht uns doch, auf neue Weise zu erfassen, in welcher Richtung die Wirklichkeit des Glaubens an die Wiederkunft Christi zu denken ist: als Glaube an die endgültige Vereinigung des Wirklichen vom Geist her. (Fs)

304a Damit eröffnet sich ein weiterer Schritt. Wir hatten gesagt, dass Natur und Geist eine einzige Geschichte bilden, die so voranschreitet, dass der Geist immer mehr als das alles Umgreifende sich erweist und so konkret Anthropologie und Kosmologie schließlich ineinander münden. Diese Behauptung von der zunehmenden Komplexion der Welt durch den Geist bedeutet aber notwendig ihre Vereinigung auf eine personale Mitte hin, denn der Geist ist nicht irgendein unbestimmtes Etwas, sondern wo er in seiner Eigentlichkeit existiert, besteht er als Individualität, als Person. Zwar gibt es so etwas wie »objektiven Geist«, Geist investiert in Maschinen, in Werke vielfältigster Art; aber in all diesen Fällen besteht der Geist nicht in der ihm ursprünglichen Form: »objektiver Geist« ist immer abkünftig von subjektivem Geist, er verweist zurück auf Person, die einzig eigentliche Existenzweise des Geistes. Die Behauptung, dass die Welt auf eine Komplexion durch den Geist zugehe, schließt also die Aussage ein, dass der Kosmos auf eine Vereinigung im Personalen zugeht. (Fs) (notabene)

304b Das aber bestätigt noch einmal den unendlichen Vorrang des Einzelnen vor dem Allgemeinen. Dieses früher entwickelte Prinzip zeigt sich hier wiederum in seinem ganzen Gewicht. Die Welt bewegt sich auf die Einheit in der Person zu. Das Ganze erhält seinen Sinn vom Einzelnen und nicht umgekehrt. Dies einzusehen rechtfertigt auch noch einmal den scheinbaren Positivismus der Christologie, jene für die Menschen aller Zeiten so skandalöse Überzeugung, die einen Einzelnen zur Mitte der Geschichte und des Ganzen macht. Dieser »Positivismus« erweist sich hier erneut in seiner inneren Notwendigkeit: Wenn es wahr ist, dass am Ende der Triumph des Geistes steht, das heißt der Triumph der Wahrheit, Freiheit, Liebe, dann ist es nicht irgendeine Kraft, die am Schluss den Sieg davonträgt, dann ist es ein Antlitz, das am Ende steht. Dann ist das Omega der Welt ein Du, eine Person, ein Einzelner. Dann ist die allumgreifende Komplexion, die unendlich alles umfassende Vereinigung, zugleich die endgültige Verneinung alles Kollektivismus, die Verneinung jedes Fanatismus der bloßen Idee, auch einer so genannten Idee des Christentums. Immer hat der Mensch, die Person, den Vorrang vor der bloßen Idee. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Kosmos - Geist: Verantwortung - Gericht; Herr-Herr-Sagen;

Kurzinhalt: ... dass das Endstadium der Welt nicht Ergebnis einer naturalen Strömung ist, sondern Ergebnis von Verantwortung, die in Freiheit gründet.

Textausschnitt: 305a Das schließt eine weitere und sehr wesentliche Konsequenz ein. Wenn der Durchbruch in die Ultrakomplexität des Letzten auf Geist und Freiheit gegründet ist, dann ist er keinesfalls eine neutrale, kosmische Drift, dann schließt er Verantwortung mit ein. Er geschieht nicht wie ein physikalischer Prozess von selbst, sondern beruht auf Entscheidungen. Deshalb ist die Wiederkunft des Herrn nicht nur Heil, nicht nur das alles ins Lot bringende Omega, sondern auch Gericht. Ja, wir können von hier aus geradezu den Sinn der Rede vom Gericht definieren. Sie besagt genau dies, dass das Endstadium der Welt nicht Ergebnis einer naturalen Strömung ist, sondern Ergebnis von Verantwortung, die in Freiheit gründet. Von solchen Zusammenhängen her wird man auch verstehen müssen, warum das Neue Testament trotz seiner Gnadenbotschaft daran festgehalten hat, dass am Ende die Menschen »nach ihren Werken« gerichtet werden und dass niemand sich dieser Rechenschaft über seine Lebensführung entziehen kann. Es gibt eine Freiheit, die auch von der Gnade nicht aufgehoben, ja, von ihr ganz zu sich selbst gebracht wird: Das endgültige Geschick des Menschen wird ihm nicht an seiner Lebensentscheidung vorbei aufgedrängt. Diese Aussage ist im Übrigen gerade auch als Grenze gegenüber einem falschen Dogmatismus und einer falschen christlichen Selbstsicherheit notwendig. Nur sie hält die Gleichheit der Menschen fest, indem sie die Identität ihrer Verantwortung festhält. Seit den Tagen der Kirchenväter war und ist es eine entscheidende Aufgabe christlicher Verkündigung, diese Identität der Verantwortung ins Bewusstsein zu rücken und sie dem falschen Vertrauen auf das »Herr-Herr-Sagen« entgegenzustellen. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Historismus - Glaube; Glaube als Faktum oder Faciendum (G. als Geschichte oder Medium d. Weltveränderung)

Kurzinhalt: Die Theologie hatte ja versucht, der Problematik des Historismus, seiner Reduktion der Wahrheit auf das Faktum, dadurch zu begegnen, dass sie Glauben selbst als Historie konstruierte

Textausschnitt: c) Die Frage nach dem Ort des Glaubens.

59a Mit diesem zweiten Schritt des neuzeitlichen Geistes, mit der Zuwendung zur Machbarkeit, ist zugleich ein erster Anlauf der Theologie gescheitert, auf die neuen Gegebenheiten zu antworten. Die Theologie hatte ja versucht, der Problematik des Historismus, seiner Reduktion der Wahrheit auf das Faktum, dadurch zu begegnen, dass sie Glauben selbst als Historie konstruierte. Für den ersten Anschein konnte sie mit dieser Wendung recht zufrieden sein. Schließlich ist christlicher Glaube von seinem Inhalt her wesentlich auf Geschichte bezogen, die Aussagen der Bibel tragen nicht metaphysischen, sondern faktischen Charakter. So konnte die Theologie scheinbar nur einverstanden sein, wenn die Stunde der Metaphysik abgelöst wurde durch diejenige der Geschichte. Denn damit schien zugleich so Recht erst ihre eigene Stunde zu schlagen, ja, vielleicht durfte sie die neue Entwicklung überhaupt als Ergebnis ihres eigenen Ausgangspunktes buchen. (Fs) (notabene)

60a Die zunehmende Entthronung der Historie durch die Techne hat solche Hoffnungen schnell wieder gedämpft. Dafür drängt sich jetzt ein anderer Gedanke auf - man fühlt sich versucht, Glauben nicht mehr auf der Ebene des Faktum, sondern auf der des Faciendum anzusiedeln und ihn mittels einer »politischen Theologie« als Medium der Weltveränderung auszulegen1. Ich glaube, dass damit nur in der gegenwärtigen Situation das wieder getan wird, was einseitig heilsgeschichtliches Denken in der Situation des Historismus unternommen hatte. Man sieht, dass die Welt von heute bestimmt ist durch die Perspektive des Machbaren, und man antwortet, indem man den Glauben selbst auf diese Ebene transponiert. Nun möchte ich beide Versuche keineswegs einfach als unsinnig beiseite schieben. Damit würde man ihnen sicher nicht gerecht. Vielmehr kommt im einen wie im andern Wesentliches ans Licht, das in anderen Konstellationen mehr oder weniger übersehen worden war. Christlicher Glaube hat wirklich mit dem »Faktum« zu tun, er wohnt in einer spezifischen Weise auf der Ebene der Geschichte, und es ist kein Zufall, dass gerade im Raum christlichen Glaubens Historismus und Historie überhaupt gewachsen sind. Und zweifellos hat Glaube auch etwas mit Weltveränderung, mit Weltgestaltung, mit dem Einspruch gegen die Trägheit der menschlichen Institutionen und derer, die daraus ihren Nutzen ziehen, zu tun. Wiederum ist es schwerlich ein Zufall, dass das Verständnis der Welt als Machbarkeit im Raum der christlich-jüdischen Überlieferung gewachsen und gerade bei Marx aus ihren Inspirationen heraus, wenn auch in Antithese dazu, gedacht und formuliert worden ist. Insofern ist nicht zu bestreiten, dass beide Male etwas von der wirklichen Meinung des christlichen Glaubens zum Vorschein kommt, das früher allzusehr verdeckt geblieben war. Christlicher Glaube hat auf entscheidende Weise mit den wesentlichen Antriebskräften der Neuzeit zu tun. Es ist in der Tat die Chance unserer geschichtlichen Stunde, dass wir von ihr her die Struktur des Glaubens zwischen Faktum und Faciendum ganz neu begreifen können; es ist die Aufgabe der Theologie, diesen Anruf und diese Möglichkeit wahrzunehmen und die blinden Stellen vergangener Perioden zu finden und zu füllen. (Fs)

1.Kommentar (30.05.07)zu: " ... man fühlt sich versucht, Glauben nicht mehr auf der Ebene des Faktum, sondern auf der des Faciendum anzusiedeln ...". Cf. Rhonheimer, Natur, über die Spielarten einer teleologischen Ethik.

61a Aber sowenig man hier mit schnellen Aburteilungen bei der Hand sein darf, so sehr bleibt die Warnung vor Kurzschlüssen geboten. Wo die beiden genannten Versuche exklusiv werden und den Glauben ganz auf die Ebene des Faktums oder der Machbarkeit verlegen, da wird zuletzt doch verdeckt, was es eigentlich heißt, wenn ein Mensch sagt: Credo - ich glaube. Denn indem er solches ausspricht, entwirft er fürs Erste weder ein Programm aktiver Weltveränderung noch schließt er sich damit einfach einer Kette historischer Ereignisse an. Ich möchte, um das Eigentliche versuchsweise ans Licht zu bringen, sagen, der Vorgang des Glaubens gehöre nicht der Relation Wissen - Machen zu, die für die geistige Konstellation des Machbarkeitsdenkens kennzeichnend ist, er lasse sich viel eher ausdrücken in der ganz anderen Relation Stehen - Verstehen. Mir scheint, dass damit zwei Gesamtauffassungen und Möglichkeiten menschlichen Seins sichtbar werden, die nicht beziehungslos zueinander sind, aber die man doch unterscheiden muss. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Definition: Glaube (Hebräerbrief); hypostase (hypostasis - hyparchonta), Substanz, Luther; Gegenwart - Zukunft; hypomone - hypostole

Kurzinhalt: Glaube ist Hypostase dessen, was man hofft; der Beweis von Dingen, die man nicht sieht. Er zieht Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Noch-nicht ist

Textausschnitt: 13
7. Wir müssen noch einmal zum Neuen Testament zurückkehren. Im 11. Kapitel des Hebräer-Briefes (Vers 1) findet sich eine Art Definition des Glaubens, die ihn eng mit der Hoffnung verwebt. Um das zentrale Wort dieses Satzes ist seit der Reformation ein Streit der Ausleger entstanden, in dem sich in jüngster Zeit wieder der Ausweg auf ein gemeinsames Verstehen hin zu öffnen scheint. Ich lasse dieses Zentralwort zunächst unübersetzt. Dann lautet der Satz: "Glaube ist Hypostase dessen, was man hofft; der Beweis von Dingen, die man nicht sieht." Für die Väter und für die Theologen des Mittelalters war klar, dass das griechische Wort hypostasis im Lateinischen mit substantia zu übersetzen war. So lautet denn auch die in der alten Kirche entstandene lateinische Übertragung des Textes: "Est autem fides sperendarum substantia rerum, argumentum non apparentium" – der Glaube ist die "Substanz" der Dinge, die man erhofft; Beweis für nicht Sichtbares. Thomas von Aquin1 erklärt das, indem er sich der Terminologie der philosophischen Tradition bedient, in der er steht, so: Der Glaube ist ein "habitus", das heißt eine dauernde Verfasstheit des Geistes, durch die das ewige Leben in uns beginnt und der den Verstand dahin bringt, solchem beizustimmen, was er nicht sieht. Der Begriff der "Substanz" ist also dahin modifiziert, dass in uns durch den Glauben anfanghaft, im Keim könnten wir sagen – also der "Substanz" nach –, das schon da ist, worauf wir hoffen: das ganze, das wirkliche Leben. Und eben darum, weil die Sache selbst schon da ist, schafft diese Gegenwart des Kommenden auch Gewissheit: Dies Kommende ist noch nicht in der {14} äußeren Welt zu sehen (es "erscheint" nicht), aber dadurch, dass wir es in uns als beginnende und dynamische Wirklichkeit tragen, entsteht schon jetzt Einsicht. Luther, dem der HebräerBrief an sich nicht besonders sympathisch war, konnte mit dem Begriff "Substanz" im Zusammenhang seiner Sicht von Glauben nichts anfangen. Er hat daher das Wort Hypostase/Substanz nicht im objektiven Sinn (anwesende Realität in uns), sondern im subjektiven Sinn, als Ausdruck einer Haltung verstanden und dann natürlich auch das Wort argumentum als Haltung des Subjekts verstehen müssen. Diese Auslegung hat sich – jedenfalls in Deutschland – im 20. Jahrhundert auch in der katholischen Exegese durchgesetzt, so dass die von den Bischöfen gebilligte Einheitsübersetzung des Neuen Testaments schreibt: "Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht." Das ist an sich nicht falsch, entspricht aber nicht dem Sinn des Textes, denn das verwendete griechische Wort (elenchos) hat nicht die subjektive Bedeutung von "Überzeugung", sondern die objektive Wertigkeit von "Beweis". Darum ist die neuere evangelische Exegese mit Recht zu einer anderen Auffassung gelangt: "Es kann aber jetzt nicht mehr zweifelhaft sein, dass diese klassisch gewordene protestantische Auslegung unhaltbar ist."2 Der Glaube ist nicht nur ein persönliches Ausgreifen nach Kommendem, noch ganz und gar Ausständigem; er gibt uns etwas. Er gibt uns schon jetzt etwas von der erwarteten Wirklichkeit, und diese gegenwärtige Wirklichkeit ist es, die uns ein "Beweis" für das noch nicht zu Sehende wird. Er zieht Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Noch-nicht ist. Dass es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein. (Fs)

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8. Diese Auslegung wird noch verstärkt und auf die Praxis hin ausgeweitet, wenn wir den 34. Vers des 10. Kapitels im Hebräer-Brief ansehen, der in einem sprachlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit dieser Definition des hoffenden Glaubens steht, sie vorbereitet. Der Verfasser spricht hier zu Gläubigen, die die Erfahrung der Verfolgung mitgemacht haben und sagt zu ihnen: "Ihr habt mit den Gefangenen gelitten und auch den Raub eures Vermögens (hyparchonton – Vg: bonorum; italienische Übersetzung: sostanza) freudig hingenommen, da ihr wusstet, dass ihr einen besseren Besitz (hyparxin – Vg: substantiam; italienisch: beni migliori) habt, der euch bleibt." Hyparchonta sind der Besitz, das, was beim irdischen Leben "Unterhalt", eben Basis, "Substanz" des Lebens ist, auf die man sich verlässt. Diese "Substanz", die gewöhnliche Lebenssicherung ist den Christen in der Verfolgung genommen worden. Sie ertrugen dies, weil sie diese materielle Substanz ohnedies als fragwürdig ansahen. Sie konnten sie lassen, weil sie nun eine bessere "Basis" ihrer Existenz gefunden hatten – eine, die bleibt und die einem niemand wegnehmen kann. Die Querverbindung zwischen diesen beiden Arten von "Substanz", von Unterhalt und materieller Basis hin zum Wort vom Glauben als "Basis", als "Substanz", die bleibt, ist nicht zu übersehen. Der Glaube gibt dem Leben eine neue Basis, einen neuen Grund, auf dem der Mensch steht, und damit wird der gewöhnliche Grund, eben die Verlässlichkeit des materiellen Einkommens relativiert. Es entsteht eine neue Freiheit gegenüber diesem nur scheinbar tragenden Lebensgrund, dessen normale Bedeutung damit natürlich nicht geleugnet ist. Diese neue Freiheit, das Wissen um die neue "Substanz", die uns geschenkt wurde, hat sich nicht nur im Martyrium gezeigt, in dem Menschen der Allmacht der Ideologie und ihrer politischen Organe widerstanden und so mit ihrem Tod die Welt erneuert haben. Sie hat sich vor allem in den großen Verzichten von den Mönchen des {16} Altertums hin zu Franz von Assisi und zu den Menschen unserer Zeit gezeigt, die in den neuzeitlichen Ordensbewegungen für Christus alles gelassen haben, um Menschen den Glauben und die Liebe Christi zu bringen, um körperlich und seelisch leidenden Menschen beizustehen. Da hat sich die neue "Substanz" wirklich als "Substanz" bewährt, ist aus der Hoffnung dieser von Christus berührten Menschen Hoffnung für andere geworden, die im Dunkel und ohne Hoffnung lebten. Da hat sich gezeigt, dass dieses neue Leben wirklich "Substanz" hat und "Substanz" ist, die anderen Leben schafft. Für uns, die wir auf diese Gestalten hinschauen, ist dieses ihr Tun und Leben in der Tat ein "Beweis", dass das Kommende, die Verheißung Christi, nicht nur Erwartung, sondern wirkliche Gegenwart ist: dass er wirklich der "Philosoph" und der "Hirte" ist, der uns zeigt, was und wo Leben ist. (Fs)

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9. Um diese Betrachtung über die beiden Weisen von Substanz – hypostasis und hyparchonta – und die zwei Weisen des Lebens, die damit ausgedrückt sind, tiefer zu verstehen, müssen wir noch zwei zugehörige Wörter kurz bedenken, die sich im 10. Kapitel des Hebräer-Briefs finden. Es handelt sich um die Worte hypomone (10,36) und hypostole (10,39). Hypomone wird gewöhnlich mit "Geduld" übersetzt – Ausdauer, Standhalten. Dieses Wartenkönnen im geduldigen Ertragen der Prüfung ist notwendig für den Gläubigen, damit er "das verheißene Gut erlangt" (10,36). In der frühjüdischen Frömmigkeit ist dieses Wort ausdrücklich für das Warten auf Gott verwendet worden, das für Israel charakteristisch ist: für dieses Aushalten bei Gott von der Gewissheit des Bundes her in einer Welt, die Gott widerspricht. Es bezeichnet so gelebte Hoffnung, Leben aus der Hoffnungsgewissheit heraus. Im Neuen Testament gewinnt dieses Warten auf Gott, dieses Stehen zu Gott eine neue Bedeutung: Gott hat sich in Christus gezeigt. Er hat uns schon die "Substanz" des Kommenden mitgeteilt, und so erhält das {17} Warten auf Gott eine neue Gewissheit. Es ist Warten auf Kommendes von einer schon geschenkten Gegenwart her. Es ist Warten in der Gegenwart Christi, mit dem gegenwärtigen Christus auf das Ganzwerden seines Leibes, auf sein endgültiges Kommen hin. Mit Hypostole hingegen ist das Sich-Zurückziehen gemeint, das nicht wagt, offen und frei die vielleicht gefährliche Wahrheit zu sagen. Dieses Sich-Verstecken vor den Menschen aus dem Geist der Menschenfurcht heraus führt zum "Verderben" (Hebr 10,39). "Gott hat uns nicht den Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit" – so charakterisiert demgegenüber der Zweite Timotheus-Brief (1,7) mit einem schönen Wort die Grundhaltung des Christenmenschen. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Paradoxie: ewiges Leben, Hoffnung; Augustinus an Proba;

Kurzinhalt: Dies Unbekannte ist die eigentliche "Hoffnung", die uns treibt, und ihr Unbekanntsein ist zugleich der Grund aller Verzweiflungen

Textausschnitt: 19
11. Was immer der heilige Ambrosius mit diesen Worten genau sagen wollte – wahr ist, dass die Abschaffung des Todes oder auch sein praktisch unbegrenztes Hinausschieben die Erde und die Menschheit in einen unmöglichen Zustand versetzen und auch dem Einzelnen selber keine Wohltat erweisen würde. Offenbar gibt es da einen Widerspruch in unserer Haltung, der auf eine innere Widersprüchlichkeit unserer Existenz selbst verweist. Einerseits wollen wir nicht sterben, will vor allem auch der andere, der uns gut ist, nicht, dass wir sterben. Aber andererseits möchten wir doch auch nicht endlos so weiterexistieren, und auch die Erde ist dafür nicht geschaffen. Was wollen wir also eigentlich? Diese Paradoxie unserer eigenen Haltung löst eine tiefere Frage aus: Was ist das eigentlich "Leben"? Und was bedeutet das eigentlich "Ewigkeit"? Es gibt Augenblicke, in denen wir plötzlich spüren: Ja, das wäre es eigentlich – das wahre "Leben" – so müsste es sein. Daneben ist das, was wir alltäglich "Leben" nennen, gar nicht wirklich Leben. Augustinus hat in seinem an Proba, eine reiche römische Witwe und Mutter dreier Konsuln, gerichteten großen Brief über das Gebet einmal gesagt: Eigentlich wollen wir doch nur eines – "das glückliche Leben", das Leben, das einfach Leben, einfach "Glück" ist. Um gar nichts anderes beten wir im Letzten. Zu nichts anderem sind wir unterwegs – nur um das eine geht es. Aber Augustin sagt dann auch: Genau besehen wissen wir gar nicht, wonach wir uns eigentlich sehnen, was wir eigentlich möchten. Wir kennen es gar nicht; selbst solche Augenblicke, in denen wir es zu berühren meinen, erreichen es nicht wirklich. "Wir wissen nicht, was wir bitten sollen", {20} wiederholt er ein Wort des heiligen Paulus (Röm 8,26). Wir wissen nur: Das ist es nicht. Im Nichtwissen wissen wir doch, dass es sein muss. "Es gibt da, um es so auszudrücken, eine gewisse wissende Unwissenheit" (docta ignorantia), schreibt er. Wir wissen nicht, was wir wirklich möchten; wir kennen dieses "eigentliche Leben" nicht; und dennoch wissen wir, dass es etwas geben muss, das wir nicht kennen und auf das hin es uns drängt.1 (Fs)

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12. Ich denke, dass Augustinus da sehr genau und immer noch gültig die wesentliche Situation des Menschen beschreibt, von der her all seine Widersprüche und seine Hoffnungen kommen. Wir möchten irgendwie das Leben selbst, das eigentliche, das dann auch nicht vom Tod berührt wird; aber zugleich kennen wir das nicht, wonach es uns drängt. Wir können nicht aufhören, uns danach auszustrecken, und wissen doch, dass alles das, was wir erfahren oder realisieren können, dies nicht ist, wonach wir verlangen. Dies Unbekannte ist die eigentliche "Hoffnung", die uns treibt, und ihr Unbekanntsein ist zugleich der Grund aller Verzweiflungen wie aller positiven und aller zerstörerischen Anläufe auf die richtige Welt, den richtigen Menschen zu. Das Wort "ewiges Leben" versucht, diesem unbekannt Bekannten einen Namen zu geben. Es ist notwendigerweise ein irritierendes, ein ungenügendes Wort. Denn bei "ewig" denken wir an Endlosigkeit, und die schreckt uns; bei Leben denken wir an das von uns erfahrene Leben, das wir lieben und nicht verlieren möchten, und das uns doch zugleich immer wieder mehr Mühsal als Erfüllung ist, so dass wir es einerseits wünschen und zugleich doch es nicht wollen. Wir können nur versuchen, aus der Zeitlichkeit, in der wir gefangen sind, herauszudenken und zu ahnen, dass Ewigkeit nicht eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen ist, sondern {21} etwas wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen. Es wäre der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt. Wir können nur versuchen zu denken, dass dieser Augenblick das Leben im vollen Sinn ist, immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden. So drückt es Jesus bei Johannes aus: "Ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen" (Joh 16,22). In dieser Richtung müssen wir denken, wenn wir verstehen wollen, worauf die christliche Hoffnung zielt; was wir vom Glauben erwarten, von unserem Mitsein mit Christus.1 (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Francis Bacon: Glaube an Fortschritt; Wiederherstellung des Paradieses; Vernunft, Freiheit: Gegensatz zu Glaube und Kirche

Kurzinhalt: So erhält denn auch die Hoffnung bei Bacon eine neue Gestalt. Sie heißt nun: Glaube an den Fortschritt

Textausschnitt: 24
16. Wie konnte aber sich die Vorstellung entwickeln, dass die Botschaft Jesu streng individualistisch sei und nur auf den Einzelnen ziele? Wie kam es dazu, dass die "Rettung der Seele" als Flucht vor der Verantwortung für das Ganze und so das Programm des Christentums als Heilsegoismus aufgefasst {25} werden konnte, der sich dem Dienst für die anderen verweigert? Um darauf Antwort zu finden, müssen wir einen Blick auf die Grundlagen der Neuzeit werfen. Sie erscheinen besonders deutlich bei Francis Bacon. Das Heraufziehen einer neuen Zeit – durch die Entdeckung Amerikas und durch die neuen technischen Errungenschaften, die diese Entwicklung ermöglicht hatten – ist offenkundig. Worauf aber beruht diese Wende der Zeiten? Es ist die neue Zuordnung von Experiment und Methode, die den Menschen befähigt, zu einer gesetzmäßigen Auslegung der Natur zu kommen und so endlich "den Sieg der Kunst über die Natur" (victoria cursus artis super naturam) zu erreichen.1 Das Neue – so sieht Bacon es – ist eine neue Zuordnung der Wissenschaft zur Praxis. Dies wird nun auch theologisch gewendet: Diese neue Zuordnung der Wissenschaft zur Praxis bedeute, dass die dem Menschen von Gott gegebene und im Sündenfall verlorene Herrschaft über die Kreatur wiederhergestellt werde.2

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17. Wenn man diese Sätze genau liest und bedenkt, so erkennt man darin einen bestürzenden Schritt: Die Wiederherstellung dessen, was der Mensch in der Austreibung aus dem Paradies verloren hatte, hatte man bisher vom Glauben an Jesus Christus erwartet, und dies war als "Erlösung" angesehen worden. Nun wird diese "Erlösung", die Wiederherstellung des verlorenen "Paradieses" nicht mehr vom Glauben erwartet, sondern von dem neu gefundenen Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis. Der Glaube wird dabei gar nicht einfach geleugnet, aber auf eine andere Ebene – die des bloß Privaten und Jenseitigen – verlagert und zugleich irgendwie für die Welt unwichtig. Diese programmatische Sicht hat den Weg der Neuzeit bestimmt und bestimmt auch noch immer die Glaubenskrise der Gegenwart, {26} die ganz praktisch vor allem eine Krise der christlichen Hoffnung ist. So erhält denn auch die Hoffnung bei Bacon eine neue Gestalt. Sie heißt nun: Glaube an den Fortschritt. Denn für Bacon ist klar, dass die jetzt in Gang gekommenen Entdeckungen und Erfindungen nur ein Anfang sind; dass aus dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis ganz neue Entdeckungen folgen werden und eine ganz neue Welt entstehen wird, das Reich des Menschen.1 So hat er denn auch eine Vision der zu erwartenden Erfindungen – bis hin zu Flugzeug und Unterseeboot – vorgelegt. Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Fortschrittsgedankens bleibt die Freude an den sichtbaren Fortschritten menschlichen Könnens eine fortlaufende Bestätigung des Fortschrittsglaubens als solchem. (Fs)

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18. Zugleich treten zwei Kategorien immer stärker ins Zentrum der Fortschrittsidee: Vernunft und Freiheit. Der Fortschritt ist vor allem ein Fortschritt in der zunehmenden Herrschaft der Vernunft, und diese Vernunft wird selbstverständlich als Macht des Guten und zum Guten angesehen. Der Fortschritt ist die Überwindung aller Abhängigkeiten – Fortschritt zur vollkommenen Freiheit. Auch Freiheit wird rein als Verheißung gesehen, in der sich der Mensch zu seiner Ganzheit verwirklicht. In beiden Begriffen – Freiheit und Vernunft – ist ein politischer Aspekt mit gegenwärtig. Denn das Reich der Vernunft wird eben als neue Verfassung der ganz frei gewordenen Menschheit erwartet. Aber die politischen Bedingungen eines solchen Reiches der Vernunft und der Freiheit erscheinen zunächst wenig definiert. Vernunft und Freiheit scheinen aufgrund ihres eigenen Gutseins von selbst eine neue vollkommene menschheitliche Gemeinschaft zu gewährleisten. In den beiden Leitbegriffen "Vernunft" und "Freiheit" ist freilich im stillen immer der Gegensatz zu den Bindungen des Glaubens und der Kirche wie {27} zu den Bindungen der damaligen Staatsordnungen mitgedacht. Beide Begriffe tragen so ein revolutionäres Potential von gewaltiger Sprengkraft in sich. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Französische Revolution; Kant: Reich Gottes; Kirchenglaube - Religionsglaube

Kurzinhalt: "Der Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden."

Textausschnitt: 27
19. Die zwei wesentlichen Etappen in der politischen Gestaltwerdung dieser Hoffnung müssen wir kurz ins Auge fassen, weil sie für den Weg der christlichen Hoffnung, für ihr Verstehen und für ihr Bestehen von großer Bedeutung sind. Da ist zuerst die Französische Revolution als Versuch, die Herrschaft der Vernunft und der Freiheit nun auch politisch-real aufzurichten. Das aufgeklärte Europa hat zunächst fasziniert auf diese Vorgänge hingeblickt, angesichts des Fortgangs freilich auch neu über Vernunft und Freiheit nachdenken müssen. Bezeichnend für die zwei Phasen der Rezeption dessen, was in Frankreich geschah, sind zwei Schriften von Immanuel Kant, in denen er das Geschehen reflektiert. 1792 schreibt er ein Werk "Der Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden." Darin sagt er: "Der allmähliche Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens ist die Annäherung des Reichs Gottes."1 Er sagt uns auch, dass Revolutionen den Fortschritt des Übergangs vom Kirchenglauben zum Vernunftglauben abkürzen können. Das "Reich Gottes", von dem Jesus gesprochen hatte, hat hier eine neue Definition und auch eine neue Gegenwärtigkeit erhalten; es gibt sozusagen eine neue "Naherwartung": Das "Reich Gottes" kommt da, wo der "Kirchenglaube" überwunden und durch den "Religionsglauben", das heißt durch den bloßen Vernunftglauben abgelöst wird. 1795, in der Schrift über "Das Ende aller Dinge", erscheint ein verändertes Bild. Kant erwägt nun die Möglichkeit, dass neben dem natürlichen auch ein widernatürliches, ein verkehrtes Ende aller Dinge eintreten könne. Darüber schreibt er: "Sollte es mit {28} dem Christentum einmal dahin kommen, dass es aufhörte, liebenswürdig zu sein [...]: so müsste [...] eine Abneigung und Widersetzlichkeit gegen dasselbe die herrschende Denkart der Menschen werden; und der Antichrist [...] würde sein (vermutlich auf Furcht und Eigennutz gegründetes) obzwar kurzes Regiment anfangen: alsdann aber, weil das Christentum allgemeine Weltreligion zu sein zwar bestimmt, aber es zu werden von dem Schicksal nicht begünstigt sein würde, das (verkehrte) Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht eintreten."2 (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Erlösung: Liebe - Wissenschaft

Kurzinhalt: Nicht die Wissenschaft erlöst den Menschen. Erlöst wird der Mensch durch die Liebe

Textausschnitt: 34
26. Nicht die Wissenschaft erlöst den Menschen. Erlöst wird der Mensch durch die Liebe. Das gilt zunächst im rein innerweltlichen Bereich. Wenn jemand in seinem Leben die große Liebe erfährt, ist dies ein Augenblick der "Erlösung", die seinem Leben einen neuen Sinn gibt. Aber er wird bald auch erkennen, dass die ihm geschenkte Liebe allein die Frage seines Lebens nicht löst. Sie bleibt angefochten. Sie kann durch den Tod zerstört werden. Er braucht die unbedingte Liebe. Er braucht jene Gewissheit, die ihn sagen lässt: "Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch {35} irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 8,38– 39). Wenn es diese unbedingte Liebe gibt mit ihrer unbedingten Gewissheit, dann – erst dann – ist der Mensch "erlöst", was immer ihm auch im Einzelnen zustoßen mag. Das ist gemeint, wenn wir sagen: Jesus Christus hat uns "erlöst". Durch ihn sind wir Gottes gewiss geworden – eines Gottes, der nicht eine ferne "Erstursache" der Welt darstellt, denn sein eingeborener Sohn ist Mensch geworden, und von ihm kann jeder sagen: "Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat" (Gal 2,20). 27. In diesem Sinn gilt, dass, wer Gott nicht kennt, zwar vielerlei Hoffnungen haben kann, aber im letzten ohne Hoffnung, ohne die große, das ganze Leben tragende Hoffnung ist (vgl. Eph 2,12). Die wahre, die große und durch alle Brüche hindurch tragende Hoffnung des Menschen kann nur Gott sein – der Gott, der uns "bis ans Ende", "bis zur Vollendung" (vgl. Joh 13,1 und 19,30) geliebt hat und liebt. Wer von der Liebe berührt wird, fängt an zu ahnen, was dies eigentlich wäre: "Leben". Er fängt an zu ahnen, was mit dem Hoffnungswort gemeint ist, das uns im Taufritus begegnete: Vom Glauben erwarte ich das "ewige Leben" – das wirkliche Leben, das ganz und unbedroht, in seiner ganzen Fülle einfach Leben ist. Jesus, der von sich gesagt hat, er sei gekommen, damit wir das Leben haben und es in Fülle, im Überfluss, haben (vgl. Joh 10,10), hat uns auch gedeutet, was dies heißt – "Leben": "Das ist das ewige Leben: dich erkennen, den einzigen wahren Gott und den du gesandt hast, Jesus Christus" (Joh 17,3). Leben im wahren Sinn hat man nicht in sich allein und nicht aus sich allein: Es ist eine Beziehung. Und das Leben in seiner Ganzheit ist Beziehung zu dem, der die Quelle des Lebens ist. Wenn wir mit dem in Beziehung sind, der nicht stirbt, der das Leben selber ist und die Liebe selber, dann sind wir im Leben. Dann "leben" wir. (Fs)
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28. Aber nun kommt die Frage: Sind wir da nicht doch wieder beim Heilsindividualismus angelangt? [...]

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Hoffnung wider die Hoffnungslosigkeit

Kurzinhalt: Nur die große Hoffnungsgewissheit, dass trotz allen Scheiterns mein eigenes Leben und die Geschichte im Ganzen in einer unzerstörbaren Macht der Liebe geborgen ist ...

Textausschnitt: 43
35. Alles ernsthafte und rechte Tun des Menschen ist Hoffnung im Vollzug. Zunächst in dem Sinn, dass wir dabei unsere kleineren oder größeren Hoffnungen voranzubringen versuchen: diese oder jene Aufgabe lösen, die für den weiteren Weg unseres Lebens wichtig ist; durch unseren Einsatz dazu beitragen, dass die Welt ein wenig heller und menschlicher wird und so auch sich Türen in die Zukunft hinein auftun. Aber der tägliche Einsatz für das Weitergehen des eigenen Lebens und für die Zukunft des Ganzen ermüdet oder schlägt in Fanatismus um, wenn uns nicht das Licht jener großen Hoffnung leuchtet, die auch durch Misserfolge im kleinen und durch das Scheitern geschichtlicher Abläufe nicht aufgehoben werden kann. Wenn wir nicht auf mehr hoffen dürfen als auf das jeweils gerade Erreichbare und auf das, was die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Mächte zu hoffen geben, wird unser Leben {44} bald hoffnungslos. Es ist wichtig zu wissen: Ich darf immer noch hoffen, auch wenn ich für mein Leben oder für meine Geschichtsstunde augenscheinlich nichts mehr zu erwarten habe. Nur die große Hoffnungsgewissheit, dass trotz allen Scheiterns mein eigenes Leben und die Geschichte im Ganzen in einer unzerstörbaren Macht der Liebe geborgen ist und von ihr her, für sie Sinn und Bedeutung hat, kann dann noch Mut zum Wirken und zum Weitergehen schenken. Gewiss, wir können das Reich Gottes nicht selber "bauen" – was wir bauen, bleibt immer Menschenreich mit allen Begrenzungen, die im menschlichen Wesen liegen. Das Reich Gottes ist Geschenk, und eben darum ist es groß und schön und Antwort auf Hoffnung. Und wir können – um in der klassischen Terminologie zu sprechen – den Himmel nicht durch unsere Werke "verdienen". Er ist immer mehr, als was wir verdienen, sowie das Geliebtwerden nie "Verdienst", sondern immer Geschenk ist. Aber bei allem Wissen um diesen "Mehrwert" des Himmels bleibt doch auch wahr, dass unser Tun nicht gleichgültig ist vor Gott und daher nicht gleichgültig für den Gang der Geschichte. Wir können uns und die Welt öffnen für das Hereintreten Gottes: der Wahrheit, der Liebe, des Guten. Das ist es, was die Heiligen taten, die als "Mitarbeiter Gottes" zum Heil der Welt beigetragen haben (vgl. 1 Kor 3,9; 1 Thess 3,2). Wir können unser Leben und die Welt von den Vergiftungen und Verschmutzungen freimachen, die Gegenwart und Zukunft zerstören könnten. Wir können die Quellen der Schöpfung freilegen und reinhalten und so mit der Schöpfung, die uns als Gabe vorausgeht, ihrem inneren Anspruch und ihrem Ziel gemäß das Rechte tun. Dies behält Sinn, auch wenn wir äußerlich erfolglos bleiben oder ohnmächtig zu sein scheinen gegenüber dem Übergewicht der entgegengesetzten Mächte. So kommt einerseits aus unserem Tun Hoffnung für uns und für die anderen; zugleich aber ist es die {45} große Hoffnung auf die Verheißungen Gottes, die uns Mut und Richtung des Handelns gibt in guten wie in bösen Stunden. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Gericht, Weltgericht - Hoffnung, Gerechtigkeit;

Kurzinhalt: ... dass die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist

Textausschnitt: 52
42. In der Neuzeit verblasst der Gedanke an das Letzte Gericht: Der christliche Glaube wird individualisiert und ist vor allem auf das eigene Seelenheil ausgerichtet; die Betrachtung der Weltgeschichte wird stattdessen weitgehend vom Fortschrittsgedanken geprägt. Dennoch ist der tragende Gehalt der Gerichtserwartung nicht einfach verschwunden. Er nimmt nun freilich eine ganz andere Form an. Der Atheismus des 19. und des 20. Jahrhunderts ist von seinen Wurzeln und seinem Ziel her ein Moralismus: ein Protest gegen die Ungerechtigkeiten der Welt und der Weltgeschichte. Eine Welt, in der ein solches Ausmaß an Ungerechtigkeit, an Leid der Unschuldigen und an Zynismus der Macht besteht, kann nicht Werk eines guten Gottes sein. Der Gott, der diese Welt zu verantworten hätte, wäre kein gerechter und schon gar nicht ein guter Gott. Um der Moral willen muss man diesen Gott bestreiten. So schien es, da kein Gott ist, der Gerechtigkeit schafft, dass nun der Mensch selbst gerufen ist, die Gerechtigkeit herzustellen. Wenn der Protest gegen Gott angesichts der Leiden dieser Welt verständlich ist, so ist der Anspruch, die Menschheit könne und müsse nun das tun, was kein Gott tut und tun kann, anmaßend und von innen her unwahr. Dass daraus erst die größten Grausamkeiten und Zerstörungen des Rechts folgten, ist kein Zufall, sondern in der inneren Unwahrheit dieses Anspruchs begründet. Eine Welt, die sich selbst Gerechtigkeit schaffen muss, ist eine Welt ohne Hoffnung. Niemand und nichts antwortet auf das Leiden der Jahrhunderte. Niemand und nichts bürgt dafür, dass nicht weiter der Zynismus der Macht, unter welchen ideologischen Verbrämungen auch immer, die Welt beherrscht. So haben die großen Denker der Frankfurter Schule, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Atheismus und Theismus gleichermaßen kritisiert. Horkheimer hat radikal bestritten, dass irgendein immanenter Ersatz für Gott gefunden werden könne, zugleich freilich auch das Bild des guten und gerechten Gottes {53} abgelehnt. In einer äußersten Radikalisierung des alttestamentlichen Bilderverbotes spricht er von der "Sehnsucht nach dem ganz Anderen", das unnahbar bleibt – ein Schrei des Verlangens in die Weltgeschichte hinein. Auch Adorno hat entschieden an dieser Bildlosigkeit festgehalten, die eben auch das "Bild" des liebenden Gottes ausschließt. Aber er hat auch und immer wieder diese "negative" Dialektik betont und gesagt, dass Gerechtigkeit, wirkliche Gerechtigkeit, eine Welt verlangen würde, "in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich Vergangene widerrufen wäre".1 Das aber würde – in positiven und darum für ihn unangemessenen Symbolen ausgedrückt – heißen, dass Gerechtigkeit nicht sein kann ohne Auferweckung der Toten. Eine solche Aussicht bedingte jedoch "die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd."2 (Fs)

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43. Von der strengen Bildlosigkeit her, die zum ersten Gebot Gottes gehört (vgl. Ex 20, 4) kann und muss auch der Christ immer wieder lernen. Die Wahrheit der negativen Theologie ist vom 4. Lateran-Konzil herausgestellt worden, das ausdrücklich sagt, dass zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf keine noch so große Ähnlichkeit festzustellen ist, dass nicht zwischen ihnen eine immer noch größere Unähnlichkeit bliebe.1 Dennoch kann die Bildlosigkeit für den Glaubenden nicht so weit gehen, dass er – wie Horkheimer und Adorno meinten – im Nein zu beiden Behauptungen, zum Theismus und zum Atheismus stehenbleiben müsste. Gott hat sich selbst ein "Bild" gegeben: im menschgewordenen Christus. In ihm, dem {54} Gekreuzigten, ist die Verneinung falscher Gottesbilder bis zum Äußersten gesteigert. Nun zeigt Gott gerade in der Gestalt des Leidenden, der die Gottverlassenheit des Menschen mitträgt, sein eigenes Gesicht. Dieser unschuldig Leidende ist zur Hoffnungsgewissheit geworden: Gott gibt es, und Gott weiß, Gerechtigkeit zu schaffen auf eine Weise, die wir nicht erdenken können und die wir doch im Glauben ahnen dürfen. Ja, es gibt die Auferstehung des Fleisches.2 Es gibt Gerechtigkeit.3 Es gibt den "Widerruf" des vergangenen Leidens, die Gutmachung, die das Recht herstellt. Daher ist der Glaube an das Letzte Gericht zuallererst und zuallermeist Hoffnung – die Hoffnung, deren Notwendigkeit gerade im Streit der letzten Jahrhunderte deutlich geworden ist. Ich bin überzeugt, dass die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist. Das bloß individuelle Bedürfnis nach einer Erfüllung, die uns in diesem Leben versagt ist, nach der Unsterblichkeit der Liebe, auf die wir warten, ist gewiss ein wichtiger Grund zu glauben, dass der Mensch auf Ewigkeit hin angelegt ist, aber nur im Verein mit der Unmöglichkeit, dass das Unrecht der Geschichte das letzte Wort sei, wird die Notwendigkeit des wiederkehrenden Christus und des neuen Lebens vollends einsichtig. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Spe Salvi, Internet

Titel: Enzyklika SPE SALVI

Stichwort: Gericht, Weltgericht: Fegefeuer - Christus; Gerechtigkeit - Gnade

Kurzinhalt: Wäre es bloß Gnade ... würde uns Gott die Frage nach der Gerechtigkeit schuldig bleiben ... Wäre es bloße Gerechtigkeit, würde es für uns alle am Ende nur Furcht sein können

Textausschnitt: 45. Diese frühjüdische Vorstellung vom Zwischenzustand schließt die Auffassung ein, dass die Seelen nicht einfach nur in einer vorläufigen Verwahrung weilen, sondern schon Strafe erfahren, wie es das Gleichnis vom reichen Prasser zeigt, oder aber auch schon vorläufige Formen der Seligkeit empfangen. Und endlich fehlt nicht der Gedanke, dass es in diesem Zustand auch Reinigungen und Heilungen geben kann, die die Seele reif machen für die Gemeinschaft mit Gott. Die frühe Kirche hat solche Vorstellungen aufgenommen, aus denen sich dann in der Kirche des Westens allmählich die Lehre vom Fegefeuer gebildet hat. Wir brauchen hier nicht auf die komplizierten historischen Wege dieser Entwicklung zu blicken; fragen wir einfach danach, worum es in der Sache geht. Die {57} Lebensentscheidung des Menschen wird mit dem Tod endgültig – dieses sein Leben steht vor dem Richter. Sein Entscheid, der im Lauf des ganzen Lebens Gestalt gefunden hat, kann verschiedene Formen haben. Es kann Menschen geben, die in sich den Willen zur Wahrheit und die Bereitschaft zur Liebe völlig zerstört haben. Menschen, in denen alles Lüge geworden ist; Menschen, die dem Hass gelebt und die Liebe in sich zertreten haben. Dies ist ein furchtbarer Gedanke, aber manche Gestalten gerade unserer Geschichte lassen in erschreckender Weise solche Profile erkennen. Nichts mehr wäre zu heilen an solchen Menschen, die Zerstörung des Guten unwiderruflich: Das ist es, was mit dem Wort Hölle1 bezeichnet wird. Auf der anderen Seite kann es ganz reine Menschen geben, die sich ganz von Gott haben durchdringen lassen und daher ganz für den Nächsten offen sind – Menschen, in denen die Gottesgemeinschaft jetzt schon all ihr Sein bestimmt und das Gehen zu Gott nur vollendet, was sie schon sind.2 (Fs)

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46. Aber weder das eine noch das andere ist nach unseren Erfahrungen der Normalfall menschlicher Existenz. Bei den allermeisten – so dürfen wir annehmen – bleibt ein letztes und innerstes Offenstehen für die Wahrheit, für die Liebe, für Gott im Tiefsten ihres Wesens gegenwärtig. Aber es ist in den konkreten Lebensentscheidungen überdeckt von immer neuen Kompromissen mit dem Bösen – viel Schmutz verdeckt das Reine, nach dem doch der Durst geblieben ist und das doch auch immer wieder über allem Niedrigen hervortritt und in der Seele gegenwärtig bleibt. Was geschieht mit solchen Menschen, wenn sie vor den Richter hintreten? Ist all das Unsaubere, das sie in ihrem Leben angehäuft haben, plötzlich gleichgültig? Oder was sonst? Der heilige Paulus gibt uns im Ersten {58} Korinther-Brief eine Vorstellung von der unterschiedlichen Weise, wie Gottes Gericht auf den Menschen je nach seiner Verfassung trifft. Er tut es in Bildern, die das Unanschaubare irgendwie ausdrücken wollen, ohne dass wir diese Bilder auf den Begriff bringen könnten – einfach weil wir in die Welt jenseits des Todes nicht hineinschauen können und von ihr keine Erfahrung haben. Zunächst sagt Paulus über die christliche Existenz, dass sie auf einen gemeinsamen Grund gebaut ist: Jesus Christus. Dieser Grund hält stand. Wenn wir auf diesem Grund stehengeblieben sind, auf ihm unser Leben gebaut haben, wissen wir, dass uns auch im Tod dieser Grund nicht mehr weggezogen werden kann. Dann fährt Paulus weiter: "Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt. Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch" (3,12–15). In diesem Text zeigt sich auf jeden Fall, dass die Rettung der Menschen verschiedene Formen haben kann; dass manches Aufgebaute niederbrennen kann; dass der zu Rettende selbst durch "Feuer" hindurchgehen muss, um endgültig gottfähig zu werden, Platz nehmen zu können am Tisch des ewigen Hochzeitsmahls. (Fs)

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47. Einige neuere Theologen sind der Meinung, dass das verbrennende und zugleich rettende Feuer Christus ist, der Richter und Retter. Das Begegnen mit ihm ist der entscheidende Akt des Gerichts. Vor seinem Anblick schmilzt alle Unwahrheit. Die Begegnung mit ihm ist es, die uns umbrennt und freibrennt zum Eigentlichen unserer selbst. Unsere Lebensbauten können sich dabei als leeres Stroh, als bloße Großtuerei erweisen und zusammenfallen. Aber in dem Schmerz dieser Begegnung, in {59} der uns das Unreine und Kranke unseres Daseins offenbar wird, ist Rettung. Sein Blick, die Berührung seines Herzens heilt uns in einer gewiss schmerzlichen Verwandlung "wie durch Feuer hindurch". Aber es ist ein seliger Schmerz, in dem die heilige Macht seiner Liebe uns brennend durchdringt, so dass wir endlich ganz wir selber und dadurch ganz Gottes werden. So wird auch das Ineinander von Gerechtigkeit und Gnade sichtbar: Unser Leben ist nicht gleichgültig, aber unser Schmutz befleckt uns nicht auf ewig, wenn wir wenigstens auf Christus, auf die Wahrheit und auf die Liebe hin ausgestreckt geblieben sind. Er ist im Leiden Christi letztlich schon verbrannt. Im Augenblick des Gerichts erfahren und empfangen wir dieses Übergewicht seiner Liebe über alles Böse in der Welt und in uns. Der Schmerz der Liebe wird unsere Rettung und unsere Freude. Es ist klar, dass wir die "Dauer" dieses Umbrennens nicht mit Zeitmaßen unserer Weltzeit messen können. Der verwandelnde "Augenblick" dieser Begegnung entzieht sich irdischen Zeitmaßen – ist Zeit des Herzens, Zeit des "Übergangs" in die Gemeinschaft mit Gott im Leibe Christi.3 Das Gericht Gottes ist Hoffnung sowohl weil es Gerechtigkeit wiewohl weil es Gnade ist. Wäre es bloß Gnade, die alles Irdische vergleichgültigt, würde uns Gott die Frage nach der Gerechtigkeit schuldig bleiben – die für uns entscheidende Frage an die Geschichte und an Gott selbst. Wäre es bloße Gerechtigkeit, würde es für uns alle am Ende nur Furcht sein können. Die Menschwerdung Gottes in Christus hat beides – Gericht und Gnade – so ineinandergefügt, dass Gerechtigkeit hergestellt wird: Wir alle wirken unser Heil "mit Furcht und Zittern" (Phil 2,12). Dennoch lässt die Gnade uns alle hoffen und zuversichtlich auf den Richter zugehen, den wir als unseren "Advokaten", parakletos, kennen (vgl. 1 Joh 2,1). (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Der persönliche Gott; Option: Primat des Besonderen, Primat der Freiheit; Wasserscheide zwischen Idealismus und christlichem Glauben; Freiheit -> Unbegreiflichkeit; Person - Individuum

Kurzinhalt: Das Höchste ist nicht das Allgemeinste, sondern gerade das Besondere, und der christliche Glaube ist so vor allem auch Option für den Menschen als das unreduzierbare, ...

Textausschnitt: 2. Der persönliche Gott

146a Wenn christlicher Glaube an Gott zunächst einmal Option für den Primat des Logos, Glaube an die vorausgehende und die Welt tragende Realität des schöpferischen Sinnes ist, so ist er als Glaube an die Personhaftigkeit jenes Sinnes zugleich Glaube daran, dass der Urgedanke, dessen Gedachtsein die Welt darstellt, nicht ein anonymes, neutrales Bewusstsein, sondern Freiheit, schöpferische Liebe, Person ist. Wenn demgemäß die christliche Option für den Logos Option für einen personhaften, schöpferischen Sinn bedeutet, dann ist sie darin zugleich Option für den Primat des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen. Das Höchste ist nicht das Allgemeinste, sondern gerade das Besondere, und der christliche Glaube ist so vor allem auch Option für den Menschen als das unreduzierbare, auf Unendlichkeit bezogene Wesen. Und darin ist er noch einmal Option für den Primat der Freiheit gegenüber einem Primat kosmisch-naturgesetzlicher Notwendigkeit. Auf diese Weise tritt nun das Spezifische des christlichen Glaubens gegenüber anderen Entscheidungsformen des menschlichen Geistes in aller Schärfe hervor. Der Ort, den ein Mensch mit dem christlichen Credo bezieht, wird unmissverständlich klar. (Fs)

146b Dabei lässt sich zeigen, dass die erste Option - die für den Primat des Logos gegenüber der bloßen Materie - ohne die zweite und dritte nicht möglich ist, oder genauer: Die erste bliebe, für sich allein genommen, bloßer Idealismus; erst die Hinzufügung der zweiten und dritten Option - Primat des Besonderen, Primat der Freiheit - bedeutet die Wasserscheide zwischen Idealismus und christlichem Glauben, der nun einmal etwas anderes als bloßen Idealismus darstellt. (Fs)

147a Darüber wäre sehr viel zu sagen. Begnügen wir uns mit den unumgänglichen Klarstellungen, indem wir zunächst fragen:
147b Was heißt eigentlich das: dieser Logos, dessen Gedanke die Welt ist, sei Person und deshalb sei Glaube Option für den Primat dem Besonderen vor dem Allgemeinen? Man kann die Antwort im Letzten ganz einfach geben; denn schließlich bedeutet es nichts anderes, als dass jenes schöpferische Denken, das wir als Voraussetzung und Grund allen Seins fanden, wahrhaft seiner selbst bewusstes Denken ist und dass es nicht nur sich selber weiß, sondern seinen ganzen Gedanken weiß. Es bedeutet weiterhin, dass dies Denken nicht nur weiß, sondern liebt; dass es schöpferisch ist, weil es Liebe ist; dass es seinen Gedanken, weil es nicht nur denken, sondern lieben kann, in die Freiheit eigenen Seins gesetzt, ihn objektiviert, ins Selbersein entlassen hat. So bedeutet dies Ganze, dass jenes Denken seinen Gedanken in seinem Selbersein weiß und liebt und liebend trägt. Womit wir wiederum bei dem Wort sind, auf das unsere Überlegungen immer wieder zusteuern: Nicht umschlossen werden vom Größten, sich umschließen lassen vom Kleinsten, das ist göttlich. (Fs)

147c Wenn aber so der Logos allen Seins, das Sein, das alles trägt und umschließt, Bewusstsein, Freiheit und Liebe ist, dann ergibt sich von selbst, dass das Oberste der Welt nicht die kosmische Notwendigkeit, sondern die Freiheit ist. Die Folgen sind sehr weit tragend. Denn das führt ja dazu, dass die Freiheit gleichsam als die notwendige Struktur der Welt erscheint, und dies wieder heißt, dass man die Welt nur als unbegreifliche begreifen kann, dass sie Unbegreiflichkeit sein muss. Denn wenn der oberste Konstruktionspunkt der Welt eine Freiheit ist, welche die ganze Welt als Freiheit trägt, will, kennt und liebt, dann bedeutet dies, dass mit der Freiheit die Unberechenbarkeit, die ihr innewohnt, wesentlich zur Welt gehört. Die Unberechenbarkeit ist ein Impli-kat der Freiheit; Welt kann - wenn es so steht - nie vollends auf mathematische Logik zurückgeführt werden. Mit dem Kühnen und Großen einer Welt, die von der Struktur der Freiheit gezeichnet ist, ist so aber auch das dunkle Geheimnis des Dämonischen gegeben, das uns aus ihr entgegentritt. Eine Welt, die unter dem Risiko der Freiheit und der Liebe geschaffen und gewollt ist, ist nun einmal nicht bloß Mathematik. Sie ist als Raum der Liebe Spielraum der Freiheiten und geht das Risiko des Bösen mit ein. Sie wagt das Geheimnis des Dunkels um des größeren Lichtes willen, das Freiheit und Liebe sind. (Fs)

148a Noch einmal wird hier sichtbar, wie die Kategorien von Minimum und Maximum, von Kleinstem und Größtem, in einer solchen Optik sich wandeln. In einer Welt, die letztlich nicht Mathematik, sondern Liebe ist, ist gerade das Minimum ein Maximum; ist jenes Geringste, das lieben kann, ein Größtes; ist das Besondere mehr als das Allgemeine; ist die Person, das Einmalige, Un-wiederholbare, zugleich das Endgültige und Höchste. Die Person ist in einer solchen Weitsicht nicht bloß Individuum, ein durch die Zerteilung der Idee in die Materie entstandenes Vervielfältigungsexemplar, sondern eben »Person«. Das griechische Denken hat die vielen Einzelwesen, auch die vielen Einzelmenschen, stets nur als Individuen gedeutet. Sie entstehen infolge der Brechung der Idee durch die Materie. Das Vervielfältigte ist so immer das Sekundäre; das Eigentliche wäre das Eine und das Allgemeine. Der Christ sieht im Menschen nicht ein Individuum, sondern eine Person - mir scheint, dass in diesem Überschritt von Individuum zu Person die ganze Spanne des Übergangs von Antike zu Christentum, von Piatonismus zu Glaube liegt. Dieses bestimmte Wesen ist durchaus nichts Sekundäres, das uns nur bruchstückweise das Allgemeine als das Eigentliche ahnen ließe. Als das Minimum ist es ein Maximum; als das Einmalige und Unwiederholbare ist es ein Höchstes und Eigentliches. (Fs) (notabene)

149a Damit ergibt sich ein letzter Schritt. Wenn es so steht, dass die Person mehr ist als das Individuum, dass das Viele ein Eigentliches und nicht nur ein Sekundäres ist, dass es einen Primat des Besonderen vor dem Allgemeinen gibt, dann ist die Einheit nicht das einzige und letzte, sondern dann hat auch die Vielheit ihr eigenes und definitives Recht. Diese Aussage, die sich aus der christlichen Option mit einer inneren Notwendigkeit ergibt, führt von selbst auch zur Überschreitung der Vorstellung von einem Gott, der bloß Einheit ist. Die innere Logik des christlichen Gottesglaubens zwingt zur Überschreitung eines bloßen Monotheismus und führt zum Glauben an den dreieinigen Gott, von dem jetzt noch abschließend die Rede sein muss. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Trinität; Ansatz des Verstehens; Jesus - Vater; Geist - Anwesenheit Gottes in uns; Gebet, Bitte;

Kurzinhalt: ... eigentümliche Paradoxie: Einerseits nennt dieser Mensch Gott seinen Vater, spricht zu ihm als einem Du, das ihm gegenübersteht; wenn das nicht leeres Theater sein soll, sondern Wahrheit

Textausschnitt: 1. Zum Ansatz des Verstehens

a) Der Ausgangspunkt des Glaubens an den dreieinigen Gott.

151a Die Trinitätslehre ist nicht aus einer Spekulation über Gott entstanden, aus einem Versuch des philosophischen Denkens, sich zurechtzulegen, wie der Ursprung allen Seins beschaffen sei, sondern sie hat sich aus dem Mühen um eine Verarbeitung geschichtlicher Erfahrungen ergeben. Der biblische Glaube hatte es zunächst - im Alten Bund - mit Gott zu tun, der als der Vater Israels, als der Vater der Völker, als der Schöpfer der Welt und ihr Herr begegnete. In der Grundlegungszeit des Neuen Testaments kommt ein völlig unerwarteter Vorgang hinzu, durch den sich Gott von einer bislang unbekannten Seite zeigt: In Jesus Christus trifft man auf einen Menschen, der sich zugleich als Sohn Gottes weiß und bekennt. Man findet Gott in der Gestalt des Gesandten, der ganz Gott und nicht irgendein Mittelwesen ist und der dennoch mit uns zu Gott »Vater« sagt. Damit ergibt sich eine eigentümliche Paradoxie: Einerseits nennt dieser Mensch Gott seinen Vater, spricht zu ihm als einem Du, das ihm gegenübersteht; wenn das nicht leeres Theater sein soll, sondern Wahrheit, wie sie allein Gottes würdig ist, muss er also ein anderer sein als dieser Vater, zu dem er spricht und zu dem wir sprechen. Andererseits aber ist er selbst die wirkliche, uns begegnende Nähe Gottes; die Vermittlung Gottes an uns und dies gerade dadurch, dass er selbst Gott als Mensch, in Menschengestalt und -wesen: der Gott-mit-uns (»Emmanuel«) ist. Seine Vermittlung würde ja im Grunde sich selbst aufheben und statt einer Vermittlung eine Abtrennung werden, wenn er ein anderer als Gott, wenn er ein Zwischenwesen wäre. Dann würde er uns nicht zu Gott hin, sondern von ihm weg vermitteln. So ergibt sich, dass er als der Vermittelnde Gott selber und »Mensch selber« - beides gleich wirklich und total -ist. Das aber bedeutet, dass Gott mir hier nicht als Vater, sondern als Sohn und als mein Bruder begegnet, womit - unbegreiflich und höchst begreiflich in einem - eine Zweiheit in Gott, Gott als Ich und Du in einem, in Erscheinung tritt. Dieser neuen Erfahrung Gottes folgt schließlich als Drittes das Widerfahrnis des Geistes, der Anwesenheit Gottes in uns, in unserer Innerlichkeit. Und wiederum ergibt sich, dass dieser »Geist« weder mit dem Vater noch mit dem Sohn einfach identisch ist und doch auch nicht ein Drittes zwischen Gott und uns aufrichtet, sondern die Weise ist, wie Gott selbst sich uns gibt, wie er in uns eintritt, sodass er im Menschen und mitten im »Insein« doch unendlich über ihm ist. (Fs)

152a Wir stellen also fest, dass der christliche Glaube im Hergang seiner geschichtlichen Entfaltung es zunächst rein tatsächlich mit Gott in dieser Dreigestalt zu tun bekommt. Es ist klar, dass er alsbald beginnen musste, sich zu überlegen, wie diese verschiedenen Gegebenheiten miteinander zu verbinden seien. Er musste sich fragen, wie sich diese drei Formen geschichtlicher Begegnung mit Gott zur Eigenwirklichkeit Gottes selbst verhalten. Ist die Dreiheit der Erfahrungsformen Gottes vielleicht nur seine geschichtliche Maske, in der er in verschiedenen Rollen dennoch immer nur als der Eine auf den Menschen zugeht? Sagt diese Dreiheit uns nur etwas über den Menschen und seine verschiedenen Weisen der Gottesbeziehung aus, oder bringt sie etwas darüber zum Vorschein, wie Gott in sich selber ist? Wenn wir heute schnell geneigt sein möchten, allein das Erste für denkbar und damit alle Probleme für gelöst zu halten, so sollten wir vor der Zuflucht in einen solchen Ausweg uns die Reichweite der Frage bewusst machen. Hier geht es doch darum, ob der Mensch in seiner Gottesbeziehung nur mit den Spiegelungen seines eigenen Bewusstseins zu tun hat oder ob ihm gegeben ist, wirklich über sich hinauszugreifen und mit Gott selbst zusammenzutreffen. Die Folgen sind in beiden Fällen weitreichend: Wenn das Erstere zutrifft, ist auch das Gebet nur eine Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, die Wurzel für eigentliche Anbetung ist ebenso abgeschnitten wie für das Bittgebet - diese Konsequenz wird denn auch in zunehmendem Maß gezogen. Um so dringender ist die Frage, ob sie nicht schließlich auf einer Bequemlichkeit des Denkens beruht, das sich ohne viel Fragen auf den Weg des geringeren Widerstandes begibt. Wenn nämlich die andere Antwort die richtige ist, sind Anbetung und Bitte nicht nur möglich, sondern geboten, das heißt ein Postulat des auf Gott hin offenen Wesens Mensch. (Fs)

153a Wer diesen Tiefgang der Frage einsieht, wird zugleich die Leidenschaft des Ringens verstehen, das in der alten Kirche um sie ausgetragen worden ist; er wird begreifen, dass alles andere als Begriffsklauberei und Formelkult dabei am Werke war, wie es dem oberflächlichen Betrachter leicht erscheinen kann. Ja, er wird innewerden, dass der Streit von damals heute neu entbrannt und ganz der gleiche - das allzeit eine Ringen des Menschen um Gott und um sich selber - ist und dass wir christlich nicht bestehen können, wenn wir vermeinen, es uns heute leichter machen zu dürfen, als es damals geschah. Nehmen wir die Antwort vorweg, in der damals die Scheidung zwischen dem Weg des Glaubens und einem Weg, der zum bloßen Glaubensschein führen müsste, gefunden wurde: Gott ist so, wie er sich zeigt; Gott zeigt sich nicht auf eine Weise, wie er nicht ist. Auf dieser Aussage gründet die christliche Gottesbeziehung; in ihr ist die Trinitätslehre gesetzt, ja, sie ist diese Lehre. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Grundeinstellungen, Leitmotive: Mittler, Monotheismus, Geschichte; Monarchianer, Modalisten

Kurzinhalt: Die dritte Grundeinstellung ließe sich bezeichnen als das Bemühen, der Geschichte Gottes mit dem Menschen ihren Ernst zu lassen. Das bedeutet: ...

Textausschnitt: b) Die leitenden Motive.

153b Wie kam es zu dieser Entscheidung? Auf dem Weg zu ihr waren drei Grundeinstellungen maßgebend. Die erste ließe sich als der Glaube an die Gottunmittelbarkeit des Menschen benennen. Es geht darum, dass der Mensch, der mit Christus zu tun bekommt, in seinem Mitmenschen Jesus, der ihm als Mitmensch erreichbar und zugänglich ist, auf Gott selbst trifft, nicht auf ein Mischwesen, das sich dazwischenschöbe. Die Sorge um das wahre Gottsein Jesu hat in der frühen Kirche die gleiche Wurzel wie die Sorge um sein wahres Menschsein. Nur wenn er wirklich Mensch war wie wir, kann er unser Mittler sein, und nur wenn er wirklich Gott ist wie Gott, erreicht die Vermittlung ihr Ziel. Es ist wohl nicht schwer zu sehen, dass hier einfach die Grundentscheidung des Monotheismus, die vorhin beschriebene Gleichsetzung von Gott des Glaubens und Gott der Philosophen, zur Frage steht und ihre äußerste Schärfe erhält: Nur der Gott, der einerseits der wirkliche Grund der Welt und andererseits ganz der uns Nahe ist, kann Ziel einer der Wahrheit verpflichteten Frömmigkeit sein. So ist aber auch die zweite Grundeinstellung schon benannt: das unabweichliche Stehen zu einer streng monotheistischen Entscheidung, zu dem Bekenntnis: Es gibt nur einen Gott. Es musste auf jeden Fall verhütet werden, auf dem Umweg über den Mittler schließlich wieder eine ganze Region von Mittelwesen und damit eine Region von wahrheitslosen Göttern zu errichten, in der der Mensch anbetet, was nicht Gott ist. (Fs) (notabene)

154a Die dritte Grundeinstellung ließe sich bezeichnen als das Bemühen, der Geschichte Gottes mit dem Menschen ihren Ernst zu lassen. Das bedeutet: Wenn Gott als Sohn auftritt, der zum Vater Du sagt, ist es kein für den Menschen aufgeführtes Theater, kein Maskenball auf der Bühne der menschlichen Geschichte, sondern Ausdruck von Wirklichkeit. Der Gedanke eines göttlichen Schauspiels war in der alten Kirche von den Monarchianern geäußert worden. Die drei Personen seien drei »Rollen«, in denen Gott sich uns im Laufe der Geschichte zeigt. Hier muss erwähnt werden, dass das Wort »Persona« und seine griechische Entsprechung »Prosopon« der Sprache des Theaters zugehören. Man benannte damit die Maske, die den Schauspieler zur Verkörperung eines anderen werden ließ. Das Wort wurde zunächst von solchen Erwägungen her in die Sprache des Glaubens eingebracht und erst von ihm selbst in einem schweren Ringen so umgeprägt, dass daraus die der Antike fremde Idee der Person entstand. (Fs)

155a Andere - die so genannten Modalisten - meinten, die drei Gestalten Gottes seien drei »Modi«, Weisen, wie unser Bewusstsein Gott wahrnimmt und sich selbst auslegt. Obwohl es zutrifft, dass wir Gott nur in der Spiegelung des menschlichen Denkens erkennen, hat der christliche Glaube daran festgehalten, dass wir in dieser Spiegelung doch eben ihn erkennen. Wenn wir schon nicht aus der Enge unseres Bewusstseins aufzubrechen vermögen, so kann doch Gott in dies Bewusstsein einbrechen und in ihm sich selber zeigen. Dabei braucht gar nicht geleugnet zu werden, dass in den Bemühungen der Monarchianer und Modalisten ein bemerkenswerter Anlauf auf das rechte Denken von Gott sich vollzog: Die Sprache des Glaubens hat schließlich die von ihnen vorbereitete Terminologie angenommen, in dem Bekenntnis zu den drei Personen in Gott ist sie bis heute wirksam. Dass das Wort Prosopon-Persona nicht sogleich den ganzen Umfang dessen auszusagen vermochte, was hier auszusagen ist, war schließlich nicht ihre Schuld. Die Ausweitung der Grenzen des menschlichen Denkens, die notwendig war, um die christliche Gotteserfahrung geistig zu verarbeiten, stellte sich nicht von selber ein. Sie verlangte einen Kampf, für den auch der Irrtum fruchtbar war; damit folgte sie dem Grundgesetz, dem der menschliche Geist in seinem Voranschreiten allenthalben unterliegt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Auswege: Subordinatianismus (konstitutionelle Monarchie), Monarchismus (Modalismus); Hegel, Schelling; Geschichte -> Sinn (Marx) -> Mythos -> politische Theologie

Kurzinhalt: Der so genannte Subordinatianismus entflieht dem Dilemma dadurch, dass er sagt: ...

Textausschnitt: c) Die Ausweglosigkeit der Auswege.

155b Das ganze, viel verästelte Ringen der ersten Jahrhunderte lässt sich im Licht des bisher Bedachten auf die Aporetik zweier Wege zurückführen, die mehr und mehr als Nicht-Wege erkannt werden mussten: Subordinatianismus und Monarchianismus. Beide Lösungen scheinen logisch, und beide zerstören mit ihrer verführerischen Vereinfachung doch das Ganze. Die kirchliche Lehre, wie sie uns in dem Wort vom drei-einigen Gott gegeben ist, bedeutet im Grunde den Verzicht auf den Ausweg und das Stehenbleiben im Geheimnis, das dem Menschen nicht errechenbar ist: In Wahrheit ist dieses Bekenntnis der einzig wirkliche Verzicht auf die Anmaßung des Bescheidwissens, das die glatten Lösungen mit ihrer falschen Bescheidenheit so verführerisch macht. (Fs)

156a Der so genannte Subordinatianismus entflieht dem Dilemma dadurch, dass er sagt: Gott selbst ist nur ein einziger; Christus ist nicht Gott, sondern nur ein Gott besonders nahes Wesen. Damit ist der Anstoß behoben, aber die Folge ist - wie wir vorhin ausgiebig bedachten -, dass der Mensch von Gott selbst abgeschnitten und ins Vorläufige versperrt wird. Gott wird gleichsam zum konstitutionellen Monarchen; der Glaube hat nicht mit ihm, sondern nur mit seinen Ministern zu tun1. Wer das nicht will, wer wirklich an die Herrschaft Gottes, an das »Größte« im Kleinsten glaubt, wird daran festhalten müssen, dass Gott Mensch ist, dass das Sein Gottes und des Menschen ineinander treten, und wird so mit dem Glauben an Christus den Ausgangspunkt der Trinitätslehre annehmen. (Fs)

156b Der Monarchianismus, dessen Lösung wir vorhin bereits berührt haben, löst das Dilemma in der umgekehrten Richtung auf. Auch er hält streng die Einheit Gottes fest, nimmt aber zugleich den begegnenden Gott ernst, der als Schöpfer und Vater zuerst, als Sohn und Erlöser in Christus dann und endlich als Heiliger Geist auf uns zukommt. Doch werden diese drei Gestalten nur als Masken Gottes betrachtet, die etwas über uns, aber nichts über Gott selbst aussagen. So verlockend ein solcher Weg scheint, so führt er am Ende doch wieder dazu, dass der Mensch nur in sich kreist und nicht bis zum Eigenen Gottes vordringt. Die Nachgeschichte des Monarchianismus im neuzeitlichen Denken hat das nur noch einmal bestätigt. Hegel und Schelling haben bei ihrem Versuch, das Christentum philosophisch zu deuten und Philosophie vom Christlichen her zu denken, an diesen altchristlichen Versuch einer Philosophie des Christentums angeknüpft und gehofft, von hier aus Trinitätslehre rational durchschaubar und brauchbar zu machen, sie in ihrem vermeintlich reinen philosophischen Sinn zum wahren Schlüssel alles Verstehens des Seins zu erheben. Selbstverständlich soll hier nicht der Versuch gemacht werden, diese bisher erregendsten Versuche denkerischer Anverwandlung des christlichen Glaubens in ihrer Gänze zu würdigen. Es sei nur angedeutet, wieso die Ausweglosigkeit, die wir für den Monarchianismus (Modalismus) typisch fanden, sachlich auch hier wiederkehrt. (Fs)

157a Ausgangspunkt des Ganzen bleibt der Gedanke, Trinitätslehre sei Ausdruck der geschichtlichen Seite Gottes, dafür also, wie Gott geschichtlich erscheint. Indem Hegel - und auf andere Weise auch Schelling - diesen Gedanken radikal durchführen, kommen sie bis zu der Konsequenz, dass sie diesen Prozess der geschichtlichen Selbstdarstellung Gottes nicht mehr von einem dahinter ruhend in sich bleibenden Gott unterscheiden, sondern nunmehr den Prozess der Geschichte als den Prozess Gottes selbst verstehen. Die geschichtliche Gestalt Gottes ist dann die allmähliche Selbstwerdung des Göttlichen, Geschichte somit zwar Prozess des Logos, aber auch der Logos nur als Prozess der Geschichte wirklich. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass der Logos - der Sinn allen Seins - erst in der Geschichte sich stufenweise zu sich selber gebiert. Die Vergeschichtlichung der Trinitätslehre, wie sie der Monarchianismus einschließt, wird so zur Vergeschichtlichung Gottes. Das wiederum heißt, dass Sinn nicht mehr einfach der Schöpfer der Geschichte ist, sondern dass die Geschichte zum Schöpfer des Sinnes und dieser zu ihrem Geschöpf wird. Karl Marx hat an dieser Stelle lediglich entschlossen weitergedacht: wenn der Sinn nicht dem Menschen vorausgeht, dann liegt er in der Zukunft, die der Mensch kämpferisch selbst herbeizuführen hat. (Fs) (notabene)

158a So zeigt sich aber, dass in der Konsequenz des monarchianischen Gedankens der Weg des Glaubens nicht weniger verloren geht als im Subordinatianismus. Denn in einer solchen Ansicht wird das dem Glauben so wesentliche Gegenüber der Freiheiten aufgehoben, aufgehoben wird aber auch der Dialog der Liebe und seine Unberechenbarkeit, aufgehoben die personalistische Struktur des Sinnes mit ihrem Ineinander von Größtem und Geringstem, von weltumgreifendem Sinn und sinnfragendem Geschöpf. Dies alles - das Personale, das Dialogische, die Freiheit und die Liebe - wird hier eingeschmolzen in die Notwendigkeit des einzigen Prozesses der Vernunft. Aber noch ein Weiteres wird hier sichtbar: es zeigt sich, dass das radikale Durchschauenwollen der Trinitätslehre, die radikale Logisierung, die zur Vergeschichtlichung des Logos selbst wird und mit dem Begreifen Gottes auch die Geschichte Gottes geheimnislos begreifen, in ihrer strengen Logik selbst konstruieren will - dass gerade dieser grandiose Versuch, die Logik des Logos selbst ganz in die Hand zu nehmen, zurückführt in eine Geschichtsmythologie, in den Mythos des geschichtlich sich gebärenden Gottes. Der Versuch einer totalen Logik endet in Unlogik, in der Selbstaufhebung der Logik in den Mythos hinein. (Fs)

158b Die Geschichte des Monarchianismus weist übrigens noch einen anderen Aspekt auf, der hier wenigstens kurz genannt werden soll: Schon in seiner altchristlichen Form und dann von neuem in seiner Wiederaufnahme durch Hegel und Marx enthält er eine ausgesprochen politische Note: Er ist »politische Theologie«. In der alten Kirche dient er dem Versuch, die kaiserliche Monarchie theologisch zu unterbauen; bei Hegel wird er zur Apotheose des preußischen Staatswesens, bei Marx zum Aktionsprogramm für eine heile Zukunft der Menschheit. Umgekehrt ließe sich zeigen, wie in der alten Kirche der Sieg des Trinitätsglaubens über den Monarchianismus einen Sieg über den politischen Missbrauch der Theologie bedeutete: Der kirchliche Trinitätsglaube hat die politisch brauchbaren Modelle gesprengt und damit Theologie als politischen Mythos aufgehoben, den Missbrauch der Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation verneint1. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Taufe Jesu; Antizipation des Todes; Ikonografie; Lamm Gottes

Kurzinhalt: Die Taufe Jesu wird so als Repetition der ganzen Geschichte verstanden, in der das Vergangene aufgegriffen und das Zukünftige vorweggenommen wird: Das Eintreten in die Sünde der anderen ist Abstieg ins "Inferno" ...

Textausschnitt: 43a Ganz Judäa und Jerusalem pilgerten zur Taufe, haben wir eben gehört. Aber nun kommt etwas Neues: "In jenen Tagen kam Jesus aus Nazareth in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen" (Mk 1,9). Von Pilgern aus Galiläa war bis dahin nicht die Rede gewesen; alles schien sich auf den judäischen Raum zu beschränken. Aber das eigentlich Neue ist nicht, dass Jesus aus einer anderen geographischen Zone, sozusagen von weither kommt. Das eigentliche Neue ist, dass er - Jesus - sich taufen lassen will, dass er in die graue Menge der Sünder eintritt, die da an den Ufern des Jordans warten. Zur Taufe gehörte ein Sündenbekenntnis (wir hörten es eben). Sie war selbst ein Sündenbekenntnis und der Versuch, ein altes, missratenes Leben abzulegen und ein neues zu empfangen. Konnte Jesus das? Wie konnte er Sünden bekennen? Wie sich vom bisherigen Leben trennen auf ein neues hin? Diese Frage mussten sich die Christen stellen. Das Streitgespräch zwischen dem Täufer und Jesus, von dem uns Matthäus erzählt, drückte auch ihre eigene Frage an Jesus aus: "Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?" (Mt 3,14). Matthäus berichtet uns dazu: "Jesus antwortete ihm: Lass es für jetzt zu. Denn so geziemt es sich, dass die ganze Gerechtigkeit erfüllt werde. Da gab Johannes nach" (3,15). (Fs)

43b Der Sinn dieser rätselhaft klingenden Antwort ist nicht leicht zu entschlüsseln. Jedenfalls steckt in dem Wörtchen arti - für jetzt - ein gewisser Vorbehalt: In einer bestimmten, vorläufigen Situation gilt eine bestimmte Weise des Handelns. Entscheidend für die Deutung der Antwort Jesu ist die Sinngebung des Wortes "Gerechtigkeit": Die ganze "Gerechtigkeit" muss erfüllt werden. Gerechtigkeit ist in der Welt, in der Jesus steht, die Antwort des Menschen auf die Tora, das Annehmen von Gottes ganzem Willen, das Tragen des "Joches von Gottes Reich", wie formuliert wurde. Die Johannes-Taufe ist von der Tora nicht vorgesehen, aber Jesus anerkennt sie mit diesem Wort als Ausdruck für das uneingeschränkte Ja zu Gottes Willen, als gehorsame Aufnahme seines Jochs. (Fs)
44a Weil im Hinabsteigen in diese Taufe ein Bekenntnis der Schuld und Bitte um Vergebung zu neuem Anfang enthalten sind, liegt in diesem Ja zum ganzen Willen Gottes in einer von der Sünde gezeichneten Welt auch ein Ausdruck der Solidarität mit den Menschen, die schuldig geworden sind, sich aber nach der Gerechtigkeit ausstrecken. Erst von Kreuz und Auferstehung her ist die ganze Bedeutung dieses Vorgangs erkennbar geworden. Die Täuflinge bekennen im Hinabsteigen in das Wasser ihre Sünde und suchen dieser Last ihrer Schuldverfallenheit ledig zu werden. Was hat Jesus da getan? Lukas, der in seinem ganzen Evangelium ein waches Augenmerk auf das Beten Jesu richtet, ihn immer wieder als den Betenden - im Gespräch mit dem Vater - darstellt, sagt uns, dass Jesus betend die Taufe empfangen habe (3,21). Von Kreuz und Auferstehung her wurde der Christenheit klar, was geschehen war: Jesus hatte die Last der Schuld der ganzen Menschheit auf seine Schultern geladen; er trug sie den Jordan hinunter. Er eröffnet sein Wirken damit, dass er an den Platz der Sünder tritt. Er eröffnet es mit der Antizipation des Kreuzes. Er ist sozusagen der wahre Jona, der zu den Schiffsleuten gesagt hatte: "Nehmt mich und werft mich ins Meer" (Jona 1,12). Die ganze Bedeutung der Taufe Jesu, sein Tragen der "ganzen Gerechtigkeit", wird erst im Kreuz offenbar: Die Taufe ist Todesannahme für die Sünden der Menschheit, und die Taufstimme - "Dies ist mein geliebter Sohn" - ist Vorverweis auf die Auferstehung. So versteht es sich auch, dass in Jesu eigenen Reden das Wort Taufe Bezeichnung für seinen Tod ist (Mk 10,38; Lk 12,50). (Fs)

45a Nur von da aus kann man die christliche Taufe verstehen. Die Antizipation des Kreuzestodes, die in der Taufe Jesu geschehen war, und die Antizipation der Auferstehung, die sich in der Himmelsstimme angekündigt hatte, sind nun Wirklichkeit geworden. So ist die Wassertaufe des Johannes aufgefüllt mit der Lebens- und Todestaufe Jesu. Der Einladung zur Taufe zu folgen, bedeutet nun, an den Ort der Taufe Jesu zu treten und so in seiner Identifikation mit uns unsere Identifikation mit ihm zu empfangen. Der Punkt seiner Antizipation des Todes ist nun für uns der Punkt unserer Antizipation der Auferstehung mit ihm geworden: Paulus hat in seiner Tauftheologie (Rom 6) diesen inneren Zusammenhang entwickelt, ohne ausdrücklich von der Taufe Jesu im Jordan zu sprechen. (Fs)
45b Die Ostkirche hat in ihrer Liturgie und ihrer Ikonen-Theologie dieses Verstehen der Taufe Jesu weiter entfaltet und vertieft. Sie sieht einen tiefreichenden Zusammenhang zwischen dem Gehalt des Festes Epiphanie (Proklamation der Gottessohnschaft durch die Himmelsstimme; die Epiphanie ist der Tauftag des Orients) und Ostern. In dem Wort Jesu an Johannes "Es ziemt sich, alle Gerechtigkeit zu erfüllen" (Mt 3,15) sieht sie die Vorwegnahme des Getsemane-Wortes "Vater ... nicht mein Wille geschehe, sondern der deinige" (Mt 26,39): Die liturgischen Gesänge des 3. Januar entsprechen denen des Mittwoch in der Karwoche, die des 4. Januar denen des Gründonnerstag, die des 5. Januar denen von Karfreitag und Karsamstag. (Fs)

46a Die Ikonographie nimmt diese Entsprechungen auf. Die Ikone der Taufe Jesu zeigt das Wasser wie ein flüssiges Grab, das die Form einer dunklen Höhle hat, die ihrerseits das ikonographische Zeichen für den Hades, die Unterwelt, die Hölle ist. Das Hinabsteigen Jesu in dieses flüssige Grab, in dieses Inferno, das ihn ganz umschließt, ist so Vorvollzug des Abstiegs in die Unterwelt: "Hinabgestiegen in die Wasser, hat er gebunden den Starken" (vgl. Lk 11,22), sagt Cyrill von Jerusalem. Johannes Chrysostomus schreibt: "Untertauchen und Auftauchen sind das Bild für Abstieg in die Hölle und Auferstehung." Die Troparien der byzantinischen Liturgie fügen noch einen weiteren symbolischen Bezug hinzu: "Der Jordan wich damals zurück vor dem Mantel des Elisäus [Elischa], die Wasser teilten sich und gaben einen trockenen Weg frei als wahrhaftiges Bild für die Taufe, durch die wir die Straße des Lebens durchschreiten" (Evdokimov, a. a. O., S. 246). (Fs)

46b Die Taufe Jesu wird so als Repetition der ganzen Geschichte verstanden, in der das Vergangene aufgegriffen und das Zukünftige vorweggenommen wird: Das Eintreten in die Sünde der anderen ist Abstieg ins "Inferno" - nicht nur, wie bei Dante, zuschauend, sondern mit-leidend, um-leidend und damit umwandelnd, die Türen der Tiefe umstoßend und aufstoßend. Sie ist Hinabsteigen ins Haus des Bösen, Kampf mit dem Starken, der den Menschen gefangen hält (und wie sehr sind wir alle in der Tat gefangen von den Mächten, die uns namenlos manipulieren!). Dieser Starke und von den eigenen Kräften der Weltgeschichte her Unbesiegbare wird überwältigt und gebunden von dem Stärkeren, der als Gottgleicher alle Schuld der Welt aufnehmen kann und ausleidet - nichts auslassend im Hinabsteigen in die Identität mit den Gefallenen. Dieses Ringen ist die "Kehre" des Seins, die eine neue Beschaffenheit des Seins erwirkt, einen neuen Himmel und eine neue Erde vorbereitet. Das Sakrament - die Taufe - erscheint von da aus als Teil-Gabe an Jesu weltverwandelndem Ringen in der Wende des Lebens, die in seinem Hinabsteigen und Heraufsteigen geschehen ist. (Fs)
47a Haben wir uns mit dieser kirchlichen Auslegung und An-verwandlung des Geschehens der Taufe Jesu zu weit von der Bibel entfernt? Es tut gut, in diesem Zusammenhang auf das vierte Evangelium zu hören, nach dem Johannes der Täufer beim Anblick Jesu die Worte gesprochen hat: "Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt" (1,29). Über dieses Wort, das in der römischen Liturgie vor der Kommunionspendung gesprochen wird, ist viel herumgerätselt worden. Was bedeutet "Lamm Gottes"? Wieso wird Jesus als "Lamm" benannt, und wieso trägt dieses "Lamm" die Sünden der Welt weg, überwindet sie ins Wesens- und Wirklichkeitslose hinein. (Fs)

47b Joachim Jeremias hat die entscheidenden Hilfen geboten, um dieses Wort richtig zu verstehen und es - auch historisch - als wirkliches Täuferwort betrachten zu können. Zunächst sind zwei alttestamentliche Anspielungen darin zu erkennen. Das Gottesknechtslied Jes 53,7 vergleicht den leidenden Knecht Gottes mit einem Lamm, das man zum Schlachten führt; "wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf". Wichtiger noch ist, dass Jesus an einem Pascha-Fest gekreuzigt wurde und nun als das wirkliche Pascha-Lamm erscheinen musste, in dem sich erfüllte, was die Bedeutung des Pascha-Lammes beim Auszug aus Ägypten gewesen war: Befreiung aus der ägyptischen Todesherrschaft und Freigabe zum Exodus, zur Wanderung in die Freiheit der Verheißung hinein. Von Ostern her ist die Lamm-Symbolik für das Verständnis Christi grundlegend geworden; wir finden sie bei Paulus (1 Kor 5,7), bei Johannes (19,36), im Ersten Petrusbrief (1,19) und in der Apokalypse (zum Beispiel Offb 5,6). (Fs)

48a Jeremias macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass dasselbe hebräische Wort talia sowohl "Lamm" wie "Knabe, Knecht" bedeutet (a. a. O., S. 343). So mag das Wort des Täufers zunächst auf den Knecht Gottes hingezeigt haben, der mit seinem stellvertretenden Büßen die Sünden der Welt "trägt"; aber darin gab es ihn doch zugleich als das wahre Pascha-Lamm zu erkennen, das sühnend die Sünde der Welt tilgt. "Geduldig wie ein Opferlamm ist der am Kreuz sterbende Heiland stellvertretend in den Tod gegangen; durch die Sühnekraft seines unschuldigen Sterbens hat er die Schuld ... der ganzen Menschheit getilgt ..." (ebd., S. 343t). Wenn in der Not der ägyptischen Unterdrückung das Blut des Pascha-Lammes für die Befreiung Israels entscheidend geworden war, so steht er, der Sohn, der Knecht wurde - der Hirte, der Lamm geworden ist -, nicht mehr bloß für Israel, sondern für die Befreiung der "Welt" - für die Menschheit im Ganzen. (Fs)
48b Damit ist das große Thema der Universalität von Jesu Sendung angesprochen. Israel ist nicht für sich selber da, sondern seine Erwählung ist der Weg, auf dem Gott zu allen kommen will: Das Thema der Universalität wird uns als eigentliche Mitte der Sendung Jesu immer wieder begegnen; mit dem Wort vom Lamm Gottes, das der Welt Schuld trägt, erscheint es im vierten Evangelium gleich zu Beginn von Jesu Weg. (Fs)

49a Das Wort vom Lamm Gottes interpretiert, wenn wir so sagen dürfen, den kreuzestheologischen Charakter von Jesu Taufe, von seinem Hinabsteigen in die Tiefe des Todes. Alle vier Evangelien berichten in unterschiedlicher Weise, dass beim Heraufsteigen Jesu aus dem Wasser der Himmel "aufriss" (Mk), sich öffnete (Mt und Lk); dass der Geist "wie eine Taube" auf ihn herabkam und dass dabei eine Stimme vom Himmel ertönte, die nach Markus und Lukas Jesus anredet "Du bist ...", nach Matthäus über ihn sagt: "Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe" (3,17). Das Bild von der Taube mag an das Schweben des Geistes über den Wassern erinnern, von dem der Schöpfungsbericht redet (Gen 1,2); es erscheint durch das Wörtchen "wie" (wie eine Taube) als "Vergleich für das im Grunde genommen Nicht-Beschreibbare ..." (Gnilka, a. a. O., S. 78). Derselben Himmelsstimme wie hier werden wir wieder bei der Verklärung Jesu begegnen, bei der allerdings der Imperativ hinzugefügt ist: "Auf ihn sollt ihr hören." Dort werden wir die Bedeutung dieser Worte näher bedenken müssen. (Fs)

49b An dieser Stelle möchte ich nur drei Aspekte ganz kurz unterstreichen. Da ist zunächst das Bild vom aufgerissenen Himmel: Über Jesus steht der Himmel offen. Seine Willensgemeinschaft mit dem Vater, die "ganze Gerechtigkeit", die er erfüllt, eröffnet den Himmel, dessen Wesen gerade ist, dass Gottes Wille dort ganz erfüllt ist. Dazu tritt dann die von Gott, vom Vater, herkommende Proklamation der Sendung Jesu, die aber nicht ein Tun, sondern sein Sein auslegt: Er ist der geliebte Sohn, auf ihm ruht Gottes Wohlgefallen. Endlich möchte ich darauf hinweisen, dass uns hier mit dem Sohn der Vater und der Heilige Geist begegnen: Das Geheimnis des trinitarischen Gottes deutet sich an, das sich freilich erst im Ganzen von Jesu Weg in seiner Tiefe enthüllen kann. Insofern reicht aber doch ein Bogen von diesem Anfang der Wege Jesu bis hin zu dem Wort, mit dem er als Auferstandener seine Jünger in die Welt senden wird: "Geht zu allen Völkern und ... tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ..." (Mt 28,19). Die Taufe, die die Jünger Jesu seitdem spenden, ist Eintreten in die Taufe Jesu - in die Wirklichkeit, die er damit vorweggenommen hat. So wird man Christ. (Fs)

50a In einem breiten Strom der liberalen Forschung ist Jesu Taufe als Berufungserlebnis ausgelegt worden: Hier habe er, der bisher ein ganz gewöhnliches Leben in der gali-läischen Provinz geführt hatte, eine grundstürzende Erfahrung gemacht; hier sei ihm das Bewusstsein einer besonderen Gottesbeziehung und seiner religiösen Sendung gekommen, die sich aus dem in Israel herrschenden und durch Johannes neu gestalteten Thema der Erwartungen wie aus seiner persönlichen Erschütterung durch den Taufvorgang ergeben habe. Aber davon steht nichts in den Texten. Wie gelehrt auch diese Auffassung dargeboten werden mag, so ist sie doch viel eher dem Genus des Jesus-Romans als wirklicher Auslegung der Texte zuzurechnen. Sie lassen uns ins Innere Jesu nicht hineinschauen - Jesus steht über unseren Psychologien (Romano Guardini). Aber sie lassen uns erkennen, wie Jesus im Zusammenhang von "Mose und den Propheten" steht; sie lassen uns die innere Einheit seines Weges vom ersten Augenblick seines Lebens bis hin zu Kreuz und Auferstehung erkennen. Jesus erscheint nicht als ein genialer Mensch mit seinen Erschütterungen, seinem Scheitern und Gelingen, womit er als Individuum einer vergangenen Periode letztlich in einer unüberbrückbaren Distanz zu uns bliebe. Er steht vor uns als "der geliebte Sohn", der so einerseits der ganz Andere ist, aber gerade deshalb auch uns allen gleichzeitig werden kann, einem jeden von uns innerlicher als wir uns selbst (vgl. Augustinus, Confessiones 111,6,11). (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Versuchung Jesu; Kern aller Versuchung; moralische Gebärde

Kurzinhalt: Der Kern aller Versuchung ... ist das Beiseiteschieben Gottes, der neben allem vordringlicher Erscheinenden unseres Lebens als zweitrangig, wenn nicht überflüssig und störend empfunden wird. Die Welt aus Eigenem, ohne Gott, in Ordnung zu bringen, ...

Textausschnitt: 57a Matthäus und Lukas erzählen von drei Versuchungen Jesu, in denen sich das Ringen um seinen Auftrag spiegelt, aber damit zugleich die Frage ansteht, worum es im Menschenleben überhaupt geht. Der Kern aller Versuchung - das wird hier sichtbar - ist das Beiseiteschieben Gottes, der neben allem vordringlicher Erscheinenden unseres Lebens als zweitrangig, wenn nicht überflüssig und störend empfunden wird. Die Welt aus Eigenem, ohne Gott, in Ordnung zu bringen, auf das Eigene zu bauen, nur die politischen und materiellen Realitäten als Wirklichkeit anzuerkennen und Gott als Illusion beiseitezulassen, das ist die Versuchung, die uns in vielerlei Gestalten bedroht. (Fs) (notabene)

57b Zum Wesen der Versuchung gehört ihre moralische Gebärde: Sie lädt uns gar nicht direkt zum Bösen ein, das wäre zu plump. Sie gibt vor, das Bessere zu zeigen: die Illusionen endlich beiseitezulassen und uns tatkräftig der Verbesserung der Welt zuzuwenden. Sie tritt zudem unter dem Anspruch des wahren Realismus auf: Das Reale ist das Vorkommende - Macht und Brot; die Dinge Gottes erscheinen demgegenüber als irreal, eine Sekundärwelt, derer es eigentlich nicht bedarf. (Fs)

57c Es geht um Gott: Ist er der Wirkliche, die Wirklichkeit selbst, oder ist er es nicht? Ist er der Gute, oder müssen wir das Gute selber erfinden? Die Gottesfrage ist die Grundfrage, die uns an den Scheideweg der menschlichen Existenz stellt. Was muss der Retter der Welt tun oder nicht tun - das ist in den Versuchungen Jesu die Frage. Die drei Versuchungen sind bei Matthäus und Lukas identisch, nur die Abfolge ist anders. Folgen wir jener, die Matthäus bietet, wegen der Konsequenz der Steigerung, in der sie gebaut ist. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: 1. Versuchung Jesu; "Gottesbeweis": Brot, Sichtbarkeit der Größe Gottes

Kurzinhalt: ... was widerspricht mehr dem Glauben an einen guten Gott und dem Glauben an einen Erlöser der Menschen als der Hunger in der Menschheit? ... Wo diese Ordnung der Güter nicht geachtet, ... da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit ...

Textausschnitt: 58b "Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird" (Mt 4,3) - so lautet die erste Versuchung. "Wenn du Gottes Sohn bist ..." - wir werden dieses Wort wieder von den Spöttern unter dem Kreuz hören: "Wenn du der Sohn Gottes bist, dann steig doch herab vom Kreuz..." (Mt 27,40). Das Buch der Weisheit hat diese Situation schon vorausgesehen: "Wenn der Gerechte wirklich Gottes Sohn ist, dann nimmt sich Gott seiner an ..." (2,18). Spott und Versuchung gehen hier ineinander über: Christus soll den Beweis für seinen Anspruch antreten, um glaubhaft zu werden. Diese Beweisforderung geht durch die ganze Lebensgeschichte Jesu hindurch, in der ihm immer wieder vorgehalten wird, dass er sich nicht genügend ausgewiesen habe, dass er doch das große Wunder tun müsse, das alle Zweideutigkeit und allen Widerspruch aufhebt und für jeden unbestreitbar klarstellt, wer und was er ist oder nicht ist. (Fs)

59a Und diese Forderung halten wir doch Gott und Christus und seiner Kirche die ganze Geschichte hindurch entgegen: Wenn es dich gibt, Gott, dann musst du dich zeigen. Dann musst du die Wolke deiner Verborgenheit aufreißen und uns die Klarheit geben, auf die wir Anspruch haben. Wenn du, Christus, wirklich der Sohn bist und nicht einer der Erleuchteten, wie sie immer wieder in der Geschichte auftraten, dann musst du es eben deutlicher zeigen, als du es tust. Und dann musst du deiner Kirche, wenn sie schon die deine sein soll, ein anderes Maß an Eindeutigkeit geben, als es ihr in Wirklichkeit eignet. (Fs)

59b Wir werden auf diesen Punkt bei der zweiten Versuchung zurückkommen, deren eigentliches Zentrum er bildet. Der Gottesbeweis, den der Versucher bei der ersten Versuchung vorschlägt, besteht darin, die Steine der Wüste zu Brot zu machen. Zunächst geht es um den Hunger Jesu selbst - so hat Lukas es gesehen: "Sag zu diesem Stein, dass er Brot wird" (Lk 4,3). Aber Matthäus versteht die Versuchung weiträumiger, so wie sie dann schon zu Lebzeiten des irdischen Jesus und die ganze Geschichte hindurch immer wieder an ihn herangetragen wurde und herangetragen wird. (Fs)

60a Was ist tragischer, was widerspricht mehr dem Glauben an einen guten Gott und dem Glauben an einen Erlöser der Menschen als der Hunger in der Menschheit? Muss es nicht der erste Ausweis des Erlösers vor der Welt und für die Welt sein, dass er ihr Brot gibt und dass aller Hunger endet? In der Zeit der Wüstenwanderung hatte Gott das Volk Israel durch Brot vom Himmel, durch das Manna ernährt. Darin glaubte man ein Bild der messianischen Zeit erkennen zu dürfen: Musste nicht und muss nicht der Erlöser der Welt sich dadurch ausweisen, dass er allen zu essen gibt? Ist nicht das Problem der Welternährung - und allgemeiner: die sozialen Probleme - der erste und eigentliche Maßstab, an dem Erlösung gemessen werden muss? Kann jemand zu Recht Erlöser heißen, der diesem Maßstab nicht genügt? Der Marxismus hat genau dies -höchst begreiflicherweise - zum Kern seiner Heilsverheißung gemacht: Er werde dafür sorgen, dass aller Hunger endet und dass die "Wüste zu Brot wird" ... (Fs)

60b "Wenn du der Sohn Gottes bist ..." - welche Herausforderung. Und muss man nicht dasselbe zur Kirche sagen: Wenn du Kirche Gottes sein willst, dann kümmere dich zuallererst um Brot für die Welt - das andere kommt hernach. Es ist schwer, auf diese Herausforderung zu antworten, gerade weil uns der Schrei der Hungernden so sehr in die Ohren und in die Seele dringt und dringen muss. Die Antwort Jesu kann man von der Versuchungsgeschichte allein her nicht verstehen. Das Brot-Thema durchdringt das ganze Evangelium und muss in seiner ganzen Erstreckung gesehen werden. (Fs)

61a Es gibt noch zwei weitere große Brotgeschichten im Leben Jesu. Da ist die Brotvermehrung für die Tausenden, die dem Herrn in die Einsamkeit gefolgt sind. Warum wird nun getan, was vorher als Versuchung zurückgewiesen worden war? Die Menschen waren gekommen, um Gottes Wort zu hören, und hatten alles andere dafür liegengelassen. Und so, als Menschen, die ihr Herz für Gott und füreinander geöffnet haben, können sie das Brot in der rechten Weise empfangen. Zu diesem Brotwunder gehört also dreierlei: Die Suche nach Gott, nach seinem Wort, nach der rechten Weisung für das ganze Leben ist vorangegangen. Das Brot wird des Weiteren von Gott erbeten. Und endlich ist die gegenseitige Bereitschaft des Teilens ein wesentliches Element des Wunders. Das Hören auf Gott wird zum Leben mit Gott, und es führt vom Glauben zur Liebe, zur Entdeckung des anderen. Jesus ist gegenüber dem Hunger der Menschen, ihrem leiblichen Bedürfen, nicht gleichgültig, aber er stellt es in den rechten Zusammenhang und gibt ihm die rechte Ordnung. (Fs)

61b Diese zweite Brotgeschichte weist damit voraus auf die dritte und ist Vorbereitung für sie: das Letzte Abendmahl, das zur Eucharistie der Kirche und zum immerwährenden Brotwunder Jesu wird. Jesus ist selbst zum gestorbenen Weizenkorn geworden, das reiche Frucht bringt (Joh 12,24). Er ist selbst Brot für uns geworden, und diese Brotvermehrung dauert unerschöpflich bis zum Ende der Zeiten. So verstehen wir jetzt das Wort Jesu, das er dem Alten Testament (Dtn 8,3) entnimmt, um damit den Versucher zurückzuweisen: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Munde kommt" (Mt 4,4). Es gibt dazu einen Satz des von den Nationalsozialisten hingerichteten deutschen Jesuiten Alfred Delp: "Brot ist wichtig, Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung. (Fs)

62a Wo diese Ordnung der Güter nicht geachtet, sondern auf den Kopf gestellt wird, da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit, da wird nicht mehr für den leidenden Menschen gesorgt, sondern da wird gerade auch der Bereich der materiellen Güter zerrüttet und zerstört. Wo Gott als sekundäre Größe angesehen wird, die man zeitweise oder überhaupt wichtigerer Dinge wegen beiseitelassen kann, da scheitern gerade diese vermeintlich wichtigeren Dinge. Nicht nur der negative Ausgang des marxistischen Experiments beweist das. (Fs)

62b Die auf rein technisch-materiellen Prinzipien aufgebaute Entwicklungshilfe des Westens, die Gott nicht nur ausgelassen, sondern die Menschen von Gott abgedrängt hat mit dem Stolz ihrer Besserwisserei, hat erst die Dritte Welt zur Dritten Welt im heutigen Sinn gemacht. Sie hat die gewachsenen religiösen, sittlichen und sozialen Strukturen beiseitegeschoben und ihre technizistische Mentalität ins Leere hineingestellt. Sie glaubte, Steine in Brot verwandeln zu können, aber sie hat Steine für Brot gegeben. Es geht um den Primat Gottes. Es geht darum, ihn als Wirklichkeit anzuerkennen, als Wirklichkeit, ohne die nichts anderes gut sein kann. Die Geschichte kann nicht abseits von Gott durch bloß materielle Strukturen geregelt werden. Wenn das Herz des Menschen nicht gut ist, dann kann nichts anderes gut werden. Und die Güte des Herzens kann letztlich nur von dem kommen, der die Güte - das Gute - selbst ist. (Fs)

63a Natürlich kann man fragen, warum Gott nicht eine Welt gemacht hat, in der seine Gegenwart offenkundiger ist; warum Christus nicht einen anderen, jeden unwiderstehlich treffenden Glanz seiner Gegenwart zurückgelassen hat. Das ist das Geheimnis von Gott und Mensch, das wir nicht durchdringen können. Wir leben in dieser Welt, in der Gott eben nicht die Evidenz des Greifbaren hat, sondern nur durch den Aufbruch des Herzens, den "Exodus" aus "Ägypten", gesucht und gefunden werden kann. In dieser Welt müssen wir uns den Täuschungen falscher Philosophien widersetzen und erkennen, dass wir nicht vom Brot allein leben, sondern zuallererst vom Gehorsam gegen Gottes Wort. Und erst wo dieser Gehorsam gelebt wird, wächst die Gesinnung, die auch Brot für alle zu schaffen vermag. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: 2. Versuchung Jesu; Solowjew (Antichrist); kein Sprung vom Tempel, sondern in die Tiefe des Todes

Kurzinhalt: So erscheint der wirkliche Sinn von Psalm 91 her, das Recht zu jenem letzten und unbegrenzten Vertrauen, von dem darin die Rede ist: Wer dem Willen Gottes folgt, der weiß, ...

Textausschnitt: 63b Kommen wir zur zweiten Versuchung Jesu, deren exemplarische Bedeutung in mancher Hinsicht am schwersten zu verstehen ist. Die Versuchung ist als eine Art Vision aufzufassen, in der wiederum Wirklichkeit, eine besondere Gefährdung des Menschen und des Auftrags Jesu zusammengefasst ist. Zunächst ist da etwas Auffälliges. Der Teufel zitiert die Heilige Schrift, um Jesus in seine Falle zu locken. Er zitiert den Psalm 91,11f, der von dem Schutz spricht, den Gott dem gläubigen Menschen gewährt: "Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu hüten auf allen deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt." Dieses Wort gewinnt dadurch noch besonderes Gewicht, dass es in der Heiligen Stadt, an heiligem Ort gesprochen ist. In der Tat ist der zitierte Psalm an den Tempel gebunden; sein Beter erhofft sich Schutz im Tempel, denn die Wohnung Gottes muss als besondere Stätte göttlichen Schutzes gelten. Wo sollte der Mensch, der an Gott glaubt, sich sicherer wissen dürfen als im heiligen Bereich des Tempels ? (ausführlicher dazu Gnilka, Das Matthäusevangelium 1, a. a. O., S. 88f). Der Teufel erweist sich als Schriftkenner, der den Psalm genau zu zitieren weiß; das ganze Gespräch der zweiten Versuchung erscheint förmlich wie ein Streit zweier Schriftgelehrter: Der Teufel tritt als Theologe auf, bemerkt Joachim Gnilka dazu. (Fs)

64a Wladimir Solowjew hat dieses Motiv in seiner Kurzen Erzählung vom Antichrist aufgenommen: Der Antichrist empfängt von der Universität Tübingen den Ehrendoktor der Theologie; er ist ein großer Bibelgelehrter. Solowjew hat mit dieser Darstellung seine Skepsis gegenüber einem gewissen Typ exegetischer Gelehrsamkeit seiner Zeit drastisch ausgedrückt. Das ist kein Nein zur wissenschaftlichen Bibelauslegung als solcher, aber eine höchst heilsame und notwendige Warnung vor ihren möglichen Irrwegen. Bibelauslegung kann in der Tat zum Instrument des Antichrist werden. Das sagt uns nicht erst Solowjew, das ist die innere Aussage der Versuchungsgeschichte selbst. Aus scheinbaren Ergebnissen der wissenschaftlichen Exegese sind die schlimmsten Bücher der Zerstörung der Gestalt Jesu, der Demontage des Glaubens geflochten worden. (Fs)

64b Heute wird die Bibel weithin dem Maßstab des so-genannten modernen Weltbildes unterworfen, dessen Grunddogma es ist, dass Gott in der Geschichte gar nicht handeln kann - dass also alles, was Gott betrifft, in den Bereich des Subjektiven zu verlegen sei. Dann spricht die Bibel nicht mehr von Gott, dem lebendigen Gott, sondern dann sprechen nur noch wir selber und bestimmen, was Gott tun kann und was wir tun wollen oder sollen. Und der Antichrist sagt uns dann mit der Gebärde hoher Wissenschaftlichkeit, dass eine Exegese, die die Bibel im Glauben an den lebendigen Gott liest und ihm selbst dabei zuhört, Fundamentalismus sei; nur seine Exegese, die angeblich rein wissenschaftliche, in der Gott selbst nichts sagt und nichts zu sagen hat, sei auf der Höhe der Zeit. (Fs)

65a Das theologische Streitgespräch zwischen Jesus und dem Teufel ist ein alle Zeiten betreffender Disput um die rechte Schriftauslegung, deren grundlegende hermeneutische Frage die Frage nach dem Gottesbild ist. Der Streit um die Auslegung ist letztlich ein Streit darum, wer Gott ist. Dieses Ringen um das Gottesbild, um das es im Disput um die gültige Schriftauslegung geht, entscheidet sich aber konkret am Bild Christi: Ist er, der ohne weltliche Macht geblieben ist, wirklich der Sohn des lebendigen Gottes. (Fs)

65b So führt die strukturelle Frage des merkwürdigen Schriftgesprächs zwischen Christus und dem Versucher direkt in die inhaltliche Frage hinein. Worum geht es da? Man hat diese Versuchung mit dem Motiv von "Brot und Spiele" zusammengebracht: Nach dem Brot müsse die Sensation geboten werden. Da die bloße körperliche Sättigung ganz offensichtlich dem Menschen nicht ausreicht, müsse der, der Gott nicht in die Welt und in den Menschen einlassen will, den Kitzel spannender Erregungen bieten, deren Schauer die religiöse Ergriffenheit ersetzt und verdrängt. Aber das kann an dieser Stelle wohl nicht gemeint sein, da in der Versuchung anscheinend keine Zuschauer vorausgesetzt werden. (Fs)

65c Der Punkt, um den es geht, erscheint in der Antwort Jesu (Mt 4,7), die wiederum dem Deuteronomium (6,16) entnommen ist: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!" Das ist im Deuteronomium eine Anspielung auf die Geschichte, wie Israel vor Durst in der Wüste umzukommen drohte. Es kommt zur Rebellion gegen Mose, die eine Rebellion gegen Gott wird. Gott muss zeigen, dass er Gott ist. Diese Rebellion gegen Gott wird in der Bibel so beschrieben: "Sie stellten den Herrn auf die Probe, indem sie sagten: Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?" (Ex 17,7). Es geht also um das, was vorhin schon angeklungen war: Gott muss sich dem Experiment stellen. Er wird "erprobt", wie man Waren ausprobiert. Er muss sich den Bedingungen unterwerfen, die wir für unsere Gewissheit als nötig erklären. Wenn er jetzt den von Psalm 91 zugesagten Schutz nicht gewährt, dann ist er eben nicht Gott. Dann hat er sein eigenes Wort und so sich selbst falsifiziert. (Fs)

66a Die ganze große Frage, wie man Gott erkennen und wie man ihn nicht erkennen kann, wie der Mensch zu Gott stehen und wie er ihn verlieren kann, steht hier vor uns. Der Hochmut, der Gott zum Objekt machen und ihm unsere Laborbedingungen auflegen will, kann Gott nicht finden. Denn er setzt bereits voraus, dass wir Gott als Gott leugnen, weil wir uns über ihn stellen. Weil wir die ganze Dimension der Liebe, des inneren Hörens ablegen und nur noch das Experimentierbare, das in unsere Hand gegeben ist, als wirklich anerkennen. Wer so denkt, macht sich selbst zu Gott und erniedrigt dabei nicht nur Gott, sondern die Welt und sich selber. (Fs)

66b Von dieser Szene auf der Tempelzinne aus öffnet sich aber auch der Blick auf das Kreuz hin. Christus hat sich nicht von der Tempelzinne gestürzt. Er ist nicht in die Tiefe gesprungen. Er hat Gott nicht versucht. Aber er ist in die Tiefe des Todes hinabgestiegen, in die Nacht der Verlassenheit, in die Ausgesetztheit der Wehrlosen. Er hat diesen Sprung gewagt als Akt der Liebe von Gott her für die Menschen. Und deshalb wusste er, dass er bei diesem Sprung zuletzt nur in die gütigen Hände des Vaters fallen konnte. So erscheint der wirkliche Sinn von Psalm 91 her, das Recht zu jenem letzten und unbegrenzten Vertrauen, von dem darin die Rede ist: Wer dem Willen Gottes folgt, der weiß, dass er in allen Schrecknissen, die ihm widerfahren, einen letzten Schutz nicht verliert. Der weiß, dass der Grund der Welt Liebe ist und dass er daher auch da, wo kein Mensch ihm helfen kann oder will, im Vertrauen auf den weitergehen darf, der ihn liebt. Solches Vertrauen, zu dem die Schrift uns ermächtigt und zu dem der Herr, der Auferstandene, uns einlädt, ist aber etwas ganz anderes als die abenteuerliche Herausforderung Gottes, die Gott zu unserem Knecht machen möchte. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: 3. Versuchung Jesu; Berg, Golgotha; Jesus Barabbas; Petrus

Kurzinhalt: Aber was hat Jesus dann eigentlich gebracht, wenn er nicht den Weltfrieden, nicht den Wohlstand für alle, nicht die bessere Welt gebracht hat? Was hat er gebracht. ... Die Antwort lautet ganz einfach: Gott.

Textausschnitt: 67a Kommen wir zur dritten und letzten Versuchung, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte. Der Teufel führt den Herrn visionär auf einen hohen Berg. Er zeigt ihm alle Königreiche der Erde und deren Glanz und bietet ihm das Weltkönigtum an. Ist das nicht genau die Sendung des Messias? Soll er nicht der Weltkönig sein, der die ganze Erde in einem großen Reich des Friedens und des Wohlstands vereinigt? Wie es zur Brotversuchung zwei merkwürdige Gegenstücke in der Geschichte Jesu gibt, die Brotvermehrung und das Letzte Abendmahl, so ist es auch hier. (Fs)

67b Der auferstandene Herr versammelt die Seinen "auf dem Berg" (Mt 28,16). Und nun sagt er tatsächlich: "Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden" (28,18). Zweierlei ist hier neu und anders: Der Herr hat Macht im Himmel und auf Erden. Und nur wer diese ganze Macht hat, hat die wirkliche, die rettende Macht. Ohne den Himmel bleibt irdische Macht immer zweideutig und brüchig. Nur Macht, die sich unter das Maß und unter das Gericht des Himmels, das heißt Gottes stellt, kann Macht zum Guten werden. Und nur Macht, die unter dem Segen Gottes steht, kann verlässlich sein. (Fs)

68a Dazu kommt das andere: Jesus hat diese Macht als Auferstandener. Das heißt: Diese Macht setzt das Kreuz voraus, setzt seinen Tod voraus. Sie setzt den anderen Berg voraus - Golgotha, wo er, von den Menschen verspottet und von den Seinigen verlassen, am Kreuz hängt und stirbt. Das Reich Christi ist anders als die Königreiche der Erde und ihr Glanz, den Satan vorführt. Dieser Glanz ist, wie das griechische Wort doxa besagt, Schein, der sich auflöst. Solchen Glanz hat Christi Reich nicht. Es wächst durch die Demut der Verkündigung in denen, die sich zu seinen Jüngern machen lassen, die getauft werden auf den dreifaltigen Gott und die seine Gebote halten (Mt 28,19t). (Fs)

68b Aber kehren wir zurück zur Versuchung. Ihr wahrer Gehalt wird sichtbar, wenn wir sehen, wie sie die Geschichte hindurch immer neue Gestalt annimmt. Das christliche Kaisertum versuchte alsbald, den Glauben zum politischen Faktor der Reichseinheit zu machen. Das Reich Christi soll nun doch die Gestalt eines politischen Reiches und seines Glanzes erhalten. Der Ohnmacht des Glaubens, der irdischen Ohnmacht Jesu Christi soll durch politische und militärische Macht aufgeholfen werden. In allen Jahrhunderten ist in vielfältigen Formen diese Versuchung immer neu aufgestanden, den Glauben durch Macht sicherzustellen, und immer wieder drohte er gerade in den Umarmungen der Macht erstickt zu werden. Der Kampf um die Freiheit der Kirche, der Kampf darum, dass Jesu Reich mit keinem politischen Gebilde identisch sein kann, muss alle Jahrhunderte geführt werden. Denn der Preis für die Verschmelzung von Glauben und politischer Macht besteht zuletzt immer darin, dass der Glaube in den Dienst der Macht tritt und sich ihren Maßstäben beugen muss. (Fs)

69a In der Passionsgeschichte des Herrn erscheint die Alternative, um die es hier geht, in erregender Gestalt. Auf dem Höhepunkt des Prozesses stellt Pilatus Jesus und Barabbas zur Wahl. Einer von beiden wird freigegeben werden. Wer aber war Barabbas? Wir haben gewöhnlich nur die Formulierung des Johannes-Evangeliums im Ohr: "Barabbas aber war ein Räuber" (18,40). Aber das griechische Wort für Räuber konnte in der politischen Situation von damals in Palästina eine spezifische Bedeutung bekommen. Es besagte dann so viel wie "Widerstandskämpfer". Barabbas hatte an einem Aufstand teilgenommen (Mk 15,7) und war darüber hinaus - in diesem Zusammenhang - des Mordes angeklagt (Lk 23,19.25). Wenn Matthäus sagt, Barabbas sei ein "berühmter Gefangener" gewesen, so zeigt dies, dass er einer der herausragenden Widerstandskämpfer, wohl der eigentliche Anführer jenes Aufstands gewesen ist (27,16). (Fs)

69b Mit anderen Worten: Barabbas war eine messianische Figur. Die Wahl Jesus - Barabbas ist nicht zufällig; zwei messianische Gestalten, zwei Formen des Messianismus stehen sich gegenüber. Das wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, dass Bar-Abbas "Sohn des Vaters" heißt. Es ist eine typisch messianische Benennung, der Kultname eines herausragenden Anführers der messianischen Bewegung. Der letzte große messianische Krieg der Juden im Jahr 132 wurde von Bar-Kochba - "Sternensohn" - geführt. Das ist dieselbe Namensbildung; dieselbe Absicht wird dargestellt. (Fs)

70a Von Origenes erfahren wir noch ein weiteres interessantes Detail: In vielen Handschriften der Evangelien bis ins 3. Jahrhundert hieß der Mann, um den es geht, "Jesus Barabbas" - Jesus Sohn des Vaters. Er stellt sich als eine Art Doppelgänger zu Jesus dar, der freilich den gleichen Anspruch auf eine ganz andere Weise auffasst. Die Wahl steht also zwischen einem Messias, der den Kampf anführt, der Freiheit und das eigene Reich verspricht, und diesem geheimnisvollen Jesus, der das Sich-Verlieren als Weg zum Leben verkündet. Ist es ein Wunder, dass die Massen Barabbas den Vorzug gaben? (Ausführlicher dazu Vittorio Messori in seinem wichtigen Buch Gelitten unter Pontius Pilatus?, deutsche Ausgabe: Adamas, Köln 1997, S. 64-76.)

70b Wenn wir heute zu wählen hätten, hätte da Jesus aus Nazareth, der Sohn Marias, der Sohn des Vaters eine Chance? Kennen wir Jesus überhaupt? Verstehen wir ihn? Müssen wir ihn gestern wie heute nicht ganz neu kennenzulernen uns mühen? Der Versucher ist nicht grob genug, uns direkt die Anbetung des Teufels vorzuschlagen. Er schlägt uns nur vor, uns für das Vernünftige zu entscheiden, für den Vorrang einer geplanten und durchorganisierten Welt, in der Gott als Privatangelegenheit seinen Platz haben mag, aber in unsere wesentlichen Absichten uns nicht dreinreden darf. Solowjew schreibt dem Antichristen ein Buch zu, Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt, das sozusagen die neue Bibel wird und die Anbetung des Wohlstands und der vernünftigen Planung zum eigentlichen Inhalt hat. (Fs)

71a Die dritte Versuchung Jesu erweist sich so als die grundlegende - die Frage danach, was ein Heiland der Welt tun muss. Sie durchzieht das ganze Leben Jesu. Sie tritt an einer entscheidenden Wende seines Weges noch einmal offen hervor. Petrus hatte im Namen der Jünger das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias-Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, gesprochen und damit jenen Glauben formuliert, der die Kirche aufbaut und die neue, auf Christus gegründete Gemeinschaft des Glaubens eröffnet. Aber gerade an dieser entscheidenden Stelle, an der gegenüber der "Meinung der Leute" die scheidende und ent-scheidende Erkenntnis Jesu hervortritt und so sich seine neue Familie zu bilden anfängt, steht der Versucher da - die Gefahr, alles ins Gegenteil zu verkehren. Der Herr erklärt sofort, dass der Begriff des Messias von der Ganzheit der prophetischen Botschaft aus zu verstehen ist, dass er nicht weltliche Macht meint, sondern Kreuz und die durch das Kreuz hindurch entstehende ganz andere Gemeinschaft. (Fs) (notabene)

71b So hatte aber Petrus es nicht verstanden: "Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe; er sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!" Wenn wir diese Worte auf dem Hintergrund der Versuchungsgeschichte lesen - als ihre Wiederkehr im entscheidenden Augenblick -, dann erst verstehen wir die unglaublich harte Antwort Jesu: "Weg mit dir, Satan! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mt 16,22f). Aber sagen wir nicht alle immer wieder zu Jesus, dass seine Botschaft zum Widerspruch mit den herrschenden Meinungen führt und so der Misserfolg, das Leiden, die Verfolgung droht? Das christliche Kaisertum oder die weltliche Papstmacht sind heute keine Versuchungen mehr; aber Christentum als Rezept für den Fortschritt zu deuten und allgemeinen Wohlstand als das eigentliche Ziel aller Religion und so auch der christlichen anzuerkennen, das ist die neue Gestalt derselben Versuchung. Sie kleidet sich heute in die Frage: Was hat denn Jesus gebracht, wenn er nicht die bessere Welt heraufgeführt hat? Muss das nicht der Inhalt messianischer Hoffnung sein. (Fs)

72a Im Alten Testament gehen zwei Hoffnungslinien noch ungeschieden ineinander über: die Erwartung der heilen Welt, in der der Wolf beim Lamm liegt (Jes 11,6), in der die Völker der Welt sich auf den Weg zum Berg Zion machen und in der gilt: "Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Messern und Winzermesser aus ihren Lanzen" (Jes 2,2-4; Mi 4,1-3). Daneben aber steht die Aussicht auf den leidenden Gottesknecht, einen Messias, der durch Verachtung und Leiden hindurch rettet. Während seines ganzen Weges und von Neuem in den nachösterlichen Gesprächen musste Jesus seinen Jüngern zeigen, dass Mose und die Propheten von ihm, dem äußerlich Machtlosen, dem Leidenden, dem Gekreuzigten, dem Auferstandenen redeten; er musste zeigen, dass gerade so die Verheißungen sich erfüllen. "O ihr Unverständigen, wie schwer fällt es euch mit eurem schwerfälligen Herzen, all das zu glauben, was die Propheten sagten" - so redet der Herr die Emmausjünger an (Lk 24,25), und so muss er auch zu uns immer wieder sagen alle Jahrhunderte hindurch, denn immer wieder meinen wir, er hätte das Goldene Zeitalter bringen müssen, wenn er der Messias sein wollte. (Fs)

73a Aber Jesus sagt auch zu uns, was er dem Satan entgegengehalten hat und was er zu Petrus gesagt und was er den Jüngern von Emmaus von Neuem erläutert hat: dass kein Reich dieser Welt das Reich Gottes ist, der Heilszustand der Menschheit schlechthin. Menschenreich bleibt Menschenreich, und wer behauptet, er könne die heile Welt errichten, der stimmt dem Betrug Satans zu, der spielt ihm die Welt in die Hände. (Fs)

73b Da steht nun freilich die große Frage auf, die uns durch dieses ganze Buch hindurch begleiten wird: Aber was hat Jesus dann eigentlich gebracht, wenn er nicht den Weltfrieden, nicht den Wohlstand für alle, nicht die bessere Welt gebracht hat? Was hat er gebracht. (Fs) (notabene)

73c Die Antwort lautet ganz einfach: Gott. Er hat Gott gebracht. Er hat den Gott, dessen Antlitz zuvor sich von Abraham über Mose und die Propheten bis zur Weisheitsliteratur langsam enthüllt hatte - den Gott, der nur in Israel sein Gesicht gezeigt hatte und der unter vielfältigen Verschattungen freilich in der Völkerwelt geehrt worden war -, diesen Gott, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den wahren Gott, hat er zu den Völkern der Erde gebracht. (Fs) (notabene)

73d Er hat Gott gebracht: Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen. Nun kennen wir den Weg, den wir als Menschen in dieser Welt zu nehmen haben. Jesus hat Gott gebracht und damit die Wahrheit über unser Wohin und Woher; den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Nur unserer Herzenshärte wegen meinen wir, das sei wenig. Ja, Gottes Macht ist leise in dieser Welt, aber es ist die wahre, die bleibende Macht. Immer wieder scheint die Sache Gottes wie im Todeskampf zu liegen. Aber immer wieder erweist sie sich als das eigentlich Beständige und Rettende. Die Reiche der Welt, die Satan damals dem Herrn zeigen konnte, sind inzwischen alle versunken. Ihre Herrlichkeit, ihre "Doxa", hat sich als Schein erwiesen. Aber die Herrlichkeit Christi, die demütige und leidensbereite Herrlichkeit seiner Liebe, ist nicht untergegangen und geht nicht unter. (Fs)

74a Im Kampf gegen Satan hat Jesus gesiegt: Der verlogenen Vergöttlichung der Macht und des Wohlstands, der verlogenen Verheißung einer durch Macht und Wirtschaft allen alles gewährenden Zukunft hat er das Gottsein Gottes entgegengestellt - Gott als das wahre Gut des Menschen. Der Einladung, die Macht anzubeten, setzt der Herr ein Wort aus dem Deuteronomium entgegen - demselben Buch, das auch der Teufel zitiert hatte: "Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen" (Mt 4,10; Dtn 6,13). Das Grundgebot Israels ist auch das Grundgebot für die Christen: Gott allein ist anzubeten. Wir werden bei der Betrachtung der Bergpredigt sehen, dass gerade dieses unbedingte Ja zur ersten Tafel des Dekalogs auch das Ja zur zweiten Tafel - die Ehrfurcht vor dem Menschen, die Liebe zum Nächsten - mit einschließt. Wie bei Markus, so schließt auch bei Matthäus die Versuchungsgeschichte mit der Aussage: "Engel kamen und dienten ihm" (Mt 4,11; Mk 1,13). Nun erfüllt sich Psalm 91,11: Die Engel dienen ihm; er hat sich als der Sohn erwiesen, und deswegen steht über ihm, dem neuen Jakob, dem Stammvater eines universal gewordenen Israel, der Himmel offen (Joh 1,51; Gen 28,12). (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisungen allgemein; Biographie Jesu

Kurzinhalt: Im Blick auf die Jüngergemeinde Jesu sind die Seligpreisungen Paradoxien - die weltlichen Maßstäbe werden umgestürzt, sobald die Dinge in der rechten Perspektive gesehen werden, nämlich von Gottes Wertung her, ...

Textausschnitt: 100a Die Seligpreisungen werden nicht selten als das neutestamentliche Gegenüber zum Dekalog, sozusagen als die höhere Ethik der Christen gegenüber den alttestamentlichen Geboten hingestellt. Mit einer solchen Auffassung verkennt man den Sinn dieser Worte Jesu vollständig. Jesus hat die Gültigkeit des Dekalogs immer selbstverständlich vorausgesetzt (vgl. z. B. Mk 10,19; Lk 16,17); in der Bergredigt werden die Gebote der zweiten Tafel aufgenommen und vertieft, aber nicht aufgehoben (Mt 5,21-48); das widerspräche auch diametral dem Grundsatz, der diesem Gespräch über den Dekalog vorausgeht: "Glaubt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Wahrlich, ich sage euch: Ehe denn Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles erfüllt ist" {5,17f) Auf diesen Satz, der nur scheinbar im Widerspruch zur paulinischen Botschaft steht, werden wir nach dem Dialog zwischen Jesus und dem Rabbi zurückkommen müssen. Einstweilen genügt es zu sehen, dass Jesus nicht daran denkt, den Dekalog außer Kraft zu setzen - im Gegenteil: Er verstärkt ihn. (Fs)

100b Aber was sind die Seligpreisungen dann? Sie reihen sich zunächst in eine lange Tradition alttestamentlicher Botschaften ein, wie wir sie zum Beispiel im Psalm 1 und im Paralleltext Jer 17,7f finden: "Selig der Mann, der auf den Herrn vertraut..." Es sind Verheißungsworte, die zugleich zur Unterscheidung der Geister dienen und so zu Wegweisungen werden. Die Rahmung, die Lukas der Bergpredigt gibt, verdeutlicht die besondere Richtung der Seligpreisungen Jesu: "Er richtete seine Augen auf seine Jünger ..." Die einzelnen Glieder der Seligpreisungen ergeben sich aus dem Blick auf die Jünger; sie beschreiben sozusagen den Ist-Zustand der Jünger Jesu: Sie sind Arme, Hungernde, Weinende, gehasst und verfolgt (Lk 6,20ff). Es sind praktische, aber auch theologische Qualifikationen der Jünger gemeint - derer, die in die Nachfolge Jesu getreten und seine Familie geworden sind. (Fs)

104a Das wird noch deutlicher, wenn wir uns nun der Matthäus-Fassung der Seligpreisungen zuwenden (Mt 5,3-12). Wer den Matthäus-Text aufmerksam liest, wird inne, dass die Seligpreisungen wie eine verhüllte innere Biographie Jesu, wie ein Porträt seiner Gestalt dastehen. Er, der keinen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Mt 8,20), ist der wahrhaft Arme; er, der von sich sagen kann: Kommt zu mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen (Mt 11,29), ist der wahrhaft Sanftmütige; er ist es, der reinen Herzens ist und daher Gott immerfort schaut. Er ist der Friedensstifter, er ist der um Gottes willen Leidende: In den Seligpreisungen erscheint das Geheimnis Christi selbst, und sie rufen uns in die Gemeinschaft mit Christus hinein. Aber eben wegen ihres verborgenen christologischen Charakters sind die Seligpreisungen auch Wegweisung für die Kirche, die in ihnen ihr Maßbild erkennen muss - Wegweisungen für die Nachfolge, die jeden Einzelnen berühren, wenn auch - gemäß der Vielfalt der Berufungen - in je verschiedener Weise. (Fs)


101a Aber die bedrohliche empirische Situation, in der Jesus die Seinen sieht, wird zur Verheißung, wenn der Blick auf sie vom Vater her erleuchtet wird. Im Blick auf die Jüngergemeinde Jesu sind die Seligpreisungen Paradoxien - die weltlichen Maßstäbe werden umgestürzt, sobald die Dinge in der rechten Perspektive gesehen werden, nämlich von Gottes Wertung her, die anders ist als die Wertungen der Welt. Gerade die weltlich Armen und als verloren Angesehenen sind die wahrhaft Glücklichen, die Gesegneten, und dürfen in all ihren Leiden sich freuen und jubeln. Die Seligpreisungen sind Verheißungen, in denen das neue Bild von Welt und Mensch aufleuchtet, das Jesus eröffnet, die "Umwertung der Werte". Sie sind eschatologische Zusagen; aber das darf nicht in dem Sinn verstanden werden, als ob die darin angekündigte Freude in eine endlos entfernte Zukunft oder ausschließlich ins Jenseits verschoben wäre. Wenn der Mensch anfängt, von Gott her zu sehen und zu leben, wenn er in der Weggemeinschaft mit Jesus steht, dann lebt er von neuen Maßstäben her, und dann wird etwas vom "Eschaton", vom Kommenden, jetzt schon präsent. Von Jesus her kommt Freude in die Drangsal. (Fs)

102a Die Paradoxien, die Jesus in den Seligpreisungen vorstellt, drücken die wahre Situation des Glaubenden in der Welt aus, wie sie Paulus aus seiner Lebens- und Leidenserfahrung als Apostel wiederholt beschrieben hat: "Wir gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig, wir werden verkannt und doch anerkannt; wir sind wie Sterbende, und siehe: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles" (2 Kor 6,8-10). "Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet ..." (2 Kor 4,8-10). Was in den Seligpreisungen des Lukas-Evangeliums Zuspruch und Verheißung ist, ist bei Paulus die gelebte Erfahrung des Apostels. Er fühlt sich "auf den letzten Platz gestellt", wie ein Todgeweihter und zum Spektakel geworden für die Welt, heimatlos, beschimpft, geschmäht (1 Kor 4,9-13). Und doch macht er die Erfahrung einer unendlichen Freude; gerade als der Ausgelieferte, der sich selbst weggegeben hatte, um Christus zu den Menschen zu bringen, erfährt er den inneren Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung: Wir werden dem Tod ausgeliefert, "damit auch das Leben Jesu in unserem sterblichen Leib offenbar wird" (2 Kor 4,11). In seinen Boten leidet Christus immer noch, ist immer noch das Kreuz sein Ort. Aber er ist doch unwiderruflich der Auferstandene. Und wenn auch der Bote Jesu in dieser Welt noch in der Leidensgeschichte Jesu steht, so ist darin der Glanz der Auferstehung dennoch spürbar und schafft eine Freude, eine "Seligkeit", die größer ist als das Glück, das er vorher auf weltlichen Wegen erfahren haben mochte. Jetzt weiß er erst, was wirklich "Glück", was wahre "Seligkeit" ist und erkennt dabei, wie armselig das war, was von den üblichen Maßstäben her als Befriedigung und Glück angesehen werden muss. (Fs)

103a In den Paradoxien der Lebenserfahrung des heiligen Paulus, die den Paradoxien der Seligpreisungen entsprechen, zeigt sich so das Gleiche, was noch einmal anders Johannes ausgedrückt hatte, indem er das Kreuz des Herrn als "Erhöhung", als Inthronisation in die Höhe Gottes hinein bezeichnete. Johannes zieht Kreuz und Auferstehung, Kreuz und Erhöhung in einem Wort zusammen, weil für ihn in der Tat das eine untrennbar ist vom anderen. Das Kreuz ist der Akt des "Exodus", der Akt der Liebe, die bis zum Äußersten Ernst macht und bis "ans Ende" geht (Joh 13,1), und darum ist es der Ort der Herrlichkeit - der Ort der eigentlichen Berührung und Einung mit Gott, der die Liebe ist (1 Joh 4,7.16). So ist in dieser johanneischen Vision in letzter Weise verdichtet und unserem Verstehen nahegebracht, was die Paradoxien der Bergpredigt bedeuten. (Fs)

103b Der Blick auf Paulus und auf Johannes hat uns zwei Dinge sichtbar gemacht: Die Seligpreisungen drücken aus, was Jüngerschaft bedeutet. Sie werden umso konkreter und umso realer, je vollständiger die Hingabe an den Dienst des Jüngers ist, wie wir sie in Paulus exemplarisch erleben können. Was sie bedeuten, ist nicht rein theoretisch auszusagen; es wird angesagt im Leben und Leiden und in der geheimnisvollen Freude des Jüngers, der sich ganz in die Nachfolge des Herrn hineingegeben hat. So wird ein Zweites deutlich: der christologische Charakter der Seligpreisungen. Der Jünger ist an das Geheimnis Christi gebunden. Sein Leben ist eingetaucht in die Gemeinschaft mit Christus: "nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,20). Die Seligpreisungen sind Umsetzung von Kreuz und Auferstehung in die Jüngerexistenz. Aber sie gelten für den Jünger, weil sie zuallererst urbildlich in Christus selbst verwirklicht sind. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 1; Seligen die Armen im Geiste

Kurzinhalt: Hier ist im Stillen auch schon jene Haltung vor Gott gereift, die Paulus in seiner Rechtfertigungstheologie entfaltet hat: Es sind Menschen, die nicht mit ihren Leistungen vor Gott prunken.

Textausschnitt: 104b Sehen wir uns nun die einzelnen Glieder der Seligpreisungskette etwas näher an. Da ist zunächst das vielum-rätselte Wort von den "Armen im Geist". Dieses Wort erscheint in den Qumranrollen, in denen es die Selbstbezeichnung der Frommen ist. Sie nennen sich auch "die Armen der Gnade", "die Armen deiner Erlösung" oder einfach "die Armen" (Gnilka, a. a. O., S. 121). Sie drücken mit dieser Selbstbezeichnung ihr Bewusstsein aus, das wahre Israel zu sein; sie greifen damit in der Tat Traditionen auf, die tief im Glauben Israels verwurzelt sind. Zur Zeit der Eroberung Judäas durch die Babylonier mussten 90 Prozent der Judäer zu den Armen gerechnet werden; aufgrund der persischen Steuerpolitik war nach dem Exil erneut eine dramatische Armutssituation gegeben. Die alte Vision, dass es dem Gerechten gut geht und dass Armut Folge schlechten Lebens sei (Tun-Ergehens-Zusammenhang), ließ sich nun nicht mehr aufrechterhalten. Nun erkennt sich Israel gerade in seiner Armut als Gott nahe, erkennt, dass gerade die Armen in ihrer Demut Gottes Herzen nahestehen im Gegensatz zum Hochmut der Reichen, die nur auf sich selbst bauen. (Fs)

105a In vielen Psalmen drückt sich die Frömmigkeit der Armen aus, die so gewachsen ist; sie erkennen sich als das wahre Israel. In der Frömmigkeit dieser Psalmen, in der tiefen Zuwendung zur Güte Gottes, in der menschlichen Güte und Demut, die sich dabei bildete, im wartenden Ausschauen auf Gottes rettende Liebe hat sich jene Offenheit der Herzen entwickelt, die für Christus die Tür aufgetan hat. Maria und Josef, Simeon und Anna, Zacharias und Elisabeth, die Hirten von Bethlehem, die zwölf vom Herrn zur engsten Jüngerschaft Gerufenen gehören diesen Kreisen zu, die sich von den Pharisäern und Sadduzäern, aber auch trotz mancher seelischer Nähe von Qumran abheben - sie sind es, in denen das Neue Testament beginnt, das sich ganz und gar in Einheit mit dem zu immer größerer Reinheit reifenden Glauben Israels weiß. (Fs)

106a Hier ist im Stillen auch schon jene Haltung vor Gott gereift, die Paulus in seiner Rechtfertigungstheologie entfaltet hat: Es sind Menschen, die nicht mit ihren Leistungen vor Gott prunken. Sie kommen sich nicht wie eine Art gleichberechtigte Geschäftspartner vor Gott vor, die für ihre Taten Anspruch auf den entsprechenden Lohn erheben. Es sind Menschen, die sich auch inwendig arm wissen, Liebende, die sich einfach von Gott beschenken lassen wollen und gerade so in innerer Übereinstimmung mit Gottes Wesen und Wort leben. Das Wort der heiligen Therese von Lisieux, sie werde einmal mit leeren Händen vor Gott stehen und sie ihm offen hinhalten, beschreibt den Geist dieser Armen Gottes: Sie kommen mit leeren Händen, nicht mit Händen, die greifen und festhalten, sondern mit Händen, die sich öffnen und schenken und so bereit sind für Gottes schenkende Güte. (Fs)

106b Weil es so steht, gibt es auch keinen Gegensatz zwischen Matthäus, der von den Armen dem Geiste nach spricht, und Lukas, bei dem der Herr einfach die "Armen" anredet. Man hat gesagt, Matthäus habe den bei Lukas ursprünglich ganz materiell und real verstandenen Begriff von Armut vergeistigt und so seiner Radikalität beraubt. Wer das Lukas-Evangelium liest, weiß genau, dass gerade Lukas uns die "Armen im Geiste" vorstellt, die sozusagen die soziologische Gruppe waren, in der der irdische Weg Jesu und seiner Botschaft seinen Anfang nehmen konnte. Und es ist umgekehrt klar, dass Matthäus ganz in der Tradition der Psalmenfrömmigkeit und so in der Vision des wahren Israel verbleibt, die sich darin Ausdruck geschaffen hatte. (Fs)

106c Die Armut, von der da die Rede ist, ist nie ein bloß materielles Phänomen. Die bloße materielle Armut rettet nicht, auch wenn gewiss die Benachteiligten dieser Welt in ganz besonderer Weise mit Gottes Güte rechnen dürfen. Aber das Herz der Nichtsbesitzenden kann verhärtet, vergiftet, böse sein - inwendig voller Gier nach der Habe, Gottes vergessend und nach dem äußeren Besitz sich verzehrend. (Fs)

107a Andererseits ist die Armut, von der da geredet wird, nun doch auch keine bloß geistige Haltung. Gewiss, die Radikalität, die uns von so vielen wahren Christen - vom Mönchsvater Antonius bis zu Franz von Assisi und bis in die exemplarisch Armen unseres Jahrhunderts - vorgelebt wurde und wird, ist nicht allen aufgetragen. Aber die Kirche braucht, um Gemeinschaft der Armen Jesu zu sein, immer wieder die großen Verzichtenden; sie braucht die ihnen folgenden Gemeinschaften, die Armut und Einfachheit leben und uns so die Wahrheit der Seligpreisungen zeigen, um alle wachzurütteln, Besitz nur als Dienst zu verstehen, sich der Kultur des Habens in einer Kultur der inneren Freiheit entgegenzustellen und so auch die Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit zu schaffen. (Fs)

107b Die Bergpredigt ist als solche kein Sozialprogramm, das ist wahr. Aber nur wo die große Orientierung, die sie uns gibt, in der Gesinnung und im Tun lebendig bleibt, nur wo vom Glauben die Kraft des Verzichts und der Verantwortung für den Nächsten wie für das Ganze kommt, kann auch soziale Gerechtigkeit wachsen. Und die Kirche als Ganze muss sich bewusst bleiben, dass sie als die Gemeinschaft der Armen Gottes erkennbar bleiben muss. Wie das Alte Testament sich auf die Er-Neuerung zum Neuen Bund von den Armen Gottes her geöffnet hat, so kann auch jede Erneuerung der Kirche immer nur von denen ausgehen, in denen die gleiche entschiedene Demut und dienstbereite Güte lebt. (Fs)
108a Mit alledem haben wir bisher nur die erste Hälfte der ersten Seligpreisung "Selig die vom Geist her Armen" bedacht; bei Matthäus wie bei Lukas lautet die ihnen zugeordnete Verheißung: euer (ihrer) ist das Reich Gottes (das Reich der Himmel) (Lk 6,20; Mt 5,3). "Reich Gottes" ist die Grundkategorie der Botschaft Jesu; sie tritt hier in die Seligpreisungen herein: Zum rechten Verständnis dieses vielumstrittenen Begriffs ist dieser Zusammenhang wichtig. Wir haben dies bereits gesehen, als wir der Bedeutung des Wortes "Reich Gottes" näher nachgegangen sind, und werden uns auch bei den weiteren Überlegungen noch öfter daran zu erinnern haben. (Fs)

108b Aber vielleicht ist es gut, dass wir - bevor wir in der Meditation des Textes fortfahren - uns noch einmal für einen Augenblick der Gestalt der Glaubensgeschichte zuwenden, in der diese Seligpreisung am dichtesten in menschliche Existenz übersetzt worden ist: Franz von Assisi. Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift. Was ein Wort bedeutet, wird am meisten in jenen Menschen verständlich, die ganz davon ergriffen wurden und es gelebt haben. Auslegung der Schrift kann keine rein akademische Angelegenheit sein und kann nicht ins rein Historische verbannt werden. Die Schrift trägt überall ein Zukunftspotential in sich, das sich erst im Durchleben und Durchleiden ihrer Worte öffnet. Franz von Assisi hat die Verheißung dieses Wortes in letzter Radikalität ergriffen. Bis dahin, dass er sogar seine Kleider weggab und sich vom Bischof als dem Vertreter der Vatergüte Gottes, die die Lilien des Feldes schöner kleidet, als Salomo es war (Mt 6,28f), neu einkleiden ließ. Diese äußerste Demut war für ihn vor allem Freiheit des Dienens, Freiheit zur Sendung, letztes Vertrauen zu Gott, der nicht nur für die Blumen des Feldes, sondern gerade für seine Menschenkinder sorgt; Korrektiv zur Kirche seiner Zeit, die mit dem feudalen System die Freiheit und die Dynamik des missionarischen Unterwegsseins verloren hatte; innerste Offenheit für Christus, mit dem er in der Verwundung durch die Wundmale ganz gleichgestaltet wurde, so dass nun wirklich nicht mehr er selber sein Selbst lebte, sondern er als der Wiedergeborene ganz von und in Christus existierte. Er wollte ja keinen Orden gründen, sondern einfach das Volk Gottes neu sammeln auf ein Hören des Wortes, das sich nicht mit gelehrten Kommentaren aus dem Ernst des Anrufs stiehlt. Aber mit der Schaffung des Dritten Ordens hat er dann doch die Unterscheidung angenommen zwischen dem radikalen Auftrag und dem notwendigen Leben in der Welt. Dritter Orden bedeutet, gerade den Auftrag des weltlichen Berufs und seiner Anforderungen in Demut anzunehmen, an dem je eigenen Standort, aber dabei doch hinzuleben auf die tiefe innere Gemeinschaft mit Christus, in der er uns voranging. "Haben, als hätte man nicht" (1 Kor 7,29ff): Diese innere Spannung als die vielleicht schwerere Forderung zu erlernen und sie im Mitgetragensein durch die Menschen der radikalen Nachfolge immer wieder neu wirklich leben zu können, das ist der Sinn der Dritten Orden, und darin erschließt sich, was die Seligpreisung für alle meinen kann. Vor allem wird an Franz auch deutlich, was "Reich Gottes" heißt. Franziskus stand ganz in der Kirche; und zugleich wächst in solchen Gestalten die Kirche in ihr künftiges und doch schon gegenwärtiges Ziel hinein: Reich Gottes kommt nahe ... (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 3; Selig die Sanftmütigen (Milden) ; (Ps 37,11); anawim (somit die Armen Gottes)

Kurzinhalt: Leider hat die deutsche Übersetzung diese Zusammenhänge verwischt, indem sie für prays jedes Mal andere Wörter gebraucht. In dem weiten Bogen dieser Texte - von Num 12 über Sach 9 zu den Seligpreisungen und zum Bericht vom Palmsonntag - ...

Textausschnitt: 109a Überspringen wir einstweilen die zweite Seligpreisung des Matthäus-Evangeliums und gehen über zur dritten, die eng mit der ersten verbunden ist: "Selig die Milden (Sanftmütigen), denn sie werden das Land erben" (Mt 5,5). Die deutsche Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift hat das hier stehende griechische Wort prae?s (von: pra?s) übersetzt: "die keine Gewalt anwenden". Das ist eine Verengung des griechischen Wortes, das eine reiche Fracht an Überlieferung in sich trägt. Die Seligpreisung ist praktisch ein Psalmzitat: "Die Sanftmütigen (Milden) werden das Land erben" (Ps 37,11). Das Wort "die Sanftmütigen - Milden" ist in der griechischen Bibel die Übersetzung des hebräischen Wortes anawim, womit die Armen Gottes bezeichnet wurden, von denen wir bei der ersten Seligpreisung gesprochen haben. So gehen die erste und die dritte Seligpreisung weitgehend ineinander über; die dritte verdeutlicht noch einmal einen wesentlichen Aspekt dessen, was mit der von Gott her und auf Gott hin gelebten Armut gemeint ist. (Fs)

110a Aber das Spektrum weitet sich doch aus, wenn wir einige andere Texte beachten, in denen dasselbe Wort vorkommt. In Num 12,3 heißt es: "Mose aber war ein überaus sanftmütiger Mann, sanftmütiger (milder) als alle Menschen auf der Erde." Wer müsste dabei nicht an das Wort Jesu denken: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen" (Mt 11,29). Christus ist der neue, der wahre Mose (dies ist der durchgehende Gedanke der Bergpredigt) - in ihm wird jene reine Güte gegenwärtig, die gerade dem Großen, dem Herrscher geziemt. (Fs)

110b Noch tiefer werden wir geführt, wenn wir ein weiteres Beziehungsgefüge zwischen Altem und Neuem Testament ins Auge fassen, in dessen Mitte wieder das Wort prays - sanftmütig, milde - steht. Beim Propheten Sacharja (9,9f) findet sich die folgende Heilsverheißung: "Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist sanftmütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. Er vernichtet die Streitwagen ... Vernichtet wird der Kriegsbogen. Er verkündet den Völkern den Frieden; seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer ..." Hier wird ein armer König angekündigt - einer, der nicht durch politische und militärische Macht herrscht. Sein innerstes Wesen ist die Demut, Sanftmut Gott und den Menschen gegenüber. Dieses sein Wesen, durch das er im Gegensatz zu den großen Königen der Welt steht, wird anschaulich dadurch, dass er auf einer Eselin einzieht - dem Reittier der Armen, das Gegenbild zu den Kriegswagen ist, die er abschafft. Er ist der Friedenskönig - er ist es von der Macht Gottes her, nicht aus eigenem Vermögen. (Fs)

111a Und ein Weiteres kommt dazu: Sein Königtum ist universal, es umfasst die Erde. "Von Meer zu Meer" - das Bild der von Wassern rings umgebenen Erdscheibe steht dahinter und lässt uns die weltumspannende Weite seiner Herrschaft ahnen. So kann Karl Elliger zu Recht sagen, dass für uns "durch alle Nebel hindurch merkwürdig deutlich die Gestalt dessen sichtbar wird ... der wirklich für alle Welt den Frieden gebracht hat, der über alle Vernunft ist, indem er im Sohnesgehorsam auf alle Gewaltanwendung verzichtete und litt, bis er durch den Vater aus dem Leiden gerettet wurde, und der nun immerfort sein Reich baut einfach durch das Wort des Friedens ..." (a. a. Ov S. 151). So erst verstehen wir die ganze Tragweite des Berichts vom Palmsonntag, verstehen, was es heißt, wenn Lukas (19,30) - und ähnlich Johannes - uns erzählt, dass Jesus die Jünger eine Eselin samt ihrem Fohlen zu besorgen heißt: "Das geschah, damit sich erfüllte, was durch den Propheten gesagt worden ist: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist sanftmütig und er reitet auf einer Eselin ..." (Mt 21,4f; vgl. Joh 12,15). (Fs)

112a Leider hat die deutsche Übersetzung diese Zusammenhänge verwischt, indem sie für prays jedes Mal andere Wörter gebraucht. In dem weiten Bogen dieser Texte - von Num 12 über Sach 9 zu den Seligpreisungen und zum Bericht vom Palmsonntag - wird die Vision vom Friedenskönig Jesus erkennbar, der die Grenzen aufsprengt, die die Völker trennen, und einen Friedensraum "von Meer zu Meer" schafft. Durch seinen Gehorsam ruft er uns in diesen Frieden hinein, pflanzt ihn ein in uns. Das Wort "sanftmütig, milde" gehört einerseits dem Vokabular des Gottesvolkes zu, dem in Christus weltumspannend gewordenen Israel, aber es ist zugleich ein Königswort, das uns das Wesen des neuen Königtums Christi aufschließt. In diesem Sinn könnten wir sagen, es sei sowohl ein christologisches wie ein ekklesiologisches Wort; auf jeden Fall ruft es uns in die Nachfolge dessen, dessen Einzug in Jerusalem auf einer Eselin das ganze Wesen seines Königtums sichtbar werden lässt. (Fs)

112b Mit dieser dritten Seligpreisung ist im Text des Matthäus-Evangeliums die Landverheißung verbunden: "Selig die Milden, denn sie werden das Land besitzen." Was ist damit gemeint? Die Hoffnung auf das Land gehört zum Urbestand der Abrahamsverheißung. Bei der Wüstenwanderung Israels steht immer das verheißene Land als Ziel der Wanderung im Blickfeld. Im Exil wartet Israel auf die Heimkehr in sein Land. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, dass die Landverheißung deutlich über den bloßen Gedanken des Besitzes von einem Stück Land oder eines nationalen Territoriums hinausgeht, wie es einem jeden Volk zusteht. (Fs)

113a Im Ringen um die Freigabe Israels zum Auszug aus Ägypten steht zunächst das Recht auf die Freiheit der Anbetung, des eigenen Gottesdienstes im Vordergrund, und die Landverheißung hat im Voranschreiten der Geschichte immer deutlicher den Sinn, dass das Land gegeben wird, damit da eine Stätte des Gehorsams sei, damit ein für Gott offener Raum da sei und das Land von den Gräueln des Götzendienstes befreit werde. Im Begriff der Freiheit und des Landes ist der Begriff des Gehorsams Gott gegenüber und so der rechten Formung der Erde ein wesentlicher Inhalt. So konnte von da aus auch das Exil, der Entzug des Landes, verstanden werden: Das Land war selbst zu einem Raum des Götzendienstes, des Ungehorsams geworden, und der Landbesitz war auf diese Weise ins Widersprüchliche geraten. (Fs)

113b Von da aus konnte ein neues, positives Verständnis der Diaspora wachsen: Israel war über die Welt verstreut, um überall Raum zu schaffen für Gott und damit den Sinn der Schöpfung zu erfüllen, den der erste Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4) andeutet: Der Sabbat ist das Ziel der Schöpfung, er gibt ihr Wozu an: Sie ist da, weil Gott einen Raum der Antwort auf seine Liebe, einen Raum des Gehorsams und der Freiheit schaffen wollte. Stufenweise ist so im Annehmen und Erleiden der Geschichte Israels mit Gott eine Ausweitung und Vertiefung der Idee des Landes gewachsen, die immer weniger auf nationalen Besitz und immer mehr auf die Universalität von Gottes Anspruch auf die Erde abzielte. (Fs)

114a Natürlich kann man in dem Zusammenspiel von "Sanftmut" und Landverheißung zunächst auch eine ganz normale Weisheit der Geschichte erblicken: Die Eroberer kommen und gehen. Es bleiben die Einfachen, die Demütigen, die das Land bebauen und Saat und Ernte unter Schmerzen und Freuden weiterführen. Die Demütigen, die Einfachen, sind auch rein geschichtlich gesehen beständiger als die Gewalttäter. Aber es geht doch um mehr. Die allmähliche Universalisierung des Landbegriffs von den theologischen Grundlagen der Hoffnung her entspricht auch dem universalen Horizont, den wir in der Sacharja-Verheißung gefunden haben: Das Land des Friedenskönigs ist nicht ein Nationalstaat - es reicht "von Meer zu Meer" (Sach 9,10). Der Friede zielt auf die Überwindung der Grenzen und auf eine durch den von Gott her kommenden Frieden erneuerte Erde. Die Erde gehört am Ende den "Sanftmütigen", den Friedfertigen, sagt uns der Herr. Sie soll das "Land des Friedenskönigs" werden. Darauf hinzuleben, lädt uns die dritte Seligpreisung ein. (Fs)

114b Jede eucharistische Versammlung ist für uns Christen eine solche Stelle der Herrschaft des Friedenskönigs. Die weltumspannende Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi ist so ein Vorentwurf für die "Erde" von morgen, die ein Land des Friedens Jesu Christi werden soll. Auch hier klingt die dritte Seligpreisung ganz eng mit der ersten zusammen: Was "Reich Gottes" bedeutet, wird ein Stück weit von da aus sichtbar, auch wenn der Anspruch dieses Wortes über die Landverheißung hinausreicht. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 7; Selig, die Frieden stiften

Kurzinhalt: Vorher schon hatte Caesar den Titel "Friedensstifter der Ökumene" in Anspruch genommen. Für die Gläubigen in Israel steigt die Erinnerung an Salomo auf, ...

Textausschnitt: 114c Damit haben wir nun auch schon auf die siebte Seligpreisung vorgegriffen: "Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes heißen" (Mt 5,9) Ein paar stichwortartige Hinweise zu diesem grundlegenden Jesuswort mögen daher genügen. Zunächst kann man da den weltgeschichtlichen Hintergrund wahrnehmen. Lukas hatte in der Kindheitsgeschichte Jesu das Gegenüber zwischen diesem Kind und dem allgewaltigen Kaiser Augustus anklingen lassen, der als "Heiland des allgemeinen Menschengeschlechts" und als der große Friedensbringer gerühmt wurde. Vorher schon hatte Caesar den Titel "Friedensstifter der Ökumene" in Anspruch genommen. Für die Gläubigen in Israel steigt die Erinnerung an Salomo auf, in dessen Namen das Wort "Friede" (schalom) enthalten ist. Der Herr hatte dem David verheißen: "In seinen Tagen darf Israel in Frieden und Ruhe leben ... Er wird für mich Sohn sein, und ich werde für ihn Vater sein" (1 Chr 22,9f). Damit erscheint ein Zusammenhang von Gottessohnschaft und Königtum des Friedens: Jesus ist der Sohn, und er ist es wirklich. Er ist daher erst der wahre "Salomo" - der Bringer des Friedens. Frieden zu stiften, gehört vom Wesen her zur Sohnschaft. So lädt diese Seligpreisung dazu ein, zu sein und zu tun, was der Sohn tut, um so selbst "Söhne Gottes" zu werden. (Fs)

115a Das gilt zunächst im Kleinen des jeweiligen Lebensraumes. Es beginnt in jener Grundentscheidung, die Paulus mit Leidenschaft im Namen Gottes erbittet: "Wir bitten euch um Christi willen: Lasst euch versöhnen mit Gott" (2 Kor 5,20). Die Zerfallenheit mit Gott ist der Ausgangspunkt aller Vergiftungen des Menschen, ihre Überwindung die Grundbedingung für den Frieden in der Welt. Nur der mit Gott versöhnte Mensch kann auch mit sich selbst versöhnt und im Einklang sein, und nur der mit Gott und sich selbst versöhnte Mensch kann Frieden stiften um sich herum und in die Weite der Welt hinein. Der politische Kontext, der in der Kindheitsgeschichte des Lukas wie hier in den Seligpreisungen des Matthäus durchklingt, zeigt aber die ganze Reichweite dieses Wortes an. Dass Friede sei auf der Erde (Lk 2,14), ist Wille Gottes und so zugleich ein Auftrag an den Menschen. Der Christ weiß, dass das Bestehen von Frieden an das Stehen der Menschen in der "Eudokia" Gottes, in seinem "Wohlgefallen" gebunden ist. Das Ringen um das Stehen im Frieden mit Gott ist ein unerlässlicher Teil des Ringens um den "Frieden auf Erden"; von dorther kommen die Maßstäbe und die Kräfte für dieses Ringen. Dass da, wo Gott den Menschen außer Sichtweite gerät, auch der Friede verfällt und die Gewalt mit vorher ungeahnten Grausamkeiten überhandnimmt, sehen wir heute nur allzu deutlich. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 2; Selig, die Trauernden ... Selig die Verfolgten

Kurzinhalt: Die Traurigkeit, von der der Herr spricht, ist der Nonkonformismus mit dem Bösen, sie ist eine Weise des Widerspruchs gegen das, was alle tun und was sich dem Einzelnen als Verhaltensmuster aufdrängt.

Textausschnitt: 116a Kehren wir zurück zur zweiten Seligpreisung: "Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden." Ist es gut, zu trauern und die Traurigkeit seligzupreisen? Es gibt zwei Arten von Traurigkeif, eine Traurigkeit, die die Hoffnung verloren hat, der Liebe nicht mehr traut und der Wahrheit und daher den Menschen von innen zersetzt und zerstört; aber auch die Traurigkeit, die aus der Erschütterung durch die Wahrheit kommt, den Menschen zur Umkehr bringt, zum Widerstand gegen das Böse. Diese Traurigkeit heilt, weil sie den Menschen neu zu hoffen und zu lieben lehrt. Für die erste Traurigkeit steht Judas, der - vom Erschrecken über seinen eigenen Fall getroffen - nicht mehr zu hoffen wagt und in der Verzweiflung sich selbst erhängt. Für die zweite Art von Traurigkeit steht Petrus, der, vom Blick des Herrn getroffen, in Tränen ausbricht, die heilend sind: Sie pflügen das Erdreich seiner Seele um. Er beginnt von Neuem und wird neu. (Fs)

117a Für diese positive Art von Traurigkeit, die eine Gegenmacht zur Herrschaft des Bösen ist, bietet uns Ez 9,4 ein eindrucksvolles Zeugnis. Sechs Männer werden da beauftragt, das Strafgericht an Jerusalem zu vollziehen - an dem Land, das voller Blutschuld, an der Stadt, die voller Unrecht war (9,9). Aber zuvor muss ein in Linnen gekleideter Mann ein Tau (eine Art Kreuzzeichen) auf die Stirn all derjenigen zeichnen, "die über die in der Stadt begangenen Gräueltaten seufzen und stöhnen" (9,4), und die so Bezeichneten sind vom Strafgericht ausgenommen. Es sind Menschen, die nicht mit den Wölfen heulen, die sich nicht in das Mitläufertum mit dem selbstverständlich gewordenen Unrecht hineinziehen lassen, sondern darunter leiden. Auch wenn es nicht in ihrer Macht steht, die Situation im Ganzen zu ändern, so setzen sie der Herrschaft des Bösen doch den passiven Widerstand des Leidens entgegen - die Traurigkeit, die der Macht des Bösen eine Grenze zieht. (Fs)

117b Die Überlieferung hat noch ein anderes Bild heilender Traurigkeit gefunden: Maria, die mit ihrer Schwester - der Frau des Klopas - und mit Maria von Magdala und mit Johannes unter dem Kreuz steht (Joh 19,25fr). Wieder finden wir - wie in der Ezechiel-Vision - in einer Welt voller Grausamkeit und Zynismus oder furchtsamen Mitläufertums die kleine Schar von Menschen vor uns, die treu bleiben; sie können das Unglück nicht wenden, aber in ihrem Mit-leiden stellen sie sich auf die Seite des Verurteilten, und mit ihrem Mit-lieben stehen sie auf der Seite Gottes, der Liebe ist. Dieses Mitleiden lässt an das großartige Wort des heiligen Bernhard von Clairvaux in seinem Hohelied-Kommentar (s. 26, n. 5, a. a. O.) denken: ... impassibilis est Deus, sed non incompassibilis - Gott kann nicht leiden, aber er kann mit-leiden. Unter dem Kreuz Jesu versteht man am allermeisten das Wort: "Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden." Wer sein Herz nicht verhärtet vor dem Schmerz, vor der Not des anderen, wer dem Bösen nicht die Seele öffnet, sondern unter seiner Macht leidet und so der Wahrheit, d. h. Gott recht gibt, der öffnet die Fenster der Welt, dass Licht hereinkommt. Den so Trauernden ist der große Trost verheißen. Insofern hängt die zweite Seligpreisung ganz eng mit der siebten zusammen: "Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich. (Fs)

118a Die Traurigkeit, von der der Herr spricht, ist der Nonkonformismus mit dem Bösen, sie ist eine Weise des Widerspruchs gegen das, was alle tun und was sich dem Einzelnen als Verhaltensmuster aufdrängt. Diese Art von Widerstand erträgt die Welt nicht, sie verlangt das Mitmachen. Ihr erscheint diese Traurigkeit als eine Anklage, die der Betäubung der Gewissen entgegentritt, und sie ist es auch. Deshalb werden die Trauernden zu Verfolgten um der Gerechtigkeit willen. Den Trauernden wird Tröstung, den Verfolgten das Reich Gottes verheißen; es ist dieselbe Verheißung, die den vom Geist her Armen gilt. Die beiden Verheißungen stehen ganz nah beieinander: Das Reich Gottes, das Stehen im Schutz von Gottes Macht und das Geborgensein in seiner Liebe - das ist die wahre Tröstung. (Fs)

118b Und umgekehrt: Erst dann wird der Leidende wahrhaft getröstet sein, erst dann werden seine Tränen vollends versiegen, wenn keine mörderische Gewalt ihn und die machtlosen Menschen dieser Welt mehr bedrohen kann; erst dann ist der Trost vollendet, wenn auch die unverstandenen Leiden der Vergangenheit ins Licht Gottes gehoben und von seiner Güte her zu einem versöhnenden Sinn geführt werden; erst dann ist der wahre Trost erschienen, wenn "der letzte Feind", der Tod (1 Kor 15,26), mit all seinen Helfershelfern entmachtet ist. So hilft uns das Wort vom Trost verstehen, was mit "Reich Gottes" (der Himmel) gemeint ist, und "Reich Gottes" wiederum gibt uns eine Vorstellung davon, welchen Trost der Herr für alle Trauernden und Leidenden dieser Welt bereithält. (Fs)

119a Noch einen Hinweis müssen wir hier einfügen: Für Matthäus und seine Leser und Hörer hatte das Wort von den Verfolgten um der Gerechtigkeit willen eine prophetische Bedeutung. Es war für sie der Vorverweis des Herrn auf die Lage der Kirche, die sie erlebten. Die Kirche war zur verfolgten Kirche geworden, verfolgt "um der Gerechtigkeit willen". "Gerechtigkeit" ist in der Sprache des Alten Bundes der Ausdruck für die Treue zur Tora, die Treue zum Wort Gottes, wie sie immer wieder von den Propheten angemahnt worden war. Sie ist das Einhalten des von Gott gezeigten rechten Weges, dessen Mitte die Zehn Gebote sind. Die neutestamentliche Entsprechung zum alttestamentlichen Begriff der Gerechtigkeit ist der "Glaube": Der Gläubige ist der "Gerechte", der auf Gottes Wegen geht (Ps 1; Jer 17,5-8). Denn der Glaube ist das Mitgehen mit Christus, in dem das ganze Gesetz erfüllt ist, er eint uns mit der Gerechtigkeit Christi selbst. (Fs)

119b Die um der Gerechtigkeit willen verfolgten Menschen sind diejenigen, die aus der Gerechtigkeit Gottes - aus dem Glauben - leben. Weil das Streben des Menschen immer wieder darauf zielt, sich von Gottes Willen zu emanzipieren und nur sich selber zu folgen, darum wird der Glaube immer wieder als Widerspruch zur "Welt" - zu den jeweils herrschenden Mächten - erscheinen, und darum wird es in allen Perioden der Geschichte Verfolgung um der Gerechtigkeit willen geben. Der verfolgten Kirche aller Zeiten ist dieses Trostwort zugesprochen. In ihrer Ohnmacht und in ihren Leiden weiß sie, dass sie dort steht, wo das Reich Gottes kommt. (Fs) (notabene)

120a Wenn wir demnach wieder wie bei den vorigen Seligpreisungen in der Verheißung eine ekklesiologische Dimension, eine Auslegung des Wesens von Kirche finden dürfen, so begegnen wir ebenso auch wiederum dem christologischen Grund dieser Worte: Der gekreuzigte Christus ist der verfolgte Gerechte, von dem die prophetischen Worte des Alten Bundes, besonders die Gottesknechtslieder sprechen, den aber auch Platon vorausgeahnt hatte (Politeia II 361e-362a). Und so gerade ist er selbst die Ankunft von Gottes Reich. Die Seligpreisung ist eine Einladung zur Nachfolge des Gekreuzigten - an den Einzelnen wie an die Kirche im Ganzen. (Fs)

120b Die Seligpreisung der Verfolgten erhält im abschließenden Satz der Makarismen eine Variante, die uns Neues sehen lässt. Jesus verheißt denen Freude, Jubel, großen Lohn, "die um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werden" (v. 11). Nun wird sein Ich, das Stehen zu seiner Person, zum Maßstab der Gerechtigkeit und des Heils. Wenn in den anderen Seligpreisungen die Christologie gleichsam verhüllt dasteht, so tritt hier die Botschaft von ihm selber als Mittelpunkt der Geschichte offen hervor. Jesus schreibt seinem Ich eine Maßstäblichkeit zu, die kein Lehrer Israels und auch kein Lehrer der Kirche für sich in Anspruch nehmen darf. Der so spricht, ist nicht mehr Prophet im herkömmlichen Sinn, Botschafter und Treuhänder für einen anderen; er ist selbst Bezugspunkt des rechten Lebens, selbst Ziel und Mitte. (Fs)

121a Wir werden diese direkte Christologie bei unseren weiteren Meditationen als konstitutiv für die Bergpredigt im Ganzen erkennen. Was hier einstweilen nur angeklungen ist, wird sich im Mitgehen mit ihrem Wort weiter entfalten. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 4; Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; Edith Stein (Wahrheit - Christus)

Kurzinhalt: Der Blick richtet sich auf die Menschen, die sich nicht mit dem Vorhandenen begnügen und die Unruhe des Herzens nicht ersticken, die den Menschen auf Größeres verweist, so dass er sich inwendig auf den Weg macht ...

Textausschnitt: 121b Hören wir jetzt noch die zweite, bisher nicht behandelte Seligpreisung: "Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden" (v. 6). Dieser Lobpreis ist von innen her dem Wort über die Trauernden verwandt, die Tröstung finden werden: Wie dort diejenigen Verheißung empfangen, die sich nicht dem Diktat der herrschenden Meinungen und Gewohnheiten beugen, sondern im Leiden dagegen Widerstand leisten, so geht es auch hier um die Menschen, die Ausschau halten, die auf der Suche nach dem Großen, nach der wahren Gerechtigkeit, dem wahren Gut sind. Ein Wort, das sich in einem Strang der Texte des Daniel-Buches findet, wurde für die Überlieferung die Zusammenfassung der Haltung, um die es hier geht. Dort wird Daniel als vir desideriorum, als "Mann der Sehnsucht" (Dan 9,23 Vg) beschrieben. Der Blick richtet sich auf die Menschen, die sich nicht mit dem Vorhandenen begnügen und die Unruhe des Herzens nicht ersticken, die den Menschen auf Größeres verweist, so dass er sich inwendig auf den Weg macht - gleichsam wie die Weisen aus dem Morgenland, die Jesus suchen, den Stern, der den Weg zur Wahrheit, zur Liebe, zu Gott zeigt. Es sind Menschen einer inneren Sensibilität, die sie hör- und sehfähig macht für die leisen Zeichen, die Gott in die Welt hineinsendet und die so die Diktatur der Gewöhnlichkeit zerbrechen. (Fs)

122a Wer würde dabei nicht an die demütigen Heiligen denken, in denen der Alte Bund sich für den Neuen öffnet und in ihn hineinverwandelt? An Zacharias und Elisabeth, an Maria und Josef, an Simeon und Anna, die je auf ihre Weise mit innerer Wachheit auf das Heil Israels warten und mit ihrer demütigen Frömmigkeit, der Geduld ihres Wartens und Sehnens dem Herrn "die Wege bereiten"? Aber denken wir auch an die zwölf Apostel - an Menschen (wir werden es sehen) aus ganz verschiedenen geistigen und sozialen Herkünften, die aber mitten in ihrer Arbeit und ihrem Alltag sich das offene Herz bewahrt hatten, das sie dem Ruf des Größeren öffnete? Oder auch an die Leidenschaft eines Paulus für die Gerechtigkeit, die auf dem falschen Weg ist, aber ihn doch dafür bereitet, von Gott niedergeworfen und so zu neuer Hellsicht gebracht zu werden? So könnten wir die ganze Geschichte hindurch fortfahren. Edith Stein hat einmal gesagt, wer redlich und leidenschaftlich nach der Wahrheit suche, der sei auf dem Weg zu Christus. Von solchen Menschen spricht die Seligpreisung - von diesem Durst und Hunger, der selig ist, weil er den Menschen zu Gott, zu Christus führt und deshalb die Welt dem Reich Gottes öffnet. (Fs) (notabene)

122b Mir scheint, dass dies die Stelle ist, an der sich vom Neuen Testament her etwas über das Heil derer sagen lässt, die Christus nicht kennen. Die heutige Theorie geht dahin, dass jeder seine Religion leben solle oder vielleicht auch den Atheismus, in dem er sich vorfindet. Auf diese Weise werde er das Heil finden. Eine solche Meinung setzt ein sehr seltsames Gottesbild und eine seltsame Vorstellung vom Menschen und dem rechten Weg des Menschseins voraus. Versuchen wir, uns das durch ein paar praktische Fragen deutlich zu machen. Wird jemand deshalb selig und von Gott als recht erkannt werden, weil er den Pflichten der Blutrache gewissenhaft nachgekommen ist? Weil er sich kräftig für und im "Heiligen Krieg" engagiert hat? Oder weil er bestimmte Tieropfer dargebracht hat? Oder weil er rituelle Waschungen und sonstige Observanzen eingehalten hat? Weil er seine Meinungen und Wünsche zum Gewissensspruch erklärt und so sich selbst zum Maßstab erhoben hat? Nein, Gott verlangt das Gegenteil: das innere Wachwerden für seinen stillen Zuspruch, der in uns da ist und uns aus den bloßen Gewohnheiten herausreißt auf den Weg zur Wahrheit; Menschen, die "hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit" - das ist der Weg, der jedem offensteht; es ist der Weg, der bei Jesus Christus endet. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 6; Selig, die reinen Herzens sind

Kurzinhalt: "Wenn du aber ... sagst: Zeige mir deinen Gott!, so möchte ich dir sagen: Zeige mir den Menschen in dir ... "

Textausschnitt: 123a Es bleibt noch der Makarismus "Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Mt 5,8). Das Organ, mit dem man Gott sehen kann, ist das Herz: Der bloße Verstand genügt nicht; damit der Mensch wahrnehmungsfähig werde für Gott, müssen die Kräfte seiner Existenz zusammenwirken. Der Wille muss rein sein, und schon vorher der affektive Grund der Seele, der Verstand und Willen die Richtung vorgibt. Mit "Herz" ist gerade dieses innere Zusammenspiel der Wahrnehmungskräfte des Menschen gemeint, bei dem auch das rechte Ineinander von Leib und Seele mit im Spiel ist, das zur Ganzheit dieses Geschöpfes "Mensch" gehört. Die affektive Grundgestimmtheit des Menschen hängt gerade auch von dieser Einheit von Seele und Leib ab und davon, dass der Mensch sein Leibsein und sein Geistsein zusammen annimmt; den Leib in die Zucht des Geistes stellt, aber dabei nicht Verstand oder Willen isoliert, sondern sich selbst von Gott her annimmt und so auch die Leibhaftigkeit seiner Existenz als Reichtum für den Geist erkennt und lebt. Das Herz - die Ganzheit des Menschen - muss rein sein, inwendig offen und frei, damit der Mensch Gott sehen kann. Theophil von Antiochien (+ um 180) hat das im Disput mit fragenden Menschen einmal so ausgedrückt: "Wenn du aber ... sagst: Zeige mir deinen Gott!, so möchte ich dir sagen: Zeige mir den Menschen in dir ... Gott wird nämlich von denen gesehen, die im Stande sind, ihn zu sehen, wenn sie nämlich die Augen ihres Geistes offen haben ... Der Mensch muss eine Seele haben, so rein wie ein blankpolierter Metallspiegel ..." (Ad Autolycum I 2,7). (Fs) (notabene)

124a So entsteht die Frage: Wie wird das innere Auge des Menschen rein? Wie kann der Star gelöst werden, der seinen Blick trübt oder schließlich ganz erblinden lässt? Die mystische Tradition vom aufsteigenden "Weg der Reinigung" hin zur "Einung" hat auf diese Frage Antwort zu geben versucht. Die Seligpreisungen müssen wir aber zuallererst im biblischen Kontext lesen. Da treffen wir das Thema vor allem im Psalm 24 an, der Ausdruck einer alten Tor-Liturgie ist: "Wer darf hinaufsteigen zum Berg des Herrn, wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, der nicht betrügt und keinen Meineid schwört" (v. 3f). Vor dem Tor des Tempels entsteht die Frage, wer dort in der Nähe des lebendigen Gottes stehen darf: "Reine Hände und ein lauteres Herz" sind die Bedingung. (Fs)

125a Der Psalm erklärt den Inhalt dieser Bedingung für den Zutritt zur Wohnstätte Gottes auf mehrfache Weise. Eine unerlässliche Voraussetzung ist es, dass Menschen, die zu Gott eintreten wollen, nach ihm fragen, sein Antlitz suchen (v. 6): Als Grundbedingung erscheint so wieder dieselbe Haltung, die wir vorhin in den Stichworten "Hunger und Durst nach Gerechtigkeit" beschrieben fanden. Das Fragen nach Gott, das Suchen nach seinem Gesicht - das ist die erste und grundlegende Bedingung für den Aufstieg, der in die Begegnung mit Gott führt. Vorher aber schon wird als Inhalt der reinen Hände und des lauteren Herzens angegeben, dass der Mensch nicht betrügt und keinen Meineid schwört: also die Redlichkeit, die Wahrhaftigkeit, die Gerechtigkeit dem Mitmenschen und der Gemeinschaft gegenüber - das, was wir das soziale Ethos nennen könnten, das aber wirklich bis in den Herzensgrund hinunterreicht. (Fs)

125b Psalm 15 führt das noch weiter aus, so dass man sagen kann, dass einfach der wesentliche Inhalt des Dekalogs die Einlassbedingung zu Gott ist - mit der Betonung der inneren Suche nach Gott, des Unterwegsseins zu ihm (erste Tafel), und der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit zum Einzelnen und zur Gemeinschaft (zweite Tafel). Es sind gar keine spezifisch auf der Offenbarungserkenntnis beruhenden Bedingungen genannt, sondern das "Fragen nach Gott" und die Grundweisen der Gerechtigkeit, die ein waches - eben durch die Suche nach Gott wachgerütteltes - Gewissen einem jeden sagt. Was wir vorhin über die Heilsfrage bedachten, bestätigt sich hier noch einmal. (Fs)

125c Aber im Mund Jesu erreicht das Wort doch eine neue Tiefe. Das Wesen seiner Gestalt ist es eben, dass er Gott sieht, dass er Aug' in Auge mit ihm steht, im immerwährenden inneren Austausch mit ihm - dass er in der Sohnesexistenz lebt. So ist dies ein zutiefst christologisches Wort. Gott sehen werden wir, wenn wir in die "Gesinnungen Christi" eintreten (Phil 2,5). Die Reinigung des Herzens erfolgt in der Nachfolge Christi, im Einswerden mit ihm. "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir ..." (Gal 2,20). Und hier erscheint nun etwas Neues: Der Aufstieg zu Gott ereignet sich gerade im Abstieg des demütigen Dienens, im Abstieg der Liebe, die das Wesen Gottes ist und daher die wahrhaft reinigende Kraft, die den Menschen fähig macht, Gott wahrzunehmen und ihn zu sehen. In Jesus Christus hat Gott sich selbst im Absteigen offenbart: "Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich ... Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn über alles erhöht ..." (Phil 2,6-9). (Fs)

126a Diese Worte markieren eine entscheidende Wende in der Geschichte der Mystik. Sie zeigen das Neue der christlichen Mystik an, das aus der Neuheit der Offenbarung in Jesus Christus kommt. Gott steigt ab, bis zum Tod am Kreuz. Und gerade so offenbart er sich in seiner wahren Göttlichkeit. Der Aufstieg zu Gott geschieht im Mitgehen bei diesem Abstieg. Die Tor-Liturgie von Psalm 24 erhält so eine neue Bedeutung: Das reine Herz ist das liebende Herz, das sich in die Gemeinschaft des Dienens und des Gehorsams mit Jesus Christus begibt. Die Liebe ist das Feuer, das Verstand, Willen, Gefühl reinigt und einigt, den Menschen eins mit sich selbst macht, indem es ihn eins macht von Gott her, so dass er Diener der Vereinigung der Getrennten wird: So betritt der Mensch die Wohnstätte Gottes und kann ihn sehen. Und eben das heißt: selig sein. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisungen; Resumee; Friedrich Nietzsche (Moral des Christentums);

Kurzinhalt: Dem weiten Blick Jesu wird eine saftige Diesseitigkeit entgegengestellt - der Wille, die Welt und die Angebote des Lebens jetzt auszuschöpfen, den Himmel hier zu suchen und sich dabei von keinen Skrupeln hemmen zu lassen.

Textausschnitt: 127a Nach diesem Versuch, etwas tiefer in die innere Vision der Seligpreisungen einzudringen - das hier nicht angesprochene Thema der "Barmherzigen" wird im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter behandelt werden -, müssen wir uns kurz noch zwei Fragen stellen, die zum Verständnis des Ganzen gehören. Bei Lukas folgen auf die vier Seligpreisungen, die er überliefert, vier Wehe-Rufe: Weh euch, die ihr reich seid ... Weh euch, die ihr jetzt satt seid ... Weh euch, die ihr jetzt lacht ... Weh euch, wenn euch alle Menschen loben ... (Lk 6,24-26). Diese Worte erschrecken uns. Was sollen wir davon halten?

127b Nun, zunächst kann man feststellen, dass Jesus damit dem Schema folgt, das wir auch in Jer 17 und Psalm 1 finden: Der Schilderung des rechten Weges, der den Menschen ins Heil führt, wird die Warntafel gegenübergestellt, die falsche Verheißungen und Angebote demaskiert und den Menschen davon abhalten soll, sich auf einen Pfad zu begeben, der in einem tödlichen Absturz enden müsste. Dasselbe werden wir wieder in dem Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus finden. (Fs)

127c Wer die Wegweiser der Hoffnung recht verstanden hat, die uns in den Seligpreisungen begegnet sind, erkennt hier einfach die gegenteiligen Haltungen, die den Menschen ins Scheinbare, ins Vorläufige, in den Verlust seiner Höhe und Tiefe und so in den Verlust Gottes und der Nächsten hinein fixieren und damit verderben. So aber wird auch die eigentliche Absicht dieser Warntafel verständlich: Die Weherufe sind keine Verdammungen; sie sind kein Ausdruck von Hass oder Neid oder Feindseligkeit. Es geht nicht um Verurteilung, sondern um Warnung, die retten will. (Fs)

128a Aber nun steht die Grundfrage auf: Stimmt denn die Richtung, die der Herr uns in den Seligpreisungen und in den entgegengesetzten Warnungen zeigt? Ist es denn wirklich schlimm, reich zu sein - satt zu sein - zu lachen - gelobt zu werden? Friedrich Nietzsche hat seine zornige Kritik des Christentums gerade an diesem Punkt angesetzt. Nicht die christliche Lehre sei es, was man kritisieren müsse: Die Moral des Christentums müsse man als "Kapitalverbrechen am Leben" bloßstellen. Und mit "Moral des Christentums" meint er genau die Richtung, in die uns die Bergpredigt weist. "Welches war hier auf Erden bisher die größte Sünde? War es nicht das Wort dessen, der sprach 'Wehe denen, die hier lachen!'?" Und den Verheißungen Christi entgegen sagt er: Wir wollen gar nicht das Himmelreich. "Männer sind wir worden - so wollen wir das Erdenreich."

128b Die Vision der Bergpredigt erscheint als eine Religion des Ressentiments, als der Neid der Feigen und Untüchtigen, die dem Leben nicht gewachsen sind und sich dann mit der Seligpreisung ihres Versagens und der Beschimpfung der Starken, der Erfolgreichen, der Glücklichen rächen wollen. Dem weiten Blick Jesu wird eine saftige Diesseitigkeit entgegengestellt - der Wille, die Welt und die Angebote des Lebens jetzt auszuschöpfen, den Himmel hier zu suchen und sich dabei von keinen Skrupeln hemmen zu lassen. (Fs)

128c Vieles von alledem ist ins moderne Bewusstsein eingegangen und bestimmt weithin das Lebensgefühl von heute. So stellt die Bergpredigt die Frage nach der christlichen Grundoption, und als Kinder dieser Zeit spüren wir den inneren Widerstand gegen diese Option - auch wenn die Preisung der Milden, der Erbarmenden, der Friedensstifter, der lauteren Menschen uns dennoch anrührt. Nach den Erfahrungen der totalitären Regime, nach der brutalen Art, mit der sie Menschen zertreten, die Schwachen verhöhnt, geknechtet, geschlagen haben, verstehen wir auch wieder die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden; entdecken wir die Seele der Trauernden und ihr Recht auf Tröstung wieder. Angesichts des Missbrauchs ökonomischer Macht, angesichts der Grausamkeiten eines Kapitalismus, der den Menschen zur Ware degradiert, sind uns auch die Gefährdungen des Reichtums aufgegangen und verstehen wir wieder neu, was Jesus mit der Warnung vor dem Reichtum, vor der den Menschen zerstörenden Gottheit Mammon meinte, die große Teile der Welt in ihrem grausamen Würgegriff hält. Ja, die Seligpreisungen stehen unserem spontanen Daseinsgefühl, unserem Hunger und Durst nach Leben entgegen. Sie verlangen "Bekehrung" - eine innere Umkehr von der spontanen Richtung, in die wir gehen möchten. Aber in dieser Umkehr kommt das Reine und Höhere zum Vorschein, ordnet sich unser Dasein recht. (Fs)

129a Die griechische Welt, deren Lebensfreude in den homerischen Epen so wundervoll erscheint, hat doch tief darum gewusst, dass die eigentliche Sünde des Menschen, seine tiefste Gefährdung, die Hybris ist - die anmaßende Selbstherrlichkeit, in der der Mensch sich zur Gottheit erhebt, selbst sein eigener Gott sein will, um das Leben ganz und gar zu besitzen und auszuschöpfen, was es nur immer zu bieten hat. Dieses Bewusstsein, dass die wahre Bedrohung des Menschen in der auftrumpfenden Selbstherrlichkeit liegt, die zunächst so einleuchtend erscheint, ist in der Bergpredigt von der Gestalt Christi her zu seiner ganzen Tiefe geführt. (Fs)

130a Wir haben gesehen, dass die Bergpredigt eine verborgene Christologie ist. Hinter ihr steht die Gestalt Christi, des Menschen, der Gott ist, aber gerade darum absteigt, sich entäußert, bis zum Tod am Kreuz. Die Heiligen haben von Paulus über Franz von Assisi bis zu Mutter Teresa diese Option gelebt und uns damit das rechte Bild des Menschen und seines Glücks gezeigt. Mit einem Wort: die wahre "Moral" des Christentums ist die Liebe. Und die steht freilich der Selbstsucht entgegen - sie ist Auszug aus sich selber, aber gerade auf diese Weise kommt der Mensch zu sich selber. Dem versucherischen Glanz von Nietzsches Menschenbild entgegen erscheint dieser Weg zunächst als armselig, geradezu unzumutbar. Aber er ist der wirkliche Höhenweg des Lebens; nur auf dem Weg der Liebe, deren Pfade in der Bergpredigt beschrieben sind, erschließt sich der Reichtum des Lebens, die Größe der menschlichen Berufung. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - Weltreligionen: Problemstellung; Auffassung des heutigen Menschen; Radhakrishnan

Kurzinhalt: Der vorwiegende Eindruck ist beim heutigen Menschen wohl derjenige, daß alle Religionen bei einer bunten Vielfalt von Formen und Gestalten im letzten doch dasselbe sind und meinen; was alle merken, nur sie selber nicht.

Textausschnitt: Problemstellung

17a Der christliche Glaube hat die Position, die er sich selbst in der Religionsgeschichte zuteilt, im Grunde längst formuliert: Er sieht in Christus das einzig wirkliche und damit endgültige Heil des Menschen. Hinsichtlich der anderen Religionen ist demgemäß eine doppelte Einstellung möglich (so scheint es): Man kann sie als vor-läufig und insofern vor-läuferisch zum Christentum ansprechen und damit in gewissem Sinn positiv werten, soweit sie sich nämlich in die Haltung des Vor-läufers einordnen lassen. Man kann sie freilich auch als das Ungenügende, Christuswidrige, der Wahrheit Entgegengesetzte auffassen, das dem Menschen Heil vorgaukelt, ohne es jemals geben zu können. Dem Glauben Israels, das heißt der Religion des Alten Testamentes, gegenüber ist die erste Haltung von Christus selbst vorgezeichnet. Daß sie in gewissem Sinn auch allen übrigen Religionen gegenüber stattfinden kann, ist erst in neuerer Zeit deutlich und mit Nachdruck herausgestellt worden. Tatsächlich darf man wohl sagen, daß der Bericht vom Bundesschluß mit Noach (Gen 8,20 - 9,17) die geheime Wahrheit der mythischen Religionen bestätigt: Im regelmäßigen »Stirb und Werde« des Kosmos vollzieht sich das Walten des treuen Gottes, der nicht nur mit Abraham und den Seinen, sondern mit allen Menschen im Bunde steht.1 Und haben nicht die Magier durch den Stern, d. h. durch ihren »Aberglauben«, durch ihre Religion (wenn auch nur auf dem Umweg über Jerusalem, über die heiligen Schriften des Alten Testaments) zu Christus gefunden (Mt 2,1-12)? Hat also nicht gleichsam ihre Religion in ihnen vor Christus gekniet, sich als wahrhaft vor-läufig oder besser zu-läufig auf Christus hin erwiesen? Es erscheint einem fast schon als Gemeinplatz, in solchem Zusammenhang noch die Areopagrede (Apg 17,22-32) zu zitieren, zumal die Reaktion der Zuhörer mit ihrer abweisenden Haltung gegenüber der Botschaft vom Auferstandenen die optimistische Theologie dieser Rede eher Lügen zu strafen scheint: Die Religion der also Geschmeichelten konvergiert ganz offensichtlich nicht auf Jesus von Nazareth hin. Der Widerspruch, zu dem sie vielmehr drängt, ruft damit die andere, ohnedies sehr viel stärker in Erscheinung tretende Seite der biblischen Auffassung von den Religionen »der Völker« ins Gedächtnis, wie sie in der prophetischen Geisteslinie von Anfang an lebt: jene harte Kritik an den selbstgemachten Lügengöttern, die in ihrer Unerbittlichkeit oft vom platten Rationalismus des Aufklärers kaum noch zu unterscheiden ist (vgl. z. B. Jes 44,6-20). Eine Einzelanalyse des biblischen Befundes würde die Absicht dieses Versuches indessen überschreiten; schon das Wenige, das gesagt wurde, kann aber genügen, um zu bestätigen, daß sich die beiden eingangs genannten Verhaltensweisen den Religionen der Völker gegenüber in der Schrift wiederfinden lassen: die teilweise Anerkennung unter der Idee des Vorläufigen ebenso wie die entschiedene Verneinung. (Fs)

18a Die Theologie unserer Zeit hat, wie gesagt, den positiven Aspekt besonders ins Licht gestellt und dabei vor allem die Ausdehnung des Vorläufigkeitsbegriffes geklärt: daß man auch Jahrhunderte »nach Christus«, geschichtlich gesehen, noch in der Geschichte »vor Christus« und so legitim im Vor-läufigen leben kann.2 Fassen wir zusammen, so dürfen wir sagen, daß das Christentum nach seinem eigenen Selbstverständnis zu den Religionen der Welt im Verhältnis des Ja und des Nein zugleich steht: Es weiß sich einerseits mit ihnen in der Einheit des Bundesgedankens verknüpft, lebt aus der Überzeugung, daß, wie die Geschichte und ihr Mysterium, so auch der Kosmos und sein Mythos von Gott sagt und zu Gott führen kann; es kennt aber ebenso ein entschiedenes Nein zu den Religionen, sieht in ihnen Hilfsmittel, mit denen der Mensch sich selbst gegen Gott absichert, anstatt sich seinem Anspruch auszuliefern.3 Das Christentum nimmt in seiner Theologie der Religionsgeschichte nicht einfach Partei für den Religiösen, für den Konservativen, der sich an die Spielregeln seiner ererbten Institutionen hält; das christliche Nein zu den Göttern bedeutet eher eine Option für den Rebellen, der den Ausbruch aus dem Gewohnten um des Gewissens willen wagt: Vielleicht ist dieser revolutionäre Zug des Christentums allzulang unter konservativen Leitbildern verdeckt worden.4 Ohne Zweifel drängen sich hier schon eine Reihe von Schlußfolgerungen auf; wir lassen sie einstweilen beiseite, um Schritt für Schritt unserer Frage nachzugehen. (Fs)

19a Trägt man die eben skizzierte Auffassung des Christentums von den übrigen Religionen dem heutigen Menschen vor, so wird er sich im allgemeinen wenig beeindruckt zeigen. Die Anerkennung eines vorläuferischen Charakters der anderen Religionen wertet er leicht als Zeichen von Überheblichkeit. Das Nein des Christentums zu diesen Religionen hinwiederum erscheint ihm als der Ausdruck des Parteigezänkes der verschiedenen Religionen, die sich jede auf Kosten der anderen selbst behaupten wollen und in unbegreiflicher Verblendung nicht sehen können, daß sie in Wirklichkeit doch alle ein und dasselbe sind. Der vorwiegende Eindruck ist beim heutigen Menschen wohl derjenige, daß alle Religionen bei einer bunten Vielfalt von Formen und Gestalten im letzten doch dasselbe sind und meinen; was alle merken, nur sie selber nicht.5 Dem Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion wird der Mensch von heute meist kaum mit einem brüsken Nein entgegentreten, er wird lediglich den Anspruch relativieren, indem er sagt: Es gibt viele Religionen.6 Und dahinter steht wohl immer in irgendeiner Form die Meinung: in wechselnden Gestalten sind sie im Prinzip doch gleich, ein jeder habe die seine. (Fs) (notabene)

20a Wenn wir aus solch gängiger geistiger Einstellung versuchen wollen, ein paar kennzeichnende Überzeugungen herauszuholen, so dürfen wir wohl sagen: Der Religionsbegriff des »heutigen Menschen« (man gestatte mir, diese Real-Fiktion beizubehalten) ist statisch, er sieht für gewöhnlich nicht den Übergang von einer Religion zu einer anderen vor, sondern erwartet, daß man in der seinen bleibe und sie in dem Bewußtsein lebe, daß sie in ihrem geistlichen Kern ohnedies mit allen anderen identisch ist. Es gibt also eine Art von religiösem Weltbürgertum, das Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Religionsprovinz« nicht aus-, sondern einschließt, das einen Wechsel der religiösen »Staatsangehörigkeit« nicht oder nur für demonstrative Einzelfalle wünscht, jedenfalls der Idee einer Mission höchst reserviert und im Grund ablehnend gegenübersteht. Ein Zweites schwingt in allem Gesagten immer schon mit. Der Religionsbegriff des heutigen Menschen ist symbolisch und spiritualistisch geprägt. Die Religion erscheint als ein Kosmos der Symbole, die bei einer letzten Einheit der Symbolsprache der Menschheit (wie sie Psychologie und Religionswissenschaft heute gemeinsam immer deutlicher herausstellen7) im einzelnen vielfältig differieren, aber eben doch alle dasselbe meinen und nur anfangen müßten, ihre tiefe untergründige Einheit zu entdecken. Geschieht dies erst, so ist die Einheit der Religionen ohne Aufhebung ihrer Vielheit verwirklicht - das ist die verheißungsvolle Illusion, die gerade religiös empfindenden Menschen heute als die einzig reale Zukunftshoffnung vor Augen steht. Niemand hat bisher unserer Generation dieses Bild einer Religion der Zukunft, die wieder eine »Zukunft der Religion« schaffen kann, eindrucksvoller, überzeugender, wärmer vorzuhalten vermocht als der indische Staatspräsident Radhakrishnan, dessen Werke immer wieder münden im Ausblick auf die kommende Religion des Geistes, die fundamentale Einheit und vielfältigste Differenzierung in sich verbinden werde.8Solchen in prophetischer Haltung gegebenen Aussagen gegenüber, deren menschliches und religiöses Gewicht ganz unverkennbar ist, erscheint der christliche Theologe als steckengebliebener Dogmatiker, der von seiner Rechthaberei nicht loskommt, unabhängig davon, ob er sie in der polternden Art früherer Apologeten ausdrückt oder in der verbindlichen Weise heutiger Theologen, die dem anderen bestätigen, wieviel Christliches er unbewußt schon hat. Immerhin, wenn ihm die Zukunft der Religion am Herzen liegt, wenn er überzeugt ist, daß das Christentum und nicht eine unbestimmte Religion des Geistes die Religion der Zukunft ist, wird er sich gedrängt fühlen, weiterzufragen und weiterzusuchen, um den Sinn der Religionsgeschichte und die Stellung des Christentums in ihr deutlicher zu erkennen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Der Ort des Christentums in der Religionsgeschichte; 3-facher Ausbruch aus dem: Mystik, monotheismus, Aufklärung; weder Identität noch totale Verschiedenheit

Kurzinhalt: Fassen wir das Bisherige zusammen, so stellen wir fest, daß es die generelle Identität der Religionen ebensowenig gibt wie ihre beziehungslose Pluralität, sondern daß sich eine Strukturformel herauskristallisieren läßt, ...

Textausschnitt: Der Ort des Christentums in der Religionsgeschichte

22a Der allererste Eindruck, der sich dem Menschen aufdrängt, wenn er in Sachen Religion über die Grenzen des Eigenen hinauszuschauen anfängt, ist der eines unbegrenzten Pluralismus, einer geradezu erdrückenden Vielfalt, die die Frage nach Wahrheit von vornherein als illusorisch erscheinen läßt. Wir haben indessen vorhin schon darauf angespielt, daß sich dieser Eindruck nicht lange hält, sondern alsbald einem anderen weicht: dem einer verborgenen Identität der religiösen Räume, die sich wohl in den Namen und den vordergründigen Bildern, nicht aber in den großen Grundsymbolen und dem letztlich damit Gemeinten unterscheiden. Dieser Eindruck ist weithin richtig. Es gibt in der Tat einen breiten religiösen Raum, in dem die Gemeinsamkeit der »geistlichen Erfahrung« (mit Radhakrishnan zu sprechen) entscheidender ist als die Unterschiedenheit der äußeren Formen. Ausdrücklich oder unbewußt steht eine Vielzahl von Religionen in einer tiefgehenden geistigen Kommunikation untereinander, die in der Antike sich ausdrückte in der Leichtigkeit, mit der die Göttergestalten von Religion zu Religion ausgetauscht, »übersetzt«, als gleichbedeutend identifiziert werden konnten: Die Verschiedenheit der Religionen ähnelt hier der Verschiedenheit von Sprachen, die ineinander übersetzbar, weil auf dieselbe Denkstruktur bezogen sind. Ein ähnliches, wenn auch nicht ganz gleichartiges Empfinden spricht sich aus, wenn asiatische Religionen gleichzeitig ineinander existieren können: wenn jemand z. B. gleichzeitig Buddhist und Konfuzianer, Buddhist und Shintoist sein kann. (Fs)

22b So wächst, wie wir vorhin schon sahen, aus dem Eindruck vollkommener Pluralität, der sozusagen ein erstes Stadium der Betrachtung darstellt, in einem zweiten Stadium der Eindruck letzter Identität hervor. Die moderne Religionsphilosophie ist überzeugt, daß sie sogar den Grund für diese verborgene Identität angeben kann. Nach ihrer Auffassung nimmt alle Religion, die es gibt, soweit sie »echt« ist, ihren Ausgangspunkt aus jener Form innerer Erfahrung des Göttlichen, wie sie in letzter Gemeinsamkeit von den Mystikern aller Zeiten und Zonen immer wieder erlebt wurde und wird. Alle Religion würde im letzten auf dem Erleben des Mystikers beruhen, der allein direkten Kontakt mit dem Göttlichen gewinnt und davon weitergibt an die vielen, die zu solchem Erfahren nicht befähigt sind.1 Religion würde demnach in der Menschheit in zweifacher (und nur in zweifacher) Gestalt bestehen: in der direkten Form der Mystik als Religion »erster Hand« und sodann in der indirekten Form der vom Mystiker nur »geliehenen« Erkenntnis, d. h. des Glaubens, und so als Religion »zweiter Hand«. Die artikulierte und formulierte Religion der vielen wäre dann Religion zweiter Hand, bloße Partizipation am an sich bildlosen mystischen Erlebnis, dessen sekundäre Übersetzung in eine vielfältig wechselnde Formensprache, aber ohne zusätzliche eigene Bedeutung.2 Es ist klar, daß diese mystische Interpretation der Religion den Hintergrund bildet für das, was vorhin als der Religionsbegriff des heutigen Menschen skizziert wurde, dessen Sinn und Recht mit dieser Reduktion der Religion auf die Mystik steht und fällt. (Fs) (notabene)

23a So wird jetzt endlich der Ansatzpunkt eines theologischen Weiterfragens deutlicher, das wir nunmehr in die ganz konkrete Frage nach dem Recht der mystischen Religionsinterpretation kleiden können. Es steht außer Zweifel, daß diese einen großen Teil des religiösen Phänomens richtig erfaßt, daß es - wie schon gesagt - eine geheime Identität in der vielgestaltigen Welt der Religionen gibt. Aber es ist ebenso sicher, daß sie nicht das Ganze erfaßt, sondern, falls sie das wollte, auf eine falsche Vereinfachung hinausliefe. Wenn man die Gesamtheit der Religionsgeschichte (soweit sie uns bekannt ist) ins Auge faßt, kommt man zu einem viel weniger statischen Eindruck, man stößt auf eine viel größere Dynamik wirklicher Geschichte (die Fortschritt, nicht immerwährende symbolische Wiederholung des Gleichen ist); die einfache Identität, auf die der mystische Gedanke führt, zerbricht zugunsten einer bestimmten, heute durchaus überschaubar gewordenen Struktur, wobei der mystische Weg sich als ein ganz bestimmter unter mehreren herauskristallisiert, an einer ganz bestimmten Stelle der Religionsgeschichte auftritt und eine ganze Reihe von Entwicklungen voraussetzt, die von ihm unabhängig sind. (Fs) (notabene)

24a Da ist zunächst das Stadium der frühen (sog. primitiven) Religionen vorgelagert, welches dann in das Stadium der mythischen Religionen übergeht, in denen die verstreuten Erfahrungen der Frühe in eine zusammenhängende Gesamtanschauung gesammelt werden. Beide Stadien haben mit Mystik im engeren Sinn nichts zu tun, beide bilden aber zusammen das breite Vorfeld der Religionsgeschichte, das als Unterstrom des Ganzen fortwährend bedeutsam bleibt. Wenn demnach der erste große Schritt der Religionsgeschichte im Übergang von den verstreuten Erfahrungen der Primitiven zum großangelegten Mythos besteht, so liegt der zweite, entscheidende und die Religion der Gegenwart bestimmende Schritt im Ausbruch aus dem Mythos. Dieser Schritt geschah geschichtlich in drei Weisen:

1. In der Form der Mystik, in der der Mythos als bloße symbolische Form desillusioniert und die Absolutheit des unnennbaren Erlebnisses aufgerichtet wird. Faktisch erweist sich die Mystik dann allerdings als mythen-konservierend, sie gibt eine neue Begründung für den Mythos, den sie nun als Symbol des Eigentlichen auslegt. (Fs)

2. Die zweite Form ist die der monotheistischen Revolution, deren klassische Gestalt in Israel vorliegt. In ihr wird der Mythos als menschliche Eigenmacht abgewiesen. Es wird die Absolutheit des im Propheten ergehenden göttlichen Anrufs behauptet. (Fs)

3. Dazu kommt als drittes die Aufklärung, deren erster großer Vollzug in Griechenland geschah: In ihr wird der Mythos als vorwissenschaftliche Erkenntnisform überwunden und die Absolutheit der rationalen Erkenntnis aufgerichtet. Das Religiöse wird bedeutungslos, höchstens bleibt ihm eine gewisse rein formale Funktion im Sinne eines politischen (= auf die Polis bezogenen) Zeremoniells. (Fs)

24b Der dritte Weg ist erst in der Neuzeit, ja eigentlich erst in der Gegenwart zu seiner vollen Kraft gekommen und scheint noch immer seine eigentliche Zukunft erst vor sich zu haben. Sein Besonderes ist, daß er nicht einen Weg im Innern der Religionsgeschichte darstellt, sondern vielmehr deren Beendigung will und aus ihr als aus einer überholten Sache herausführen möchte. Dennoch (oder gerade deshalb) steht er keineswegs beziehungslos zur Religionsgeschichte; im Gegenteil, man wird sagen müssen, daß es für die Zukunft der Religion und ihre Chancen in der Menschheit von entscheidender Bedeutung sein wird, wie sie ihr Verhältnis zu diesem »dritten Weg« einzurichten vermag. Es ist bekannt, daß es in der Zeit der alten Kirche dem Christentum (dem zweiten Weg in unserer Aufstellung) gelungen war, sich verhältnismäßig eng mit den Kräften der Aufklärung zu verbinden. Heute beruht die Wirkung Radhakrishnans und seiner Konzeption sicher nicht nur auf deren religiöser Kraft, sondern auf der erstaunlichen Allianz mit dem, was man heute mutatis mutandis die Kräfte der Aufklärung nennen darf. (Fs)
25a Fassen wir das Bisherige zusammen, so stellen wir fest, daß es die generelle Identität der Religionen ebensowenig gibt wie ihre beziehungslose Pluralität, sondern daß sich eine Strukturformel herauskristallisieren läßt, die das Moment der Geschichtlichkeit (des Werdens, der Entwicklung), das Moment durchgängiger Bezogenheit und dasjenige realer, unreduzierbarer Verschiedenheiten umgreift. Schematisch ließe sich diese Geschichte demnach so darstellen:

Primitive Erfahrungen
|
Mythische Religionen
|
dreifacher Ausbruch aus dem Mythos:
| | |
Mystik Monotheistische Revolution Aufklärung

25b In diesem Grundschema dürfte das Ergebnis eingefangen sein, zu dem eine »Kritik der historischen Vernunft« in Sachen Religion führen kann. Es liegt, wie gesagt, zwischen dem Gedanken einer grenzenlosen Pluralität und einer grenzenlosen Identität, um uns statt dessen auf eine begrenzte Zahl von Strukturen zu verweisen, die einer bestimmten geistigen Entwicklung eingeordnet sind. Ferner hat sich ergeben, daß das Aufstellen einer Absolutheit nicht, wie gewöhnlich angenommen, eine Eigentümlichkeit allein des »montheistischen« Weges ist, sondern allen drei Wegen eignet, auf denen der Mensch den Mythos verlassen hat. Wie der »Monotheismus« die Absolutheit des von ihm gehörten göttlichen Anrufs behauptet, so geht die Mystik von der Absolutheit der »spiritual experience« als dem allein Wirklichen in allen Religionen aus, demgegenüber sie alles Sagbare und Formulierbare als sekundäre, austauschbare Symbolgestalt hinstellt. Hier liegt wohl der eigentliche Punkt des Mißverständnisses zwischen dem von der Identitätstheologie der spiritualistischen Mystik hingerissenen Menschen von heute und dem Christentum. Der heutige Mensch (wir bleiben einfachheitshalber bei dieser Sammelbezeichnung) fühlt sich abgestoßen von der Absolut-heitsbehauptung des Christentums, die ihm angesichts so vieler ihm wohlbekannter geschichtlicher Relativitäten wenig glaubhaft erscheint, er fühlt sich um so mehr verstanden und angezogen von dem Symbolismus und Spiritualismus eines Radhakrishnan, der die Relativität aller artikulierbaren religiösen Aussagen und die Letztgültigkeit einzig und allein der nie adäquat zu sagenden geistlichen Erfahrung lehrt, die (obzwar gestuft auftretend) allenthalben ein und dieselbe sei. So einsichtig eine solche Option auch ist, sie beruht dennoch auf einem Kurzschluß. Denn nur scheinbar stellt Radhakrishnan dem Parteistandpunkt des Christen eine überparteiliche Offenheit für alles Religiöse gegenüber; in Wahrheit geht er wie dieser von einer Absolutheitslehre aus, von derjenigen nämlich, die seiner religiösen Struktur zugeordnet ist und die für das Christliche (überhaupt für jede Art von eigentlichem »Monotheismus«) keine geringere Zumutung darstellt als die christliche Absolutheit für seinen Weg. Denn er lehrt die Absolutheit des bildlosen geistlichen Erlebens, die Relativität alles Übrigen; der Christ leugnet die Alleingültigkeit der mystischen Erfahrung und lehrt die Absolutheit des in Christus hörbar gewordenen göttlichen Anrufs. Ihm die Absolutheit der Mystik als allein letztverbindlicher Größe aufzudrängen ist für ihn keine geringere Zumutung als dem Nichtchristen die Absolutheit Christi entgegenzuhalten. (Fs)

26a Endlich wäre hinzuzufügen, daß auch die dritte der von uns festgestellten Größen, die wir als »Aufklärung« benannten, womit der Durchbruch einer auf streng rationale Wirklichkeitserfassung gerichteten Einstellung bezeichnet werden sollte, ihre eigene Absolutheit hat: die Absolutheit der rationalen (»wissenschaftlichen«) Erkenntnis. Wo Wissenschaft zur Weltanschauung wird (und genau dieser Fall soll hier mit dem Wort »Aufklärung« bezeichnet sein), wird diese Absolutheit exklusiv, sie wird zur These von der Alleingeltung wissenschaftlichen Erkennens und wird von daher zur Bestreitung religiöser Absolutheit, die an sich auf ganz anderer Ebene liegt. In diesem Fall wird der Gläubige bzw. einfach der Fromme auf die Schranken auch dieser Absolutheit hinweisen müssen. Sie bewegt sich innerhalb bestimmter kategorialer Grenzen, innerhalb deren sie strenge Geltung hat; aber zu behaupten, daß der Mensch nur innerhalb dieser Grenzen überhaupt erkenne, ist eine unbegründbare Vorentscheidung, die überdies von der Erfahrung Lügen gestraft wird.3 Dabei bleibt aber festzuhalten, daß dieser dritte Weg nur mittelbar in die religiöse Entscheidung hineinreicht, die eigentlich innerreligiöse Problematik trägt sich zwischen dem ersten und zweiten Weg (»Mystik« und »monotheistische Revolution«) zu. Dieser Frage muß daher jetzt noch etwas nachgegangen werden. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - Weltreligionen; Mystik - Geschichte

Kurzinhalt: Die Tatsache eines Einbruchs des Ewigen in die Zeit, der ihr Bestand verleiht und sie zur Geschichte macht, ist ihnen unbekannt«.1 Diesen Zug der Geschichtslosigkeit teilt die Mystik
...

Textausschnitt: 33a
a) Als den eigentlichen Unterschied zwischen mystischem und monotheistischem Weg haben wir im vorigen kennengelernt, daß im ersten Fall »Gott« völlig passiv bleibt und das Entscheidende im Erleben des Menschen liegt, der seine Identität mit dem Sein alles Seienden erfährt, während im zweiten Fall die Aktivität Gottes geglaubt wird, der den Menschen ruft. Aus diesem Tatbestand folgt dann ein weiter im Vordergrund liegender Unterschied, der religionsphänomenologisch besonders deutlich ins Auge fällt und seinerseits eine Reihe weiterer Konsequenzen aus sich entläßt. Daraus ergibt sich nämlich der geschichtliche Charakter der auf der prophetischen Revolution aufbauenden Gläubigkeit und der ungeschichtliche Charakter des mystischen Weges. Das Erlebnis, an dem in der Mystik alles hängt, drückt sich nur in Symbolen aus, sein Kern ist für alle Zeiten identisch. Nicht der Zeitpunkt des Erlebens ist wichtig, sondern allein sein Inhalt, der eine Überschreitung und Relativierung alles Zeitlichen bedeutet. Der göttliche Anruf hingegen, von dem der Prophet sich getroffen weiß, ist datierbar, er hat ein Hier und Jetzt, mit ihm beginnt eine Geschichte: eine Beziehung ist gesetzt, und Beziehungen zwischen Personen haben geschichtlichen Charakter, sie sind das, was wir Geschichte nennen. Diesen Tatbestand hat besonders Jean Danielou mit großem Nachdruck herausgearbeitet, wenn er immer wieder betont, daß das Christentum »wesenhaft Glaube an ein Ereignis ist«, während die großen nichtchristlichen Religionen das Dasein einer ewigen Welt behaupten, »die zur Welt der Zeit in Gegensatz steht. Die Tatsache eines Einbruchs des Ewigen in die Zeit, der ihr Bestand verleiht und sie zur Geschichte macht, ist ihnen unbekannt«.1 Diesen Zug der Geschichtslosigkeit teilt die Mystik übrigens mit dem Mythos und den primitiven Religionen, für die nach Mircea Eliade »ihre Auflehnung gegen die konkrete Zeit, ihr Heimweh nach einer periodischen Rückkehr zur mythischen Urzeit« charakteristisch ist.2 Umgekehrt wäre dies der Ort, um das Besondere des Christentums innerhalb des monotheistischen Weges herauszustellen, sofern sich wohl zeigen ließe, daß nur hier der geschichtliche Ansatz zu seiner vollen Strenge geführt worden ist, daß also der monotheistische Weg erst hier in seiner vollen Eigentlichkeit zur Auswirkung kam.3 (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - Weltreligionen: Religionsstifer (Ostasien) - Propheten; Bildmystik - Wortmystik

Kurzinhalt: Abraham, Isaak, Jakob, Mose erscheinen mit all ihren Schlichen und ihrer Schläue, mit ihrem Temperament und ihrer Neigung zur Gewaltsamkeit zumindest recht mittelmäßig und armselig neben einem Buddha, Konfutse oder Laotse, ...

Textausschnitt: 34b
b) Des weiteren wird von dem gezeichneten Grundansatz her der auffällige Unterschied verständlich, der die Patriarchen und Propheten Israels von den großen Religionsstiftern Ostasiens unterscheidet. Wenn man die Träger des Bundesgeschehens in Israel den religiösen Persönlichkeiten Asiens gegenüberstellt, kann einen zunächst ein eigentümliches Unbehagen überkommen. Abraham, Isaak, Jakob, Mose erscheinen mit all ihren Schlichen und ihrer Schläue, mit ihrem Temperament und ihrer Neigung zur Gewaltsamkeit zumindest recht mittelmäßig und armselig neben einem Buddha, Konfutse oder Laotse,1 aber selbst so große prophetische Gestalten wie Hosea, Jeremia, Ezechiel machen bei einem solchen Vergleich keine ganz überzeugende Figur. Das ist eine Empfindung, die schon die Kirchenväter beim Aufeinandertreffen von Bibel und Hellenismus bewegte. Wenn Augustinus, der die Schönheit der Wahrheit in Ciceros Hortensius entdeckt und lieben gelernt hatte, die Bibel, nach der er griff, unwürdig fand, mit der »tullianischen Würde« zusammengebracht zu werden, so verbarg sich genau hier der Schock eines solchen Vergleichs: Vor der Erhabenheit mythischen Denkens erscheinen die Träger der Geschichte des Glaubens beinahe pöbelhaft.2 Anderen Kirchenvätern ging es nicht anders: Marius Victorinus hatte hier seine Schwierigkeit, Synesios von Kyrene desgleichen, und wenn man die umständlichen Reinwaschungsbemühungen in den David-Apologien des heiligen Ambrosius liest, spürt man dieselbe Frage und eine gewisse Hilflosigkeit dazu, die mit solchen Gedanken gewiß nicht überwunden wird. Den »Skandal« zu bestreiten hat hier keinen Sinn, er öffnet vielmehr erst den Zugang zum Eigentlichen. Religionsgeschichtlich gesehen, sind Abraham, Isaak und Jakob wirklich keine »großen religiösen Persönlichkeiten«.3 Das wegzudeuten hieße genau den Anstoß wegdeuten, der auf das Besondere und Einzigartige der biblischen Offenbarung hinführt. Dieses Besondere und Ganz-Andere liegt darin, daß Gott in der Bibel nicht wie bei den großen Mystikern geschaut, sondern als der Handelnde erfahren wird, der dabei (für das äußere und innere Auge) im Dunkeln bleibt. Und dies wiederum liegt daran, daß hier nicht der Mensch in eigener Aufstiegsbemühung durch die verschiedenen Schichten des Seins durchstößt auf die innerste und geistigste und so das Göttliche an seinem eigenen Orte auffindet, sondern es gilt das Umgekehrte: daß Gott den Menschen mitten in den weltlichen und irdischen Zusammenhängen sucht, daß Gott, den von sich aus niemand entdecken kann, auch der Reinste nicht, seinerseits dem Menschen nachgeht und in Beziehung zu ihm tritt. Man könnte sagen: die biblische »Mystik« ist nicht Bild-, sondern Wortmystik, ihre Offenbarung nicht Schauung des Menschen, sondern Wort und Tat Gottes. Sie ist nicht primär das Finden einer Wahrheit, sondern geschichtsbildendes Tun Gottes selbst. Ihr Sinn ist nicht der, daß dem Menschen göttliche Wirklichkeit sichtbar wird, sondern ist, den Offenbarungsempfänger zum Träger göttlicher Geschichte zu machen. Denn hier ist im Gegensatz zur Mystik Gott der Handelnde, und er ist es, der dem Menschen das Heil schafft. Das hat wiederum Jean Danielou scharfsichtig erkannt. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind wert, ausgiebig zitiert zu werden. »Für den Synkretismus«, so sagt er (und wir können statt dessen einsetzen: für die verschiedenen religiösen Wege außerhalb der von den Propheten eröffneten Revolution), »sind die Geretteten die innerlichen Seelen, zu welcher Religion sie auch gehören mögen. Für das Christentum sind es die Glaubenden, welchen Grad der Innerlichkeit sie auch erreicht haben. Ein kleines Kind, ein mit Arbeit überschütteter Arbeiter stehen, wenn sie glauben, höher als die größten Aszeten. >Wir sind keine großen religiösen Persönlichkeiten<, hat Guardini einmal gesagt, >wir sind Diener des Wortes<. Schon Christus hatte gesagt, daß der heilige Johannes der Täufer wohl >der größte unter den Menschenkindern sein konnte, aber >daß der kleinste unter den Söhnen des Reiches größer ist als er< (vgl. Lk 7,28). Es ist möglich, daß es in der Welt große religiöse Persönlichkeiten auch außerhalb des Christentums gibt, es ist sogar sehr gut möglich, daß sich die größten religiösen Persönlichkeiten außerhalb des Christentums finden, aber das ist ohne Bedeutung; was zählt, ist der Gehorsam gegen das Wort Christi.«4

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - Weltreligionen: Religion erster, zweiter Hand

Kurzinhalt: Wenn aber das Entscheidende nicht die eigene geistliche Erfahrung, sondern der göttliche Anruf ist, dann sind letzten Endes alle in der gleichen Lage, die diesem Anruf glauben:

Textausschnitt: 36a
c) Endlich wird von hier aus verständlich, warum die oben (im Abschnitt »Der Ort des Christentums in der Religionsgeschichte«) behandelte Unterscheidung von Religion erster und zweiter Hand, die vom Standpunkt der Mystik aus die einzige wirkliche Unterschiedenheit im Bereich der Religionen darstellt, vom Christentum nicht anerkannt wird bzw. innerhalb des Christentums nicht gilt. Gegen die letztere Behauptung könnte sofort eingewandt werden, daß es doch auch im Christentum den Unterschied gebe zwischen dem Heiligen und dem gewöhnlich Frommen, zwischen dem Mystiker und dem einfachen Gläubigen, dem die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen versagt ist. Zweifellos, diesen Unterschied gibt es, aber er ist sekundär. Er bewirkt nicht den Unterschied zwischen zweierlei Besitz von Religion, zwischen Haben der religiösen Wirklichkeit und bloß geliehener Religiosität, die sich mit den Symbolen begnügen muß, weil die Kraft der mystischen Versenkung fehlt. Wenn ich als das Wesen der Religion die Mystik ansehe und alles andere nur als sekundären Ausdruck dessen betrachte, was sich im Heiligtum des mystischen Erlebens zugetragen hat, dann ist in der Tat nur der Mystiker der wirkliche Inhaber der Religion; alle anderen müssen sich dann mit der bloßen Schale begnügen, sind »zweiter Hand«. Wenn aber das Entscheidende nicht die eigene geistliche Erfahrung, sondern der göttliche Anruf ist, dann sind letzten Endes alle in der gleichen Lage, die diesem Anruf glauben: Ein jeder ist in gleicher Weise gerufen. Während in den mystischen Religionen der Mystiker »erster Hand« und der Gläubige »zweiter Hand« ist, ist hier »erster Hand« überhaupt nur Gott selbst. Die Menschen sind samt und sonders zweiter Hand: Hörige des göttlichen Rufs. (Fs)

37a Alles, was gesagt wurde, konnte und sollte nicht dazu dienen, eine handliche rationale Rechtfertigung des christlichen Glaubens im Widerstreit der Religionen zu schaffen. Es ging vielmehr darum, den Ort des Christlichen im Ganzen der Religionsgeschichte etwas deutlicher (und doch noch ungenau genug) zu bestimmen, im Blick auf die anderen uns selbst und unseren eigenen Weg besser zu erkennen. Wenn so das Trennende weitgehend von der Frage her im Vordergrund stand, sollte das Einende doch nicht vergessen sein: daß wir alle Teil einer einzigen Geschichte sind, die auf vielerlei Weisen unterwegs ist zu Gott. Denn das erwies sich uns als die entscheidende Einsicht: Für christliches Glauben ist die Geschichte der Religionen nicht der Kreislauf des ewig Gleichen, der nie das Eigentliche berührt, das stets außerhalb der Geschichte bleibt, sondern der Christ hält die Religionsgeschichte für eine wirkliche Geschichte, für einen Weg, dessen Richtung Fortschritt und dessen Haltung Hoffnung heißt. Und so soll er seinen Dienst tun: als ein Hoffender, der unbeirrbar weiß, daß durch alles Versagen und alle Zwietracht der Menschen hindurch sich das Ziel der Geschichte erfüllt - die Verwandlung des »Tohuwabohu«, mit dem die Welt begann, in die ewige Stadt Jerusalem, in der Gott, der eine, ewige Gott unter den Menschen wohnt und ihnen leuchtet als ihr Licht auf immer (vgl. Offb 21,23; 22,5).

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Mystik, All-Einheits - Problem des Bösen; Sudbrack, Guardini

Kurzinhalt: In einer Philosophie der All-Einheit wird notwendig die Differenz von gut und böse relativiert ... In der Identitätsmystik dagegen gibt es keine letzte Trennung von gut und böse ...

Textausschnitt: 40a Schließlich macht Sudbrack im Fortgang seiner Überlegungen auf ein nicht minder grundlegendes Unterscheidungskriterium aufmerksam, von dem her die Problematik der All-Einheits-Position grell sichtbar wird: »Das Problem des Bösen als Wenden gegen Gottes absolute Güte macht den Unterschied der Seinsentwürfe am deutlichsten.«1 In einer Philosophie der All-Einheit wird notwendig die Differenz von gut und böse relativiert. Wichtige Klärungen zu dieser Frage kann man im Denken von Guardini finden. Guardini hat in seiner Philosophie des Gegensatzes den fundamentalen Unterschied zwischen »Gegensatz« und »Widerspruch« herausgearbeitet, auf den es hier letztlich ankommt. Gegensätze sind komplementär, sie machen den Reichtum der Wirklichkeit aus. In seinem wichtigsten philosophischen Werk hat er den »Gegensatz« zum Prinzip seiner Wirklichkeitssicht gemacht, in der vielfältigen Spannung des Lebendigen den Reichtum des Seins geschaut. Gegensätze verweisen aufeinander, brauchen einander und ergeben so erst die Symphonie des Ganzen. Aber der Widerspruch bricht aus dieser Symphonie aus und zerstört sie. Das Böse ist nicht noch einmal - wie Hegel meinte und wie Goethe im Faust uns zeigen will - eine Seite des Ganzen, derer wir bedürfen, sondern ist die Zerstörung des Seins.2 Es kann sich gerade nicht, wie Fausts Mephistopheles, mit den Worten vorstellen: Ich bin »ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Dann bedürfte das Gute des Bösen, und das Böse wäre gar nicht wirklich böse, sondern eben ein notwendiger Teil der Dialektik der Welt. Mit dieser Philosophie sind die Hekatomben von Opfern des Kommunismus gerechtfertigt worden, der auf der Dialektik Hegels aufbaute, die Marx in politische Praxis gewendet hatte. Nein, das Böse gehört nicht zur »Dialektik« des Seins, sondern greift es in seiner Wurzel an. Der Gott, der als dreifaltige Einheit in der Verschiedenheit gerade die höchste Einheit darstellt, ist reines Licht und reine Güte (vgl. Jak 1,17). In der Identitätsmystik dagegen gibt es keine letzte Trennung von gut und böse. »Gut und bös stehen nach dem Buddhismus in ursprünglicher wechselseitiger Abhängigkeit. Es gibt keine Priorität des einen vor dem anderen. Erleuchtung ist eine Realisation meines Seins noch vor der Dualität von Gut und Böse«, sagt Sudbrack dazu.3 Die Alternative zwischen personalem Gott und Identitätsmystik ist beileibe nicht nur theoretischer Natur - sie reicht von der innersten Tiefe der Seinsfrage ins ganz Praktische hinein. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Theologie der Religionen: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus; K. Barth, Bonhoeffer K. Rahner, J. Hick; Kritik an den Positionen

Kurzinhalt: An der Fragestellung, die den drei Positionen zugrunde liegt, übe ich freilich insofern Kritik, als ihr meiner Überzeugung nach eine voreilige Identifizierung der Problematik der Religionen mit der Heilsfrage ...

Textausschnitt: 41a Wie ich in der Vorbemerkung zu diesem Beitrag schon kurz angedeutet habe, werden in der Theologie der Religionen heute drei Grundpositionen unterschieden, die zugleich als die einzig Möglichen angesehen werden: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus. Für die exklusivistische Position steht in den üblichen Darstellungen vor allem Karl Barth. Ihr Inhalt wäre, daß exklusiv der christliche Glaube rettet und die Religionen keine Heilswege sind. Dabei muß man aber beachten, daß Barth nicht einfach das Christentum etwa als absolute Religion und alle anderen Religionen gegeneinanderstellt, sondern zwischen Glaube einerseits und Religion andererseits unterscheidet. Er sieht »Religion« als Gegensatz zum Glauben an: Die Religion ist für ihn ein Geflecht menschlicher Haltungen, durch die der Mensch zu Gott aufzusteigen versucht; der Glaube ist demgegenüber eine Gabe von Gott her, der dem Menschen die Hand entgegenstreckt: Nicht unser Tun rettet, sondern allein Gottes gütige Macht. Auch was im Christentum »Religion« ist, fällt unter das Verdikt von Barth. D. Bonhoeffer hat von da aus das Programm eines religionslosen Christentums entworfen, das dann in den 1950er und 1960er Jahren ein lebhaftes Echo gefunden hat. Kürzlich hat der italienische Theologe und Religionsphilosoph G. Baget Bozzo ein Buch unter dem Titel veröffentlicht: »Prophetie. Das Christentum ist keine Religion.«1 Übrigens hat auch R. Guardini die wesentliche Differenz von Glaube und Religion unterstrichen, auch wenn er nicht die Radikalität der Position von Barth teilen mochte.2 (Fs)

42a Für mich ist der Begriff eines religionslosen Christentums widersprüchlich und unrealistisch. Der Glaube muß sich auch als Religion und in Religion ausdrücken, ist freilich nicht auf sie rückführbar. Unter diesem Betracht sollte man die Tradition beider Begriffe neu studieren. Für Thomas von Aquin ist zum Beispiel »Religion« eine Unterabteilung der Tugend der Gerechtigkeit und als solche notwendig, aber natürlich etwas ganz anderes als die »eingegossene Tugend« des Glaubens. Mir scheint, daß es ein vorrangiges Postulat für eine differenzierte Theologie der Religionen wäre, die Begriffe Religion und Glaube präzis zu klären, die meist verschwommen ineinander übergehen und beide gleichermaßen generalisiert werden. So spricht man von »Glauben« im Plural und will damit alle Religionen bezeichnen, obwohl der Begriff Glaube keineswegs in allen Religionen vorkommt, schon gar nicht für alle konstitutiv ist und bei ihnen - soweit er vorkommt - je sehr Verschiedenes bedeutet. Umgekehrt ist auch die Ausweitung des Begriffs Religion als Gesamtbezeichnung des Verhältnisses der Menschen zur Transzendenz erst in der zweiten Hälfte der Neuzeit erfolgt.3 Gerade für das rechte Selbstverständnis des Christentums und die Weise seiner Beziehung zu den Weltreligionen ist eine solche Klärung dringlich. Wir werden später auf dieses Problem zurückkommen. (Fs) (notabene)

42b Wie Barth als Hauptvertreter der exklusivistischen Position angesehen wird, so gilt Rahner als der klassische Repräsentant des Inklusivismus: Das Christentum sei in allen Religionen gegenwärtig, oder umgekehrt: Alle Religionen gehen - ohne es zu wissen - ihm entgegen. Aus dieser inneren Zuordnung beziehen sie ihre Heilskraft: Sie führen zur Rettung, insofern und weil sie verborgen das Geheimnis Christi in sich tragen. Mit dieser Sicht bleibt einerseits bestehen, daß allein Christus und die Verbindung mit ihm rettende Kraft hat; andererseits kann man den Religionen einen - freilich gleichsam geliehenen - Heilswert zuerkennen und so die Rettung der Menschen außerhalb der »einen Arche des Heils« erklären, von der die Väter sprechen. Zugleich läßt sich doch noch - wenn auch weniger radikal als auf exklusivistischer Basis - die Notwendigkeit der Mission erklären: Was alle Religionen nur ungenau, unter dunklen Chiffren und zum Teil auch entstellt darbieten, ist im Glauben an Jesus Christus sichtbar geworden. Erst er reinigt die Religionen und führt sie ihrem eigenen Wesen, ihrer tiefsten inneren Sehnsucht entgegen. (Fs) (notabene)
43a Schließlich ist vor allem mit dem in Amerika wirkenden anglikanischen Theologen J. Hick und mit P. Knitter als Drittes die pluralistische Position in Erscheinung getreten, als deren stärkster Anwalt im deutschen Sprachraum sich P. Schmidt-Leukel profiliert hat.4 Der Pluralismus bricht klar mit dem Glauben, daß allein von Christus das Heil kommt und daß zu Christus seine Kirche gehört. Die pluralistische Position ist der Meinung, daß der Pluralismus der Religionen von Gott selbst gewollt ist und daß sie alle Heilswege sind oder wenigstens sein können, wobei im einzelnen Christus durchaus eine herausgehobene, aber eben keine exklusive Stellung zugesprochen werden kann. Der Varianten sind hier wie bei der sogenannten inklusivistischen Position viele, so daß da und dort die Positionen nahezu ineinander übergehen. (Fs)

43b Deswegen fehlt es auch nicht an Vermittlungsversuchen, zu denen etwa das Buch von B. Stubenrauch »Dialogisches Dogma« zu zählen wäre.5 Als herausragender Vertreter eines Vermittlungsversuchs ist aber vor allem J. Dupuis zu nennen, den freilich die Pluralisten dennoch klar als »Inklusivisten« einstufen.6 Mit seinem Werk hat sich auch die Glaubenskongregation befaßt, da der durchschnittliche Leser daraus - bei aller Treue zur Einzigkeit Jesu Christi - dennoch ein Gefälle zu pluralistischen Positionen entnehmen mußte. Der Dialog führte zu einer »Notifikation«, in der einvernehmlich die Punkte geklärt wurden, die für P. Dupuis theologisch wesentlich sind und damit auch die Abgrenzung zum Pluralismus deutlich markieren. (Fs)

44a Der Disput dieser drei Positionen ist nicht Sache dieses Buches; die Problematik selbst wird uns freilich durchgehend begleiten, wobei der Glaube an Jesus Christus als den einzigen Retter und an die Untrennbarkeit von Christus und Kirche Grundlage dieses Buches ist. An der Fragestellung, die den drei Positionen zugrunde liegt, übe ich freilich insofern Kritik, als ihr meiner Überzeugung nach eine voreilige Identifizierung der Problematik der Religionen mit der Heilsfrage und eine zu undifferenzierte Betrachtung der Religionen als solcher zugrunde liegt, wie schon eingangs angedeutet. Woher weiß man, daß das Thema Heil allein an den Religionen festzumachen ist? Muß es nicht viel differenzierter vom Ganzen der menschlichen Existenz her angegangen werden, und muß nicht immer auch der letzte Respekt vor dem Geheimnis von Gottes Handeln führend bleiben? Müssen wir unbedingt eine Theorie erfinden, wie Gott retten kann, ohne der Einzigkeit Christi Abbruch zu tun? Ist es nicht vielleicht wichtiger, diese Einzigkeit von innen her zu verstehen und damit zugleich auch die Weite ihrer Ausstrahlung zu erahnen, ohne daß wir sie im einzelnen definieren können? Dazu kommt die undifferenzierte Behandlung der Religionen, die ja keineswegs den Menschen in die gleiche Richtung führen, die aber vor allem auch in sich selbst nicht in einer Gestalt existieren. Heute haben wir zum Beispiel sehr deutlich verschiedene Weisen vor Augen, wie Islam gelebt und verstanden werden kann - zerstörerische Formen und solche, in denen wir eine gewisse Nähe zum Geheimnis Christi zu erkennen glauben. Kann oder muß ein Mensch sich einfach mit der von ihm vorgefundenen, in seinem Umfeld praktizierten Gestalt der ihm zugefallenen Religion abfinden, oder muß er nicht auf jeden Fall ein Suchender sein, der nach den Reinigungen des Gewissens strebt und so auf die reineren Formen seiner Religion - mindestens das - zugeht?

45a Wenn wir nicht ein solches inneres Unterwegssein voraussetzen dürfen und müssen, fällt auch die anthropologische Grundlage für die Mission dahin. Die Apostel, überhaupt die frühe Christengemeinde konnte in Jesus den Retter nur finden, weil sie nach der »Hoffnung Israels« Ausschau hielten - weil sie nicht einfach die ererbten religiösen Formen ihrer Umgebung für in sich genügend ansahen, sondern wartende, suchende Menschen des offenen Herzens waren. Die Heidenkirche konnte nur entstehen, weil es die »Gottesfürchtigen« gab, die Menschen, die ihre traditionellen Religionen überschritten und nach Größerem Ausschau hielten. Diese Dynamisierung der »Religion« gilt ja in gewissem Sinn auch - das ist das Richtige an Barth und Bonhoeffer - im Christentum selbst. Nicht einfach ein Gefüge von Einrichtungen und Ideen ist weiterzugeben, sondern im Glauben doch immer nach seiner innersten Tiefe, nach der wahren Berührung mit Christus zu suchen. So bildeten sich - um es nochmals zu sagen - im Judentum die »Armen Israels«, so müssen sie sich auch in der Kirche immer wieder bilden, und so können und sollen sie sich in den anderen Religionen bilden: Die Dynamik des Gewissens und seiner stillen Anwesenheit Gottes darin ist es, die die Religionen aufeinander zuführt und die Menschen auf den Weg zu Gott bringt, nicht die Kanonisierung des jeweils Bestehenden, die den Menschen der tieferen Suche enthebt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur; Inkulturation, Offenheit, Universalität

Kurzinhalt: Inkulturation setzt also die potentielle Universalität jeder Kultur voraus. Sie setzt voraus, daß in allen das gleiche menschliche Wesen am Werk ist und daß in diesem eine gemeinsame Wahrheit des Menschseins lebt, ...

Textausschnitt: 49a Wir werden auf diese Fragen noch einmal wenigstens indirekt zurückkommen; einstweilen sollte mit dem Gesagten nur die Größe des Problems angedeutet werden, dem wir uns jetzt endlich stellen müssen: Was ist das eigentlich - Kultur? Wie steht sie zur Religion, und auf welche Weise kann sie mit religiösen Gestalten in Verbindung treten, die ihr ursprünglich fremd waren? Darauf müssen wir zunächst sagen, daß erst das neuzeitliche Europa einen Begriff von Kultur entwickelt hat, der sie als einen von der Religion unterschiedenen oder gar ihr entgegengesetzten eigenen Bereich erscheinen läßt. In allen bekannten geschichtlichen Kulturen ist Religion wesentliches Element der Kultur, ja, ihre bestimmende Mitte; sie ist es, die das Wertgefüge und damit das innere Ordnungssystem der Kulturen bestimmt. Wenn es aber so steht, erscheint Inkulturation des christlichen Glaubens in andere Kulturen nur um so schwieriger. Denn es ist nicht zu sehen, wie die mit der Religion verflochtene, in ihr webende und lebende Kultur sozusagen in eine andere Religion transplantiert werden könne, ohne daß beide dabei zugrunde gehen. Nimmt man aus einer Kultur die ihr eigene, sie zeugende Religion heraus, so beraubt man sie ihres Herzens; pflanzt man ihr ein neues Herz - das christliche - ein, so scheint es unausweichlich, daß der ihm nicht zugeordnete Organismus das fremde Organ abstößt. Ein positiver Ausgang der Operation scheint schwer vorstellbar. Sinnvoll kann sie eigentlich nur sein, wenn der christliche Glaube und die jeweilige andere Religion samt der aus ihr lebenden Kultur nicht in einem Verhältnis der schlechthinnigen Andersheit zueinander stehen, sondern eine innere Offenheit aufeinander hin in ihnen liegt, oder anders gesagt: wenn die Tendenz, aufeinander zuzugehen und sich zu vereinigen ohnedies in ihrem Wesen begründet ist. Inkulturation setzt also die potentielle Universalität jeder Kultur voraus. Sie setzt voraus, daß in allen das gleiche menschliche Wesen am Werk ist und daß in diesem eine gemeinsame Wahrheit des Menschseins lebt, die auf Vereinigung abzielt. Nochmals anders ausgedrückt: Das Vorhaben der Inkulturation ist nur dann sinnvoll, wenn einer Kultur nicht Unrecht dadurch geschieht, daß sie aus der gemeinsamen Hinordnung auf die Wahrheit des Menschen heraus durch eine neue kulturelle Kraft geöffnet und weiterentwickelt wird. Denn dasjenige an einer Kultur, was solche Öffnung und solchen Austausch ausschließt, ist zugleich das Unzulängliche an ihr, weil Ausschließung des anderen dem Menschen wesenswidrig ist. Die Höhe einer Kultur zeigt sich in ihrer Offenheit, in ihrer Fähigkeit, zu geben und zu empfangen, in ihrer Kraft, sich zu entwickeln, sich reinigen zu lassen und dadurch wahrheitsgemäßer, menschengemäßer zu werden. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur: Definition; Elemente der Definition

Kurzinhalt: Kultur ist die geschichtlich gewachsene gemeinschaftliche Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen.

Textausschnitt: 50a An dieser Stelle können wir nun so etwas wie eine Definition von Kultur versuchen. Wir könnten sagen: Kultur ist die geschichtlich gewachsene gemeinschaftliche Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen. Versuchen wir nun, die einzelnen Elemente dieser Definition etwas näher zu bedenken, um so auch den möglichen Austausch der Kulturen besser begreifen zu können, der unter dem Stichwort Inkulturation gemeint sein muß. (Fs)

a) Kultur hat zunächst einmal mit Erkenntnis und mit Werten zu tun. Sie ist ein Versuch, die Welt und in ihr die Existenz des Menschen zu verstehen, aber ein Versuch nicht rein theoretischer Art, sondern vom fundamentalen Interesse unserer Existenz geleitet. Das Verstehen soll uns zeigen, wie man das macht, das Menschsein, wie der Mensch sich richtig in diese Welt einfügt und auf sie antwortet, um so sich selbst zu gewinnen, seine Existenz zum Gelingen, zum Glück zu führen. Diese Frage wiederum ist in den großen Kulturen nicht individualistisch gemeint, als könne der jeweils einzelne für sich ein Modell der Bewältigung von Welt und Leben erdenken. Er kann es nur mit den anderen; die Frage nach der rechten Erkenntnis ist also Frage auch nach der rechten Gestaltung der Gemeinschaft. Diese ist ihrerseits die Voraussetzung dafür, daß das Leben des einzelnen glücken kann. In der Kultur geht es um ein Verstehen, das Erkenntnis ist, die Praxis eröffnet, also um eine Erkenntnis, zu der die Dimension der Werte, des Moralischen, unabdingbar gehört. Noch eins müssen wir hinzufugen, was für die alte Welt selbstverständlich war: In der Frage nach dem Menschen und nach der Welt ist immer die Frage nach der Gottheit als die vorausgehende und eigentlich grundlegende Frage eingeschlossen. Man kann gar nicht die Welt verstehen, und man kann nicht richtig leben, wenn die Frage nach dem Göttlichen unbeantwortet bleibt. Ja, der Kern der großen Kulturen ist es, daß sie Welt interpretieren, indem sie die Beziehung zum Göttlichen ordnen. (Fs)

51a
b) Kultur im klassischen Sinn schließt also die Überschreitung des Sichtbaren, des Erscheinenden auf die eigentlichen Gründe hin ein und ist in ihrem Kern Öffnung der Tür zum Göttlichen. Damit ist (wie wir schon gesehen haben) das andere verbunden, daß in ihr der einzelne sich überschreitet und sich in einem größeren gemeinschaftlichen Subjekt mitgetragen findet, dessen Erkenntnisse er gleichsam zu leihen nehmen und dann freilich auch seinerseits forttragen und entfalten kann. Kultur ist immer gebunden an ein gemeinschaftliches Subjekt, das die Erfahrungen der einzelnen in sich aufnimmt und sie umgekehrt vorprägt. Das gemeinschaftliche Subjekt verwahrt und entfaltet Erkenntnisse, die über das Vermögen des einzelnen hinausgehen - Einsichten, die als vorrational und überrational gekennzeichnet werden können. Die Kulturen berufen sich dabei auf die Weisheit der »Alten«, die den Göttern näher standen; auf anfängliche Überlieferungen, die Offenbarungscharakter haben, also nicht nur aus dem Fragen und Nachdenken des Menschen stammen, sondern aus einer ursprünglichen Berührung mit dem Grund aller Dinge, auf einer Mitteilung vom Göttlichen her.1 Die Krise eines Kultursubjekts entsteht dann, wenn es ihm nicht mehr gelingt, diese überrationale Vorgabe mit kritischer neuer Erkenntnis in eine überzeugende Verbindung zu bringen. Dann wird der Wahrheitscharakter der Vorgabe zweifelhaft, sie wird aus Wahrheit zu bloßer Gewohnheit und verliert ihre Lebenskraft. (Fs)

c) Damit ist ein Weiteres schon angedeutet: Gemeinschaft schreitet in der Zeit voran, und deshalb hat Kultur mit Geschichte zu tun. Kultur entfaltet sich auf ihrem Weg durch die Begegnung mit neuer Wirklichkeit und die Verarbeitung neuer Erkenntnis. Sie steht nicht abgeschlossen in sich selbst, sondern in der Dynamik des Zeitflusses, zu dem wesentlich das Zueinanderfließen der Ströme, Prozesse der Einigung gehören. Geschichtlichkeit der Kultur bedeutet ihre Fähigkeit weiterzugehen, und daran hängt ihre Fähigkeit, sich zu öffnen, durch Begegnung Verwandlung zu empfangen. Zwar unterscheidet man zwischen kosmisch-statischen und geschichtlichen Kulturen. Die alten vorschriftlichen Kulturen würden danach wesentlich das immer gleichbleibende Geheimnis des Kosmos abbilden, während besonders die jüdische und die christliche Kulturwelt den Weg mit Gort als Geschichte verstehe und daher von Geschichte als Grundkategorie geprägt sei. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig, sagt aber doch nicht alles, denn auch die kosmisch ausgerichteten Kulturen verweisen auf Tod und Wiedergeburt, auf das Menschsein als Weg. Als Christen würden wir sagen: Sie tragen eine adventliche Dynamik in sich, auf die wir noch näher zu sprechen kommen müssen.2

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur: Inkulturation - Inkulturation, Begegnung von Kulturen

Kurzinhalt: Warum sind alle Kulturen einerseits nur partikulär und daher alle voneinander verschieden; warum sind sie aber zugleich alle aufeinander offen, zu gegenseitiger Reinigung und Verschmelzung befähigt?

Textausschnitt: 52b Dieser kleine Versuch, Grundkategorien des Begriffs Kultur zu klären, hilft uns nun bereits, die Frage nach der möglichen Weise ihrer Berührung und Verschmelzung besser zu verstehen. Wir können jetzt sagen, daß die Bindung von Kultur an eine kulturelle Individualität, an ein bestimmtes Kultursubjekt, die Vielheit der Kulturen und auch ihre jeweilige Besonderheit, ihre Partikularität begründet. Wir können umgekehrt feststellen, daß ihre Geschichtlichkeit, ihre Bewegung mit der Zeit und in der Zeit ihre Offenheit einschließt. Die einzelnen Kulturen leben nicht nur ihre eigene Erfahrung von Gott, Welt und Mensch, sondern sie treffen auf ihrem Weg notwendig mit den anderen Kultursubjekten zusammen und müssen sich deren andersgearteten Erfahrungen stellen. So kommt es je nach Verschlossenheit oder Öffnung, je nach der inneren Enge oder Weite eines Kultursubjekts zur Vertiefung und Reinigung der eigenen Erkenntnisse und Wertungen. Das kann zu einer tiefgehenden Umwandlung der bisherigen Kulturgestalt führen, die aber keineswegs Vergewaltigung oder Entfremdung sein muß. Im positiven Fall erklärt sie sich aus der potentiellen Universalität aller Kulturen, die sich in der Aufnahme des anderen und in der Veränderung des eigenen konkretisiert. Ein solcher Vorgang kann geradezu dazu führen, daß die stillen Entfremdungen des Menschen von der Wahrheit und von sich selbst aufgebrochen werden, die in einer Kultur liegen. Er kann das heilende Pascha einer Kultur sein, die im scheinbaren Sterben aufersteht und erst ganz sie selber wird. (Fs)

53a Demnach sollten wir nun eigentlich nicht mehr von Inkulturation, sondern von Begegnung der Kulturen oder - wenn ein Fremdwort nötig sein sollte - von Interkulturalität sprechen. Denn Inkulturation setzt voraus, daß ein gleichsam kulturell nackter Glaube sich in eine religiös indifferente Kultur versetzt, wobei sich zwei bisher fremde Subjekte begegnen und nun eine Synthese miteinander eingehen. Aber diese Vorstellung ist zunächst einmal künstlich und irreal, weil es den kulturfreien Glauben nicht gibt und weil es die religionsfreie Kultur außerhalb der modernen technischen Zivilisation nicht gibt. Vor allem aber ist nicht zu sehen, wie zwei einander an sich völlig fremde Organismen in einer Transplantation, die zunächst beide verstümmelt, plötzlich ein lebensfähiges Ganzes werden sollten. Nur wenn die potentielle Universalität aller Kulturen und ihre innere Offenheit aufeinander hin gilt, kann Interkulturalität zu fruchtbaren neuen Gestalten führen. (Fs) (notabene)

53b Mit allem Bisherigen haben wir uns sozusagen im Phänomenologischen aufgehalten, das heißt wir haben registriert, wie Kulturen wirken und sich entwickeln, und wir haben dabei als wesentlichen Grundgedanken für eine Geschichte, die auf Vereinigungen abzielt, die potentielle Universalität aller Kulturen festgestellt. Aber nun steht die Frage auf: Warum ist das so? Warum sind alle Kulturen einerseits nur partikulär und daher alle voneinander verschieden; warum sind sie aber zugleich alle aufeinander offen, zu gegenseitiger Reinigung und Verschmelzung befähigt? Ich möchte hier nicht auf die positivistischen Antworten eingehen, die es natürlich auch gibt. Mir scheint, daß gerade hier der Verweis auf das Metaphysische gar nicht abzubiegen ist. Begegnung der Kulturen ist möglich, weil der Mensch in allen Verschiedenheiten seiner Geschichte und seiner Gemeinschaftsbildungen ein einziger ist, ein und dasselbe Wesen. Dieses eine Wesen Mensch wird aber in der Tiefe seiner Existenz von der Wahrheit selber berührt. Nur aus dem verborgenen Angerührtsein unserer Seelen von der Wahrheit erklärt sich die grundsätzliche Offenheit aller aufeinander und erklären sich die wesentlichen Übereinstimmungen, die es auch zwischen den entferntesten Kulturen gibt. Die Verschiedenheit aber, die bis zur Verschlossenheit führen kann, rührt zunächst einmal aus der Endlichkeit des menschlichen Geistes: Keiner faßt das Ganze, aber in vielfältigen Erkenntnissen und Gestalten formen sie sich zu einer Art Mosaik zusammen, das die Komplementarität aller aufeinander hin anzeigt: Um zum Ganzen zu kommen, bedürfen alle aller. Nur im Zueinander aller großen kulturellen Schöpfungen nähert sich der Mensch der Einheit und Ganzheit seines Wesens. (Fs)

54a Freilich kann es bei dieser optimistischen Diagnose allein nicht bleiben. Denn die potentielle Universalität der Kulturen findet sich immer wieder vor schier unübersteiglichen Hindernissen, wenn sie in eine faktische Universalität übergehen soll. Es gibt nicht nur die Dynamik des Gemeinsamen, es gibt auch durchaus das Trennende, die Sperre gegeneinander, den ausschließenden Widerspruch, die Unmöglichkeit des Übergangs, weil die trennenden Wasser viel zu tief sind. Wir haben vorhin von der Einheit des menschlichen Wesens und von seinem verborgenen Berührtsein durch die Wahrheit, durch Gott gesprochen. Wir sind nun zur Feststellung geführt, daß es demgegenüber auch einen Negativ-Faktor in der menschlichen Existenz geben muß: eine Entfremdung, die Erkenntnis hindert und die Menschen wenigstens partiell von der Wahrheit und damit auch voneinander abschneidet. In diesem unleugbaren Faktor der Entfremdung liegt die Not allen Ringens um Begegnung der Kulturen. Daraus ergibt sich auch, daß unrecht hat, wer in den Religionen der Erde nur tadelnswerten Götzendienst sieht, daß aber auch unrecht hat, wer die Religionen nur positiv werten möchte und plötzlich die Religionskritik vergißt, die uns bis vor kurzem nicht nur von Feuerbach und Marx, sondern von so großen Theologen wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer in die Seele gebrannt war. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur - Glaube; Glaube als Kultursubjekt unter andern Kultursubjekten

Kurzinhalt: Aber in aller Konsequenz tritt die Doppelung erst im Christlichen auf, so daß der Mensch nun in zwei Kultursubjekten lebt: in seinem historischen und in dem neuen des Glaubens, ...

Textausschnitt: 55a Mit alledem sind wir nun beim zweiten Teil unserer Überlegungen angelangt. Wir hatten bisher das Wesen von Kultur und von da aus die Bedingungen kultureller Begegnung und Verschmelzung in neuen Kulturgestalten erörtert. Nun müssen wir uns aus dem Bereich des Grundsätzlichen in den der Tatsachen vorwagen. Vorher müssen wir aber noch einmal das wesentliche Ergebnis unserer Überlegungen zusammenfassen und fragen: Was kann Kulturen miteinander so verbinden, daß sie nicht äußerlich aneinander geheftet werden, sondern innere Befruchtung und Reinigung aus ihrem Begegnen wird? Das Medium, das sie beide zueinander bringt, kann nur die gemeinsame Wahrheit über den Menschen sein, bei der die Wahrheit über Gott und über die Wirklichkeit im Ganzen immer im Spiele ist. Je menschlicher eine Kultur ist, je höher sie steht, desto mehr wird sie auf Wahrheit ansprechen, die ihr bisher verschlossen geblieben war; desto mehr wird sie fähig sein, solche Wahrheit sich zu assimilieren und sich ihr zu assimilieren. An dieser Stelle wird nun das besondere Selbstverständnis des christlichen Glaubens sichtbar. Er weiß, wenn er wach und unbestechlich ist, sehr wohl darum, daß in seinen einzelnen kulturellen Ausprägungen viel Menschliches am Werk ist, vieles, das der Reinigung und der Öffnung bedarf. Aber er ist auch gewiß, daß er in seinem Kern das Sich-Zeigen der Wahrheit selbst und darum Erlösung ist. Denn das Wahrheitsdunkel ist die eigentliche Not des Menschen. Es verfälscht unser Tun und bringt uns gegeneinander auf, weil wir mit uns selbst im Unreinen, uns selbst entfremdet sind, abgeschnitten vom Grund unseres Wesens, von Gott. Wenn Wahrheit sich schenkt, bedeutet dies Herausführung aus den Entfremdungen und damit aus dem Trennenden; Aufleuchten des gemeinsamen Maßstabs, der keiner Kultur Gewalt antut, sondern jede zu ihrer eigenen Mitte führt, weil jede letztlich Erwartung von Wahrheit ist. Das bedeutet nicht Uniformierung, im Gegenteil: nun erst, wenn dies geschieht, kann Gegensatz zu Komplementarität werden, weil alle, vom zentralen Maßstab geordnet, nun ihre je eigene Fruchtbarkeit entfalten können. (Fs)

55b Das ist der hohe Anspruch, mit dem der christliche Glaube in die Welt getreten ist. Aus ihm folgt die innere Verpflichtung, alle Völker in die Schule Jesu zu schicken, weil er die Wahrheit in Person und damit der Weg des Menschseins ist. Wir wollen einstweilen nicht in den Streit um das Recht dieses Anspruchs eintreten, müssen aber darauf später selbstverständlich noch einmal zurückkommen. Zunächst fragen wir: Was folgt daraus für das konkrete Verhältnis des christlichen Glaubens zu den Kulturen der Welt?
56a Als erstes müssen wir feststellen: Der Glaube selbst ist Kultur. Es gibt ihn nicht nackt, als bloße Religion. Einfach indem er dem Menschen sagt, wer er ist und wie er das Menschsein anfangen soll, schafft Glaube Kultur, ist er Kultur. Dieses sein Wort ist nicht ein abstraktes Wort, es ist in einer langen Geschichte und in vielfältigen interkulturellen Verschmelzungen gereift, in denen es eine ganze Gestalt des Lebens, den Umgang des Menschen mit sich selbst, mit dem Nächsten, mit der Welt, mit Gott geformt hat. Der Glaube ist selbst Kultur. Das bedeutet dann auch, daß er ein eigenes Subjekt ist: eine Lebens- und Kulturgemeinschaft, die wir »Volk Gottes« nennen. In diesem Begriff kommt der geschichtliche Subjektcharakter des Glaubens wohl am deutlichsten zum Ausdruck. Steht nun deshalb der Glaube als ein Kultursubjekt unter anderen, so daß man wählen müßte, ob man ihm - diesem Volk als Kulturgemeinschaft - oder einem anderen Volk zugehören möchte? Nein. An dieser Stelle wird das ganz Besondere und Eigene der Kultur des Glaubens sichtbar. Von den klassischen Kultursubjekten, die stammlich, völkisch oder sonstwie durch die Grenzen eines gemeinsamen Lebensbereiches definiert sind, weicht das Subjekt Volk Gottes dadurch ab, daß es in verschiedenen Kultursubjekten besteht, die ihrerseits dabei nicht aufhören, auch für den einzelnen Christen erstes und unmittelbares Subjekt seiner Kultur zu sein. Auch als Christ bleibt man Franzose oder Deutscher, Amerikaner oder Inder usw. In der vorchristlichen Welt, auch in den Hochkulturen Indiens, Chinas, Japans gilt die Identität und Untrennbarkeit des Kultursubjekts. Doppelte Zugehörigkeit ist im allgemeinen unmöglich, wobei freilich der Buddhismus eine Ausnahme bildet, der sich mit anderen Kultur Subjekten sozusagen als deren innere Dimension verbinden kann. Aber in aller Konsequenz tritt die Doppelung erst im Christlichen auf, so daß der Mensch nun in zwei Kultursubjekten lebt: in seinem historischen und in dem neuen des Glaubens, die sich in ihm begegnen und durchdringen. Dieses Miteinander wird nie eine ganz fertige Synthese sein; es schließt die Notwendigkeit fortwährender Versöhnungs- und Reinigungsarbeit ein. Immer wieder muß die Überschreitung ins Ganze, ins Universale eingeübt werden, das nicht empirisches Volk, sondern eben Volk Gottes und daher der Raum aller Menschen ist. Immer wieder muß umgekehrt dieses Gemeinsame ins Eigene hereingeholt und am konkreten Ort der Geschichte gelebt oder auch gelitten werden. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur - Glaube; Christentum: Bruch, Exodus - Gravitationspunkt der Weltgeschichte; Christus als Mensch in Ewigkeit

Kurzinhalt: Dieses Kultursubjekt Kirche, Volk Gottes, fällt auch in Zeiten scheinbar völliger Ver-christlichung einzelner Völker ... mit keinem dieser historischen Einzelsubjekte zusammen, sondern behält seine eigene übergreifende Gestalt

Textausschnitt: 57a Aus dem Gesagten folgt etwas sehr Wichtiges. Man könnte meinen, daß die Kultur jeweils Sache des einzelnen Geschichtssubjektes (Deutschland, Frankreich, Amerika usw.) sei, während der Glaube erst auf der Suche nach kulturellem Ausdruck wäre. Die einzelnen Kulturen würden ihm sozusagen erst seinen kulturellen Körper zuteilen. Der Glaube müßte dann immer nur von Leihkulturen leben, die ihm aber auch irgendwie alle äußerlich blieben und wieder abgestreift werden könnten. Vor allem würde die eine Leihform von Kultur den anderen nichts angehen, der in einer anderen lebt. Die Universalität müßte dabei letztlich fiktiv werden. Solches Denken ist im Grunde manichäisch: Es erniedrigt die Kultur zu bloßem, austauschbarem Körper; es verflüchtigt den Glauben in bloßen und letztlich wirklichkeitslosen Geist. Freilich ist eine solche Auffassung typisch für die nachaufklärerische Geisteshaltung. Kultur wird ins bloß Formale, Religion ins Ausdruckslose des bloßen Gefühls oder des reinen Gedankens verwiesen. So entfällt die fruchtbare Spannung, die durch die Koexistenz zweier Subjekte an sich entstehen müßte. Wenn Kultur mehr ist als bloße Form oder bloße Ästhetik, wenn sie vielmehr Ordnung von Werten in einer geschichtlichen Lebensgestalt ist und von der Frage nach dem Göttlichen gar nicht absehen kann, dann ist nicht daran vorbeizukommen, daß Kirche für den Gläubigen ein eigenes Kultursubjekt ist. Dieses Kultursubjekt Kirche, Volk Gottes, fällt auch in Zeiten scheinbar völliger Ver-christlichung einzelner Völker, wie man sie in Europa gegeben glaubte, mit keinem dieser historischen Einzelsubjekte zusammen, sondern behält seine eigene übergreifende Gestalt und ist gerade dadurch bedeutsam. (Fs) (notabene)

57b Wenn es so steht, dann kann es in der Begegnung zwischen dem Glauben und seiner Kultur mit einer ihm bisher fremden Kultur nicht darum gehen, diese Zweiheit der Kultursubjekte nach der einen oder nach der anderen Seite hin aufzulösen. Sowohl die Preisgabe des eigenen kulturellen Erbes zugunsten eines Christentums ohne konkrete menschliche Färbung wie das Verschwinden der eigenen kulturellen Physiognomie des Glaubens in der neuen Kultur wäre verfehlt. Gerade die Spannung ist fruchtbar, erneuert den Glauben und heilt die Kultur. Demgemäß wäre es auch unsinnig, ein sozusagen vorkulturelles oder dekulturiertes Christentum anzubieten, das seiner eigenen geschichtlichen Kraft beraubt und zu einer leeren Sammlung von Ideen degradiert würde. Wir dürfen nicht vergessen, daß das Christentum bereits im Neuen Testament die Frucht einer ganzen Kulturgeschichte in sich trägt, eine Geschichte des Annehmens und Abstoßens, des Begegnens und des Veränderns. Die Glaubensgeschichte Israels, die in ihm aufgehoben ist, hat im Ringen mit der ägyptischen, der hethitischen, der sumerischen, der babylonischen, der persischen, der griechischen Kultur ihre Form gefunden. All diese Kulturen waren zugleich Religionen, umfassende geschichtliche Lebensformen, die im Ringen Gottes mit Israel, im Ringen seiner großen prophetischen Gestalten leidvoll aufgenommen und verwandelt wurden, um ein immer reineres Gefäß für das Neue der Offenbarung des einen Gottes bereitzustellen, aber gerade so fanden auch jene Kulturen zu ihrer bleibenden Erfüllung. Sie wären inzwischen alle in ferne Vergangenheit versunken, wenn sie nicht im Glauben der Bibel gereinigt und erhöht Gegenwart geblieben wären. Gewiß, die Glaubensgeschichte Israels beginnt mit dem Ruf an Abraham: »Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus« (Gen 12,1); sie beginnt mit einem Kulturbruch. Ein solcher Bruch mit der eigenen Vorgeschichte, ein solches Ausziehen wird immer am Beginn einer neuen Stunde der Glaubensgeschichte stehen. Aber dieser neue Anfang erweist sich dann als eine Kraft der Heilung, die eine neue Mitte schafft und alles wahrhaft Menschengemäße, wahrhaft Gottgemäße an sich zu ziehen vermag. »Wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle an mich ziehen« (Joh 12,31) - dieses Wort des erhöhten Herrn gehört auch in unseren Zusammenhang herein: Das Kreuz ist zuerst Bruch, Ausgestoßenwerden, von der Erde weg Erhöhtsein, aber gerade so wird es zum neuen, nach oben ziehenden Gravitationspunkt der Weltgeschichte, zur Sammlung des Getrennten. (Fs) (notabene)

59a Wer in die Kirche eintritt, muß sich bewußt sein, daß er in ein eigenes Kultursubjekt mit einer eigenen historisch gewachsenen und vielfältig geschichteten Interkulturalität eintritt. Ohne einen gewissen Exodus, einen Umbruch des Lebens in all seinen Bezügen kann man nicht Christ werden. Der Glaube ist ja nicht ein Privatweg zu Gott; er fuhrt in das Volk Gottes und in seine Geschichte hinein. Gott hat sich selbst an eine Geschichte gebunden, die nun auch die seinige ist und die wir nicht abstreifen können. Christus bleibt Mensch in Ewigkeit, behält Leib in Ewigkeit; Menschsein und Leibsein schließen aber Geschichte und Kultur ein, diese ganz bestimmte Geschichte mit ihrer Kultur, ob es uns gefallt oder nicht. Wir können nicht den Vorgang der Inkarnation beliebig in dem Sinn wiederholen, daß wir sozusagen immer wieder Christus sein Fleisch wegnehmen und ihm ein anderes statt dessen anbieten. Christus bleibt er selbst, auch seinem Leibe nach. Aber er zieht uns an sich. Das bedeutet: Weil das Volk Gottes kein einzelnes Kulturgebilde ist, sondern aus allen Völkern versammelt wird, daher hat auch die erste Identität, auferstehend aus dem Bruch, in ihm Platz und nicht nur das, sie ist notwendig, um die Menschwerdung Christi, des Logos, zu ihrer ganzen Fülle kommen zu lassen. Die Spannung der vielen Subjekte in dem einen Subjekt gehört wesentlich zum unabgeschlossenen Drama der Menschwerdung des Sohnes. Sie ist die eigentliche innere Dynamik der Geschichte und steht freilich auch immer unter dem Zeichen des Kreuzes, das heißt sie hat immer auch mit dem entgegengesetzten Schwergewicht der Abschließung und der Verweigerung zu kämpfen. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Religion und Kultur in der technischen Welt; Relativismus: Grundproblem unserer Zeit; Gegenüberstellung: Kultur - Wahrheit; Regno-Zentrik


Kurzinhalt: Die Wahrheit ist durch den Mehrheitsentscheid ersetzt, so sagt er, eben weil es Wahrheit als gemeinsam verbindlich zugängliche Größe für den Menschen nicht geben könne.1 So wird die Vielheit der Kulturen zum Nachweis der Relativität aller.

Textausschnitt: 59b Das alles trifft dann zu, wenn Jesus von Nazareth wirklich der menschgewordene Sinn der Geschichte, der Logos, das Sichzeigen der Wahrheit selber ist. Dann ist klar, daß diese Wahrheit der offene Raum ist, in dem alle zueinander finden können und nichts seinen eigenen Wert und seine eigene Würde verliert. An dieser Stelle setzt heute Kritik ein. Für die konkreten Glaubensaussagen einer Religion den Anspruch der Wahrheit zu erheben, erscheint heute nicht nur als Anmaßung, sondern als Zeichen mangelnder Aufklärung. Hans Kelsen hat den Geist unserer Epoche ausgedrückt, wenn er den großen sittlichen und religiösen Problemen der Menschheit gegenüber für die Gestaltung der staatlichen Gemeinschaft die Pilatusfrage »Was ist Wahrheit?« als einzig angemessene Haltung darstellt. Die Wahrheit ist durch den Mehrheitsentscheid ersetzt, so sagt er, eben weil es Wahrheit als gemeinsam verbindlich zugängliche Größe für den Menschen nicht geben könne.1 So wird die Vielheit der Kulturen zum Nachweis der Relativität aller. Kultur wird der Wahrheit entgegengestellt. Dieser Relativismus, der heute als Grundgefühl des aufgeklärten Menschen bis weit in die Theologie hineinreicht, ist das tiefste Problem unserer Zeit. Er ist auch der Grund dafür, daß nun Wahrheit durch Praxis ersetzt und damit die Achse der Religionen verschoben wird: Was wahr ist, wissen wir nicht, aber was wir machen müssen, wissen wir: eine bessere Gesellschaft heraufführen, das »Reich«, wie man mit einem der Bibel entnommenen und ins Profan-Utopische gewendeten Wort gerne sagt. Ekklesiozentrik, Christozentrik, Theozentrik - sie scheinen nun alle überholt durch die Regno-Zentrik, die Zentrierung auf das Reich als gemeinsame Aufgabe der Religionen, und nur unter diesem Gesichtspunkt und nach diesem Maßstab sollten sie sich begegnen.2 So besteht nun kein Grund mehr, sie in ihrem Kern, in ihrer sittlichen und religiösen Weisung aufeinander zuzubewegen; wohl aber werden sie alle in ihrem tiefsten Wesen umgeformt, sofern sie als Instrumente einer Zukunftsgestaltung dienen sollen, die ihnen bisher als Aufgabe fremd war und die ihre Inhalte letztlich gegenstandslos werden läßt. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Religion und Kultur in der technischen Welt; Relativismus; Mission, Entwicklungshilfe

Kurzinhalt: Die Religionen können in der geschichtlich bewegten Welt gar nicht einfach stehen bleiben, wie sie waren oder sind. Aber der christliche Glaube, der das ganze große Erbe der Religionen in sich trägt und es zugleich auf den Logos, ...

Textausschnitt: 60a Das Relativismusdogma wirkt aber auch noch in eine andere Richtung: Der in der Mission konkret vollzogene christliche Universalismus ist nicht mehr pflichtgemäße Weitergabe eines Gutes, das für alle bestimmt ist, der Wahrheit und der Liebe nämlich; die Mission wird unter dieser Voraussetzung zur blanken Anmaßung einer sich überlegen dünkenden Kultur, die schändlicherweise eine Vielzahl religiöser Kulturen zertreten und so den Völkern ihr Bestes, ihr Eigenes genommen hätte. Von da kommt der Imperativ: Gebt uns unsere Religionen wieder als die rechtmäßigen Wege, wie die einzelnen Völker zu ihrem Gott und Gott zu ihnen kommt; tastet die Religionen nicht an, wo sie noch bestehen! Ist diese Forderung angemessen? An ihr muß sich jedenfalls Sinn oder Unsinn des Relativismus-Dogmas im Bereich der Kulturen und Religionen erweisen.1

61a Zumindest müßte man bei solchen Forderungen sorgsam auf die einzelnen Religionen hinsehen, ob denn wirklich ihre Wiederherstellung wünschenswert sei. Wenn wir zum Beispiel daran denken, daß bei der Weihe des letzten Umbaus des Haupttempels der Azteken im Jahre 1487 »nach den geringsten Schätzungen in vier Tagen 20.000 Menschen auf den Altären Tenochtitlans« (der Hauptstadt der Azteken im Hochtal von Mexiko) als Menschenopfer für den Sonnengott verbluteten, so wird es schwerfallen, die Wiederherstellung dieser Religion zu fordern.2 Solche Opferung geschah, weil die Sonne vom Blut menschlicher Herzen lebte und nur durch Menschenopfer der Untergang der Welt aufgehalten werden konnte. So waren denn auch die Kriege, in denen man die Gefangenen gewann, die als Opfer dienten, göttliches Gebot. Den Erd- und Vegetationsgöttern brachten die Azteken »Männer und Frauen dar, denen meist die Haut abgezogen wurde«; den zwerghaft gedachten Regengöttern opferte man kleine Kinder, die man in Quellen, Wasserlöchern und bestimmten Stellen des Sees von Tetzcoco ertränkte. Es gab Rituale, zu denen das Menschenschinden gehörte. All dies rührte, wie W. Krickeberg feststellt, nicht aus einem angeborenen »Hang zur Grausamkeit«, sondern aus dem fanatischen Glauben an die Pflicht der Menschen, auf diese Weise für den Fortbestand der Welt zu sorgen.3 Dies ist gewiß ein extremes Beispiel, aber es zeigt immerhin, daß man nicht ohne weiteres in allen Religionen Wege Gottes zu den Menschen und des Menschen zu Gott sehen kann. (Fs)

62a Wir müssen aber die Frage grundsätzlicher anfassen. Kann man die Religionen überhaupt einfach so stehen lassen, sozusagen bei ihnen die Geschichte anhalten? Offenkundig ist, daß man nicht Menschen zu einer Art von religions- und kulturgeschichtlichem Naturschutzpark erklären kann, in den die Neuzeit nicht eindringen dürfe. Solche Versuche sind nicht nur unwürdig und im letzten menschenverachtend, sie sind auch völlig unrealistisch. Die Begegnung der Kulturen und das allmähliche Zusammenwachsen der einzelnen Geschichtsräume zu einer einzigen gemeinsamen Menschheitsgeschichte liegt im Wesen des Menschen selbst begründet. Man kann auch nicht selber die Möglichkeiten der technischen Zivilisation ausnutzen und zugleich den anderen seinen eigenen romantischen Traum von der vortechnischen Welt aufdrängen. In der Tat ist ja heute wohl unbestritten, daß die Ausbreitung der Zivilisation der Neuzeit nicht nur faktisch unaufhaltsam ist, sondern daß es eine Frage der Gerechtigkeit bedeutet, den von ihr nicht berührten Kulturen deren Instrumente anzubieten. Daß man dabei behutsamer verfahren und mehr Achtung vor den eigenen Überlieferungen dieser Menschen zeigen muß, als es bisher geschah, steht auf einem anderen Blatt. Nicht die Ausweitung der technischen Möglichkeiten als solche ist schlecht, wohl aber die aufklärerische Anmaßung, mit der man vielfach dabei gewachsene Strukturen zertreten hat und auf den Seelen der Menschen herumgetrampelt ist, deren religiöse und ethische Überlieferungen achtlos beiseite geschoben wurden. Die seelische Entwurzelung und die Zerstörungen des Gemeinschaftsgefüges, die dabei geschehen sind, sind sicher ein Hauptgrund, warum Entwicklungshilfe bisher nur in den seltensten Fällen zu positiven Ergebnissen geführt hat. Man glaubte, es genüge, technisches Können zu entwickeln; daß der Mensch auch Überlieferung, von innen tragende Werte braucht, wurde und wird weithin ausgeklammert. (Fs)

63a Aber nun könnte man fragen: Soll man also nicht doch so vorgehen, daß man die Technik behutsam weitergibt, aber die Religionen stehen läßt? Dieser auf den ersten Blick so einleuchtende Gedanke führt dennoch in die Irre. Denn man kann nicht in ganz anderen Situationen gewachsene Religionen als solche konservieren, in die Statik einer Art von religiösem Naturschutz einschließen, und gleichzeitig das technische Weltbild daraufsetzen. Die technische Zivilisation ist ja nicht einfach religiös und moralisch neutral, auch wenn sie glaubt, es zu sein. Sie verändert die Maßstäbe und die Verhaltensweisen. Sie ändert die Interpretation der Welt von ihrem Grunde her. Der religiöse Kosmos kommt durch sie unweigerlich in Bewegung. Das Ankommen dieser neuen Möglichkeiten der Existenz ist wie ein Erdbeben, das die geistige Landschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Allerdings gibt es in zunehmendem Maß den Vorgang, daß der christliche Glaube als europäisches Kulturerbe der eigenen Authentizität willen abgeschüttelt und religiös die heidnischen Religionen wiederhergestellt werden, während man gleichzeitig die Technik, obgleich nicht weniger westlich, leidenschaftlich aufnimmt und ausnutzt. Diese Teilung des westlichen Erbes in das Nützliche, das man akzeptiert, und in das Fremde, das man fallen läßt, führt allerdings gerade nicht zur Rettung der alten Kulturen. Denn nun zeigt sich, daß das Große, Vorwärtsweisende, ich möchte sagen: die adventliche Dimension der alten Religionen dabei zu Fall kommt, weil sie mit den neuen Erkenntnissen über Welt und Mensch unvereinbar scheint und ihr Interesse verliert, während das Magische im weitesten Sinn des Wortes, alles, was Macht über die Welt verspricht, erhalten bleibt und erst vollends lebensbestimmend wird. Die Religionen verlieren so ihre Würde, weil das Beste von ihnen abgeschnitten wird und das, was ihre Gefährdung war, als einziges übrigbleibt. Das ließe sich sehr gut am Beispiel des Vodun zeigen. In seiner originären Form ist er letztlich von einem Vorgriff auf das Pascha-Mysterium, auf Tod und Auferstehung geprägt; die Frage der Initiation ins Menschsein, der Hochzeit der Geschlechter, der Sündenvergebung - all die großen sakramentalen Grundfiguren bestimmen ihn in seinem Wesensge-füge.4 Aber diese mythologische Form bedarf einer neuen rationalen Vermittlung, einer neuen Mitte, die Vodun selber sich nicht geben kann. In seiner geschichtlichen Stunde streckte es sich aus nach dem noch Unbekannten hin. Wo aber einfach Technik und Vodun aufeinandergesetzt werden, zerbricht diese nach vorwärts weisende Gebärde und übrig bleiben die magischen Potentiale, die sich nun als eine arationale Nebenwelt neben die technische und ihre einseitige Rationalität stellen. Immer mehr Europäer, denen der christliche Glaube zerbricht, nehmen diese irrationalen Kräfte auf, und so erst geschieht wirkliche Paganisierung: ein Abgeschnittenwerden des Menschen von Gott; der Mensch sucht nur noch nach verschiedenen Machtsystemen und zerstört dabei sich selbst und die Welt. Dies aber ist genau die falsche Art von Begegnung der Kulturen, im Grund eine Nicht-Begegnung, in der Rationalismus und Irrationalismus sich auf eine fatale Weise miteinander verbinden. Die Religionen können in der geschichtlich bewegten Welt gar nicht einfach stehen bleiben, wie sie waren oder sind. Aber der christliche Glaube, der das ganze große Erbe der Religionen in sich trägt und es zugleich auf den Logos, auf die wahre Vernunft hin öffnet, könnte ihrem tiefsten Wesen neuen Bestand geben und zugleich die wahre Synthese von technischer Rationalität und Religion ermöglichen, die nicht durch die Flucht ins Irrationale, sondern nur durch die Öffnung der Vernunft zu ihrer wahren Höhe und Weite geschehen kann. (Fs)

65a An dieser Stelle liegen die großen Aufgaben des gegenwärtigen geschichtlichen Augenblicks. Zweifellos muß christliche Mission die Religionen in einer viel tieferen Weise verstehen und aufnehmen als bisher geschehen, aber umgekehrt bedürfen die Religionen, um in ihrem Besten weiterzuleben, der Anerkennung ihres eigenen adventlichen Charakters, der sie nach vorne, auf Christus verweist. Wenn wir in diesem Sinn auf eine interkulturelle Spurensuche nach der einen gemeinsamen Wahrheit gehen, dann wird sich Unerwartetes zeigen: Die Gemeinsamkeiten des Christentums mit den alten Kulturen der Menschheit sind größer als die Gemeinsamkeiten mit der relativistisch-rationalistischen Welt, die sich aus den tragenden Grunderkenntnissen der Menschheit gelöst hat und so den Menschen in ein Sinnvakuum verweist, das tödlich zu werden droht, wenn ihm nicht rechtzeitig Antwort wird. Denn quer durch die Kulturen geht das Wissen um die Verwiesenheit des Menschen auf Gott und auf das Ewige; das Wissen um Sünde, Buße und Vergebung; das Wissen um Gottesgemeinschaft und ewiges Leben und schließlich das Wissen um die sittlichen Grundordnungen, wie sie im Dekalog Gestalt gefunden haben. Nicht der Relativismus wird bestätigt, sondern die Einheit des Menschseins und sein gemeinsames Angerührtsein von einer Wahrheit, die größer ist als wir. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur, Glaube; Inklusivismus, Pluralismus; Christentum, Mystik (Monismus Indiens), Islam

Kurzinhalt: ... weil der Glaube an diese Offenbarung nicht aus einer einzelnen Kultur, sondern durch einen Eingriff von oben zustande kommt und daher nichts einfach »absorbiert«. In einer vielfältigen Symphonie läßt er allen großen spirituellen ...

Textausschnitt: 66a Nach diesen Überlegungen über das Verhältnis von Religion, Glaube, Kultur kann die Typologie der Lösungen des Religionsproblems neu aufgegriffen werden, die uns bereits in den drei Begriffen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus begegnet war. Der Exklusivismus in dem Sinn, daß allen Nichtchristen das Heil abgesprochen würde, wird heute wohl von niemandem vertreten - das war übrigens auch nicht die Ansicht von Karl Barth. Daß sein »Exklusivismus« sich auf das Phänomen »Religion« überhaupt und gar nicht spezifisch auf »die Religionen« bezog und insofern auch die Heilsfrage für die Nichtchristen gar nicht direkt tangierte, hatte ich ja schon anzudeuten versucht. Insofern gehört seine Position letztlich einer anderen Fragestellung zu, die heute wohl zu sehr vergessen ist. Für die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zu den Religionen der Welt bleiben so im wesentlichen die zwei Positionen Inklusivismus und Pluralismus stehen. Es ist inzwischen gängig geworden, auch den »Inklusivismus« als eine Art von christlichem Imperialismus, als eine Anmaßung den Religionen gegenüber abzulehnen: Es gehe nicht an, die Religionen auf Christus hin finalisiert zu sehen und sie so letztlich christlich zu vereinnahmen. Nun, Karl Rahner hatte gesagt - wir hörten es -, daß wir als Christen auf diese »Anmaßung nicht verzichten können«. Wer sie uns nehmen will, bestreitet den Christen das Recht auf ihren Glauben und auf den Glauben daran, daß alles auf Christus hin geschaffen ist und daß er als der »Sohn«, als der wirkliche, ins Fleisch herabgestiegene Gott, der Erbe des Alls sei - dies einfach deswegen, weil er als Gottes schöpferisches Wort die Wahrheit aller Dinge und Menschen ist. Durch die Wahrheit aber wird niemand vergewaltigt. Wenn man diesen Gedanken weiter vertieft, kann wohl auch der Begriff der »Anmaßung« von innen her aufgelöst werden. Wir hatten von der potentiellen Universalität der Kulturen gesprochen: Die Kulturen der Menschheit, die mit ihren Religionen jeweils ein Ganzes bilden, sind gar nicht beziehungslos nebeneinander oder gegeneinander stehende Blöcke. In ihnen allen ist das eine Wesen Mensch wirksam, in dem es unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen und Wege, unterschiedliche Verirrungen und Gefahren gibt; aber überall ist es letztlich der Mensch, der sich darin ausdrückt. Weil in allen Menschen das eine Wesen Mensch wirksam ist, sind sie alle fähig, ja, gerufen, miteinander in Kommunion zu treten. Keine wahre Kultur ist letztlich impenetrabel für die andere, alle sind zur Berührung miteinander fähig und einander zugeordnet. Daher hat es - wir sprachen davon - in der Geschichte immer den interkulturellen Austausch, die Verschmelzung der Kulturen gegeben. »Inklusivismus« gehört zum Wesen der Kultur- und Religionsgeschichte der Menschheit, die nun gerade nicht in der Form eines strengen Pluralismus gebaut ist. Der Pluralismus in seiner radikalen Form leugnet letztlich die Einheit der Menschheit und leugnet die Dynamik der Geschichte, die ein Prozeß der Vereinigungen ist. (Fs) (notabene)

67a Bis hierher bewegen wir uns noch im rein phänomenologischen Bereich; der Glaube ist für diese Aussagen nicht in Anspruch genommen. Er tritt erst mit der Aussage in Erscheinung, daß in diesem Prozeß der Vereinigungen die in Christus ergangene Offenbarung deren eigentlicher Bezugspunkt ist, eben deswegen, weil der Glaube an diese Offenbarung nicht aus einer einzelnen Kultur, sondern durch einen Eingriff von oben zustande kommt und daher nichts einfach »absorbiert«. In einer vielfältigen Symphonie läßt er allen großen spirituellen Menschheitserfahrungen Raum: Eben dies sieht der Christ in der Geschichte vom Pfmgstwunder vorgebildet, bei dem nicht wie in Babylon (Typus der Kultur des Machens und der Macht) eine Einheitssprache (Einheitszivilisation) allen anderen vorgeschrieben wird, sondern Einheit in der Vielheit geschieht. Die vielen Sprachen (Kulturen) verstehen sich im einen Geist. Sie werden nicht aufgehoben, sondern in einer Symphonie zueinander geführt. Phänomenologisch betrachtet ist es als das Neue und Besondere des Christentums anzusehen, daß es sich nicht einfach in der Religionsgeschichte, als »absolute Religion« unter den »relativen Religionen« angesiedelt hat - obgleich man eine solche Begriffsbildung auch recht verstehen könnte. Der christliche Glaube hat seine Vorgeschichte in den ersten Jahrhunderten mehr in der Aufklärung, also in der Bewegung der Vernunft gegen eine zum Ritualismus tendierende Religion gesucht. Die Vätertexte von den »Samen des Wortes« (und ähnliche Gedankenfiguren), die man heute als Belege für den Heilscharakter der Religionen anführt, beziehen sich im Original gerade nicht auf die Religionen, sondern auf die Philosophie, auf eine »fromme« Aufklärung, für die Sokrates steht, der gleichzeitig Gottsucher und Aufklärer war. Wir werden auf all das noch ausführlicher zu sprechen kommen. In diesem »aufklärerischen« religionskritischen Zug der frühen christlichen Verkündigung liegt auch der Grund dafür, daß man es von staatlicher Seite her als Atheismus, als Absage an die pietas und die den Staat erhaltenden Rituale eingestuft hat. Freilich darf man hier keiner Einseitigkeit verfallen. Obwohl das Christentum, wie gesagt, seine innere Vorgeschichte in der Aufklärung und nicht in den Religionen sah, hat es doch an das religiöse Suchen der Menschen angeknüpft, hat in der Gestaltung von Gebet und Kult auf das Erbe der Religionen zurückgegriffen. Seine innere Vorgeschichte - das Alte Testament - besteht demgemäß in einer immerwährenden Auseinandersetzung zwischen dem Aufgehen in den religiösen Formen der Völker und der prophetischen Aufklärung, die die Götter beiseite schiebt, um das Gesicht Gottes zu finden. So gibt es eine ganz eigentümliche Stellung des Christentums in der geistigen Geschichte der Menschheit. Wir könnten sagen, sie besteht darin, daß der christliche Glaube Aufklärung und Religion nicht getrennt, nicht gegeneinander gesetzt, sondern als ein Gefüge zusammengebunden hat, in dem immer wieder beide sich gegenseitig reinigen und vertiefen müssen. Dieser Wille zur Rationalität, der doch auch stets die Vernunft aufbricht zu einer Selbstüberschreitung, der sie sich gern verweigern möchte, gehört zum Wesen des Christentums. Wir könnten auch sagen: Der christliche Glaube, der aus dem Glauben Abrahams gewachsen ist, dringt unerbittlich auf die Wahrheitsfrage und so auf das, was auf jeden Fall alle Menschen angeht und sie miteinander verbindet. Denn Pilger der Wahrheit müssen wir alle sein.1

68a Der bloße Pluralismus der Religionen als für immer nebeneinander stehender Blöcke kann in der heutigen Geschichtsstunde das letzte Wort nicht sein. Vielleicht müssen wir das Wort »Inklusivismus«, das übrigens in der religionsgeschichtlichen Forschung bis vor kurzem in einem anderen Sinn verwendet wurde, durch bessere Begriffe ersetzen. Gewiß, nicht Absorption der Religionen durch eine einzelne ist angesagt, aber Begegnung in einer Einheit, die Pluralismus in Pluralität wandelt, ist notwendig. Sie wird heute auch durchaus gesucht. Wenn ich recht sehe, gibt es gegenwärtig drei Modelle dafür: Der spirituelle Monismus Indiens - die Identitätsmystik, wie Radhakrishnan sie zuerst klassisch formuliert hatte - sieht sich als den übergreifenden Weg an: Er kann allen anderen Religionen Raum bieten, sie in ihrer symbolischen Bedeutung stehen lassen, so scheint es, und überschreitet sie zugleich in eine letzte Tiefe hinein. Er »relativiert« alles andere und läßt es zugleich in seiner Relativität stehen; das Absolute, mit dem er sie umgreift, liegt außerhalb jeder Benennbarkeit, ist strikt »nicht-kategorial«. Es darf daher ebensogut Sein wie Nichtsein, Wort wie Nichtwort heißen. Es ist offenkundig, daß diese Lösung heute eine breite Anhängerschaft findet, zumal sie den Relativismus auf ihre Weise bestätigt, der in gewisser Hinsicht geradezu die Religion des modernen Menschen geworden ist. (Fs)

69a Daneben steht die christliche Weise der Universalität, die als das Letzte nicht das schlechthin Unnennbare ansieht, sondern jene geheimnisvolle Einheit, die die Liebe schafft und sich jenseits aller unserer Kategorien in der Dreieinheit Gottes darstellt, welche ihrerseits das höchste Bild der Versöhnung von Einheit und Vielfalt bedeutet. Das letzte Wort des Seins ist nicht mehr das absolut Unnennbare, sondern die Liebe, die sich dann konkret in dem Gott versichtbart, der selbst Geschöpf wird und so das Geschöpf dem Schöpfer eint. Diese Form erscheint in vieler Hinsicht komplizierter als die »asiatische«. Aber ist es nicht doch so, daß wir im Grund alle begreifen, daß Liebe das höchste Wort, das wahrhaft letzte Wort alles Wirklichen ist? Alle bisherigen Überlegungen und alle folgenden dienen dazu, dieses christliche »Modell« weiter als wahre Kraft der Vereinigung, als die innere Finalität der Geschichte zu verdeutlichen. (Fs)

69b Endlich steht der Islam im Raum mit der These, daß er die »letzte« Religion ist, die über Judentum und Christentum hinausfuhrt in die wahre Einfachheit des einzigen Gottes, während das Christentum mit dem Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinigkeit Gottes in heidnische Irrtümer zurückgefallen sei. Der Islam komme ohne Kult und Geheimnis aus als die universale Religion, in der die religiöse Entwicklung der Menschheit an ihr Ziel gekommen sei. Zweifellos verdient die Frage, die der Islam an uns stellt, eine eingehende Auseinandersetzung. Sie liegt aber nicht in der Absicht dieses Buches, das sich auf die -meiner Meinung nach - grundlegendere Alternative zwischen Identitätsmystik und Mystik der personalen Liebe beschränkt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur, Glaube; Christentum - Hellenisierung; homoousios

Kurzinhalt: Das Homoousios antwortet auf diese Frage. Es sagt: Das Wort »Sohn« ist nicht poetisch-allegorisch (mythologisch, symbolisch), sondern ganz realistisch zu verstehen. Jesus ist es wirklich und wird nicht bloß so genannt.

Textausschnitt: 74a Die Ansicht, daß das katholische und auch das östliche Christentum nicht das Christentum der Bibel sei, sondern auf einer Amalgamierung der Bibel mit der griechischen Philosophie und römischem Recht beruhe, ist heute gängige Meinung. Die Reform des 16. Jahrhunderts hatte mit ihrem Grundsatz »die Schrift allein« eine Perspektive dieser Art eröffnet, die allerdings dadurch gemildert war, daß man das alt-christliche Dogma beibehielt, das in griechischer Sprache und mit griechischen Denkmitteln formuliert worden war. Seit der Aufklärung hat sich diese Unterscheidung zwischen biblischem und historischem Christentum radikalisiert; in dem Stichwort von der »Hellenisierung« des Christentums hat diese Auffassung gebündelt Ausdruck gefunden. Am konsequentesten hat der große Dogmenhistoriker Adolf von Harnack diesen Gedanken historisch und sachlich durchgearbeitet: Die Gnosis war nach ihm die akute Hellenisierung des Christentums, das katholische Christentum die historisch wirksam gewordene, langsam entwickelte Form desselben Prozesses.1 Heute besteht unter den Historikern Einmütigkeit darüber, daß diese Interpretation von Gnosis und katholischem Christentum nicht haltbar ist. Aber das Stichwort von der Hellenisierung hat nichts von seiner Faszination verloren; es ist weiter verbreitet und angenommen als je zuvor. Von der Befreiungstheologie bis zur pluralistischen Religionstheologie wirkt es in unterschiedlichen Oszillationen.2 Der Inhalt des Stichwortes ist nun sehr einfach und einleuchtend geworden: Die Bibel sei Ausdruck religiöser Erfahrungen und habe eine Praxis des rechten Lebens entwickelt; die von der griechischen Kultur geprägte alte Kirche habe diese Praxis mit einer philosophischen Theorie überlagert und daraus eine Buchstabenorthodoxie entwickelt, die heute niemandem mehr zumutbar sei. Selbst Theologen, die sich innerhalb des Konsenses der Gesamtkirche bewegen wollen und versuchen, das altkirchliche Dogma zu verstehen, deuten doch an, daß es ja seine Bedeutung für eine bestimmte Epoche und in bestimmten kulturellen Konstellationen gehabt haben könne, aber doch nicht die Kirche im ganzen in den verschiedenen Kulturen angehe, zu denen der Glaube unterwegs ist. Dies sei eben eine Kulturgestalt - die griechische oder die griechisch-lateinische des Christentums, aber andere Kulturen könnten darauf nicht verpflichtet werden. (Fs)

75a Hier steht natürlich wieder das ganze Problem von Kultur und Glaube zur Debatte, das nun nicht noch einmal aufgerollt werden soll. Das Problem der Hellenisierung wird uns in diesem Buch immer wieder von verschiedenen Seiten her begegnen und so auch von verschiedenen Seiten her Antwort finden. So mögen an dieser Stelle zwei Andeutungen genügen, die in anderen Kapiteln wieder aufgegriffen werden sollen. (Fs)

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75b Die Begegnung zwischen griechischem Denken und biblischem Glauben hat sich nicht erst in der frühen Kirche, sondern innerhalb des biblischen Weges selbst vollzogen. Mose und Platon, Götterglaube und aufgeklärte Götterkritik, theologisches Ethos und ethische Weisung aus der »Natur« sind sich schon innerhalb der Bibel selbst begegnet. Der endgültige Durchbruch zum klaren Ein-Gott-Glauben im Exil, das Ringen um eine neue Grundlegung des Ethos nach dem Scheitern des Tun-Ergehen-Zusammenhangs (Ijob, verschiedene Psalmen usw.) wie endlich die Kritik an den Tieropfern des Tempels und die Suche nach einem gottgemäßen Verständnis von Kult und Opfer waren Vorgänge, in denen sich die Berührung der beiden Welten von selbst ergab. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, die die Bibel des Neuen Testaments war, ist - wie wir heute wissen - nicht als eine hellenisierende Übertragung der Masora (des hebräischen Alten Testaments) anzusehen, sondern bildet eine eigenständige Überlieferungsgröße; die beiden Texte stehen als eigenwertige Zeugnisse der Entfaltung des biblischen Glaubens vor uns.1 Die alte Kirche hat konsequent eine interkulturelle Begegnung weiter entfaltet, die im Kern des biblischen Glaubens selbst verankert ist. (Fs) (notabene)

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76a Die großen Grundentscheidungen der alten Konzilien, die sich in den Glaubensbekenntnissen niedergeschlagen haben, biegen nicht den Glauben in eine philosophische Theorie um, sondern geben zwei wesentlichen Konstanten des biblischen Glaubens sprachliche Gestalt: Sie stehen ein für den Realismus des biblischen Glaubens und wehren einer bloß symbolistisch-mythologischen Deutung; sie stehen ein für die Rationalität des biblischen Glaubens, der zwar das Eigene der Vernunft und ihrer möglichen »Erfahrungen« überschreitet, aber doch an die Vernunft appelliert und mit dem Anspruch auftritt, Wahrheit auszusagen - dem Menschen den Zugang zum eigentlichen Kern der Wirklichkeit zu eröffnen. Ich möchte das - wie ich es schon öfters getan habe -an einem zentralen Beispiel kurz darstellen, an dem einen rein philosophischen und gewiß nicht biblischen Wort, das in das große Credo Eingang gefunden hat und daher auch zum Paradebeispiel für die »Hellenisierung« des Christentums geworden ist. Ich meine die Aussage, daß Jesus Christus Gottes eingeborener Sohn, »homoousios« mit dem Vater ist - eines Wesens mit ihm. Es ist bekannt, wie um dieses Wort gestritten wurde, wie man Abschwächungen, Kompromisse - aus politischen Gründen wie in der Suche nach Vermittlung zwischen den Gegensätzen, nach Frieden in der Kirche - suchte, am Ende aber eben doch dieses Wort als Gewähr für die Treue zum biblischen Glauben festgehalten hat.2 Wird hier eine glaubensfremde Philosophie kanonisiert, eine Metaphysik zum Dogma erhoben, die eben doch nur einer Kultur zugehört? Um darauf zu antworten, müssen wir uns die Frage vergegenwärtigen, um die es ging. Das Neue Testament sprach von Jesus als dem Sohn Gottes. Nun, von Gottes- und Göttersöhnen sprachen auch die Religionen, in deren Welt die christliche Mission hineintrat. War dieser Jesus von Nazareth ein Gottessohn dieser Art? War das also eine poetisch-übersteigernde, »mythologische« Redensart, wie sie vielleicht unter Verliebten üblich ist, die ihren Geliebten für sich absolut setzen, aber natürlich nicht über die Wirklichkeit selbst und im Ganzen eine Entscheidung treffen wollen? War dies Bildrede, oder welche Art von Realismus war damit beansprucht? An dieser Frage hängt die Entscheidung, was das Christentum überhaupt ist - ob Jesus zu den »Avataras«, zu den vielgestaltigen Erscheinungsformen der Gottheit in der Welt zählt, ob Christentum eine Religionsvariante unter anderen ist oder ob hier ein anderer Realismus vorliegt. Das Homoousios antwortet auf diese Frage. Es sagt: Das Wort »Sohn« ist nicht poetisch-allegorisch (mythologisch, symbolisch), sondern ganz realistisch zu verstehen. Jesus ist es wirklich und wird nicht bloß so genannt. Der Realismus des biblischen Glaubens wird verteidigt, nichts sonst; der Ernst des Ereignisses, des neuen, von außen kommenden Geschehens. In diesem »Ist« klingt das »Ich bin« der Dornbuschformel nach (Ex 3,14), was immer ihr historischer Ursprungssinn gewesen sein mag. »Ich bin es« hat Jesus mehr als einmal gesagt und den ganzen Realismus des biblischen Glaubens darin ausgedrückt: Die scheinbar so vorgeschobene Formel des Credo, das Homoousios, sagt uns letztlich nur, daß wir die Bibel beim Wort nehmen dürfen, daß sie in ihren letzten Aussagen wörtlich gilt und nicht bloß allegorisch.3 Bei ihrer Entscheidung hatten die Väter sehr genau begriffen, daß die Bibel nicht bloß irgendeine »Orthopraxie« einführen wollte. Ihr Anspruch ist höher. Sie hält den Menschen für wahrheitsfähig und will ihn mit der Wahrheit selbst konfrontieren, ihm die Wahrheit eröffnen, die in Jesus Christus als Person vor den Menschen steht. Das Auszeichnende der griechischen Philosophie war es, daß sie sich nicht mit den überlieferten Religionen und nicht mit den Bildern des Mythos begnügte, sondern in allem Ernst die Frage nach der Wahrheit stellte. Und so kann man an dieser Stelle vielleicht doch den Finger der Vorsehung erkennen - warum die Begegnung zwischen dem Glauben der Bibel und der griechischen Philosophie wahrhaft »providentiell« gewesen ist. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur, Glaube; Hochgebet: Abel, Abraham, Melchisedek -> Christus; Jona

Kurzinhalt: Bereits im Inneren des Alten Testaments können wir die Überzeugung finden, daß der Mensch in seiner Beziehung zu Gott nicht völlig ohne Maßstab ist; in allen Entfremdungen ist ihm ein inneres Wissen möglich, das ihm den Weg zeigen kann.

Textausschnitt: 78a Im Römischen Kanon, dem ersten Hochgebet des von Papst Paul VI. reformierten Meßbuches, wird an Gott die Bitte gerichtet, er möge auf die Gaben der Kirche »versöhnt und gütig« niederschauen, wie er einst auf die Gaben seines »gerechten Dieners Abel«, auf »das Opfer unseres Vaters Abraham« und auf »die heilige Gabe, das reine Opfer seines höchsten Priesters Melchisedek« geblickt hatte. Diese Bitte hat den Zorn Luthers hervorgerufen und wurde auch in den Kreisen der Liturgischen Bewegung kräftig kritisiert als Mißverständnis des christlichen Gottesdienstes, als »Rückfall« ins Alte Testament, ins Vorchristliche. Die alte Kirche, deren Glauben und Beten sich in diesem Text ausspricht, dachte anders. Für sie gab es keinen Bruch zwischen dem Beten der Völker, dem Beten Israels und dem Beten der Kirche. Gewiß, die »Neuheit« des Christlichen war eine grundlegende Kategorie des christlichen Glaubens: Der Herr hatte wahrhaft Neues, das Neue schlechthin gebracht, aber dieses Neue war vorbereitet, und die Geschichte war in all ihren Wirrnissen und Verirrungen doch auf dem Weg dahin. Es galt freilich zu unterscheiden zwischen dem, was zu Christus hinführte, und dem, was ihm entgegenstand. Es galt, dies Ganze einem Prozeß der Reinigung und Erneuerung auszusetzen, der aber eben doch nicht Zerstörung und absoluter Bruch, sondern Erneuerung und Heilung war. Der Glaube erscheint als Krise und Kritik der Religionsgeschichte, aber nicht als deren totale Verneinung. Das Gebet »Supra quae«, dem die vorigen Zitate entnommen sind, ist so eine Einübung in die Unterscheidung der Geister, eine kritische und zugleich positive Deutung der vorchristlichen Wege der Gottesverehrung. Die Auswahl der Figuren ist in vieler Hinsicht bezeichnend. Abel ist der erste Märtyrer - einer, der nicht getötet hat, sondern sich töten ließ und selbst zum »Lamm« wurde, das Geschick Christi, des wahren Osterlammes antizipierte. Abraham ist bereit, den einzigen Sohn, Isaak, zu opfern und so seine Zukunft, den Inhalt der Verheißung wegzugeben; an die Stelle des Sohnes tritt das Lamm, der Widder - in vielfältigen Brechungen wirft das Licht Christi seine Strahlen voraus. Melchisedek, der König von Salem, ist Priester des El Eljon - des »höchsten Gottes«; er opfert Brot und Wein. Diese geheimnisvolle Gestalt hat sowohl das frühe Judentum wie die werdende Kirche immer neu beschäftigt; der Brief an die Hebräer sieht in ihm das Priestertum Jesu Christi im Gegenüber zum aaronitischen Priestertum dargestellt. Beachten wir die zwei Prädikate, die von ihm ausgesagt werden: »Sedek« bedeutet Gerechtigkeit, Recht; »Salem« verweist auf Jerusalem und ist eine Abwandlung von »Shalom«: Friede. Recht und Friede sind seine Kennzeichen. Er verehrt den »höchsten Gott« - nicht irgendwelche Götter, sondern den einen Gott über den Göttern. Er opfert nicht Tiere, sondern die reinsten Gaben der Erde -Brot und Wein. Wiederum scheint auf vielfältige Weise Christus durch. Zu Recht haben die Väter in den drei genannten Gestalten »Typen« Christi gesehen. Heute ist es Mode, auf die Typologie als Vergewaltigung der Texte einzuschlagen, und gewiß gab es auch verfehlte Anwendungen der Typologie. Aber ihr berechtigter Kern und ihre wesentliche Aussage erscheint gerade an dieser Stelle mit großer Deutlichkeit: Es gibt eine durchlaufende Linie in der Geschichte des Glaubens und der Gottesverehrung. Es gibt innere Entsprechungen, es gibt Abwege, aber es gibt auch den Weg, der eine Richtung hat; der innere Gleichklang mit der Gestalt Jesu Christi, seiner Botschaft und seinem Sein ist einfach nicht abzustreiten, trotz der Verschiedenheit der geschichtlichen Kontexte und Stufen. Der richtige Sinn dessen, was man »Inklusi-vismus« nennt, wird gerade hier sichtbar: Es handelt sich nicht um eine äußerliche, von einem dogmatischen Postulat her konstruierte Absorption, die dem Phänomen Gewalt antun würde, sondern um eine Korrespondenz von innen her, die wir durchaus als eine Finalität bezeichnen können: Christus ist in diesen Gestalten unterwegs in der Geschichte, wie wir es - wiederum mit den Vätern - ausdrücken können. (Fs)

80a Noch etwas müssen wir an diesen Gestalten beobachten: Abel und Melchisedek sind - nach der klassischen Sprechweise - »Heiden«, das heißt sie gehören nicht direkt der besonderen Glaubensgeschichte Israels zu. Abraham ist der Stammvater Israels - unser Vater, sagt der Kanon von paulinischer Theologie her darum. Christwerden heißt, in die mit Abraham eröffnete Glaubensgeschichte einzutreten und so ihn zum Vater zu empfangen. Das Opfer Abrahams, auf das der Römische Kanon abzielt, bezeichnet den Übergang von den »heidnischen« Kulten, zu dem gereinigten Kult Israels und mit dem Lammopfer (das Abraham auch mit Abel verbindet) das Zugehen auf den christlichen Kult, in dessen Mittelpunkt das geopferte Lamm steht (Offb 5,6): Christus, der sich in der Nacht des Leidens Gott gegeben hat und uns in seiner Liebe versöhnt und zu Gott hinaufzieht. Insofern ist in diesem Text die ganze Religionsgeschichte angesprochen, zunächst auf Abraham (Israel) und damit auf Christus zugeführt und von ihm her gedeutet - von ihm her, der uns zugleich den Maßstab für die nötigen Unterscheidungen schenkt, ja, selbst dieser Maßstab ist. (Fs)

80b Hier gilt es wohl, noch ein in der Geschichte immer wieder wirksam gewordenes Mißverständnis der Bitte des »Supra quae« abzuweisen. Daß wir Gott um das gütige und versöhnte Niederschauen auf unsere Gaben bitten, bedeutet nicht - wie man meinen könnte -, daß wir den geopferten Christus wie eine Sache ansehen, die wir Gott, etwa in der Weise des Lammopfers, hinhalten, ungewiß, ob ihm dieses Opfer - Christus - gefällt oder nicht. Eine solche Deutung, auf die man bei bloß äußerem Lesen des Textes verfallen könnte und verfallen ist, läuft seiner inneren Logik völlig zuwider. Es geht vielmehr darum, daß wir für uns genau die Gesinnung Abels, Abrahams, Isaaks erbitten und so darum bitten, auf Christus zuzugehen, in seine Gesinnungen hineinzugehen, eins zu werden mit ihm, wie Abel, Abraham, Isaak, Melchisedek seine Typen, seine vorlaufende Gegenwart in der Geschichte waren. Und so bitten wir darum, daß der Blick der Versöhnung, der im letzten immer Christus galt und gilt, uns treffe, weil wir selber mit seiner Gesinnung eins geworden sind (Phil 2,5). (Fs)

81a Melchisedek steht im alttestamentlichen Bericht nicht einfach in sich selber da, sondern wir lernen ihn nur kennen in der Begegnung mit Abraham. Abraham hat sich auf den Ruf Gottes hin getrennt von den Göttern seiner Heimat und hielt sich getrennt von den kanaanäischen Göttern und ihren Kulten. Er folgt »seinem Gott«, dem Gott, der ihn gerufen hat. Aber er begegnet Melchisedek - dem König, der dem höchsten Gott als Priester dient und durch die Attribute Gerechtigkeit und Friede gekennzeichnet ist. Den Kult dieses Königs anerkennt er als seinen Kult; seinen Gott betet er mit an, von ihm empfängt er Segen, und ihm gibt er »den Zehnten von allem« (Gen 14,18-20), wie man es allein einem rechtmäßigen Priester gegenüber tut. Es geschieht Begegnung im Glauben. Aber das bedeutet nun gerade nicht, daß die »Religionen« als ein einziges Paket behandelt und alle miteinander als gleich eingestuft werden. Ja, es gibt Begegnung der Religionen, aber in dieser Begegnung ist auch Unterscheidung enthalten. Beides lehrt uns der Römische Kanon: die innere Berührung der Religionen und die Notwendigkeit der Unterscheidung, für die Christus - der Sohn des höchsten Gottes, der König der Gerechtigkeit und des Friedens - der Maßstab ist. (Fs) (notabene)

81b Bereits im Inneren des Alten Testaments können wir die Überzeugung finden, daß der Mensch in seiner Beziehung zu Gott nicht völlig ohne Maßstab ist; in allen Entfremdungen ist ihm ein inneres Wissen möglich, das ihm den Weg zeigen kann. Unter diesem Betracht finde ich die Jona-Geschichte besonders lehrreich. Jona kündigt dem sündigen Ninive den Untergang an. »Und die Leute von Ninive glaubten Gott«, sagt uns der biblische Text (Jona 3,5). Ninive war eine heidnische Stadt, eine Stadt mit vielen Göttern. Aber auf den Ruf des Propheten hin glauben sie Gott. Sie wissen im Innersten, daß es ihn gibt, den einen Gott, und sie erkennen die Stimme dieses Gottes in der Predigt des fremden Propheten. Im Herzen des Menschen ist auch durch die Sünde die Fähigkeit nicht ganz erloschen, die Stimme des einen Gottes zu erkennen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur, Glaube; Unterscheidung des Christlichen; interreligiöses Gebet, Gleichheitsideologie; Bekehrung, Mission; Christus als Maß

Kurzinhalt: Zwischen Gott und Göttern, zwischen personalem und impersonalem Gottesverständnis gibt es keine letzte Vermittlung, so sehr es wahr ist, daß sich auch im Polytheismus wie in der Identitätsmystik Wahrheit findet, ...

Textausschnitt: 82a Im Jahr 1994 veröffentlichten das Amt für interreligiöse Beziehungen des Weltkirchenrates und der Päpstliche Rat für den interreligiösen Dialog eine gemeinsame Reflexion über das »interreligiöse Gebet«. Ein erstes Studium war einer Umschau in den religiösen Erfahrungen verschiedener Kirchen mit diesem Thema gewidmet. Eine zweite, 1996 durchgeführte Etappe bestand in einer in Bangalore, Indien, gemachten Konsultation, an der eine begrenzte Anzahl von Personen aus »verschiedenen christlichen Überlieferungen« teilnahm, die Erfahrungen mit dem interreligiösen Gebet gesammelt hatten. Einzelne Theologen trugen dort ihre Einsichten und Ansichten vor. Das Ganze schloß mit einem »final Statement«: Findings of an exploratory consultation on interreligious prayer.1 Schließlich hat 1997 in Bose (Italien) eine kleine Gruppe von Theologen aus verschiedenen Kirchen ein Dokument über die theologischen Grundlagen des interreligiösen Betens erarbeitet.2

Während das Dokument von Bose - trotz vieler Fragen, die zu stellen sind - als eine saubere und wirklich weiterführende Arbeit angesehen werden kann, macht der Text von Bangalore auf mich einen beklagenswerten Eindruck von Oberflächlichkeit und Dilettantismus. Nur ein Beispiel dafür möchte ich anführen:

82b Das interreligiöse Gebet wird unter anderem mit der Kategorie der Gastlichkeit (hospitality) gerechtfertigt. Bangalore sagt uns dazu, das interreligiöse Gebet sei nicht nur eine Antwort auf die Anforderungen gewisser Situationen, sondern »Ausdruck unserer Treue zum Evangelium selbst«. Als biblischer Beleg dafür wird Lk 10,7 angeführt: Jesus selbst dränge uns, Gastlichkeit ebenso von anderen zu empfangen als sie zu geben. Dieses Empfangen von Gastfreundschaft beschränke sich nicht auf Essen und Trinken, sondern erstrecke sich auf das, was unseren Nachbarn kostbar ist - Gebet und Gottesdienst.3 Wer nach diesen Behauptungen das Neue Testament aufschlägt und Lk 10,1-12, die Aussendung der 72 Jünger durch Jesus, liest, kann sich ob solcher Exegese nur verwundert die Augen reiben. Jesus trägt den Jüngern auf, den Menschen die Nähe von Gottes Reich durch Wort und Tat (Heilungen) zu verkünden. Bei diesem Dienst haben sie Anspruch auf Gastfreundschaft (10,5-7). »Wenn ihr aber in eine Stadt kommt, in der man euch nicht aufnimmt, dann stellt euch auf die Straße und ruft: Selbst den Staub eurer Stadt, der an unseren Füßen klebt, lassen wir euch zurück; doch das sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist euch nahe. Ich sage euch: Sodom wird es an jenem Tag nicht so schlimm ergehen wie dieser Stadt« (10,10-12). Die Sendung der 72 (70 bzw. 72 galt als die Zahl der Völker der Erde) ist eine Vorausdarstellung der nachösterlichen Mission, in der die Jünger gerufen sind, das Evangelium vom Reich zu allen Völkern zu bringen - wobei sich nach Ostern klärt, daß Jesus das Reich in Person ist, die Botschaft vom Reich also ihn zu verkündigen hat. Die Nichtannahme der Boten und ihrer Botschaft steht unter der Drohung des Gerichts. Aus der für die Boten geforderten Gastfreundschaft Kult-und Gebetsaustausch zu machen, hat nun wirklich nichts mit dem biblischen Text mehr gemein. Ein wenig mehr an Seriosität in der Argumentation sollte man erwarten dürfen. (Fs)

83a Aber von solchen Argumentationsproblemen abgesehen geht es im Text um Grundlegenderes, nämlich um die Frage: Wer oder was ist Gott? Wie antworten wir auf ihn? Kennt er uns? Der Bangalore-Text sagt dazu, das interreligiöse Gebet stelle einige wichtige theologische Motive zur Diskussion, »zum Beispiel, was heißt es, wenn wir sagen Gott ist einer? Beten wir alle zu ein und demselben Gott, auch wenn unsere Bilder und unsere Auffassungen (understandings) von Gott verschieden und unterschiedlich sind? Wie wägen wir unsere Lehre von Gott in nichttheistischen Konstellationen?« Wir müssen, so sagt der Text, neue Wege finden, um unseren Glauben im Blick auf den Platz der Religionen in der Heilsökonomie zu artikulieren und über die Kategorien von Exklusivismus, Inklusivismus und Personalismus hinauskommen, kreative Wege finden, um theologisch das Wirken des Geistes in anderen Religionen zu sehen.4 Zugegeben - hier werden keine Thesen, sondern nur Fragen vorgelegt. Aber diese Fragen insinuieren doch, daß die Grenzen zwischen Gott und den Göttern, zwischen personalem und impersonalem Gottesverständnis nicht letztlich unterscheidend sein müssen - daß dahinter doch von allen letztlich das Gleiche gemeint sei. Wir sollen denken, daß der Unterschied zwischen Gott und Göttern, zwischen personalem Gottesbild und impersonaler Identitätsmystik ein Unterschied zwischen Bild- und Begriffsgestalten sei, also ein Unterschied im Vorletzten, der das Eigentliche nicht berührt, weil alle Begriffe und Bilder hinter der unaussprechlichen Wirklichkeit des Absoluten zurückbleiben. Der eigentliche Unterschied - so könnte man schlußfolgern - sei gar nicht derjenige zwischen diesen unterschiedenen Verstehensformen und Bildern, sondern zwischen allem wie auch immer gearteten menschlichen Reden von Gott und der dabei letztlich stets nur von fern in verschiedenen Annäherungen berührten Wirklichkeit des Unbekannten jenseits der Worte. Diese Auffassung hat gerade für den Menschen von heute etwas Faszinierendes an sich; sie scheint auch die größere Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes auszudrücken, die größere Demut des Menschen vor dem Absoluten zu sein und in ihrer alles verbindenden Toleranz sowohl religiös wie denkerisch größer als das Beharten auf der Personalität Gottes als einer unverzichtbaren, aus der Offenbarung kommenden Gabe. Es ist unbestreitbar, daß sich diese Vorstellungen inzwischen, gerade unter Christen, ausbreiten und im »interreligiösen Gebet« zur Praxis werden. (Fs)
84a Ist diese Auffassung wirklich »frömmer« und vor allem: ist sie wahrer? Fragen wir praktisch: Was ändert sich dabei? Was geschieht mit unserem Glauben und Beten? Zunächst einmal: wenn personale und im-personale Gottesvorstellung gleichrangig sind, austauschbar, dann wird das Gebet zur Fiktion, denn wenn Gott kein sehender und hörender Gott ist, wenn er nicht erkennt und nicht mir gegenübersteht, dann geht das Gebet ins Leere. Dann ist es nur eine Form der Selbstbesinnung, des Umgangs mit sich selber, kein Dialog. Es mag dann Einübung ins Absolute, versuchtes Aussteigen aus dem Getrenntsein des Ich in ein Unendliches sein, mit dem ich im Tiefsten identisch bin und in dem ich versinken will. Aber es hat keinen Bezugspunkt, der mir Maß ist und von dem ich in irgendeiner Weise Antwort erwarten dürfte. Mehr noch: wenn ich den Glauben an Gott als »Person« hinter mir lassen darf, als eine mögliche Vorstellungsgestalt neben der impersonalen, dann ist dieser Gott nicht nur kein erkennender, hörender, redender Gott (Logos) - dann hat er erst recht auch keinen Willen. Erkennen und Wollen sind die beiden wesentlichen Inhalte des Begriffs Person. Dann gibt es keinen Willen Gottes. Dann gibt es auch keinen letzten Unterschied zwischen gut und böse: Gut und böse ist dann - wie wir schon sahen - kein Widerspruch mehr, sondern nur noch Gegensatz, in dem beides komplementär zueinander steht. Dann ist das eine wie das andere Wellenschlag des Seins, dann stehe ich unter keinem Maß. Dann aber ist nicht nur irgendein Bild oder ein Begriffsschema geändert, sondern dann ist im Tiefsten alles anders. Wenn aber Gott Person ist, dann ist das Allerletzte und Allerhöchste zugleich das Konkreteste - dann stehe ich unter den Augen Gottes und im Raum seines Willens, seiner Liebe. (Fs) (notabene)
85a Weil es so steht, ist das »Shema Israel« für Israel wie für die Kirche gleichermaßen die unverrückbare Grundlage unserer Existenz: »Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft« (Dtn 6,4f). Für diesen Glauben sind die Märtyrer Israels wie die Märtyrer Jesu Christi gestorben. Das erste Gebot »Du sollst keine fremden Götter neben mir haben« (Ex 20,3; Dtn 5,7) ist nicht nur numerisch, sondern seinem inneren Rang nach das erste Gebot, auf dem alles Weitere steht. Christus hat es in der Versuchungsgeschichte neu lapidar als Fundament christlicher Existenz vor uns hingestellt: »Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen« (Mt 4,10). Zwischen Gott und Göttern, zwischen personalem und impersonalem Gottesverständnis gibt es keine letzte Vermittlung, so sehr es wahr ist, daß sich auch im Polytheismus wie in der Identitätsmystik Wahrheit findet, die im christlichen Glauben einen Platz hat, aber erst dann in ihrer wahren Bedeutung erscheinen kann, wenn zuerst die Unterscheidung des Christlichen geübt und das »Gesicht Gottes« dabei nicht aus dem Blick, nicht aus dem Herzen verloren wird. (Fs)

85b Nur von hier aus, vom Gottesglauben her, kann der Christusglaube der Kirche richtig verstanden werden. Die Einzigkeit Christi ist an die Einzigkeit Gottes gebunden und deren konkrete Gestalt. Christus ist nicht ein - vielleicht besonders beeindruckender - Avatar Gottes, eine der vielfältigen endlichen Erscheinungsformen des Göttlichen, in denen wir das Unendliche zu erahnen lernen. Er ist nicht eine »Erscheinung« des Göttlichen, sondern er ist Gott. In ihm hat Gott sein Gesicht gezeigt. Wer ihn sieht, hat den Vater gesehen (Joh 14,9). Hier kommt es wirklich auf das »Ist« an - es ist die eigentliche Unterscheidungslinie der Religionsgeschichte und gerade so auch die Kraft ihrer Vereinigung. Darum ist die Begegnung mit der Ontologie der Griechen - mit der Frage nach dem »Ist« - nicht eine philosophische Verfremdung des christlichen Glaubens, sondern ihr unerläßlicher Ausdruck geworden. (Fs)

86a Von da aus sind zuletzt noch zwei Grundbegriffe des christlichen Glaubens zu verstehen, die heute geradezu zu verbotenen Wörtern geworden sind: Bekehrung (conversio) und Mission. Heute ist die Meinung fast allgemein geworden, daß man mit Bekehrung nur Umbrüche des inneren Weges, nicht aber den Übergang von einer Religion zur anderen, also auch nicht den Übergang zum Christentum verstehen dürfe. Die Vorstellung der letzten Äquivalenz aller Religionen scheint ein Gebot der Toleranz und der Achtung vor dem anderen zu sein; wenn es so ist, muß man zwar den Entscheid des einzelnen respektieren, der sich zu einem Religionswechsel entschließt, aber Bekehrung darf man dies nicht nennen: Das würde ja dem christlichen Glauben einen höheren Rang einräumen und damit dem Gleichheitsgedanken widersprechen. Der Christ muß dieser Gleichheitsideologie widerstehen. Nicht als ob er sich selber zu etwas Höherem machen würde - keiner ist Christ aus sich selbst, sagten wir; jeder ist es nur durch »Bekehrung«. Aber dies freilich glaubt der Christ, daß uns der lebendige Gott in Christus auf eine einzigartige Weise ruft, die Gehorsam und eben Bekehrung verlangt. Vorausgesetzt ist dabei, daß im Verhältnis der Religionen die Wahrheitsfrage eine Rolle spielt und daß die Wahrheit für jeden eine Gabe und für niemanden Entfremdung ist. Dieser Grundfrage wird der zweite Teil des Buches gewidmet sein. (Fs)

86b Damit ist auch schon das Wesentliche zum Begriff »Mission« gesagt. Wenn die prinzipielle Gleichheit der Religionen gilt, dann kann Mission nur eine Art von religiösem Imperialismus sein, dem man widerstehen muß. Wenn uns aber in Christus eine neue Gabe, die wesentliche Gabe - Wahrheit - geschenkt ist, dann ist es Pflicht, sie auch dem anderen anzubieten, in Freiheit natürlich, denn anders kann Wahrheit nicht wirken und liebe nicht sein. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur, Glaube; multireligiöses - interreligiöses Gebet, Bedingungen

Kurzinhalt: Jede Vermischung von personalem und impersonalem Verständnis, zwischen Gott und den Göttern muß ausgeschlossen sein.

Textausschnitt: 87a Im Zeitalter des Dialogs und der Begegnung der Religionen ist notwendigerweise die Frage aufgestanden, ob man miteinander beten könne. Man unterscheidet dabei heute multireligiöses und interreligiöses Gebet. Das Modell für das multireligiöse Gebet bieten die beiden Weltgebetstage für den Frieden 1986 und 2002 in Assisi an. Angehörige verschiedener Religionsgemeinschaften versammeln sich. Ihnen ist gemeinsam das Leiden unter den Nöten der Welt und ihrer Friedlosigkeit, gemeinsam die Sehnsucht nach Hilfe von oben gegen die Mächte des Bösen, damit Friede und Gerechtigkeit in die Welt kommen können. Daraus folgt die Absicht, ein öffentliches Zeichen dieser Sehnsucht zu setzen, das alle Menschen aufrütteln und den guten Willen stärken soll, der Bedingung des Friedens ist. Die Versammelten wissen aber auch, daß ihr Verständnis des »Göttlichen« und daher ihre Weise, sich ihm zuzuwenden, so verschieden sind, daß ein gemeinsames Beten Fiktion wäre, nicht in der Wahrheit stünde. Sie versammeln sich, um ein Zeichen einer gemeinsamen Sehnsucht zu geben; aber sie beten - wenn auch gleichzeitig - doch an getrennten Orten, je auf ihre Weise. Natürlich heißt »Beten« im Falle eines impersonalen (mit dem Polytheismus häufig verbundenen) Gottesverständnisses etwas ganz anderes als Beten im Glauben an den einen, personalen Gott. Der Unterschied wird sichtbar dargestellt, aber in einer Weise, daß er zugleich wie ein Schrei nach der Heilung unserer Trennungen werden soll. (Fs)

87b Im Anschluß an Assisi -1986 sowohl wie 2002 - ist wiederholt und durchaus in sehr ernsthafter Weise die Frage gestellt worden: Kann man das? Wird nicht doch für die allermeisten eine Gemeinsamkeit vorgetäuscht, die es in Wirklichkeit nicht gibt? Wird so nicht doch der Relativismus gefördert - die Meinung, daß es im Grunde eben nur vorletzte Unterschiede seien, die zwischen den »Religionen« stehen? Und wird damit nicht doch der Ernst des Glaubens geschwächt und so letztlich Gott weiter von uns weggerückt, unser Alleingelassensein verstärkt? Solche Frage darf man nicht leichtfertig beiseite schieben. Die Gefahren sind unleugbar, und daß Assisi, besonders 1986, von vielen falsch ausgelegt wurde, kann man nicht bestreiten. Umgekehrt wäre es aber auch verkehrt, das multireligiöse Gebet im beschriebenen Sinn total und bedingungslos zu verwerfen. Richtig scheint es mir demgegenüber, es an Bedingungen zu knüpfen, die den Erfordernissen der inneren Wahrheit und der Verantwortung einer so großen Sache entsprechen, wie es das offene Rufen zu Gott vor aller Welt nun einmal ist. Ich sehe zwei Grundbedingungen:

1. Solches multireligiöses Beten kann nicht der Normalfall des religiösen Lebens sein, sondern nur als Zeichen in außergewöhnlichen Situationen bestehen, in denen gleichsam ein gemeinsamer Notschrei aufsteigt, der die Herzen der Menschen aufrüttelt und zugleich am Herzen Gottes rütteln soll. (Fs)

2. Ein solcher Vorgang verführt fast zwangsläufig zu falschen Interpretationen, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt des Geglaubten oder nicht Geglaubten und damit zur Auflösung wirklichen Glaubens. Deswegen müssen - wie unter 1 gesagt - solche Vorgänge Ausnahmen bleiben, deswegen ist vor allem eine sorgsame Klärung dessen, was hier geschieht und nicht geschieht, von höchster Wichtigkeit. Diese Klärung, in der deutlich werden muß, daß es »die Religionen« überhaupt nicht gibt, daß es den gemeinsamen Gottesgedanken und -glauben nicht gibt, daß der Unterschied nicht bloß den Bereich der wechselnden Bilder und Begriffsgestalten, sondern die Letztentscheidungen selbst berührt - diese Klärung ist wichtig, nicht nur für die Teilnehmer des Geschehens selbst, sondern für alle, die Zeugen davon werden oder sonstwie darüber Informationen erhalten. Das Geschehen muß so klar in sich und vor der Welt stehen, daß es nicht zur Demonstration des Relativismus wird, durch den es sich in seinem Sinn selber aufheben würde. (Fs)
88a Während beim multireligiösen Gebet zwar im gleichen Kontext, aber doch getrennt gebetet wird, bedeutet interreligiöses Gebet ein Miteinanderbeten von Personen oder Gruppen mit verschiedener Religionszugehörigkeit. Ist das überhaupt in aller Wahrheit und Redlichkeit möglich? Ich bezweifle es. Jedenfalls müssen drei elementare Bedingungen gestellt werden, ohne deren Beachtung solches Beten zur Glaubensverleugnung würde:

1. Miteinander beten kann man nur, wenn Einmütigkeit darüber besteht, wer oder was Gott ist und darum auch grundsätzlich Einmütigkeit darüber vorliegt, was Beten heißt: ein dialogischer Vorgang, in dem ich zu einem Gott rede, der zu hören und zu erhören vermag. Anders gesagt: Gemeinsames Beten setzt voraus, daß der Adressat und damit auch der auf ihn bezogene innere Akt grundsätzlich gemeinsam verstanden wird. Wie im Fall von Abraham und Melchisedek, von Ijob und Jona muß klar sein, daß man mit dem einen Gott über den Göttern spricht, mit dem Schöpfer des Himmels und der Erde - meinem Schöpfer. Es muß also klar sein, daß Gott »Person« ist, das heißt erkennen und lieben kann; daß er Macht hat, mich zu hören und zu antworten; daß er gut und der Maßstab des Guten ist und das Böse keinen Anteil an ihm hat. Von Melchisedek her können wir sagen, es muß klar sein, daß er der Gott des Friedens und der Gerechtigkeit ist. Jede Vermischung von personalem und impersonalem Verständnis, zwischen Gott und den Göttern muß ausgeschlossen sein. Das erste Gebot gilt gerade auch im eventuellen interreligiösen Gebet. (Fs)

2. Es muß aber - vom Gottesbegriff her - auch ein grundlegendes Einverständnis darüber bestehen, was gebetswürdig ist und was Inhalt »von Gebet werden kann. Als Maßstab dessen, was wir rechtens von Gott erbitten dürfen, um gotteswürdig zu beten, sehe ich die Bitten des Vaterunser an: In ihnen wird sichtbar, wer und wie Gott ist und wer wir selber sind. Sie reinigen unser Wollen und zeigen, mit welcher Art von Wollen wir auf dem Weg zu Gott sind und welche Art von Wünschen uns von Gott entfernt, uns gegen ihn stellen würde. Bitten, die gegen die Richtung der Vaterunser-Bitten stehen, können für einen Christen nicht Gegenstand interreligiösen Betens, überhaupt keiner Art von Beten sein. (Fs)

3. Das Ganze muß so erfolgen, daß die relativistische Mißdeutung von Glaube und Gebet darin keinerlei Anhalt findet. Dieses Kriterium bezieht sich nicht nur auf die Christen, die nicht irregeführt werden dürfen, sondern genauso auch auf die Nicht-Christen, für die nicht der Eindruck einer Austauschbarkeit von »Religionen«, einer vorletzten und daher ersetzbaren Bedeutung etwa des christlichen Grundbekenntnisses entstehen darf. Abwesenheit solcher Irreführung verlangt deshalb auch, daß für den Nichtchristen nicht eine Verdunkelung des Glaubens der Christen an die Einzigkeit Gottes und an die Einzigkeit Jesu Christi, des Retters aller Menschen, folgen darf. Das oben erwähnte Dokument von Bose sagt dazu mit Recht, daß Teilnahme am interreligiösen Gebet nicht unseren Einsatz für die Verkündigung Christi an alle Menschen in Frage stellen darf.1 Wenn der Nichtchrist aus der Teilnahme eines Christen eine Relativierung des Glaubens an Jesus Christus, den einzigen Retter aller, heraushören könnte oder müßte, dann kann solche Teilnahme nicht stattfinden. Denn dann wiese sie in die falsche Richtung, wiese rückwärts statt vorwärts in der Geschichte der Wege Gottes. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Krise: Theologie der Befreiung, Befreiungstheologie

Kurzinhalt: Wo Politik Erlösung sein will, verspricht sie zuviel. Wo sie das Werk Gottes tun möchte, wird sie nicht göttlich, sondern dämonisch.

Textausschnitt: Die Krise der Theologie der Befreiung

93a In den 1980er Jahren erschien die Befreiungstheologie in ihren radikalen Formen als die dringendste Herausforderung an den Glauben der Kirche, die Antwort und Klärung verlangte. Denn sie bot eine neue, plausible und zugleich praktische Antwort auf die Grundfrage des Christentums an: die Frage nach der Erlösung. Das Wort Befreiung sollte ja nur auf andere, verständlichere Weise dasselbe ausdrücken, was in der herkömmlichen Sprache der Kirche Erlösung genannt worden war. In der Tat liegt immer dieselbe Frage zugrunde: Wir erfahren eine Welt, die nicht so ist, daß sie einem guten Gott entspricht. Armut, Unterdrückung, Unrechtsherrschaft aller Art, das Leid der Gerechten und der Unschuldigen sind die Zeichen der Zeit - aller Zeit. Und jeder einzelne leidet, keiner kann einfach zu dieser Welt und zu seinem eigenen Leben sagen: Verweile doch, du bist so schön. Die Befreiungstheologie sagte auf diese unsere Erfahrungen hin: Dieser Zustand, der nicht bleiben darf, kann nur überwunden werden durch radikale Veränderung der Strukturen unserer Welt, die Strukturen der Sünde, Strukturen des Bösen sind. Wenn also die Sünde ihre Macht über die Strukturen ausübt und von ihnen her die Verelendung vorprogrammiert ist, dann kann ihre Überwindung nicht durch individuelle Bekehrung geschehen, sondern nur durch den Kampf gegen die Strukturen des Unrechts. Dieser Kampf aber, so wurde gesagt, müsse ein politischer Kampf sein, weil die Strukturen durch die Politik verfestigt und gehalten werden. So wurde Erlösung zu einem politischen Prozeß, für den die marxistische Philosophie die wesentlichen Wegweisungen bot. Sie wurde zu einer Aufgabe, die die Menschen selbst in die Hand nehmen können, ja, müssen, und sie wurde damit zugleich zu einer ganz praktischen Hoffnung: Glaube wurde aus »Theorie« zu Praxis, zu konkretem, erlösendem Tun im Befreiungsprozeß. (Fs) (notabene)

94a Der Zusammenbruch der marxistisch inspirierten Regierungssysteme Europas war für diese Theologie erlösender politischer Praxis eine Art Götterdämmerung: Gerade dort, wo die marxistische Befreiungsideologie konsequent angewandt worden war, war die radikale Unfreiheit entstanden, deren Schrecknisse nun unbeschönigt vor den Augen der Weltöffentlichkeit sichtbar wurden. Wo Politik Erlösung sein will, verspricht sie zuviel. Wo sie das Werk Gottes tun möchte, wird sie nicht göttlich, sondern dämonisch. Die politischen Ereignisse von 1989 haben damit auch die theologische Szenerie verändert. Der Marxismus war der bisher letzte Versuch gewesen, eine allgemein gültige Formel für die richtige Gestaltung geschichtlichen Handelns zu geben. Er glaubte, die Baugestalt der Weltgeschichte zu kennen und daher zeigen zu können, wie diese Geschichte endgültig auf den richtigen Weg gebracht werden könne. Daß er dies mit scheinbar streng wissenschaftlichen Methoden untermauerte und daher Glauben ganz durch Wissen ersetzte und Wissen zu Praxis machte, verlieh ihm seine ungeheure Faszination. Alle unerfüllten Verheißungen der Religionen schienen durch eine wissenschaftlich begründete politische Praxis einlösbar. Der Sturz dieser Hoffnung mußte eine ungeheure Ernüchterung mit sich bringen, die noch längst nicht verarbeitet ist. Ich halte es für durchaus denkbar, daß neue Formen des marxistischen Weltbildes auf uns zukommen werden. Fürs erste blieb Ratlosigkeit zurück. Das Versagen des einzigen Systems einer wissenschaftlich fundierten Lösung der menschlichen Probleme konnte nur den Nihilismus oder jedenfalls den totalen Relativismus ins Recht setzen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Relativismus: Philosophie, Theologie, Christologie; Rekurs auf Asien; J. Hick, Knitters

Kurzinhalt: Relativismus ... Wer sich ihm entgegensetzt, stellt sich nicht nur der Demokratie und der Toleranz, also den Grundgeboten des menschlichen Miteinander entgegen; er beharrt eigensinnig auf der Vorrangstellung seiner eigenen, der westlichen Kultur ...

Textausschnitt: Relativismus - die herrschende Philosophie

94b So ist in der Tat der Relativismus zum zentralen Problem für den Glauben in unserer Stunde geworden. Er erscheint freilich keineswegs nur als Resignation vor der Unermeßlichkeit der Wahrheit, sondern definiert sich auch positiv von den Begriffen der Toleranz, der dialogischen Erkenntnis und der Freiheit her, die durch die Behauptung einer für alle gültigen Wahrheit eingeschränkt würde. Relativismus erscheint so zugleich als die philosophische Grundlage der Demokratie, die eben darauf beruhe, daß niemand in Anspruch nehmen dürfe, den richtigen Weg zu kennen; sie lebe davon, daß alle Wege einander als Bruchstücke des Versuchs zum Besseren hin anerkennen und im Dialog nach Gemeinsamkeit suchen, zu der aber auch der Wettbewerb der letztlich nicht in eine gemeinsame Form zu bringenden Erkenntnisse gehöre. Ein System der Freiheit müsse seinem Wesen nach ein System sich verständigender relativer Positionen sein, die überdies von geschichtlichen Konstellationen abhängen und neuen Entwicklungen offenstehen müssen. Eine freiheitliche Gesellschaft sei eine relativistische Gesellschaft; nur unter dieser Voraussetzung könne sie frei und nach vorne hin offen bleiben. (Fs) (notabene)

95a Im politischen Bereich hat diese Konzeption weitgehend recht. Die einzig richtige politische Option gibt es nicht. Das Relative, die Konstruktion des freiheitlich geordneten Zusammenlebens der Menschen, kann nicht absolut sein - das zu meinen, war gerade der Irrtum des Marxismus und der politischen Theologien. Freilich kommt man auch im politischen Bereich mit dem totalen Relativismus nicht zu Rande: Es gibt Unrecht, das nie Recht werden kann (zum Beispiel Unschuldige zu töten; einzelnen oder Gruppen das Recht auf ihre Menschenwürde und auf entsprechende Verhältnisse zu versagen); es gibt Recht, das nie Unrecht werden kann. Man kann demnach im politisch-gesellschaftlichen Bereich dem Relativismus ein gewisses Recht nicht absprechen. Das Problem beruht darauf, daß er sich selbst grenzenlos setzt. Er wird nun ganz bewußt gerade auch auf das Feld der Religion und der Ethik angewendet. Nur in ein paar Andeutungen kann ich auf die Entwicklungen verweisen, die hier heute das theologische Gespräch bestimmen. Die sogenannte pluralistische Theologie der Religionen hatte sich zwar schon seit den fünfziger Jahren allmählich entfaltet, ist aber erst jetzt voll ins Zentrum des christlichen Bewußtseins gerückt.1 Sie nimmt heute in etwa, was die Wucht ihrer Problematik wie auch ihre Präsenz in den verschiedensten Kulturräumen angeht, die Stellung ein, die in den 1980er Jahren der Theologie der Befreiung zukam; übrigens verbindet sie sich vielfach mit ihr und versucht, ihr eine neue, aktuelle Gestalt zu geben. Ihre Spielarten sind sehr verschieden, so daß es nicht möglich ist, sie auf eine Kurzformel zu bringen und ihr Wesentliches in Kürze darzustellen. Sie ist einerseits ein typisches Kind der westlichen Welt und ihrer philosophischen Denkformen, berührt sich aber andererseits mit den philosophischen und religiösen Intuitionen Asiens, besonders des indischen Subkontinents in erstaunlicher Weise, so daß gerade die Berührung dieser beiden Welten ihr im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick eine besondere Stoßkraft gibt. (Fs)

Relativismus in der Theologie - die Rücknahme der Christologie

96a Das wird deutlich sichtbar an einem ihrer Gründer und herausragenden Vertreter, dem amerikanischen Presbyterianer J. Hick, dessen philosophischer Ausgangspunkt in Kants Unterscheidung zwischen Phainomenon und Nooumenon liegt: Wir können nie die letzte Wirklichkeit in sich selbst, sondern immer nur ihr Erscheinen in unserer Weise des Wahrnehmens durch verschiedene »Linsen« hindurch sehen. Alles von uns Wahrgenommene ist nicht die eigentliche Realität, die sie in sich selber ist, sondern eine Spiegelung nach unseren Maßen. Diesen Ansatz, den Hick zunächst noch in einem christozentrischen Kontext durchzufuhren versucht hatte, hat er nach einem einjährigen Aufenthalt in Indien in einer, wie er selber sagt, kopernikanischen Wendung des Denkens in eine neue Form von Theozentrik umgewandelt. Die Identifikation einer einzelnen historischen Gestalt, Jesu von Nazareth, mit dem »Realen« selbst, dem lebendigen Gott, wird nun als Rückfall in den Mythos abgelehnt; Jesus wird bewußt zu einem der religiösen Genies unter anderen relativiert. Das Absolute bzw. den Absoluten selbst kann es in der Geschichte nicht geben, nur Modelle, nur Idealgestalten, die uns auf das ganz Andere ausrichten, das in der Geschichte eben als solches nicht zu fassen ist. Es ist klar, daß damit Kirche, Dogma, Sakramente gleichfalls ihre Unbedingtheit verlieren müssen. Solche endliche Vermittlungen absolutzusetzen, sie gar als reale Begegnungen mit der für alle gültigen Wahrheit des sich offenbarenden Gottes anzusehen, heißt dann, das Eigene absolutzusetzen und damit die Unendlichkeit des ganz anderen Gottes zu verfehlen. (Fs)
97a Der Glaube, daß es tatsächlich Wahrheit, die verbindliche und gültige Wahrheit in der Geschichte selbst, in der Gestalt Jesu Christi und des Glaubens der Kirche gebe, wird von solcher Sicht her, wie sie weit über die Theorien von Hick hinaus das Denken beherrscht, als Fundamentalismus qualifiziert, der als der eigentliche Angriff auf den Geist der Neuzeit und als die in vielen Gestalten erscheinende grundlegende Bedrohung ihres höchsten Gutes, der Toleranz und der Freiheit erscheint. So hat auch weithin der Begriff Dialog, der durchaus in der platonischen und in der christlichen Tradition einen bedeutenden Stellenwert hatte, eine veränderte Bedeutung erhalten. Er wird geradezu zum Inbegriff des relativistischen Credo und zum Gegenbegriff gegen »Konversion« und Mission: Dialog im relativistischen Verständnis bedeutet, die eigene Position bzw. den eigenen Glauben auf eine Stufe mit den Überzeugungen der anderen zu setzen, ihm prinzipiell nicht mehr Wahrheit zuzugestehen als der Position des anderen. Nur wenn ich grundsätzlich voraussetze, der andere könne ebenso oder mehr recht haben als ich, komme überhaupt wirklicher Dialog zustande. Dialog müsse Austausch zwischen grundsätzlich gleichrangigen und daher gegeneinander relativen Positionen sein, mit dem Ziel, zu einem Maximum an Kooperation und Integration zwischen den verschiedenen Religionsgestalten zu gelangen.2 Die relativistische Auflösung der Christologie und erst recht der Ekklesiologie wird nun zu einem zentralen Gebot der Religion. Um zu Hick zurückzukehren: Der Glaube an die Göttlichkeit eines einzelnen, so sagt er uns, führe zu Fanatismus und Partikularismus, zur Dissoziation von Glaube und Liebe; gerade dies aber ist zu überwinden.3

Der Rekurs auf die Religionen Asiens

98a Im Denken von J. Hick, den wir hier als herausragenden Vertreter des religiösen Relativismus besonders im Blick haben, berührt sich auf eine merkwürdige Weise die postmetaphysische Philosophie Europas mit der negativen Theologie Asiens, für die das Göttliche nie selbst und unverhüllt in die Welt des Scheins eintreten kann, in der wir leben: Es zeigt sich immer nur in relativen Spiegelungen und bleibt selbst jenseits aller Worte und jenseits allen Begreifens in absoluter Transzendenz.4 Beide Philosophien sind an sich von ihrem Ausgangspunkt wie von der Richtung her, die sie der menschlichen Existenz vorgeben, grundverschieden. Aber sie scheinen sich doch gegenseitig in ihrem metaphysischen und religiösen Relativismus zu bestätigen. Der areligiöse und pragmatische Relativismus Europas und Amerikas kann sich von Indien her eine Art von religiöser Weihe leihen, die seinem Verzicht auf das Dogma die Würde höherer Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes und des Menschen zu geben scheint. Umgekehrt wirkt der Rückgriff europäischen und amerikanischen Denkens auf die philosophische und theologische Vision Indiens verstärkend auf die Relativierung aller religiösen Gestalten zurück, die zum indischen Erbe gehört. So erscheint es nun auch für die christliche Theologie in Indien geradezu als geboten, die als westlich angesehene Gestalt Christi aus ihrer Einzigartigkeit herauszuholen und gleichrangig neben indische Erlösungsmythen zu stellen: Der historische Jesus (so denkt man nun) ist so wenig einfach der Logos überhaupt, so wenig es irgendwelche anderen Erlösergestalten der Geschichte sind.5 Daß sich der Relativismus hier im Zeichen der Begegnung der Kulturen als die wahre Menschheitsphilosophie zu empfehlen scheint, gibt ihm (wie vorhin schon angedeutet) in Ost und West zusehends eine Durchschlagskraft, die praktisch keinen Widerstand mehr zu gestatten scheint. Wer sich ihm entgegensetzt, stellt sich nicht nur der Demokratie und der Toleranz, also den Grundgeboten des menschlichen Miteinander entgegen; er beharrt eigensinnig auf der Vorrangstellung seiner eigenen, der westlichen Kultur und verweigert sich so dem Miteinander der Kulturen, das offenkundig das Gebot der Stunde ist. Wer beim Glauben der Bibel und der Kirche bleiben will, sieht sich fürs erste in ein kulturelles Niemandsland gestoßen; er muß sich erst neu mit der »Torheit Gottes« (1 Kor 1,18) zurechtfinden, um in ihr die wahre Weisheit zu erkennen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Orthodoxie und Orthopraxie;

Kurzinhalt: Knitter: Das Absolute kann man nicht begreifen, wohl aber tun. Die Frage ist: Wieso eigentlich?

Textausschnitt: Orthodoxie und Orthopraxie

99a Zu solchem Durchtasten auf die Weisheit, die in der Torheit des Glaubens liegt, hilft es, wenn wir uns wenigstens im Ansatz darüber zu vergewissern suchen, wozu nun die relativistische Religionstheorie von Hick dient, auf welchen Weg sie den Menschen weist. Letzten Endes bedeutet Religion für Hick, daß der Mensch von der »self-centredness« als der Existenz des alten Adam zur »reality-centredness« als der Existenzweise des neuen Menschen übergeht, also sich aus dem eigenen Ich heraus auf das Du des Nächsten hin ausstreckt.1 Das klingt schön, ist aber bei Licht betrachtet inhaltlich so nichtssagend und leer wie Bultmanns Ruf zur Eigentlichkeit, den er aus Heidegger geschöpft hatte. Dazu braucht man Religion nicht. Der ehemalige katholische Priester P. Knitter hat, dies deutlich verspürend, die Leere einer letztlich auf den kategorischen Imperativ reduzierten Religionstheorie durch eine neue und inhaltlich gefülltere, konkretere Synthese zwischen Asien und Europa zu überwinden versucht.2 Sein Vorschlag ist es, der Religion durch eine Verknüpfung der pluralistischen Religionstheologie mit den Befreiungstheologien neue Konkretheit zu geben. Der interreligiöse Dialog soll dadurch radikal vereinfacht und zugleich praktisch wirksam gemacht werden, daß man ihn auf eine einzige Prämisse gründet: »auf den Primat der Orthopraxie vor der Orthodoxie«.3 Diese Überordnung der Praxis über das Erkennen ist auch gut marxistisches Erbe, aber der Marxismus konkretisiert seinerseits nur, was sich aus der Absage an die Metaphysik logisch ergibt: Wo das Erkennen unmöglich ist, bleibt nur noch das Handeln übrig. Knitter: Das Absolute kann man nicht begreifen, wohl aber tun. Die Frage ist: Wieso eigentlich? Woher kommt mir das rechte Handeln, wenn ich überhaupt nicht weiß, was recht ist? Das Scheitern der kommunistischen Regime beruht doch gerade darauf, daß man die Welt verändert hat, ohne zu wissen, was gut ist für die Welt und was nicht; ohne zu wissen, in welcher Richtung sie verändert werden muß, um besser zu werden. Die bloße Praxis ist kein Licht. (Fs)

100a Hier ist der Punkt, an dem der Begriff Orthopraxie kritisch durchleuchtet werden muß. Die ältere Religionsgeschichte hatte festgestellt, daß die Religionen Indiens im allgemeinen keine Orthodoxie, wohl aber Orthopraxie kennen; von daher ist wohl der Begriff in die moderne Theologie geraten. Aber in der Beschreibung der Religionen Indiens hatte er einen ganz bestimmten Sinn: Man wollte damit sagen, daß diese Religionen keine allgemein verbindliche Glaubenslehre kennen und daß die Zugehörigkeit zu ihnen daher nicht mit der Annahme eines bestimmten Credo definiert ist. Wohl aber kennen diese Religionen ein System ritueller Handlungen, das als heilsnotwendig angesehen wird und den »Gläubigen« vom Ungläubigen unterscheidet. Er wird nicht an bestimmten Denkinhalten erkannt, sondern durch die gewissenhafte Befolgung eines das ganze Leben umspannenden Rituals. Was Orthopraxie bedeutet, was also »richtiges Handeln« ist, ist sehr genau festgelegt: ein Kodex von Riten. Übrigens hatte das Wort Orthodoxie in der frühen Kirche und in den Kirchen des Ostens ursprünglich fast dieselbe Bedeutung. Denn bei dem Wortteil »-doxie« war Doxa natürlich nicht im Sinne von »Meinung« (richtige Meinung) verstanden - Meinungen sind nach griechischer Sicht immer relativ; Doxa war vielmehr im Sinn von »Herrlichkeit, Verherrlichung« verstanden. Orthodox sein bedeutete also: Die rechte Weise zu kennen und zu üben, wie Gott verherrlicht werden will. Es ist auf den Kult und vom Kult her auf das Leben bezogen. Insofern gäbe es hier sehr wohl eine tragfähige Brücke für einen fruchtbaren Dialog zwischen Ost und West. (Fs)

101a Aber kehren wir zur Aufnahme des Wortes Orthopraxie in die moderne Theologie zurück. Hier dachte niemand mehr an die Befolgung eines Rituals. Das Wort gewann also eine durchaus neue Bedeutung, die mit den authentischen Vorstellungen Indiens nichts zu tun hat. Eines bleibt freilich: Wenn die Forderung nach Orthopraxie einen Sinn haben und nicht das Feigenblatt für Unverbindlichkeit sein soll, dann muß es auch eine für jedermann erkennbare gemeinsame Praxis geben, die über das allgemeine Gerede von Ich-Zentrierung und Du-Beziehung hinausgeht. Schließt man den rituellen Sinn aus, der in Asien gemeint war, so kann »Praxis« ethisch oder politisch verstanden werden. Orthopraxie würde im ersten Fall ein inhaltlich klar definiertes Ethos voraussetzen. Das wird freilich in der relativistischen Ethik-Diskussion durchaus ausgeschlossen: Das an sich Gute und das an sich Schlechte gebe es nun einmal nicht. Versteht man die Orthopraxie aber politisch-gesellschaftlich, dann ist wiederum die Frage, was richtiges politisches Handeln sei. Befreiungstheologien, die von der Überzeugung beseelt waren, der Marxismus sage uns deutlich, was die rechte politische Praxis ist, konnten den Begriff Orthopraxie sinnvoll gebrauchen. Hier gab es nicht Unverbindlichkeit, sondern eine für alle festliegende Form der richtigen Praxis, also wahre Orthopraxie, die die Gemeinschaft zusammenschloß und von denen unterschied, die sich dem richtigen Handeln versagten. Insofern waren die marxistisch bestimmten Befreiungstheologien auf ihre Weise logisch und konsequent. Wie man sieht, liegt aber dieser Orthopraxie durchaus eine gewisse Orthodoxie (im modernen Sinn) zugrunde - ein Gerüst verbindlicher Theorien über den Weg zur Freiheit. Knitter bleibt in der Nähe dieses Ansatzes, wenn er sagt, das Kriterium für die Unterscheidung der Orthopraxie von der Pseudopraxie sei die Freiheit.4 Aber er bleibt uns schuldig, uns überzeugend und praktisch zu erklären, was Freiheit ist und was der wirklichen Befreiung des Menschen dient: die marxistische Orthopraxie gewiß nicht - das haben wir gesehen. Eines aber ist deutlich: Die relativistischen Theorien münden durchweg im Unverbindlichen und machen sich so selbst überflüssig, oder aber sie geben doch absolute Maßstäbe vor, die nun in der Praxis liegen und Absolutismen genau da aufrichten, wo sie in der Tat keinen Platz haben können. Tatsache ist freilich, daß heute auch in Asien zusehends befreiungstheologische Konzeptionen als vermeintlich mehr dem asiatischen Geist entsprechende Formen des Christentums dargeboten werden, die den Kern des religiösen Handelns in den politischen Bereich verlegen. Wo das Mysterium nicht mehr zählt, muß Politik zur Religion werden. Dem ursprünglichen Religionsverständnis Asiens ist freilich gerade dies zutiefst entgegengesetzt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: New Age

Kurzinhalt: Der Ausweg aus dem Dilemma der Relativität wird nun nicht in einer neuen Begegnung des Ich mit dem Du oder dem Wir gesucht, sondern in der Überwindung des Subjekts, in der ekstatischen Rückkehr in den kosmischen Reigen.

Textausschnitt: New Age

102a Der Relativismus von Hick, Knitter und von verwandten Theorien beruht letztlich auf einem Rationalismus, der die Vernunft im Sinne Kants der Erkenntnis des Metaphysischen unfähig erklärt;1 die Neubegründung von Religion erfolgt auf pragmatischem Weg mit mehr ethischer oder mehr politischer Tönung. Es gibt aber auch eine bewußt anti-rationalistische Antwort auf die Erfahrung des »Alles ist relativ«, die unter dem vielschichtigen Titel New Age zusammengefaßt wird.2 Der Ausweg aus dem Dilemma der Relativität wird nun nicht in einer neuen Begegnung des Ich mit dem Du oder dem Wir gesucht, sondern in der Überwindung des Subjekts, in der ekstatischen Rückkehr in den kosmischen Reigen. Ähnlich wie die antike Gnosis weiß sich dieser Weg in völligem Einklang mit allem, was uns Wissenschaft lehrt, und beansprucht, wissenschaftliche Erkenntnis aller Art (Biologie, Psychologie, Soziologie, Physik) auszuwerten. Zugleich aber bietet er auf diesem Hintergrund ein durchaus antirationalistisches Modell von Religion, eine moderne »Mystik« an: Das Absolute ist nicht zu glauben, sondern zu erfahren. Gott ist nicht eine der Welt gegenüberstehende Person, sondern die das All durchwaltende geistige Energie. Religion bedeutet das Einschwingen meines Ich ins kosmische Ganze, die Überwindung aller Trennungen. K. H. Menke charakterisiert die geistesgeschichtliche Wende, die sich hier zuträgt, sehr genau, wenn er sagt: »Das Subjekt, das sich alles unterwerfen wollte, will sich nun in >das Ganze< aufheben.«3 Die objektivierende Ratio - so sagt uns New Age - versperrt uns den Weg zum Geheimnis der Wirklichkeit; das Ich-Sein schließt uns ab von der Fülle der kosmischen Wirklichkeit, es zerstört die Harmonie des Ganzen und ist der eigentliche Grund unserer Unerlöstheit. Die Erlösung liegt in der Entschränkung des Ich, im Eintauchen in die Fülle des Lebendigen, in der Heimkehr ins All. Die Ekstase wird gesucht, der Rausch des Unendlichen, der sich in rauschhafter Musik, in Rhythmus, Tanz, in Raserei des Lichts und des Dunkels, in der Masse Mensch zutragen kann. Hier wird nicht nur der neuzeitliche Weg zur Herrschaft des Subjekts zurückgenommen; hier muß der Mensch - um erlöst zu werden - sich selbst zurücknehmen lassen. Die Götter kehren wieder. Sie sind glaubhafter geworden als Gott. Ur-Riten sollen erneuert werden, in denen das Ich in die Geheimnisse des Alls initiiert und von sich selbst frei gemacht wird. (Fs)

104a Die Erneuerung vorchristlicher Religionen und Kulte, die heute vielfach gesucht wird, hat viele Gründe. Wenn es die gemeinsame Wahrheit nicht gibt, die gilt, eben weil sie wahr ist, dann ist Christentum nur Import von auswärts, ein geistiger Imperialismus, den man nicht weniger abschütteln muß als den politischen. Wenn in den Sakramenten nicht die Berührung mit dem einen lebendigen Gott aller Menschen stattfindet, dann sind sie leere Rituale, die uns nichts sagen und nichts geben, bestenfalls das Numinosum spüren lassen, das in allen Religionen waltet. Dann erscheint es sinnvoller, das ursprünglich Eigene zu suchen, als sich das Fremde und Veraltete auflegen zu lassen. Vor allem aber: wenn die »nüchterne Trunkenheit« des christlichen Mysteriums uns nicht Gottes trunken machen kann, dann muß eben der reale Rausch wirksamer Ekstasen beschworen werden, deren Leidenschaft uns aufreißt und uns wenigstens einen Augenblick zu Göttern macht, uns einen Augenblick die Lust des Unendlichen spüren und den Jammer des Endlichen vergessen läßt. Je mehr die Vergeblichkeit politischer Absolutismen offenkundig wird, desto mächtiger wird die Attraktion des Irrationalismus, die Absage an die Realität des Alltags werden.4 (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Pragmatismus im kirchlichen Alltag; Mehrheitsprinzip, Liturgie


Kurzinhalt: Der Auszug vieler aus dem Glauben beruht darauf, daß ihnen scheint, der Glaube könne von irgendwelchen Instanzen festgelegt werden, er sei eine Art Parteiprogramm ...

Textausschnitt: Der Pragmatismus im kirchlichen Alltag

104b Neben diesen radikalen Lösungen und neben dem großen Pragmatismus der Befreiungstheologien gibt es aber auch den grauen Pragmatismus des kirchlichen Alltags, bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt. Ich denke an zwei Phänomene, die ich mit Sorge betrachte. Da ist zum einen in unterschiedlichen Intensitätsstufen der Versuch, das Mehrheitsprinzip auf Glaube und Sitte auszudehnen, die Kirche also endlich entschieden zu »demokratisieren«. Was der Mehrheit nicht einleuchtet, kann nicht verbindlich sein, so scheint es. Welcher Mehrheit eigentlich? Wird es morgen eine andere sein als heute? Ein Glaube, den wir selbst festlegen können, ist überhaupt kein Glaube. Und keine Minderheit hat einen Grund, sich durch eine Mehrheit Glauben vorschreiben zu lassen. Der Glaube und seine Praxis kommen entweder vom Herrn her durch die Kirche und ihre sakramentalen Dienste zu uns, oder es gibt ihn gar nicht. Der Auszug vieler aus dem Glauben beruht darauf, daß ihnen scheint, der Glaube könne von irgendwelchen Instanzen festgelegt werden, er sei eine Art Parteiprogramm; wer Macht habe, verfuge, was zu glauben sei, und so komme es darauf an, in der Kirche selbst an die Macht zu kommen, oder aber - logischer und einleuchtender - eben nicht zu glauben. (Fs) (notabene)

105a Der andere Punkt, auf den ich hinweisen wollte, betrifft die Liturgie. Die verschiedenen Phasen der Liturgiereform haben die Meinung aufkommen lassen, Liturgie könne beliebig verändert werden. Wenn es Unveränderliches gebe, so allenfalls die Wandlungsworte, alles andere könne man auch anders machen. Der nächste Gedanke ist logisch: Wenn eine zentrale Behörde das kann, warum nicht auch lokale Instanzen? Und wenn lokale Instanzen, warum eigentlich nicht die Gemeinde selbst? Sie müßte sich doch in der Liturgie ausdrücken und wiederfinden. Nach dem rationalistischen und puritanischen Trend der siebziger und auch noch der achtziger Jahre ist man heute der reinen Redeliturgien müde und möchte die Erlebnis-Liturgie, die sich sehr bald den Tendenzen von New Age annähert: Das Rauschhafte und Ekstatische wird gesucht, nicht die logikE latreia, die rationabilis oblatio (der vernunftgeformte, logosgemäße Gottesdienst), wovon Paulus und mit ihm die römische Liturgie spricht (Röm 12,1). (Fs)

105b Zugegeben, ich überzeichne; was ich sage, beschreibt nicht die normale Situation unserer Gemeinden. Aber die Tendenzen sind da. Und darum ist Wachheit geboten, damit uns nicht unter der Hand ein anderes Evangelium als das vom Herrn geschenkte - Steine statt Brot -untergeschoben werde. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Krise der Theologie; Exegese, historisch-kritische Methode - (implizite) Philosophie (Kant)

Kurzinhalt: Nicht die Exegese beweist die Philosophie, sondern die Philosophie bringt die Exegese hervor.

Textausschnitt: Aufgaben der Theologie

106a So stehen wir alles in allem vor einer merkwürdigen Situation: Die Befreiungstheologie hatte dem Christentum, der Dogmen müde, eine neue Praxis zu geben versucht, durch die nun doch Erlösung endlich Ereignis werden sollte. Aber diese Praxis hat Zerstörung hinterlassen, anstatt Freiheit zu bringen. So blieb der Relativismus und der Versuch, sich mit ihm zu arrangieren. Aber was dabei geboten wird, ist wiederum so leer, daß die relativistischen Theorien bei der Befreiungstheologie Hilfe suchen, um von dort aus praktisch werden zu können. New Age endlich sagt: Lassen wir das gescheiterte Experiment Christentum - kehren wir lieber zu den Göttern zurück, da lebt sich's besser. Viele Fragen tun sich auf. Greifen wir die am meisten praktische heraus: Wieso hat sich die klassische Theologie angesichts dieser Vorgänge als so wehrlos erwiesen? Wo liegen die Schwachstellen, an denen sie unglaubwürdig wurde? (Fs) (notabene)

106b Ich möchte zwei Punkte nennen, die sich von Hick und Knitter her aufdrängen. Beide berufen sich für ihre Rücknahme des Christusglaubens auf die Exegese: Sie sagen, die Exegese habe bewiesen, daß Jesus sich selbst gar nicht für den Sohn Gottes, für Gott im Fleisch hielt, sondern daß er erst hernach allmählich von seinen Anhängern dazu gemacht worden sei.1 Beide - Hick deutlicher als Knitter - berufen sich des weiteren auf philosophische Evidenz. Hick versichert uns, Kant habe unwiderleglich bewiesen, daß das Absolute oder der Absolute in der Geschichte nicht erkannt werden und darin als solches auch nicht vorkommen könne.2 Von der Struktur unserer Erkenntnis her kann es - Kant zufolge - das nicht geben, was der christliche Glaube behauptet: Wunder, Geheimnisse und Gnadenmittel sind Wahnglaube, so erläutert uns Kant in seinem Werk über »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«.3 Die Frage nach der Exegese und diejenige nach den Grenzen und Möglichkeiten unserer Vernunft, also nach den philosophischen Prämissen des Glaubens, scheinen mir in der Tat den eigentlichen Krisenpunkt der gegenwärtigen Theologie anzuzeigen, von dem aus der Glaube - immer mehr auch der Glaube der Einfachen - in die Krise gerät. (Fs)

107a Ich möchte hier nur versuchen, die Aufgabe anzudeuten, die sich uns von daher stellt. Zunächst - was die Exegese angeht, wäre vorab zu sagen, daß Hick und Knitter sich gewiß nicht auf die Exegese überhaupt berufen können, als ob dies alles ein klares und von allen anerkanntes Ergebnis sei. Das ist in historischer Forschung unmöglich, die solche Gewißheiten nicht kennt. Es ist noch viel unmöglicher bei einer Frage, die nicht rein historisch oder literarisch ist, sondern Wertentscheidungen einschließt, die über die bloße Feststellung des Vergangenen und über bloße Textinterpretation hinausgehen. Richtig ist aber, daß bei einem pauschalen Durchblick durch die moderne Exegese ein Eindruck zurückbleiben kann, der demjenigen von Hick und Knitter entspricht. (Fs)

107b Welche Gewißheit kommt dem zu? Setzen wir voraus, die Mehrheit der Exegeten denke so (was bezweifelt werden darf), so bleibt die Frage: Wie begründet ist eine solche Mehrheitsmeinung? Meine These ist: Daß viele Exegeten so denken wie Hick und Knitter und die Geschichte Jesu dementsprechend rekonstruieren, beruht darauf, daß sie deren Philosophie teilen. Nicht die Exegese beweist die Philosophie, sondern die Philosophie bringt die Exegese hervor.4 Wenn ich a priori (mit Kant zu sprechen) weiß, daß Jesus nicht Gott sein kann, daß Wunder, Geheimnisse und Gnadenmittel dreierlei Arten von Wahnglauben sind, dann kann ich auch aus den heiligen Büchern nicht als Tatsache herausfinden, was nicht Tatsache sein kann. Dann kann ich nur herausfinden, warum und wie man zu solchen Behauptungen gelangte, wie sie sich allmählich gebildet haben. (Fs) (notabene)

108a Sehen wir etwas genauer zu. Die historisch-kritische Methode ist ein vorzügliches Instrument, um historische Quellen zu lesen und Texte zu interpretieren. Aber sie hat ihre Philosophie in sich, die im allgemeinen - etwa wenn ich die Geschichte der mittelalterlichen Kaiser zu erkennen versuche - kaum ins Gewicht fällt. Denn dabei möchte ich Vergangenheit kennenlernen, nicht mehr. Auch das geht freilich nicht wertfrei ab, und insofern gibt es auch hier Grenzen der Methode. Wendet man sie auf die Bibel an, so treten sehr deutlich zwei sonst kaum zu bemerkende Faktoren in Erscheinung: Die Methode will das Vergangene als Vergangenes erkennen. Sie will möglichst genau das Damalige in seiner Damaligkeit erfassen, an dem Punkt, an dem es damals stand. Und sie setzt voraus, daß die Geschichte im Prinzip einförmig ist: Der Mensch in all seiner Unterschiedenheit, die Welt in all ihren Verschiedenheiten, ist doch von gleichen Gesetzen und gleichen Grenzen bestimmt, so daß ich ausscheiden kann, was unmöglich ist. Was heute auf gar keine Weise geschehen kann, konnte auch gestern nicht geschehen und wird auch morgen nicht geschehen. (Fs) (notabene)

108b Bezieht man dies auf die Bibel, so heißt das: Ein Text, ein Ereignis, eine Person wird streng in seine Vergangenheit hinein fixiert. Man will herausbringen, was der damalige Autor damals gesagt hat und gesagt bzw. gedacht haben kann. Es kommt auf das »Historische«, das »Damalige« an. Deswegen vermittelt mir historisch-kritische Exegese die Bibel nicht ins Heute, in mein jetziges Leben hinein. Das ist ausgeschlossen. Sie entfernt sie im Gegenteil von mir und zeigt sie streng in der Vergangenheit angesiedelt. Dies ist der Punkt, an dem Drewermann mit Recht historisch-kritische Exegese kritisiert hat, sofern sie allein genügend sein will. Sie spricht ihrem Wesen nach nicht von heute, nicht von mir, sondern vom Gestern, vom anderen. Sie kann deshalb auch nie den Christus heute, morgen und in Ewigkeit, sondern immer nur, wenn sie sich treu bleibt, den Christus gestern zeigen. (Fs)

109a Dazu kommt die zweite Voraussetzung, die Gleichartigkeit von Welt und Geschichte, also das, was Bultmann das moderne Weltbild nennt. M. Waldstein hat in sorgsamer Analyse gezeigt, daß Bultmanns Erkenntnistheorie ganz vom Marburger Neu-Kantianismus bestimmt war.5 Von daher wußte er, was es geben und nicht geben kann. Bei anderen Exegeten wird das philosophische Bewußtsein weniger ausgeprägt sein, aber die Grundlegung durch die Erkenntnistheorie Kants ist stillschweigend immer anwesend, als selbstverständlicher hermeneutischer Einstieg, der den Weg der Kritik leitet. Weil es so ist, kann die kirchliche Autorität nicht einfach von außen her auferlegen, man müsse doch zu einer Christologie der Gottessohnschaft kommen. Wohl aber kann und muß sie dazu auffordern, die Philosophie der eigenen Methode kritisch zu überprüfen. Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen. Gottlob ist heute, in der Krise von Philosophie und Theologie, die wir durchleben, in der Exegese selbst eine neue Grundlagenbesinnung in Gang gekommen, nicht zuletzt auch durch Erkenntnisse, die durch die historisch sorgsame Auslegung der Texte gefunden worden sind.6 Sie helfen dazu, das Gefängnis philosophischer Vorentscheidungen aufzubrechen, das die Auslegung lähmt: Die Weite des Wortes öffnet sich neu. (Fs)

109b Das Problem der Exegese fällt, wie wir sahen, weitgehend mit dem Problem der Philosophie zusammen. Die Not der Philosophie, das heißt die Not, in die sich die positivistisch fixierte Vernunft hineinmanövriert hat, ist zur Not unseres Glaubens geworden. Er kann nicht frei werden, wenn die Vernunft selbst sich nicht neu öffnet. Wenn die Tür zu metaphysischer Erkenntnis verschlossen bleibt, wenn die von Kant fixierten Grenzen menschlichen Erkennens unüberschreitbar sind, dann muß der Glaube verkümmern: Es fehlt ihm einfach die Atemluft. Freilich, der Versuch mit einer streng autonomen Vernunft, die vom Glauben nichts wissen will, sich sozusagen selbst an den Haaren aus dem Sumpf der Ungewißheiten herausziehen zu wollen, wird letztlich kaum gelingen. Denn die menschliche Vernunft ist gar nicht autonom. Sie lebt immer in geschichtlichen Zusammenhängen. Geschichtliche Zusammenhänge verstellen ihr den Blick (wir sehen es); darum braucht sie auch geschichtliche Hilfe, um über ihre geschichtlichen Sperren hinwegzukommen. Ich bin der Meinung, daß der neuscholastische Rationalismus gescheitert ist, der mit einer streng glaubensunabhängigen Vernunft, mit rein rationaler Gewißheit die Praeambula Fidei rekonstruieren wollte; allen Versuchen, die das gleiche möchten, wird es letztlich nicht anders ergehen. Insoweit hatte Karl Barth schon recht, wenn er die Philosophie als glaubensunabhängige Glaubensgrundlage abwies: Dann würde unser Glaube letztlich auf wechselnden philosophischen Theorien gründen. Aber Barth irrte, wenn er deshalb den Glauben zum reinen Paradox erklärte, das immer nur gegen die Vernunft und gänzlich unabhängig von ihr bestehen könne. Nicht die mindeste Funktion des Glaubens ist es, daß er Heilungen für die Vernunft als Vernunft anbietet, sie nicht vergewaltigt, ihr nicht äußerlich bleibt, sondern sie gerade wieder zu sich selber bringt. Das geschichtliche Instrument des Glaubens kann die Vernunft als solche wieder freimachen, so daß sie nun - von ihm auf den Weg gebracht - wieder selber sehen kann. Um einen solchen neuen dialogischen Umgang von Glaube und Philosophie müssen wir uns mühen, denn beide brauchen einander. Die Vernunft wird ohne den Glauben nicht heil, aber der Glaube wird ohne die Vernunft nicht menschlich. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; Glaubenskrise; Religion als Gefühl (Definition, Schleiermacher)

Kurzinhalt: Schleiermacher war der große Theoretiker dieses neuen Religionsbegriffs: »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche« ...

Textausschnitt: 114b Versuchen wir aber zunächst einmal, zusammenzufassen und zu präzisieren, was bis jetzt zutage getreten ist. Die Aufklärung hatte das Ideal der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« auf den Schild gehoben. Aber diese reine Vernunftreligion zerbröckelte schnell, vor allem aber hatte sie keine das Leben tragende Kraft: Religion, die tragende Kraft für das ganze Leben werden soll, braucht zweifellos eine gewisse Einsichtigkeit. Der Zerfall der antiken Religionen wie die Krise des Christentums in der Neuzeit zeigen dies: Wenn Religion mit elementaren Gewißheiten einer Weltansicht nicht mehr in Einklang zu bringen ist, löst sie sich auf. Aber umgekehrt braucht Religion auch eine Ermächtigung, die über das selbst Erdachte hinausreicht, denn nur so ist die unbedingte Forderung annehmbar, die sie an den Menschen erhebt. So hat man nach dem Ende der Aufklärung aus dem Bewußtsein der Unverzichtbarkeit des Religiösen heraus nach einem neuen Raum für die Religion gesucht, in dem sie unangefochten von den weitergehenden Erkenntnissen der Vernunft sozusagen auf einem nicht mehr erreichbaren, von ihr nicht bedrohten Gestirn sollte leben können. Deshalb hatte man ihr das »Gefühl« als den ihr eigenen Sektor menschlicher Existenz zugewiesen. Schleiermacher war der große Theoretiker dieses neuen Religionsbegriffs: »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche«,1 definiert er. Klassisch geworden ist Fausts Antwort auf Gretchens Frage nach der Religion: »Gefühl ist alles. Name ist Schall und Rauch ...« Aber Religion, so nötig ihre Unterscheidung von der Ebene der Wissenschaft auch ist, läßt sich doch nicht sektorial einengen. Sie ist gerade dazu da, den Menschen zu seiner Ganzheit zu integrieren, Gefühl, Verstand und Wille aneinander zu binden und ineinander zu vermitteln und eine Antwort auf die Herausforderung des Ganzen, auf die Herausforderung von Leben und Sterben, von Gemeinschaft und Ich, von Gegenwart und Zukunft zu geben. Sie darf sich nicht anmaßen wollen, Probleme zu lösen, die ihre eigene Gesetzlichkeit haben, aber sie muß zu letzten Entscheidungen befähigen, in denen immer die Ganzheit des Menschen und der Welt im Spiele ist. Und gerade das ist doch unsere Not, daß wir heute die Welt sektorial aufteilen und dabei in einer bisher kaum abzusehenden Weise über sie denkend und handelnd verfügen können, daß aber die nicht abzuweisenden Fragen nach Wahrheit und Wert, nach Leben und Tod damit nur immer unbeantwortbarer werden. (Fs)

116a Die Krise der Gegenwart beruht eben darauf, daß die Vermittlung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Bereich ausfällt, daß Vernunft und Gefühl auseinanderdriften und dabei beide krank werden. Denn die sektorial spezialisierte Vernunft ist zwar ungeheuer stark und leistungsfähig, aber ob der Standardisierung eines einzigen Typs von Gewißheit und von Vernünftigkeit gestattet sie den Durchblick auf die grundlegenden Fragen des Menschen nicht mehr. Daraus folgt eine Hypertrophie im Bereich technisch-pragmatischen Erkennens, der eine Schrumpfung im Grundlagenbereich entgegensteht und so eine Störung des Gleichgewichts, die für das Humanum tödlich werden kann. Umgekehrt ist Religion heute keineswegs abgedankt. Es gibt in mehrfacher Hinsicht geradezu eine Hochkonjunktur des Religiösen, das aber ins Partikuläre zerfällt, sich nicht selten aus seinen großen geistigen Zusammenhängen löst und, anstatt den Menschen aufzurichten, ihm Machtsteigerung und Bedürfnisbefriedigung verheißt. Das Irrationale, das Abergläubische, das Magische wird gesucht; der Rückfall in anarchisch-zerstörerische Formen des Umgangs mit den verborgenen Mächten und Gewalten droht. Man könnte versucht sein zu sagen, es gebe heute keine Krise der Religion, wohl aber eine Krise des Christentums. Ich würde dem nicht zustimmen. Denn die bloße Ausbreitung religiöser oder religionsartiger Phänomene ist noch keine Blüte der Religion. Wenn Erkrankungsformen des Religiösen Hochkonjunktur haben, so bestätigt dies zwar, daß Religion nicht untergeht, aber es zeigt sie doch in einem Zustand ernster Krise. Auch der Anschein, anstelle des ermüdeten Christentums seien nun die asiatischen Religionen oder der Islam im Aufstieg begriffen, trügt. Daß in China und Japan die großen traditionellen Religionen dem Druck der neuzeitlichen Ideologien nicht oder nur ungenügend standzuhalten vermochten, ist offenkundig. Aber auch die religiöse Vitalität Indiens ändert nichts daran, daß auch dort ein geglücktes Miteinander zwischen den neuen Fragen und den alten Überlieferungen bisher nicht gelungen ist. Wieweit der neue Aufbruch der islamischen Welt von wirklich religiösen Kräften gespeist wird, bleibt gleichfalls zu fragen. Vielerorts - wir sehen es - droht auch hier eine pathologische Verselbständigung des Gefühls, die die Drohung des Schrecklichen nur verstärkt, von der Pauli, Heisenberg und Fest uns gesprochen haben. (Fs)

117a Es geht nicht anders: Vernunft und Religion müssen wieder zueinander kommen, ohne sich ineinander aufzulösen. Es geht nicht um Interessenwahrung alter religiöser Körperschaften. Es geht um den Menschen, um die Welt. Und beide sind offenbar nicht zu retten, wenn Gott nicht auf eine überzeugende Weise in Sicht kommt. Niemand kann sich anmaßen, fertig den Weg zu wissen, wie diese Not gelöst werden kann. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil in einer freien Gesellschaft die Wahrheit keine anderen Mittel zu ihrer Durchsetzung suchen kann und darf als eben die Kraft der Überzeugung, Überzeugung aber in der Vielfalt der den Menschen bedrängenden Eindrücke und Forderungen sich nur schwer formt. Aber ein Versuch, den Weg zu finden, muß gewagt werden, um durch Konvergenzen, die sich zeigen, auch wieder Plausibilität zu schaffen für das, was meist weit außerhalb des Horizonts unserer Interessen liegt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; innere Rationalität des Christentums; kein System - Erhellung aus der Geschichte; der Gott Abrahams: translokal, transtemporal, Futur, Herr der Zeit

Kurzinhalt: Der christliche Glaube ist kein System. Er kann nicht wie ein geschlossenes Denkgebäude dargestellt werden. Er ist ein Weg, und dem Weg ist es eigen, daß er nur durch das Eintreten in ihn, das Gehen darauf erkennbar wird.

Textausschnitt: 117a Ich möchte hier nicht den Versuch Heisenbergs aufnehmen, von der eigenen Logik des naturwissenschaftlichen Denkens aus die Selbstüberschreitung der Wissenschaft und den Zugang zur »zentralen Ordnung« zu finden, so lohnend und so unentbehrlich solches Mühen ist. Mein Versuch in diesem Vortrag zielt darauf, sozusagen die innere Rationalität des Christlichen freizulegen. Dies soll in der Weise geschehen, daß wir fragen, was eigentlich dem Christentum im Verfall der Religionen der alten Welt jene Überzeugungskraft gegeben hat, durch die es einerseits den Untergang jener Welt auffangen und zugleich den auf die Bühne der Weltgeschichte hereintretenden neuen Kräften, den Germanen und den Slawen, seine Antworten so weiterzugeben vermochte, daß daraus unbeschadet mancher Umbrüche und Zerbrüche eine über eineinhalb Jahrtausende hin tragende Form des Wirklichkeitsverständnisses entstand, in der alte und neue Welt sich verschmelzen konnten. Hier stoßen wir auf eine Schwierigkeit. Der christliche Glaube ist kein System. Er kann nicht wie ein geschlossenes Denkgebäude dargestellt werden. Er ist ein Weg, und dem Weg ist es eigen, daß er nur durch das Eintreten in ihn, das Gehen darauf erkennbar wird. Dies gilt in einem doppelten Sinn: Jedem einzelnen erschließt sich das Christliche nicht anders als im Experiment des Mitgehens; in seiner Ganzheit läßt es sich nur erfassen als geschichtlicher Weg, dessen wesentlichen Verlauf ich in großen Zügen andeuten möchte. (Fs)

118a Der Weg beginnt mit Abraham. Bei der Skizze, die ich versuche, kann und will ich selbstverständlich nicht in das Gestrüpp der vielfältigen Hypothesen darüber eintreten, was in den alten Berichten als historisch betrachtet werden darf und was nicht. Hier geht es nur darum zu fragen, wie die schließlich geschichtstragend gewordenen Texte selbst jenen Weg sehen. Da ist dann als erstes zu sagen, daß Abraham ein Mensch war, der sich von einem Gott angeredet wußte und sein Leben aus diesem Gespräch gestaltete. Man könnte als Vergleich an Sokrates denken, dem ein »Daimonion«, eine merkwürdige Art der Eingebung, zwar nichts Positives offenbarte, aber den Weg verlegte, wenn er sich nur seinen eigenen Ideen hingeben oder der allgemeinen Meinung anschließen wollte.1 Was können wir über diesen Gott Abrahams ausmachen? Er tritt noch keineswegs mit dem monotheistischen Anspruch des einzigen Gottes aller Menschen und der ganzen Welt auf, aber er hat doch eine sehr spezifische Physiognomie. Er ist nicht der Gott einer bestimmten Nation, eines bestimmten Landes; nicht der Gott eines bestimmten Bereiches, etwa der Luft oder des Wassers usw., was im religiösen Kontext von damals einige der wichtigsten Erscheinungsformen des Göttlichen waren. Er ist der Gott einer Person, eben Abrahams. Diese Besonderheit, daß er nicht einem Land, einem Volk, einem Lebensbereich zugehörte, sondern einer Person sich zuordnete, hat zwei bemerkenswerte Folgen. (Fs)

118b Die erste Folge war, daß dieser Gott für den ihm zugehörigen, von ihm gewählten Menschen überall Macht hat. Seine Macht ist nicht an bestimmte geographische oder sonstige Grenzen gebunden, sondern er kann die Person begleiten, schützen, führen, wo immer er will und wo immer diese Person hingeht. Auch die Landverheißung macht ihn nicht zum Gott eines Landes, das dann das allein Seinige wäre. Sie zeigt vielmehr, daß er Länder vergeben kann, wie er will. Wir können also sagen: Der Person-Gott wirkt translokal. Dazu kommt als zweites, daß er auch transtemporal wirkt, ja, seine Sprech- und Handlungsweise ist wesentlich das Futur. Seine Dimension scheint - vorerst jedenfalls -hauptsächlich die Zukunft zu sein, denn an Gegenwart gibt er recht wenig. Alles Wesentliche ist in der Kategorie der Verheißung des Kommenden gegeben - der Segen, das Land. Das bedeutet, daß er offenkundig über die Zukunft, über die Zeit verfugen kann. Für den betreffenden Menschen bringt dies eine Haltung ganz eigener Art mit sich. Er muß immer über das Gegenwärtige hinaus leben, Leben im Ausgestrecktsein auf ein anderes, Größeres. Die Gegenwart wird relativiert. Wenn man schließlich - das könnte ein drittes Element sein - die besondere Eigenart eines Gottes, sein Anderssein gegenüber anderen und anderem mit dem Begriff »Heiligkeit« benennt, so wird sichtbar, daß diese seine Heiligkeit, sein Selbstsein etwas mit der Würde des Menschen, mit seiner moralischen Integrität zu tun hat, wie die Geschichte von Sodom und Gomorrha zeigt. In ihr kommt einerseits die Nachsicht, die Güte dieses Gottes zum Vorschein, der um einiger Guter willen auch die Bösen zu schonen bereit ist; aber es kommt zugleich das Nein zur Störung der Menschenwürde zum Vorschein, das sich gerade im Gericht über die beiden Städte auswirkt. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; Israel im Exil: Gotte als Schöpfer, der Mensch als gottgemäßes Opfer

Kurzinhalt: Normalerweise ist ein Gott, der sein Land verliert, sein Volk geschlagen zurückläßt und sein Heiligtum nicht zu schützen vermag, ein gestürzter Gott ... Beim Exil Israels geschieht erstaunlicherweise das Gegenteil.

Textausschnitt: Krise und Weitung von Israels Glaube im Exil

119a In der folgenden Entwicklung zum Zwölf-Stämme-Bund, mit der Landnahme, dem Entstehen des Königtums, dem Tempelbau und einer weit ausgefächerten kultischen Gesetzgebung scheint die Religion Israels weitgehend in den Religionstyp des Vorderen Orients einzutauchen. Der Gott der Väter, der Gott des Sinai, ist nun der Gott eines Volkes, eines Landes, einer bestimmten Lebensordnung geworden. Daß das nicht alles ist, daß etwas Besonderes bleibt und in allem Auf und Ab des religiösen Lebens in Israel sich das Eigene, Andere seines Gottesglaubens durchhält, ja weiter ausformt, zeigt sich im Augenblick des Exils. Normalerweise ist ein Gott, der sein Land verliert, sein Volk geschlagen zurückläßt und sein Heiligtum nicht zu schützen vermag, ein gestürzter Gott. Er hat nichts mehr zu sagen. Er verschwindet aus der Geschichte. Beim Exil Israels geschieht erstaunlicherweise das Gegenteil. Die Größe dieses Gottes, seine völlige Andersheit gegenüber den Gottheiten der Weltreligionen tritt hervor, der Glaube Israels gewinnt nun erst seine große Gestalt. Dieser Gott kann es sich leisten, sein Land anderen zu überlassen, weil er an kein Land gebunden ist. Er kann sein Volk besiegen lassen, um es gerade so aus seinen falschen religiösen Träumen aufzuwecken. Er ist nicht auf dieses Volk angewiesen, aber er läßt es in der Niederlage dennoch nicht fallen. Er ist auch auf den Tempel und den darin gefeierten Kult nicht angewiesen, wie es die gemeine Vorstellung ist: Die Menschen ernähren die Götter, und die Götter erhalten die Welt. Nein, er braucht diesen Kult nicht, der in gewisser Hinsicht sein Wesen verdeckte. So erwächst mit einem vertieften Gottesbild auch eine neue Kultidee. Wohl schon seit salomonischer Zeit hatte sich nämlich die Gleichsetzung des Persongottes der Väter mit dem Allgott, dem Schöpfer, vollzogen, den alle Religionen kennen, aber als den für die eigenen Anliegen nicht zuständigen Gott im allgemeinen aus der Verehrung ausgrenzen. Diese im Prinzip vollzogene, wenn auch wahrscheinlich im Bewußtsein bis dahin wenig wirksame Identifizierung wird nun zur Kraft des Überlebens: Israel hat gar keinen Sondergott, sondern es verehrt nur den einen Gott überhaupt. Dieser Gott hat zu Abraham gesprochen und Israel erwählt, aber er ist in Wirklichkeit doch der Gott aller Völker, der gemeinsame Gott, der alle Geschichte lenkt. Dazu gehört die Reinigung der Kultidee. Gott braucht keine Opfer, er muß nicht von den Menschen erhalten werden, weil alles ihm gehört. Das eigentliche Opfer ist der gottgemäß gewordene Mensch. 300 Jahre nach dem Exil, in der ähnlich schweren Krise der hellenistischen Unterdrückung des Tempelkultes, formuliert das Danielbuch: »Wir haben in dieser Zeit weder Vorsteher noch Propheten... weder Brandopfer noch Schlachtopfer... noch einen Ort, um dir die Erstlingsgaben darzubringen und um Erbarmen zu finden bei dir. Du aber nimm uns an! Wir kommen mit zerknirschtem Herzen und demütigem Sinn« (Dan 3,381). Gleichzeitig tritt mit dem Fehlen einer der Macht und Güte Gottes entsprechenden Gegenwart auch das futurische Element im Glauben Israels wieder stärker hervor, oder sagen wir vielleicht besser: die Relativierung der Gegenwart, die nur in einem größeren, den Augenblick, ja die ganze Welt überschreitenden Horizont recht bewältigt und verstanden werden kann. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; Israel nach dem Exil: Weisheit (Klammer zw. Gottesgedanke und Weltdeutung), Universalreligion -> Paulus, Septuaginta (Kyrios)

Kurzinhalt: Da ist nun eine Verbindung zwischen Gott und Welt, zwischen Rationalität und Offenbarung, die genau den Postulaten der Vernunft und der tieferen religiösen Sehnsucht antwortete.

Textausschnitt: Der Weg zur Universalreligion nach dem Exil

121a Die 500 Jahre nach dem Exil bis zum Auftreten Christi sind vor allem durch zwei neue Faktoren gekennzeichnet. Da ist zunächst das Aufstehen der sogenannten Weisheitsliteratur und die ihr zugrunde liegende geistige Bewegung. Neben Gesetz und Propheten, aus deren Büchern sich langsam ein Schriftkanon als Maßstab der Religion Israels zu bilden begann, erscheint ein dritter Pfeiler - eben die Weisheit.1 Sie wird zunächst vor allem von den ägyptischen Weisheitstraditionen beeinflußt, läßt aber dann immer mehr auch die Berührung mit dem griechischen Geist erkennen. Hier wird vor allem der Ein-Gott-Glaube vertieft und die Kritik der Götter, die sich schon bei den Propheten zeigt, radikalisiert. Der Monotheismus wird weiter geklärt und gewinnt an rationaler Kraft durch die Verbindung mit dem Versuch eines vernünftigen Verstehens der Welt. Die Klammer zwischen Gottesgedanke und Weltdeutung wird eben im Begriff der Weisheit gefunden. Die Rationalität, die sich in der Struktur der Welt zeigt, wird als ein Reflex der schöpferischen Weisheit begriffen, aus der sie stammt. Die Wirklichkeitsansicht, die sich nun ausbildet, entspricht etwa der Frage, die Heisenberg in den weiter oben berührten Gesprächen formuliert, wenn er sagt: »Ist es völlig sinnlos, sich hinter den ordnenden Strukturen der Welt im Großen ein >Bewußtsein< zu denken, dessen >Absicht< sie sind?«2 In den gegenwärtigen Diskussionen über das Zusammenspiel von Natur und Geist, etwa im Menschen, wird die Frage der Reduktion erörtert: Läßt sich das Phänomen Geist auf Materie reduzieren oder bleibt da ein unerklärbarer Überhang?3 Hier würde man eher von der umgekehrten Sicht sprechen können: Geist ist imstande, Materie hervorzubringen, und ist als der eigentliche Ausgangspunkt der Wirklichkeit anzusehen, von der her sich das Ganze erklärt; bleibt die Frage: ob es nicht einen dunklen Überhang gibt, der sich nicht mehr darauf zurückführen läßt. Die Frage muß gestellt werden, ob eine solche Sicht weniger Wahrscheinlichkeit für sich hat als die von Monod formulierte und in gewisser Hinsicht für das gegenwärtige Denken durchaus repräsentative Meinung, das ganze Konzert der Natur steige aus störenden Geräuschen auf,4 d. h. die Rationalität wäre abkünftig aus dem Irrationalen. Die Sicht der Weisheitsbücher, die Gott und Welt durch den Gedanken der Weisheit verknüpft, die Welt als Reflex der Rationalität des Schöpfers auffaßt, gestattet dann zugleich die Verknüpfung von Kosmologie und Anthropologie, von Verstehen der Welt und Moralität, weil die Weisheit, die die Materie und die Welt aufbaut, zugleich eine moralische Weisheit ist, die wesentliche Richtungen der Existenz ansagt. Die ganze Thora, das Lebensgesetz Israels, wird nun als Selbstdarstellung der Weisheit, als ihre Übersetzung in menschliche Rede und Weisung aufgefaßt. Aus all dem ergibt sich von selbst eine Nähe zum griechischen Geist, einerseits zu Motiven des Platonismus, andererseits zu der stoischen Verknüpfung von göttlicher Deutung der Welt und Moral. (Fs)

122a Die Frage nach dem Überhang des Ungöttlichen, des Irrationalen in der Welt, die wir vorhin berührt haben, nimmt in der Weisheitsliteratur die Form eines dramatischen Ringens mit der Theodizee-Frage an: Die Erfahrung des Leidens in der Welt wird zum großen Thema - einer Welt, in der das Recht, das Gute, die Wahrheit immer wieder verlieren gegenüber der Skrupellosigkeit der Mächtigen. Dies bringt nun von einem ganz anderen Ausgangspunkt her eine Vertiefung der Moral mit sich, die sich von der Frage des Erfolgs ablöst und gerade im Leiden, im Unterliegen der Gerechtigkeit Sinn sucht. Schließlich erscheint in Ijob die Gestalt des exemplarisch Frommen und zugleich exemplarisch Leidenden außerhalb der Grenzen Israels.5 (Fs)

123a Der inneren Annäherung an die griechische Geisteswelt, an ihre Aufklärung und Philosophie, entspricht dann logischerweise ein zweiter wichtiger Schritt: der Übergang des Judentums in die griechische Welt, der sich vor allem in Alexandrien als dem zentralen Ort der Begegnung der Kulturen vollzogen hat. Der wichtigste Vorgang in diesem Prozeß war die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, deren Grundstock - die fünf Bücher Mose - bereits im dritten Jahrhundert vor Christus gefertigt wurde. Bis zum ersten Jahrhundert hin bildete sich dann ein griechischer Kanon der heiligen Bücher aus, der von den Christen als ihr Kanon des Alten Testaments übernommen wurde.6 Die Bezeichnung dieser griechischen Übersetzung der alttesta-mentlichen Bibel als »Septuaginta« (Buch der 70) beruht auf der alten Legende, die Übersetzung sei das Werk von 70 Gelehrten gewesen. 70 war nach Dtn 32,8 die Zahl der Weltvölker. So mag diese Legende bedeuten, daß in dieser Übersetzung das Alte Testament aus Israel heraustritt und zu den Völkern der Erde kommt. Das war in der Tat die Wirkung dieses Buches, das in seiner Übersetzung in vieler Hinsicht den universalistischen Zug in der Religion Israels weiter akzentuierte -nicht zuletzt im Gottesbild, wenn nun der Gottesname JHWH nicht als solcher erscheint, sondern durch das Wort Kyrios - Herr - ersetzt wird. So wird der geistige Gottesbegriff des Alten Testaments weiter vorangetrieben, was der Sache nach durchaus dem inneren Gefälle der angedeuteten Entwicklung gemäß war. (Fs)

124a Der ins Griechische übersetzte Glaube Israels, wie er sich in seinen heiligen Büchern spiegelte, wurde alsbald zu einer Faszination für den aufgeklärten Geist der Antike, deren Religionen seit der sokratischen Kritik immer mehr ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten. Im sokratischen Denken war aber - im Gegensatz zu den sophistischen Strömungen - nicht der Skeptizismus oder gar der Zynismus oder der bloße Pragmatismus bestimmend; mit ihm war zugleich die Sehnsucht nach der angemessenen und doch das eigene Vermögen der Vernunft überschreitenden Religion aufgebrochen. So geht man einerseits auf die Suche nach den Verheißungen der Mysterienkulte, die aus dem Osten vordringen, andererseits erscheint der jüdische Glaube als die rettende Antwort. Da ist nun eine Verbindung zwischen Gott und Welt, zwischen Rationalität und Offenbarung, die genau den Postulaten der Vernunft und der tieferen religiösen Sehnsucht antwortete. Da ist der Monotheismus, der nicht aus philosophischer Spekulation kommt und darum religiös kraftlos bleibt, weil man nicht die eigenen Denkgebilde, die eigenen philosophischen Hypothesen anbeten kann. Dieser Monotheismus kommt aus ursprünglicher religiöser Erfahrung und bestätigt nun sozusagen von oben her, was das Denken tastend gesucht hatte. Die Religion Israels muß für die besten Kreise der späten Antike eine ähnliche Faszination gehabt haben, wie die Welt Chinas in der Zeit der Aufklärung für Westeuropa, wo man meinte (zu Unrecht, wie wir heute wissen), endlich eine Gesellschaft ohne Offenbarung und Mysterien, eine Religion der reinen Moral und Vernunft gefunden zu haben. So hat sich über die antike Welt hin ein Netz von sogenannten Gottesfürchtigen gebildet, die sich an die Synagoge und ihren reinen Kult des Wortes anlehnten, in der Anlehnung an den Glauben Israels sich mit dem einen Gott in Berührung wußten. Dieses Netz von Gottesfürchtigen gemäß dem griechisch gewordenen Glauben Israels war die Voraussetzung der christlichen Mission: Das Christentum war jene ins Universale geweitete Gestalt des Judentums, in der nun das vollends geschenkt wurde, was das Alte Testament bis dahin noch nicht zu geben vermochte. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft: Christentum als Synthese; Durchbruch zur Universalität im dreifachen Sinn: Blutsbande, Moral, Kult

Kurzinhalt: Der Universalgott war dennoch an ein bestimmtes Volk gebunden; die universale Moral war mit sehr partikulären Lebensformen verknüpft, die außerhalb Israels gar nicht gelebt werden konnten; der geistige Kult war immer noch an Rituale des Tempels ...

Textausschnitt: Christentum als Synthese von Glaube und Vernunft

125a Der in der Septuaginta dargestellte Glaube Israels zeigte den Zusammenklang von Gott und Welt, von Vernunft und Geheimnis. Er gab moralische Weisung, aber etwas fehlte doch: Der Universalgott war dennoch an ein bestimmtes Volk gebunden; die universale Moral war mit sehr partikulären Lebensformen verknüpft, die außerhalb Israels gar nicht gelebt werden konnten; der geistige Kult war immer noch an Rituale des Tempels geknüpft, die man symbolisch auslegen mochte, aber die doch im Grunde von der prophetischen Kritik überholt und für den fragenden Geist nicht mehr aneignungsfähig waren. Ein NichtJude konnte immer nur in einem äußeren Ring dieser Religion stehen. Er blieb »Proselyt«, weil die volle Zugehörigkeit an die blutsmäßige Abstammung von Abraham, an eine völkische Gemeinschaft gebunden war. Auch blieb das Dilemma, wieweit nun doch das spezifisch Jüdische notwendig war, um diesem Gott recht dienen zu können, und wem es zustand, da die Grenze zwischen dem Unverzichtbaren und dem geschichtlich Zufälligen oder Überholten zu ziehen. Volle Universalität war nicht möglich, weil volle Zugehörigkeit nicht möglich war. Hier hat erst das Christentum den Durchbruch gebracht, die »Mauer niedergerissen« (Eph 2,14), und dies in einem dreifachen Sinn: Die Blutsbande mit dem Stammvater sind nicht mehr nötig, weil der Anschluß an Jesus die völlige Zugehörigkeit, die wahre Verwandtschaft bewirkt. Jeder kann nun ganz zu diesem Gott gehören, alle Menschen sollen sein Volk werden dürfen und können. Die partikulären Rechts- und Moralordnungen verpflichten nicht mehr; sie sind zu einem geschichtlichen Vorspiel geworden, weil in der Person Jesu Christi alles zusammengefaßt ist und wer ihm nachfolgt, das ganze Wesen des Gesetzes in sich trägt und erfüllt. Der alte Kult ist hinfällig und aufgehoben in der Selbsthingabe Jesu an Gott und die Menschen, die nun als das wahre Opfer erscheint, als der geistige Kult, in dem Gott und Mensch sich umarmen und versöhnt werden, wofür das Herrenmahl, die Eucharistie, als reale und jederzeit gegenwärtige Gewißheit steht. Vielleicht der schönste und bündigste Ausdruck dieser neuen christlichen Synthese findet sich in einem Bekenntniswort des ersten Johannesbriefs: »Wir haben der Liebe geglaubt« (1 Joh 4,16). Christus war für diese Menschen zur Entdeckung der schöpferischen Liebe geworden; die Vernunft des Weltalls hatte sich als Liebe offenbart - als jene größere Rationalität, die auch das Dunkle und Irrationale in sich aufnimmt und heilt. (Fs) (notabene)

126a So war die geistige Bewegung, die im Weg Israels erkennbar war, an ihr Ziel gekommen, die ungebrochene Universalität nun praktische Möglichkeit. Vernunft und Geheimnis trafen sich; gerade das Zusammenziehen des Ganzen in einem hatte die Türen für alle geöffnet: Alle Menschen können Brüder, Geschwister werden von dem einen Gott her. Und auch das Thema Hoffnung und Gegenwart erhält neue Form: Die Gegenwart läuft auf den Auferstandenen zu, auf eine Welt, in der Gott alles in allem sein wird. Aber gerade von daher wird sie auch als Gegenwart bedeutsam und wertvoll, weil sie jetzt schon von der Nähe des Auferstandenen durchtränkt ist und der Tod nicht mehr das letzte Wort hat. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; Kopernikus, Galilei, Newton: Platoniker; Geist als Voraussetzung der Naturwissenschaft; Pathologie von Religion und Wissenschaft; Bild: Benedikt (Strahl der Sonne)


Kurzinhalt: ... wird die Grundlage der Wissenschaft selbst widersprüchlich. Denn sie behauptet und leugnet den Geist zugleich. Vor allem aber ist eine so sich beschränkende Vernunft eine amputierte Vernunft.

Textausschnitt: Auf der Suche nach einer neuen Evidenz

126b Kann diese Evidenz, die damals die antike Welt zuinnerst traf und verwandelte, wiederhergestellt werden? Oder ist sie unwiderruflich verloren? Was steht ihr im Wege? Für ihren gegenwärtigen Verfall gibt es viele Ursachen, aber ich würde sagen, die wichtigste bestehe in der Selbstbeschränkung der Vernunft, die paradoxerweise auf ihren Erfolgen beruht: Die methodischen Gesetze, die ihren Erfolg gebracht haben, sind durch ihre Verallgemeinerung zu einem Gefängnis geworden. Die Naturwissenschaft, die die neue Welt gebildet hat, beruht auf einer philosophischen Grundlage, die letztlich bei Platon zu suchen ist.1 Kopernikus, Galilei, auch Newton waren Platoniker. Ihre Grundvoraussetzung war, daß die Welt mathematisch, geistig strukturiert ist und daß man sie von dieser Voraussetzung her enträtseln und im Experiment begreiflich wie nutzbar machen kann. Das Neue besteht in der Verbindung von Piatonismus und Empirie, von Idee und Experiment. Das Experiment beruht auf einer ihm vorangehenden Deutungsidee, die dann im praktischen Versuch abgetastet, korrigiert und für weitere Fragen eröffnet wird. Nur dieser mathematische Vorgriff gestattet dann Verallgemeinerungen, die Erkenntnis von Gesetzen, die zweckmäßiges Handeln ermöglichen. Alles naturwissenschaftliche Denken und alle technische Anwendung beruht auf der Voraussetzung, daß die Welt nach geistigen Gesetzen geordnet ist, Geist in sich trägt, der von unserem Geist nachgezeichnet werden kann. Aber zugleich ist seine Wahrnehmung an die Überprüfung durch die Erfahrung geknüpft. Jeder Gedanke, der über die Verknüpfung hinausgehen, Geist in sich selbst oder als der gegenwärtigen Welt vorausgehend ansehen würde, widerspricht der methodischen Zucht der Wissenschaft und ist daher als vorwissenschaftliche, unwissenschaftliche Denkweise in den Bann getan. Der Logos, die Weisheit, wovon die Griechen einerseits, Israel andererseits geredet haben, ist in die materielle Welt zurückgenommen und außerhalb ihrer nicht mehr diskutabel. (Fs) (notabene)

127a Innerhalb des spezifischen Weges der Naturwissenschaft ist diese Beschränkung richtig und notwendig. Wenn sie aber zur unüberschreitbaren Form menschlichen Denkens erklärt wird, wird die Grundlage der Wissenschaft selbst widersprüchlich. Denn sie behauptet und leugnet den Geist zugleich. Vor allem aber ist eine so sich beschränkende Vernunft eine amputierte Vernunft. Wenn der Mensch nach den wesentlichen Dingen seines Lebens, nach seinem Woher und Wohin, nach seinem Sollen und Dürfen, nach Leben und Sterben nicht mehr vernünftig fragen kann, sondern diese entscheidenden Probleme einem von der Vernunft abgetrennten Gefühl überlassen muß, dann erhebt er die Vernunft nicht, sondern entehrt sie. Die Desintegration des Menschen, die damit gesetzt ist, ruft die Pathologie der Religion und die Pathologie der Wissenschaft gleichermaßen hervor. Daß es heute in der Lösung der Religion aus der Verantwortung vor der Vernunft in wachsendem Maß pathologische Religionsformen gibt, ist offenkundig. Aber wenn wir an menschenverachtende wissenschaftliche Projekte wie Klonierung von Menschen, die Produktion von Föten - das heißt von Menschen - zum Zweck der Ausnutzung von Organen für die Herstellung von pharmazeutischen Produkten oder auch überhaupt zu wirtschaftlicher Verwertung denken oder auch wenn wir uns an die Instrumentalisierung der Wissenschaft zur Herstellung immer schrecklicherer Mittel der Zerstörung des Menschen und der Welt erinnern, dann ist offenkundig, daß es auch pathologisch gewordene Wissenschaft gibt: Wissenschaft wird pathologisch und lebensgefährlich, wo sie sich aus dem Zusammenhang der sittlichen Ordnung des Menschseins verabschiedet und nur noch autonom ihre eigenen Möglichkeiten als ihren einzig zulässigen Maßstab anerkennt. (Fs) (notabene)

128a Das bedeutet: Der Radius der Vernunft muß sich wieder weiten. Wir müssen aus dem selbstgebauten Gefängnis wieder herauskommen und andere Formen der Vergewisserung wieder erkennen, in denen der ganze Mensch im Spiel ist. Was wir brauchen, ist etwas Ähnliches wie das, was wir bei Sokrates finden: eine wartende Bereitschaft, die sich offenhält und ausschaut über sich hinaus. Diese Bereitschaft hat damals die beiden geistigen Welten - Athen und Jerusalem - zusammengeführt und eine neue Geschichtsstunde ermöglicht. Wir brauchen eine neue Bereitschaft des Suchens und auch die Demut, die sich finden läßt. Die Strenge der methodischen Disziplin darf nicht nur Wille zum Erfolg, sie muß Wille zur Wahrheit sein, Bereitschaft für sie. Die methodische Strenge, die sich immer wieder nötigen läßt, sich dem Gefundenen zu unterwerfen und nicht die eigenen Wünsche durchzusetzen, kann eine große Schule des Menschseins bilden und den Menschen wahrheitsfähig machen. Die Demut, die sich dem Gefundenen beugt und es nicht manipuliert, darf aber nicht zur falschen Bescheidenheit werden, die den Mut zur Wahrheit nimmt. Um so mehr muß sie sich der Sucht nach Macht entgegenstellen, die die Welt nur noch beherrschen und nicht mehr ihre eigene innere Logik wahrnehmen will, die unserem Herrschaftswillen Grenzen setzt. Die ökologischen Katastrophen könnten da zu einer Warnung werden, um zu sehen, wo Wissenschaft nicht mehr Dienst an der Wahrheit, sondern Zerstörung der Welt und des Menschen wird. Die Hörfähigkeit für solche Warnungen, der Wille, sich selbst reinigen zu lassen von der Wahrheit, ist unerläßlich. Ich würde hinzufügen: Die mystische Fähigkeit des menschlichen Geistes müßte wieder gestärkt werden. Die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, eine größere innere Offenheit, eine Zucht, die sich dem Lauten und Aufdringlichen entzieht, müssen uns wieder als Ziele erscheinen, die zu unseren Prioritäten gehören. Bei Paulus steht die Mahnung, der innere Mensch müsse stärker werden (Eph 3,16). Seien wir ehrlich: Es gibt heute eine Hypertrophie des äußeren Menschen und eine bedenkliche Schwächung seiner inneren Kraft. (Fs)

129a Um nicht allzu abstrakt zu bleiben, möchte ich das Gemeinte zum Schluß mit einem Bild verdeutlichen, das einer geschichtlichen Erfahrung entnommen ist. Papst Gregor der Große (+ 604) erzählt in seinen Dialogen von den letzten Lebenswochen des heiligen Benedikt. Der Ordensgründer hatte sich im oberen Stockwerk eines Turmes zum Schlafen gelegt, zu dem von unten her »eine gerade Stiege« hinaufführte. Er habe sich dann vor der Zeit des nächtlichen Gebetes erhoben, um Nachtwache zu halten. »Er stand am Fenster und flehte zum allmächtigen Gott. Während er mitten in die dunkle Nacht hinausschaute, sah er plötzlich ein Licht, das sich von oben her ergoß und alle Finsternis der Nacht vertrieb ... Etwas ganz Wunderbares ereignete sich in dieser Schau, wie er später selbst erzählte: Die ganze Welt wurde ihm vor Augen geführt, wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt.«2 Gegen diesen Bericht erhebt der Gesprächspartner Gregors Einspruch, mit derselben Frage, wie sie sich auch dem heutigen Hörer aufdrängt: »Was du gesagt hast, daß Benedikt die ganze Welt in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt vor Augen sehen durfte, das habe ich noch nie erlebt und kann es mir auch nicht vorstellen. Wie könnte denn jemals ein Mensch die Welt als Ganze schauen?« Der wesentliche Satz in der Antwort des Papstes lautet: »Wenn er ... die ganze Welt als Einheit vor sich sah, so wurde nicht Himmel und Erde eng, sondern die Seele des Schauenden weit ...«3

129b In dieser Darstellung sind alle Details bedeutsam: die Nacht, der Turm, die Stiege, das Obergemach, das Stehen, das Fenster. All das hat über die topographische und biographische Schilderung hinaus eine große symbolische Tiefe: Dieser Mensch ist in einem langen und mühsamen Weg, der in einer Höhle bei Subiaco begann, auf den Berg und schließlich auf den Turm gestiegen. Sein Leben war ein inneres Aufsteigen, Stufe um Stufe auf der »geraden Leiter«. Er ist im Turm angelangt und da noch einmal im »Obergemach«, das von der Apostelgeschichte an als Symbol der Sammlung nach oben, des Heraussteigens aus der Welt des Werkens und des Machens gilt. Er steht am Fenster - er hat den Ort des Ausblicks gesucht und gefunden, an dem die Mauer der Welt aufgeschlagen ist und der Blick ins Freie hinaus sich öffnet. Er steht. Das Stehen ist in der Mönchstradition Sinnbild des Menschen, der sich aus seiner Verkrümmung aufgerichtet hat, nicht mehr in sich verklemmt nur noch zur Erde schauen kann, sondern die aufrechte Haltung und so den freien Blick nach oben wiedergewonnen hat.4 So wird er zu einem Sehenden. Nicht die Welt wird eng, sondern seine Seele weit, da er nicht mehr vom einzelnen absorbiert ist, von den Bäumen, die den Wald nicht erkennen lassen, sondern den Blick aufs Ganze gewonnen hat. Besser: er kann das Ganze sehen, weil er aus der Höhe sieht, und die kann er finden, weil er innerlich weit geworden ist. Die alte Tradition vom Menschen als Mikrokosmos, der die ganze Welt umspannt, mag nachklingen. Aber das Wesentliche ist eben dies: Der Mensch muß aufsteigen lernen, er muß weit werden. Er muß am Fenster stehen. Er muß Ausschau halten. Und dann kann das Licht Gottes ihn anrühren, er kann ihn erkennen und von ihm her den wahren Über-Blick gewinnen. Die Fixierung auf die Erde darf nicht so ausschließlich werden, daß wir des Aufstiegs, der aufrechten Haltung unfähig werden. Die großen Menschen, die im geduldigen Aufsteigen und in den erlittenen Reinigungen ihres Lebens Sehende und darum Wegweiser der Jahrhunderte geworden sind, gehen uns auch heute an. Sie zeigen uns, wie auch in der Nacht Licht zu finden ist und wie wir den aus den Abgründen menschlicher Existenz aufsteigenden Drohungen begegnen und der Zukunft als Hoffende entgegengehen können. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - die wahre Religion? allgemeine Skepsis heute (Ernst Troeltsch); Augustinus, Varro: 3 Arten von Theologie; Verschmelzung: Aufklärung, Glaube

Kurzinhalt: Das Christentum, könnten wir vereinfachend sagen, überzeugte durch die Verbindung des Glaubens mit der Vernunft und durch die Ausrichtung des Handelns auf die Caritas, auf die liebende Fürsorge für die Leidenden, ...

Textausschnitt: 2. DAS CHRISTENTUM - DIE WAHRE RELIGION?

131a Am Anfang des dritten christlichen Jahrtausends befindet sich das Christentum gerade im Raum seiner ursprünglichen Ausdehnung, in Europa, in einer tiefgehenden Krise, die auf der Krise seines Wahrheitsanspruches beruht. Diese Krise hat eine doppelte Dimension: Zunächst stellt sich immer mehr die Frage, ob der Begriff Wahrheit sinnvollerweise überhaupt auf die Religion angewandt werden könne, mit anderen Worten, ob es dem Menschen gegeben ist, die eigentliche Wahrheit über Gott und die göttlichen Dinge zu erkennen. Der Mensch von heute findet sich viel eher in dem buddhistischen Gleichnis vom Elefanten und den Blinden wieder: Ein König in Nordindien habe einmal alle blinden Bewohner der Stadt an einem Ort versammelt. Darauf ließ er den Versammelten einen Elefanten vorführen. Die einen ließ er den Kopf betasten. Er sagte dabei: So ist ein Elefant. Andere durften das Ohr betasten oder den Stoßzahn, den Rüssel, den Rumpf, den Fuß, das Hinterteil, die Schwanzhaare. Darauf fragte der König die einzelnen: Wie ist ein Elefant? Und je nachdem welchen Teil sie betastet hatten, antworteten sie: Er ist wie ein geflochtener Korb ... Er ist wie ein Topf... Er ist wie eine Pflugstange ... Er ist wie ein Speicher ... Er ist wie ein Pfeiler ... Er ist wie ein Mörser ... Er ist wie ein Besen. Daraufhin - so sagt das Gleichnis - kamen sie in Streit, und mit dem Ruf »Der Elefant ist so und so« stürzten sie aufeinander und schlugen sich mit den Fäusten zum Ergötzen des Königs.1 Der Streit der Religionen erscheint den Menschen von heute wie dieser Streit der Blindgeborenen. Denn blindgeboren sind wir den Geheimnissen des Göttlichen gegenüber, so scheint es. Das Christentum befindet sich für das heutige Denken keineswegs in einer positiveren Perspektive als die anderen - im Gegenteil: Mit seinem Wahrheitsanspruch scheint es besonders blind zu sein gegenüber der Grenze all unserer Erkenntnis des Göttlichen, durch einen besonders törichten Fanatismus gekennzeichnet, der das in eigener Erfahrung betastete Stück unbelehrbar für das Ganze erklärt. (Fs)
132a Diese ganz generelle Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch in Sachen Religion ist dann zusätzlich untermauert durch die Fragen, die die moderne Wissenschaft den Ursprüngen und Inhalten des Christlichen gegenüber aufgerichtet hat: Durch die Evolutionstheorie scheint die Schöpfungslehre überholt, durch die Erkenntnisse über den Ursprung des Menschen die Erbsündenlehre; die kritische Exegese relativiert die Gestalt Jesu und setzt Fragezeichen gegenüber seinem Sohnesbewußtsein; der Ursprung der Kirche in Jesus erscheint zweifelhaft und so fort. Die philosophische Grundlage des Christentums ist durch das »Ende der Metaphysik« problematisch geworden, seine historischen Grundlagen stehen infolge der modernen historischen Methoden im Zwielicht. So liegt es auch von daher nahe, die christlichen Inhalte ins Symbolische zurückzunehmen, ihnen keine höhere Wahrheit zuzusprechen als den Mythen der Religionsgeschichte - sie als Weise der religiösen Erfahrung anzusehen, die sich demütig neben andere zu stellen hätte. In diesem Sinn kann man dann - wie es scheint - fortfahren, ein Christ zu bleiben; man bedient sich weiterhin der Ausdrucksformen des Christentums, deren Anspruch freilich von Grund auf verändert ist: Was als Wahrheit verpflichtende Kraft und verlässige Verheißung für den Menschen gewesen war, wird nun zu einer kulturellen Ausdrucksform des allgemeinen religiösen Empfindens, die uns durch die Zufälle unserer europäischen Herkunft nahegelegt ist. (Fs)

132b Ernst Troeltsch hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesen inneren Rückzug des Christentums aus seinem ursprünglich universalen Anspruch, der nur auf dem Anspruch der Wahrheit gründen konnte, philosophisch und theologisch formuliert. Er war zur Überzeugung von der Unübersteiglichkeit der Kulturen und von der Bindung der Religion an die Kulturen gekommen. Das Christentum ist dann nur die Europa zugewandte Seite des Antlitzes Gottes. Die »individuellen Besonderheiten der Kultur- und Rassenkreise« und die »Besonderheiten ihrer großen zusammenfassenden Religionsbildungen« bekommen den Rang einer letzten Instanz: »Wer also will hier wagen, wirklich entscheidende Wertvergleichungen zu machen. Das könnte nur Gott selbst, der diese Verschiedenheiten aus sich entlassen hat.«2 Ein Blindgeborener weiß, daß er nicht zum Blindsein geboren ist, und wird daher nicht aufhören, nach dem Warum seiner Blindheit und nach einem Weg aus ihr heraus zu fragen. Nur scheinbar hat sich der Mensch mit dem Verdikt abgefunden, dem Eigentlichen gegenüber, auf das es letztlich in unserem Leben ankommt, blindgeboren zu sein. Der titanische Versuch, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, aus unserem Leben und für unser Leben herauszuholen, was nur möglich ist, zeigt ebenso wie die Ausbrüche eines Kultes der Ekstase, der Selbstüberschreitung und der Selbstzerstörung, daß der Mensch sich bei diesem Urteil nicht bescheidet. Denn wenn er nicht weiß, woher er kommt und wozu er da ist, ist er dann nicht in seinem ganzen Sein ein fehlgeschlagenes Geschöpf? Der scheinbar gleichgültige Abschied von der Wahrheit über Gott und über das Wesentliche unseres Selbst, die scheinbare Zufriedenheit, sich damit nicht mehr befassen zu müssen, täuscht. Der Mensch kann sich nicht damit abfinden, für das Wesentliche ein Blindgeborener zu sein und zu bleiben. Der Abschied von der Wahrheit kann nie endgültig sein. (Fs)

133a Weil es so steht, muß die altmodische Frage nach der Wahrheit des Christentums neu gestellt werden, so überflüssig und unbeantwortbar sie vielen erscheinen mag. Aber wie? Zweifellos wird die christliche Theologie die einzelnen Instanzen, die gegen den Wahrheitsanspruch des Christentums im Bereich der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Geschichte aufgerichtet worden sind, sorgsam überprüfen, sich ihnen aussetzen müssen. Zum anderen aber muß sie auch versuchen, eine Gesamtvision der Frage nach dem wahren Wesen des Christentums, nach seiner Stellung in der Geschichte der Religionen und nach seinem Ort in der menschlichen Existenz zu gewinnen. Ich möchte einen Schritt in diese Richtung tun, indem ich die Frage beleuchte, wie in den Ursprungszeiten des Christentums dieses selbst seinen Anspruch im Kosmos der Religionen gesehen hat. (Fs)

133b Mir ist kein Text der alten Christenheit bekannt, der für diese Frage ähnlich erhellend wäre wie Augustins Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie des »gelehrtesten der Römer« Marcus Terrentius Varro (116-27 v- Chr.).3 Varro teilte das stoische Bild von Gott und Welt; er definiert Gott als »animam motu ac ratione mundum gubernantem« (als »Seele, die durch Bewegung und Vernunft die Welt lenkt«),4 anders gesagt: als Weltseele, die die Griechen Kosmos nennen: hunc ipsum mundum esse deum.5 Diese Weltseele freilich empfängt keinen Kult. Sie ist nicht Gegenstand von religio. Anders gesagt: Wahrheit und Religion, vernünftige Einsicht und kultische Ordnung liegen auf zwei völlig verschiedenen Ebenen. Die kultische Ordnung, die konkrete Welt der Religion gehört nicht der Ordnung der »res«, der Wirklichkeit als solcher, sondern derjenigen der »mores« - der Gewohnheiten - zu. Nicht die Götter haben den Staat geschaffen, sondern der Staat hat die Götter eingerichtet, deren Verehrung für die Ordnung des Staates und das rechte Verhalten der Bürger wesentlich ist. Religion ist ihrem Wesen nach ein politisches Phänomen. Varro unterscheidet demgemäß drei Arten von »Theologie«, wobei er unter Theologie die ratio versteht, quae de diis explicatur - das Verstehen und Erklären des Göttlichen, könnten wir übersetzen. Es sind dies die theologia mythica, die theologia civilis (politikE) und die theologia naturalis (physikE).6 Mit vier Bestimmungen klärt er dann näher, was unter diesen »Theologien« zu verstehen sei. Die erste Bestimmung bezieht sich auf die den drei Theologien zugeordneten Theologen: Die Theologen der mythischen Theologie sind die Dichter, weil sie Gesänge über die Götter verfaßt haben und so Gottessänger sind. Die Theologen der physischen (natürlichen) Theologie sind die Philosophen, das heißt die Gelehrten, die Denker, die über die Gewohnheit hinaus nach der Wirklichkeit, der Wahrheit fragen; die Theologen der Ziviltheologie sind die »Völker«, die sich bei ihrer Wahl nicht den Philosophen (nicht der Wahrheit), sondern den Dichtern angeschlossen hatten, ihren poetischen Visionen, ihren Bildern und Gestalten. Die zweite Bestimmung gilt dem Ort in der Wirklichkeit, dem die betreffende Theologie zugeordnet ist. Da entspricht der mythischen Theologie das Theater, das durchaus einen religiösen, kultischen Rang hatte; die Schauspiele sind nach der herrschenden Meinung auf Weisung der Götter in Rom eingerichtet worden.7 Der politischen Theologie entspricht die urbs, der Raum der natürlichen Theologie aber sei der Kosmos. Die dritte Bestimmung nennt den Inhalt der drei Theologien: Die mythische Theologie habe als Inhalt die von den Poeten geschaffenen Götterfabeln; die staatliche Theologie den Kult; die natürliche Theologie antworte auf die Frage, wer die Götter seien. Hier lohnt es sich, genauer zuzuhören: »Ob sie - mit Heraklit - aus Feuer sind oder - mit Pythagoras - aus Zahlen oder - mit Epikur - aus Atomen, und so noch anderes, was die Ohren leichter innerhalb der Schulwände ertragen können als draußen auf dem Marktplatz.«8 Hier wird ganz deutlich sichtbar, daß diese natürliche Theologie Entmythologisierung, oder besser gesagt: Aufklärung ist, die kritisch hinter den mythischen Schein blickt und ihn naturwissenschaftlich auflöst. Kult und Erkenntnis fallen auseinander. Der Kult bleibt als Sache der politischen Zweckmäßigkeit notwendig; die Erkenntnis wirkt religionszerstörend und sollte daher nicht auf den Marktplatz getragen werden. Schließlich ist da noch die vierte Bestimmung: Welche Art von Wirklichkeit ist Inhalt der einzelnen Theologien? Varros Antwort lautet: Die natürliche Theologie hat es mit der »Natur der Götter« zu tun (die es gar nicht gibt), die beiden anderen Theologien handeln von den divina instituta hominum - von den göttlichen Einrichtungen der Menschen.9 Damit aber ist letztlich der ganze Unterschied reduziert auf den von Physik im antiken Sinn und von Kultreligion andererseits. »Die civilische Theologie hat letztlich keinen Gott, nur >Religion<; die natürliche Theologie< hat keine Religion, sondern nur eine Gottheit.«10 Ja, sie kann gar keine Religion haben, denn ihr Gott ist religiös nicht ansprechbar: Feuer, Zahlen, Atome. So stehen religio (womit wesentlich Kult gemeint ist) und Wirklichkeit, die rationale Erkenntnis der Realität, als zwei getrennte Sphären nebeneinander. Die religio empfängt ihre Rechtfertigung nicht aus der Realität des Göttlichen, sondern aus ihrer politischen Funktion. Sie ist eine Einrichtung, deren der Staat für seine Existenz bedarf. Zweifellos stehen wir hier vor einer Spätphase von Religion, in der die Naivität des Religiösen zerbrochen und damit seine Auflösung eingeleitet ist. Aber die wesentliche Bindung der Religion an die staatliche Gemeinschaft reicht doch viel tiefer. Der Kult ist letztlich eine positive Ordnung, die nicht als solche an der Wahrheitsfrage gemessen werden darf. Während Varro in seiner Zeit, in der der politische Zweck der Religion noch stark genug war, um sie als solche zu rechtfertigen, noch eine eher krude Auffassung von Aufklärung und von Wahrheitslosigkeit des politisch motivierten Kultes vertreten konnte, wird recht bald der Neuplatonismus einen anderen Ausweg aus der Krise suchen, auf den dann Kaiser Julian bei seinem Versuch der Wiederherstellung der römischen Staatsreligion aufbaute: Was die Dichter sagen, sind Bilder, die man nicht physikalisch fassen darf; aber es sind doch Bilder, die das Unaussprechliche für alle jene Menschen ausdrücken, denen der Königsweg der mystischen Einung versagt ist. Obwohl die Bilder als solche nicht wahr sind, werden sie nun doch gerechtfertigt als Annäherungen an das, was immer unaussprechlich bleiben muß.11 (Fs)

136a Damit haben wir vorgegriffen. Denn die neuplatonische Position ist ihrerseits schon eine Reaktion auf die christliche Stellungnahme zur Frage nach der christlichen Kultbegründung und der ihr zugrunde liegenden Ortsbestimmung des Glaubens in der Typologie der Religionen. Kehren wir also zu Augustinus zurück. Wo siedelt er das Christentum in der varronischen Trias der Religionen an? Das Erstaunliche ist, daß er ohne jedes Zögern dem Christentum seinen Platz im Bereich der »physischen Theologie«, im Bereich der philosophischen Aufklärung zuweist.12 Er steht damit in vollkommener Kontinuität mit den frühesten Theologen des Christentums, den Apologeten des zweiten Jahrhunderts, ja mit der Ortsbestimmung des Christlichen durch Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefs, die ihrerseits auf der alttestamentlichen Weisheitstheologie beruht und über sie zurückreicht bis in die Verspottung der Götter in den Psalmen. Das Christentum hat nach dieser Sicht seine Vorläufer und seine innere Vorbereitung in der philosophischen Aufklärung, nicht in den Religionen. Das Christentum beruht nach Augustin und nach der für ihn maßgebenden biblischen Tradition nicht auf mythischen Bildern und Ahnungen, deren Rechtfertigung schließlich in ihrer politischen Nützlichkeit liegt, sondern es bezieht sich auf jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann. Anders gesagt: Augustinus identifiziert den biblischen Monotheismus mit den philosophischen Einsichten über den Grund der Welt, die sich in verschiedenen Variationen in der antiken Philosophie herausgebildet haben. Dies ist gemeint, wenn das Christentum seit der Areopagrede des heiligen Paulus mit dem Anspruch auftritt, die religio vera zu sein. Das will sagen: Der christliche Glaube beruht nicht auf Poesie und Politik, diesen beiden großen Quellen der Religion; er beruht auf Erkenntnis. Er verehrt jenes Sein, das allem Existierenden zugrunde liegt, den »wirklichen Gott«. Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler. Weil es so ist, weil das Christentum sich als Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit verstand, deswegen mußte es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden: nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt, nicht aus einer Art von religiösem Imperialismus heraus, sondern als Wahrheit, die den Schein überflüssig macht. Und eben deshalb muß es in der weiträumigen Toleranz der Polytheismen als unverträglich, ja als religionsfeindlich, als »Atheismus« erscheinen: Es hielt sich nicht an die Relativität und Austauschbarkeit der Bilder, es störte damit vor allem den politischen Nutzen der Religionen und gefährdete so die Grundlagen des Staates, indem es nicht Religion unter Religionen, sondern Sieg der Einsicht über die Welt der Religionen sein wollte. (Fs)

137a Andererseits hängt mit dieser Ortsbestimmung des Christlichen im Kosmos von Religion und Philosophie auch die Durchschlagskraft des Christentums zusammen. Schon vor dem Auftreten der christlichen Mission hatten gebildete Kreise der Antike in der Figur der »Gottesfürchtigen« den Anschluß an den jüdischen Glauben gesucht, der ihnen als religiöse Gestalt des philosophischen Monotheismus erschien und so zugleich den Forderungen der Vernunft wie dem religiösen Bedürfnis des Menschen entsprach, auf das die Philosophie allein nicht antworten konnte: Zu einem bloß gedachten Gott betet man nicht. Wenn aber der Gott, den das Denken findet, nun im Innern einer Religion als sprechender und handelnder Gott begegnet, dann sind Denken und Glauben versöhnt.13 Bei diesem Anschluß an die Synagoge blieb ein unbefriedigender Rest: Der Nichtjude konnte doch immer nur ein Außenstehender sein und nie ganz zugehörig werden. Diese Fessel war im Christentum durch die Gestalt Christi, wie Paulus sie auslegte, gesprengt. Nun erst war der religiöse Monotheismus des Judentums universal geworden und damit die Einheit von Denken und Glauben, die religio vera, allen zugänglich. Justin der Philosoph, Justin der Märtyrer (+ 167) kann als symptomatische Figur für diesen Zugang zum Christentum gelten: Er hatte alle Philosophien studiert und schließlich im Christentum die vera philosophia erkannt. Mit seiner Christwerdung hatte er seiner eigenen Überzeugung nach die Philosophie nicht abgelegt, sondern war erst ganz Philosoph geworden.14 Die Überzeugung, daß das Christentum Philosophie sei, die vollkommene, das heißt zur Wahrheit durchgestoßene Philosophie, blieb noch weit über die Väterzeit hinaus in Geltung. Sie ist im 14. Jahrhundert in der byzantinischen Theologie bei Nikolaus Kabasilas noch ganz selbstverständlich gegenwärtig.15 Freilich war Philosophie dabei nicht als akademische Disziplin rein theoretischer Natur verstanden, sondern vor allem auch praktisch als die Kunst des rechten Lebens und Sterbens, die jedoch nur im Licht der Wahrheit gelingen kann. (Fs)

138a Die Verschmelzung von Aufklärung und Glaube, die sich in der Entwicklung der christlichen Mission und im Aufbau der christlichen Theologie vollzog, brachte freilich auch einschneidende Korrekturen am philosophischen Gottesbild hervor, deren vor allem zwei zu nennen sind. Die erste besteht darin, daß der Gott, dem die Christen glauben und den sie verehren, im Unterschied zu den mythischen und politischen Göttern wirklich natura Deus (»von Natur aus«) ist; darin liegt die Deckung mit der philosophischen Aufklärung. Aber gleichzeitig gilt nun: non tamen omnis natura est Deus - nicht alles, was Natur ist, ist Gott.16 Gott ist seiner Natur nach Gott, aber nicht die Natur als solche ist Gott. Es geschieht eine Trennung zwischen der allumfassenden Natur und dem sie begründenden, ihr Ursprung gebenden Sein. So erst treten nun Physik und Metaphysik deutlich auseinander. Nur der wirkliche Gott, den wir denkend in der Natur erkennen können, wird angebetet. Aber er ist mehr als Natur. Er geht ihr voraus, und sie ist sein Geschöpf. Dieser Trennung von Natur und Gott tritt eine zweite, noch einschneidendere Erkenntnis zur Seite: Zu dem Gott, der Natur, Weltseele oder was auch immer war, hatte man nicht beten können; er war kein »religiöser Gott«, hatten wir festgestellt. Nun aber, so sagt schon der Glaube des Alten Testaments und erst recht der des Neuen Testaments, hat dieser Gott, der der Natur vorausgeht, sich den Menschen zugewandt. Eben weil er nicht bloß Natur ist, ist er kein schweigender Gott. Er ist in die Geschichte eingetreten, dem Menschen entgegengegangen, und so kann der Mensch nun ihm entgegengehen. Er kann sich Gott verbinden, weil Gott sich dem Menschen verbunden hat. Die beiden immer auseinanderfallenden Seiten der Religion, die ewig waltende Natur und die Heilsbedürftigkeit des leidenden und ringenden Menschen, sind einander verbunden. Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, daß die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt. Hier zeigt sich etwas Erstaunliches: Die beiden scheinbar konträren Grundprinzipien des Christentums: Bindung an die Metaphysik und Bindung an die Geschichte, bedingen sich gegenseitig und gehören zusammen; sie bilden zusammen die Apologie des Christentums als religio vera.17 (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - die wahre Religion?, Aufklärung; Evolution, Evolutionslehre; Porphyrius, Julian

Kurzinhalt: Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage her.

Textausschnitt: 141a Rückschauend können wir sagen, daß die Kraft des Christentums, die es zur Weltreligion werden ließ, in seiner Synthese von Vernunft, Glaube und Leben bestand; genau diese Synthese ist in dem Wort von der religio vera zusammenfassend ausgedrückt. Um so mehr drängt sich die Frage auf: Warum überzeugt diese Synthese heute nicht mehr? Warum gelten heute im Gegenteil Aufklärung und Christentum als einander widersprechend, ja, ausschließend? Was hat sich an der Aufklärung, was am Christentum geändert, daß es so ist? Damals hatte der Neuplatonismus, besonders Porphyrius, der christlichen Synthese eine andere Interpretation des Verhältnisses von Philosophie und Religion entgegengestellt, die sich als philosophische Neubegründung der Religion der Götter verstand. Auf ihr hatte Julian aufgebaut und war gescheitert. Aber heute scheint sich gerade diese andere Form, Religion und Aufklärung in Ausgleich zu bringen, als die dem modernen Bewußtsein angemessenere Weise von Religiosität durchzusetzen. Ihr erster Grundgedanke ist bei Porphyrius so formuliert: Latet omne verum - die Wahrheit ist verborgen.1 Erinnern wir uns an das Elefantengleichnis, das genau von diesem Gedanken bestimmt ist, in dem sich Buddhismus und Neuplatonismus begegnen. Demgemäß gibt es über die Wahrheit, über Gott nur Meinungen, keine Gewißheit. In der Krise Roms im späten vierten Jahrhundert hat der Senator Symmachus - Gegenbild nun zu Varros Religionstheorie - die neuplatonische Auffassung auf einfache und pragmatische Formeln gebracht, die wir in seiner 384 vor Kaiser Valentinian II. gehaltenen Rede zur Verteidigung des Heidentums und für die Wiederaufstellung der Göttin Victoria im römischen Senat finden können. Ich zitiere nur den entscheidenden und berühmt gewordenen Satz: »Das Gleiche ist es, was alle verehren, eines, das wir denken, dieselben Sterne schauen wir, der Himmel über uns ist eins, dieselbe Welt umfängt uns; was macht es aus, aufweiche Art von Klugheit der einzelne die Wahrheit sucht? Man kann nicht auf einem einzigen Weg zu einem so großen Geheimnis gelangen.«2 Genau dies sagt heute die Aufklärung: Die Wahrheit als solche kennen wir nicht; in unterschiedlichen Bildern meinen wir doch dasselbe. Ein so großes Geheimnis, das Göttliche kann nicht auf eine Gestalt festgelegt werden, die alle anderen ausschlösse - auf einen Weg, der alle verpflichtete. Der Wege sind viele, der Bilder viele, alle spiegeln etwas vom Ganzen, und keines ist selbst das Ganze. Dem gehört das Ethos der Toleranz zu, das in jedem ein Stück Wahrheit erkennt, das Eigene nicht höher stellt als das Fremde und sich friedvoll in die vielgestaltige Symphonie des ewig Unzugänglichen einfügt, das sich in Symbolen verhüllt, die doch unsere einzige Möglichkeit zu sein scheinen, irgendwie nach dem Göttlichen zu greifen. (Fs)

142a Ist demnach der Anspruch des Christentums, religio vera zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? Muß es von seinem Anspruch heruntersteigen und sich in die neuplatonische oder buddhistische oder hinduistische Sicht von Wahrheit und Symbol einfügen, sich - wie Troeltsch es vorgeschlagen hatte - damit bescheiden, die den Europäern zugewandte Seite des Antlitzes Gottes zu zeigen? Muß es vielleicht sogar einen Schritt weiter gehen als Troeltsch, der noch meinte, das Christentum sei die für Europa angemessene Religion, während doch heute gerade Europa an dieser Angemessenheit zweifelt? Dies ist die eigentliche Frage, der sich heute Kirche und Theologie zu stellen haben. Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage her. Niemand wird erwarten, daß diese grundsätzliche Herausforderung beim Übergang vom zweiten zum dritten christlichen Jahrtausend an dieser Stelle auch nur von ferne abschließend beantwortet wird. Sie kann überhaupt nicht rein theoretisch beantwortet werden, wie denn Religion als das Letztverhalten des Menschen nie nur Theorie ist. Sie verlangt jenes Zusammenspiel von Einsicht und Tun, das die Überzeugungskraft des Christentums der Väter begründete. (Fs) (notabene)

143a Dies bedeutet beileibe nicht, daß man sich dem intellektuellen Anspruch des Problems mit dem Verweis auf den notwendigen Praxisbezug entziehen dürfte. Ich versuche zum Schluß nur einen Ausblick, der die Richtung zeigen könnte. Wir hatten gesehen, daß die ursprüngliche, freilich nie ganz unbestrittene Beziehungseinheit zwischen Aufklärung und Glaube, die schließlich bei Thomas von Aquin auf eine systematische Form gebracht worden war, weniger durch die Entwicklung des Glaubens als vielmehr durch die neuen Schritte der Aufklärung zerrissen worden ist. Als Stationen dieses Auseinandertretens könnte man Descartes, Spinoza, Kant nennen. Der Versuch einer umfassenden neuen Synthese bei Hegel gibt nicht dem Glauben seinen philosophischen Ort zurück, sondern versucht, ihn ganz in Vernunft umzusetzen und als Glauben aufzuheben. Dieser Absolutheit des Geistes stellt Marx die Einzigkeit der Materie entgegen; Philosophie soll nun ganz auf exakte Wissenschaft zurückgeführt werden. Nur noch exakte wissenschaftliche Erkenntnis ist überhaupt Erkenntnis. Der Gedanke an das Göttliche ist damit abgedankt. Die Ankündigung von Auguste Comte, eines Tages werde es eine Physik des Menschen geben und die bisher der Metaphysik überlassenen großen Fragen würden in Zukunft genauso »positiv« zu behandeln sein wie alles, was jetzt schon positive Wissenschaft ist, hat im 20. Jahrhundert in den Humanwissenschaften ein beeindruckendes Echo hinterlassen. Die durch das christliche Denken vollzogene Trennung von Physik und Metaphysik wird immer mehr zurückgenommen. Alles soll wieder »Physik« werden.3 Immer mehr hat sich die Evolutionstheorie als der Weg herauskristallisiert, um Metaphysik endlich verschwinden, die »Hypothese Gott« (Laplace) überflüssig werden zu lassen und eine streng »wissenschaftliche« Erklärung der Welt zu formulieren. Eine umfassend das Ganze alles Wirklichen erklärende Evolutionstheorie ist zu einer Art »erster Philosophie« geworden, die sozusagen die eigentliche Grundlage für das aufgeklärte Verständnis der Welt darstellt.4 Jeder Versuch, andere als die in einer solchen »positiven« Theorie erarbeiteten Ursachen ins Spiel zu bringen, jeder Versuch von »Metaphysik« muß als Rückfall hinter die Aufklärung, als Ausstieg aus dem Universalanspruch der Wissenschaft erscheinen. Damit muß der christliche Gottesgedanke als unwissenschaftlich gelten. Ihm entspricht keine theologia physica (theologia physikE) mehr: Die einzige theologia naturalis ist in solcher Sicht die Evolutionslehre, und die kennt eben keinen Gott, weder einen Schöpfer im Sinn des Christentums (des Judentums und des Islam), noch auch eine Weltseele oder innere Triebkraft im Sinn der Stoa. Allenfalls könnte man im Sinn des Buddhismus diese ganze Welt als Schein und das Nichts als das eigentlich Wirkliche betrachten und in diesem Sinn mystische Religionsformen rechtfertigen, die wenigstens mit der Aufklärung nicht direkt konkurrieren. (Fs)

144a Ist damit das letzte Wort gesprochen, sind Vernunft und Christentum demnach definitiv voneinander getrennt? Jedenfalls führt an dem Disput über die Reichweite der Evolutionslehre als erster Philosophie und über die Ausschließlichkeit positiver Methode als einziger Weise von Wissenschaft und von Rationalität kein Weg vorbei. Dieser Disput muß daher von beiden Seiten sachlich und hörbereit in Angriff genommen werden, was bisher nur in geringem Maß geschehen ist. Niemand wird die wissenschaftlichen Beweise für die mikroevolutiven Prozesse ernstlich in Zweifel ziehen können. R. Junker und S. Scherer sagen dazu in ihrem »kritischen Lesebuch« über die Evolution: »Solche Vorgänge (mikroevolutive Prozesse) sind vielfach aus natürlichen Variations- und Ausbildungsprozessen bekannt. Ihre Erforschung durch die Evolutionsbiologie ergab bedeutende Einsichten in die genial erscheinende Anpassungsfähigkeit lebender Systeme.«5 Sie sagen dementsprechend, man könne Ursprungsforschung mit Fug und Recht als die Königsdisziplin der Biologie bezeichnen. Nicht darauf bezieht sich daher die Frage, die ein Gläubiger der modernen Vernunft gegenüber stellen wird, sondern auf die Ausdehnung zu einer philosophia universalis, die zur Gesamterklärung des Wirklichen werden will und keine andere Ebene des Denkens mehr übriglassen möchte. Innerhalb der Evolutionslehre selbst deutet sich das Problem an beim Übergang von der Mikro- zur Makroevolution, zu dem Szathmary und Maynard Smith, beide überzeugte Anhänger einer umfassenden Evolutionstheorie, immerhin erklären: »Es gibt keinen theoretischen Grund, der erwarten lassen würde, daß evolutionäre Linien mit der Zeit an Komplexität zunehmen; es gibt auch keine empirischen Belege, daß dies geschieht.«6

145a Die Frage, die hier zu stellen ist, reicht freilich tiefer: Es geht darum, ob die Evolutionslehre als Universaltheorie alles Wirklichen auftreten darf, über die hinaus weitere Fragen nach Ursprung und Wesen der Dinge nicht mehr zulässig und auch nicht mehr nötig sind oder ob solche Letztfragen nicht doch den Bereich des rein naturwissenschaftlich Erforschbaren überschreiten. Ich möchte die Frage noch konkreter stellen. Ist alles gesagt mit einem Typus von Antworten, wie wir ihn etwa bei Popper in folgender Formulierung finden: »Das Leben, so wie wir es kennen, besteht aus physikalischen >Körpern< (besser aus Prozessen und Strukturen), die Probleme lösen. Das haben die verschiedenen Arten durch die natürliche Auslese >gelernt<, das heißt, durch die Methode von Reproduktion plus Variation; eine Methode, die ihrerseits nach der gleichen Methode erlernt wurde. Das ist ein Regreß, aber er ist nicht unendlich ...«?7 Ich glaube nicht. Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen läßt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (oder mit Popper im Anschluß an Butler aus Luck und Cunning8 [glücklicher Zufall und Voraussicht]), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat Verbum - am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr, wie schon gesagt, durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Das von Popper vorgeführte Erklärungsmodell, das in anderen Darstellungen der »ersten Philosophie« in verschiedenen Variationen wiederkehrt, zeigt, daß die Vernunft gar nicht anders kann, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken (Probleme lösen, Methode erlernen!), womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute »Aufklärung«, und ich denke, daß eine Aufklärung, die diese Option abstreift, allem Anschein zuwider nicht eine Evolution, sondern eine Involution der Aufklärung bedeuten müßte. (Fs)

146a Wir hatten gesehen, daß in der Konzeption der frühen Christenheit die Begriffe von Natur, Mensch, Gott, Ethos und Religion unlösbar ineinander verknotet waren und daß zur Einsichtigkeit des Christentums in der Krise der Götter und in der Krise der antiken Aufklärung gerade diese Verknüpfung beigetragen hatte. Die Orientierung der Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklichkeit überhaupt, das Ethos als Teil dieser Vision und seine konkrete Anwendung unter dem Primat der Liebe verbanden sich miteinander. Primat des Logos und Primat der Liebe erwiesen sich als identisch. Der Logos erschien nicht nur als mathematische Vernunft auf dem Grund aller Dinge, sondern als schöpferische Liebe bis zu dem Punkt hin, daß er Mit-Leiden mit dem Geschöpf wird. Der kosmische Aspekt der Religion, die den Schöpfer in der Macht des Seins verehrt, und ihr existentieller Aspekt, die Erlösungsfrage, traten ineinander und wurden ein Einziges. Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur philosophia universalis auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich. (Fs)

147a Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muß sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute - letztlich wie damals - im Tiefsten darin bestehen müssen, daß Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen in eins gehen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Fides et Ratio; Wort und Wahrheit; C. S. Lewis (Screwtape); Flores d'Arcais, U. Eco; linguistische Wende; Platons Phaidros (Thot); Herrschaft des Kontingenten; Verweigerung der Frage nach Wahrheit

Kurzinhalt: Solche Behauptungen setzen voraus, daß es über die Entscheidungen einer Mehrheit hinaus keine andere Instanz mehr geben könne. Die zufällige Mehrheit wird zum Absolutum. Denn das Absolute, Unhintergehbare gibt es nun doch wieder.

Textausschnitt: 149a Wie unmodern es heute ist, nach der Wahrheit zu fragen, hat der englische Schriftsteller und Philosoph C. S. Lewis geistreich in einem zuerst in den 1940er Jahren erschienenen Erfolgsbuch »The Screwtape Letters« dargestellt. Das Buch besteht aus fiktiven Briefen eines höheren Teufels namens Screwtape, der einem Anfänger im Werk der Verführung des Menschen darüber Anweisungen erteilt, wie er recht zu verfahren habe. Der kleine Dämon hatte seinem Vorgesetzten gegenüber Sorge darüber geäußert, daß gerade besonders intelligente Menschen die Weisheitsbücher der Alten läsen und damit auf die Spur der Wahrheit kommen könnten. Screwtape beruhigt ihn mit dem Hinweis, der historische Standpunkt, zu welchem die Gelehrten der westlichen Welt durch die höllischen Geister glücklicherweise überredet worden seien, bedeute eben dies, »daß die einzige Frage, die man mit Sicherheit niemals stellen werde, die nach der Wahrheit des Gelesenen sei; stattdessen frage man nach Beeinflussungen und Abhängigkeiten, nach der Entwicklung des betreffenden Schriftstellers, nach seiner Wirkungsgeschichte und so fort.«1 Josef Pieper, der in seinem Traktat über die Interpretation diese Passage aus C. S. Lewis aufgenommen hat, weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß die in kommunistisch beherrschten Ländern veranstalteten Ausgaben etwa von Platon oder Dante den abgedruckten Werken jeweils eine Einleitung voranstellten, die dem Leser ein »historisches« Verständnis vermitteln und so die Wahrheitsfrage ausschließen will.2 Eine solcher Art betriebene Wissenschaftlichkeit wird zur Immunisierung gegenüber der Wahrheit. Die Frage, ob und wie weit das vom Autor Ausgesprochene wahr sei, wäre eine unwissenschaftliche Frage; sie würde ja aus dem Bereich des Belegbaren und Nachweisbaren herausführen, zurückfallen in die Naivität der vorkritischen Welt. Auf diese Weise wird auch die Lektüre der Bibel neutralisiert: Wir können erklären, wann und unter welchen Bedingungen eine Aussage entstanden ist, und haben sie so ins Historische eingeordnet, das uns letztlich nicht betrifft. Hinter dieser Art »historischer Interpretation« steht eine Philosophie, eine grundsätzliche Haltung gegenüber der Wirklichkeit, die uns sagt: Es ist sinnlos, nach dem zu fragen, was ist; wir können nur fragen nach dem, was wir mit den Dingen zu tun vermögen. Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Praxis, um die Beherrschung der Dinge zu unserem Nutzen. Solcher scheinbar einleuchtender Beschränkung des menschlichen Denkens gegenüber erhebt sich freilich die Frage: Was nützt uns eigentlich? Und wozu nützt es uns? Wozu sind wir selber da? Dem tiefer Blickenden wird in dieser modernen Grundhaltung eine falsche Demut und ein falscher Hochmut zugleich sichtbar: die falsche Demut, die dem Menschen die Wahrheitsfähigkeit abspricht, und der falsche Hochmut, mit dem er sich über die Dinge, über die Wahrheit selber stellt, indem er die Ausweitung seiner Macht, die Herrschaft über die Dinge zum Ziel all seines Denkens erhebt. (Fs) (notabene)

150a Was bei Lewis in der Form der Ironie erscheint, können wir heute in der Literaturwissenschaft wissenschaftlich dargestellt finden. In ihr wird ganz offen die Frage nach der Wahrheit als unwissenschaftlich ausgeschieden. Der deutsche Exeget Marius Reiser hat kürzlich auf das Wort von Umberto Eco in seinem Erfolgsroman »Der Name der Rose« verwiesen, wo er sagt: »... Die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien«.3 Die wesentliche Grundlage für diese unmißverständliche Absage an Wahrheit besteht in dem, was man heute die »linguistische Wende« nennt: Hinter die Sprache und ihre Bilder könne man nicht zurückgehen, die Vernunft sei sprachlich bedingt und sprachlich gebunden.4 Schon im Jahr 1901 hatte F. Mauthner den Satz geprägt: »Was man aber das Denken nennt, das ist nur eitel Sprache«.5 M. Reiser spricht in diesem Zusammenhang von der »Preisgabe der Überzeugung«, man könne sich »mit sprachlichen Mitteln auf Außersprachliches« beziehen.6 Der bedeutende protestantische Exeget U. Luz stellt - ganz im Sinn dessen, was wir eingangs von Screwtape gehört hatten - fest, daß die historische Kritik in der Moderne der Wahrheitsfrage gegenüber abgedankt habe. Er glaubt sich verpflichtet, diese Kapitulation anzunehmen und zuzugeben, daß heute Wahrheit jenseits der Texte nicht mehr aufzufinden sei, sondern nur konkurrierende Wahrheitssetzungen, Wahrheitsangebote, die man auf dem Marktplatz der Weltanschauungen in öffentlichem Diskurs zu vertreten habe.7 (Fs) (notabene)

151a Wer diese Anschauungen bedenkt, wird sich fast unweigerlich an einen tiefgründigen Passus aus Platons Phaidros erinnert fühlen. Sokrates erzählt da dem Phaidros eine Geschichte, die er von den Alten vernommen habe, die um das Wahre wußten. Zu dem ägyptischen König Thamus von Theben sei einmal Thot gekommen, der »Vater der Buchstaben« und der »Gott der Zeit«. Er habe den Herrscher über verschiedene von ihm erfundene Künste und so besonders auch über die von ihm erdachte Kunst des Schreibens belehrt. Seine Erfindung rühmend habe er dem König gesagt: »Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen; denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden.« Aber der König läßt sich nicht beeindrucken. Er sieht das Gegenteil als Folge der Schriftkunde voraus: »Vergessenheit wird dieses in den Seelen ... herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen ... nicht von innen her, aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Merken hast Du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst Du Deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn Vielhörer sind sie nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtwisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie scheinweise sind, nicht weise.«8 Wer heute daran denkt, wie Fernsehprogramme aus aller Welt den Menschen mit Informationen überfluten und ihn so scheinwissend machen; wer an die weiten Möglichkeiten von Computer und Internet denkt, die dem Fragenden zum Beispiel gestatten, sofort alle Texte eines Kirchenvaters zu einem Wort zu Händen zu haben, ohne doch in sein Denken eingedrungen zu sein, der wird diese Warnungen nicht für übertrieben halten. Platon lehnt nicht die Schrift als solche ab, so wie wir die neuen Möglichkeiten der Information nicht ablehnen, sondern von ihnen dankbar Gebrauch machen; aber er stellt eine Warntafel auf, deren Ernst durch die Folgen der linguistischen Wende wie durch viele uns allen geläufige Umstände täglich belegt wird. H. Schade zeigt den Kern dessen auf, was Platon uns mit diesem Text heute zu sagen hat: »Es ist das Überhandnehmen einer philologischen Methode und der damit einhergehende Realitätsverlust, wovor Platon warnt.«9

152a Wo die Schrift, das Geschriebene zur Barriere gegenüber dem Inhalt wird, ist sie selbst zur Antikunst geworden, die den Menschen nicht weiser macht, sondern ihn in eine kranke Scheinweisheit verbannt. A. Kreiner bemerkt daher der linguistischen Wende gegenüber mit Recht: »... die Preisgabe der Überzeugung, sich mit sprachlichen Mitteln auf außersprachliche Inhalte zu beziehen, kommt der Preisgabe eines irgendwie noch sinnvollen Diskurses gleich.«10 Zur selben Frage bemerkt der Papst in der Enzyklika folgendes: »Die Auslegung dieses Wortes (= des Wortes Gottes) darf uns nicht nur von einer Interpretation auf die andere verweisen, ohne uns je dahin zu bringen, in ihm eine schlichtweg wahre Aussage zu entnehmen.«11 Der Mensch ist nicht im Spiegelkabinett der Interpretationen gefangen; er kann und muß den Durchbruch zum Wirklichen suchen, das hinter den Wörtern steht und sich ihm in den Wörtern und durch sie zeigt. (Fs)

153a Hier sind wir am Kernpunkt der Auseinandersetzung des christlichen Glaubens mit einem bestimmten Typus von moderner Kultur angelangt, die sich gern als die moderne Kultur überhaupt ausgeben möchte, aber - gottlob - doch nur eine Spielart davon ist. Das wird zum Beispiel sehr augenfällig in der Kritik, die der italienische Philosoph Paolo Flores d'Arcais gegenüber der Enzyklika geübt hat. Eben weil die Enzyklika auf der Notwendigkeit der Wahrheitsfrage besteht, erklärt er, »die offizielle katholische Kultur (eben die der Enzyklika) habe der >Kultur tout court< nichts mehr zu sagen ...«12 Das heißt aber auch: Die Wahrheitsfrage steht außerhalb der »Kultur tout court«. Und ist diese »Kultur tout court« dann nicht eher eine Antikultur? Und ist ihre Anmaßung, die Kultur überhaupt zu sein, dann nicht eine arrogante, menschenverachtende Anmaßung?

153b Daß es genau um diesen Punkt geht, wird sichtbar, wenn Flores d'Arcais der Enzyklika des Papstes »mörderische Konsequenzen für die Demokratie« vorwirft und seine Lehre mit dem »fundamentalistischen« Typus von Islam identifiziert. Grund dafür ist ihm der Hinweis darauf, daß der Papst Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie erlauben, als bar authentischer Rechtsgeltung bezeichnet hat.13 Wer sich so gegen ein gewähltes Parlament stelle und mit kirchlichen Ansprüchen weltliche Macht auszuüben versuche, zeige, daß seinem Denken das Wasserzeichen eines katholischen Dogmatismus wesentlich eingeprägt bleibe. Solche Behauptungen setzen voraus, daß es über die Entscheidungen einer Mehrheit hinaus keine andere Instanz mehr geben könne. Die zufällige Mehrheit wird zum Absolutum. Denn das Absolute, Unhintergehbare gibt es nun doch wieder. Wir sind der Herrschaft des Positivismus und der Verabsolutierung des Zufälligen, ja Manipulierbaren ausgesetzt. Wenn der Mensch von der Wahrheit ausgeschlossen wird, dann kann nur noch das Zufällige, das Willkürliche über ihn herrschen. Deswegen ist es nicht »fundamentalistisch«, sondern eine Pflicht der Menschlichkeit, den Menschen gegen die Diktatur des absolut gewordenen Zufälligen zu schützen und ihm seine Würde zurückzugeben, die gerade darin besteht, daß keine menschliche Instanz letztlich über ihn herrschen kann, weil er auf die Wahrheit selbst hin geöffnet ist. Die Enzyklika ist gerade durch ihr Insistieren auf der Wahrheitsfähigkeit eine höchst notwendige Apologie der Größe des Menschen gegen das, was sich als »die Kultur tout court« ausgeben möchte. Natürlich ist es schwer, bei dem Methodenkanon, der sich heute als »Wasserzeichen der Wissenschaftlichkeit« durchgesetzt hat, der Wahrheitsfrage wieder Eintritt zu verschaffen in die öffentliche Debatte. Ein grundlegender Streit über das Wesen von Wissenschaft, über Wahrheit und Methode, über den Auftrag der Philosophie und ihre möglichen Wege ist daher notwendig. Der Papst hat es nicht als seine Aufgabe angesehen, in der Enzyklika die ganz praktische Frage anzugehen, ob und wie Wahrheit wieder »wissenschaftlich« werden kann. Aber er zeigt, warum wir uns dieser Aufgabe stellen müssen. Er wollte nicht selbst die Aufgabe der Philosophen leisten, aber er hat die Aufgabe des warnenden Einspruches wahrgenommen, der sich einer selbstzerstörerischen Tendenz der »Kultur tout court« entgegenstellt. Gerade dieser warnende Einspruch ist ein echt philosophischer Akt, setzt den sokratischen Ursprung der Philosophie gegenwärtig und beweist damit die philosophische Potenz, die im biblischen Glauben liegt. Dem Wesen der Philosophie widerspricht ein Typus von Wissenschaftlichkeit, der ihr die Wahrheitsfrage verbietet oder sie unmöglich macht. Solche Selbstverschließung, solche Verkleinerung der Vernunft kann nicht der Maßstab der Philosophie sein, und die Wissenschaft als ganze darf nicht mit der Verunmöglichung der eigentlichen Fragen des Menschen enden, ohne die sie selbst eine leere und letztlich gefahrliche Geschäftigkeit bleiben würde. Aufgabe der Philosophie kann es nicht sein, sich einem Methodenkanon zu unterwerfen, der in einzelnen Sektoren des Denkens sein Recht hat. Ihre Aufgabe muß es gerade sein, Wissenschaftlichkeit als ganze zu bedenken, kritisch ihr Wesen zu erfassen und sie zugleich in einer rational verantwortbaren Weise zu überschreiten auf das, was ihr überhaupt Sinn gibt. Die Philosophie muß immer nach dem Menschen selbst fragen, und sie muß daher immer nach Leben und Tod, nach Gott und Ewigkeit suchen. Sie wird sich dazu heute wohl zuallererst einer Aporie jener Art von Wissenschaftlichkeit bedienen müssen, die den Menschen von solchen Fragen abschneidet und von diesen Aporien her, die unsere Gesellschaft uns genau vor Augen führt, den Weg auf das Notwendige und Not Wendende wieder zu öffnen versuchen. In der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie hat es an solchen Versuchen nie gefehlt, und auch gegenwärtig gibt es genug ermutigende Ansätze, um die Tür zur Frage nach der Wahrheit, die Tür über die in sich selbst kreisende Sprache hinaus, wieder aufzutun.14 In diesem Sinn ist der Anruf der Enzyklika zweifellos kulturkritisch unserer gegenwärtigen kulturellen Verfassung gegenüber, aber zugleich in einer tiefen Einheit mit wesentlichen Elementen des geistigen Ringens der Neuzeit. Anachronistisch ist die Zuversicht, Wahrheit zu suchen und zu finden, nie: Sie ist gerade das, was den Menschen in seiner Würde erhält, die Partikularismen aufbricht und Menschen über Kulturgrenzen hinaus von ihrer gemeinsamen Würde her zueinander-führt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Fides et Ratio; Kultur und Wahrheit; Kriterien, Maßstäbe für die Begegnung mit Kulturen: Universalität, Treue zum Erbe, keine Einkapselung

Kurzinhalt: ... das erste Kriterium von selbst: Es besteht in der »Universalität des menschlichen Geistes, dessen Grundbedürfnisse in den verschiedenen Kulturen identisch sind«.1 Daraus folgt zugleich ein zweites Kriterium:

Textausschnitt: 157a Eine Enzyklika, die ganz dem Abenteuer der Wahrheit zugeordnet ist, mußte daher auch die Frage nach Wahrheit und Kultur stellen. Sie mußte fragen, ob es überhaupt eine Kommunion der Kulturen in der einen Wahrheit geben kann - ob Wahrheit sich über ihre kulturellen Gestalten hinweg für alle Menschen auszusagen vermag oder ob sie letztlich immer nur asymptotisch hinter unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen kulturellen Formen zu ahnen ist. (Fs)

157b Einem statischen Begriff von Kultur, der feste Kulturgestalten voraussetzt, die letztlich konstant bleiben und nur nebeneinander stehen, nicht ineinander übergehen können, hat der Papst in der Enzyklika ein dynamisches und kommunikatives Verständnis von Kultur entgegengestellt. Er unterstreicht, daß die Kulturen, wenn sie »tief im Humanen verwurzelt sind ..., das Zeugnis der typischen Öffnung des Menschen für das Universale und für die Transzendenz in sich«1 tragen. Deswegen sind Kulturen als Ausdruck des einen Wesens Mensch gezeichnet von der Dynamik des Menschen, die alle Grenzen überschreitet. Deshalb sind Kulturen nicht ein für alle Mal auf eine Gestalt fixiert; zu ihnen gehört die Fähigkeit zum Voranschreiten und zur Umformung, freilich auch die Gefahr des Verfalls. Sie sind auf Begegnung und gegenseitige Befruchtung hin angelegt. Weil die innere Offenheit des Menschen für Gott sie um so mehr prägt, je größer und je reiner sie sind, deshalb ist ihnen die innere Bereitschaft für die Offenbarung Gottes eingeschrieben. Die Offenbarung ist ihnen nichts Fremdes, sondern sie antwortet auf eine innere Erwartung in den Kulturen selbst. Theodor Haecker hat in diesem Zusammenhang vom adventlichen Charakter der vorchristlichen Kulturen gesprochen,2 und inzwischen haben vielfältige religionsgeschichtliche Untersuchungen dieses Zugehen der Kulturen auf den Logos Gottes, der in Jesus Christus Fleisch geworden ist, auch ganz anschaulich zeigen können.3 Der Papst greift in diesem Zusammenhang die Völkertafel des Pfingstberichtes der Apostelgeschichte (2,7-11) auf, die uns davon erzählt, wie durch alle Sprachen hindurch und in allen Sprachen, das heißt in allen Kulturen, die sich in der Sprache darstellen, das Zeugnis für Jesus Christus vernehmbar wird. In ihnen allen wird Menschenwort Träger von Gottes eigenem Sprechen, von seinem eigenen Logos. Die Enzyklika sagt dazu: »Die Verkündigung des Evangeliums in den verschiedenen Kulturen verlangt von den einzelnen Empfängern das Festhalten am Glauben; sie hindert die Empfänger aber nicht daran, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Das erzeugt keine Spaltung, weil sich das Volk der Getauften durch eine Universalität auszeichnet, die jede Kultur aufnehmen kann ...«4

159a Der Papst entwickelt von da aus exemplarisch für das generelle Verhältnis des christlichen Glaubens zu vorchristlichen Kulturen am Beispiel der indischen Kultur Maßstäbe, die bei der Begegnung dieser Kulturen mit dem Glauben zu beachten sind. Er verweist zunächst ganz kurz auf den großen geistigen Aufschwung des indischen Denkens, das um die Freiheit des Geistes von den raumzeitlichen Bedingungen ringt und so die metaphysische Öffnung des Menschen praktiziert, die in bedeutenden philosophischen Systemen dann auch denkerisch gestaltet worden ist.5 Mit diesen Hinweisen wird die universale Tendenz großer Kulturen, ihr Übersteigen von Raum und Zeit und so auch ihr Vorstoßen auf das Sein des Menschen und auf seine höchsten Möglichkeiten deutlich. Darin besteht die Dialogfähigkeit der Kulturen untereinander, in diesem Fall zwischen indischer Kultur und Kulturen, die auf dem Boden des christlichen Glaubens gewachsen sind. So ergibt sich gleichsam aus der inneren Berührung mit der indischen Kultur das erste Kriterium von selbst: Es besteht in der »Universalität des menschlichen Geistes, dessen Grundbedürfnisse in den verschiedenen Kulturen identisch sind«.6 Daraus folgt zugleich ein zweites Kriterium: »Wenn die Kirche mit großen Kulturen in Kontakt tritt, mit denen sie vorher noch nicht in Berührung gekommen war, darf sie sich nicht von dem trennen, was sie sich durch die Inkulturation ins griechisch-lateinische Denken angeeignet hat. Der Verzicht auf ein solches Erbe würde dem Vorsehungsplan Gottes zuwiderlaufen ...«7 Schließlich nennt die Enzyklika einen dritten Maßstab, der aus den bisherigen Überlegungen über das Wesen von Kultur folgt: Man muß sich davor hüten, »den legitimen Anspruch des indischen Denkens auf Besonderheit und Originalität mit der Vorstellung zu verwechseln, eine kulturelle Tradition müsse sich in ihr Verschiedensein einkapseln und sich in ihrer Gegensätzlichkeit zu den anderen Traditionen behaupten; dies würde dem Wesen des menschlichen Geistes widersprechen.«8

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Fides et Ratio; Bibel: Überschreitung der Kulturen; Eurozentrismus; Israel: Kampf gegen das Eigenen; Einzigartigkeit: Dynamik der Selbstüberschreitung

Kurzinhalt: Die Bibel ist nicht einfach Ausdruck der Kultur des Volkes Israel, sondern sie liegt ständig im Streit mit dem ganz natürlichen Versuch dieses Volkes, einfach es selbst zu sein, sich in seiner eigenen Kultur einzuhausen.

Textausschnitt: 160a Wenn der Papst auf der Unverzichtbarkeit des einmal errungenen kulturellen Erbes insistiert, das zu einem Vehikel für die gemeinsame Wahrheit Gottes und des Menschen selbst geworden ist, dann erhebt sich natürlich doch die Frage, ob damit nicht ein Eurozentrismus des Glaubens kanonisiert wird, der auch dadurch nicht aufgehoben scheint, daß ja in der weitergehenden Geschichte des Glaubens auch neues Erbe in die beständige und alle angehende Identität des Glaubens eintreten kann und schon eingetreten ist. Die Frage bleibt unausweichlich: Wie griechisch und wie lateinisch ist der Glaube eigentlich, der im übrigen nicht in der griechischen und lateinischen, sondern in der semitischen Welt des Vorderen Orients entstanden ist, in der sich immer schon Asien, Afrika und Europa berührt haben und berühren? Die Enzyklika nimmt besonders in ihrem zweiten Kapitel über die Entfaltung philosophischen Denkens im Inneren der Bibel und im vierten Kapitel bei der Darstellung der schicksalhaften Begegnung dieser im Glauben gewachsenen Weisheit der Vernunft mit der griechischen Weisheit der Philosophie Stellung zu diesem Problem. Dies ist eine Frage, die uns in diesem Buch von verschiedenen Seiten her immer wieder begegnet, an dieser Stelle mögen die folgenden Hinweise dienlich sein. (Fs)

160b Schon in der Bibel selbst wird vielfältiges religiöses und philosophisches Gedankengut aus verschiedenen kulturellen Welten verarbeitet. Das Wort Gottes entfaltet sich in einem Prozeß der Begegnungen mit der Suche des Menschen nach Antwort auf seine letzten Fragen. Es ist nicht einfach steil vom Himmel herabgefallen, sondern es ist geradezu eine Synthese der Kulturen. Es läßt uns aber tiefer gesehen einen Prozeß erkennen, in dem Gott mit dem Menschen ringt und ihn langsam für sein tiefstes Wort, für sich selbst öffnet: den Sohn, der der Logos ist. Die Bibel ist nicht einfach Ausdruck der Kultur des Volkes Israel, sondern sie liegt ständig im Streit mit dem ganz natürlichen Versuch dieses Volkes, einfach es selbst zu sein, sich in seiner eigenen Kultur einzuhausen. Der Glaube an Gott und das Ja zum Willen Gottes wird ihm ständig gegen seine eigenen Vorstellungen und Wünsche abgerungen. Er tritt der eigenen Religiosität Israels und seiner eigenen religiösen Kultur, die sich im Höhenkult, im Kult der Himmelskönigin, im Machtanspruch des eigenen Königtums ausdrücken möchte, fortwährend entgegen. Vom Zorn Gottes und des Mose gegen den Kult des goldenen Jungstiers am Sinai angefangen bis hin zu den späten nachexilischen Propheten geht es immerfort darum, daß Israel aus seiner eigenen kulturellen Identität und seinen religiösen Wünschen herausgerissen wird, daß es sozusagen den Kult der eigenen Nationalität, den Kult von »Blut und Boden« lassen muß, um sich dem ganz anderen, dem nichteigenen Gott zu beugen, der Himmel und Erde geschaffen hat und der Gort aller Völker ist. Der Glaube Israels bedeutet eine fortwährende Selbstüberschreitung der eigenen Kultur ins Offene und Weite der gemeinsamen Wahrheit hinein. Die Bücher des Alten Testaments mögen in vieler Hinsicht weniger fromm, weniger poetisch, weniger inspiriert erscheinen als bedeutende Stellen der heiligen Bücher anderer Völker. Aber sie haben doch ihre Einzigartigkeit in diesem Streitcharakter des Glaubens gegen das Eigene, in diesem Aufbruch aus dem Eigenen heraus, der mit Abrahams Wanderschaft beginnt. Der Ausbruch aus dem Gesetz, den Paulus aufgrund seiner Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus erkämpft, führt diese Grundrichtung des Alten Testaments zu ihrem logischen Ziel: Er bedeutet vollends die Universalisierung dieses Glaubens, der vom Eigenen einer völkischen Ordnung gelöst wird. Nun sind alle Völker eingeladen, in diesen Prozeß der Überschreitung des Eigenen einzutreten, der zuerst in Israel begonnen hat; sie sind eingeladen, sich zu dem Gott hinzukehren, der sich in Jesus Christus seinerseits selbst überschritten, die »Mauer der Feindschaft« zwischen uns aufgerissen hat (Eph 2,14) und uns in der Selbstenteignung des Kreuzes zueinander führt. Glaube an Jesus Christus ist also seinem Wesen nach fortwährendes Sichöffnen, Einbruch Gottes in die menschliche Welt und darauf antwortender Aufbruch des Menschen zu Gott hin, der zugleich die Menschen zueinander führt. Alles Eigene gehört nun allen, und alles andere wird zugleich auch unser Eigen, dies Ganze umgriffen von dem Wort des Vaters an den älteren Sohn: »All das Meinige ist dein« (Lk 15,31), das im hohepriesterlichen Gebet Jesu als Anrede des Sohnes an den Vater wiederkehrt: »All das Meinige ist dein, und all das Deinige ist mein« (Joh 17,10). (Fs)

161a Dieses Grundmuster bestimmt auch die Begegnung der christlichen Botschaft mit der griechischen Kultur, die freilich nicht erst in der christlichen Mission beginnt, sondern sich schon im Inneren der Schriften des Alten Testaments, besonders durch seine Übersetzung ins Griechische und von dieser her im Frühjudentum entwickelt hatte. Diese Begegnung war möglich, weil sich in der griechischen Welt inzwischen ein ähnlicher Vorgang der Selbstüberschreitung angebahnt hatte. Die Väter haben nicht einfach eine in sich stehende und sich selbst gehörende griechische Kultur ins Evangelium eingeschmolzen. Sie konnten den Dialog mit der griechischen Philosophie aufnehmen und sie zum Instrument des Evangeliums dort machen, wo in der griechischen Welt durch die Suche nach Gott eine Selbstkritik der eigenen Kultur und des eigenen Denkens in Gang gekommen war. Der Glaube bindet die verschiedenen Völker - beginnend mit den Germanen und Slawen, die in der Zeit der Völkerwanderung mit der christlichen Botschaft in Berührung kamen, bis hin zu den Völkern Asiens, Afrikas, Amerikas - nicht an die griechische Kultur als solche, sondern an deren Selbstüberschreitung, die der wahre Anknüpfungspunkt für die Auslegung der christlichen Botschaft war. Er zieht sie von da aus in die Dynamik der Selbstüberschreitung hinein. Richard Schäffler hat dazu treffend gesagt, daß die christliche Predigt von Anfang an von den Völkern Europas (das übrigens vor der christlichen Mission als solches nicht existierte) »den Abschied ... von jedem autochthonen Gott der Europäer verlangt [hat], längst ehe außereuropäische Kulturen in ihr Blickfeld traten«.1 Von da aus ist es zu verstehen, warum die christliche Verkündigung an die Philosophie anknüpfte, nicht an die Religionen. Wo letzteres versucht wurde, wo man zum Beispiel Christus als den wahren Dionysos, Asklepios oder Herakles interpretieren wollte, sind solche Versuche schnell überholt gewesen.2 Daß man nicht an die Religionen, sondern an die Philosophie anknüpfte, hängt eben damit zusammen, daß man nicht eine Kultur kanonisiert hat, sondern dort in sie eintreten konnte, wo sie selbst begonnen hatte, aus sich herauszutreten, wo sie sich auf den Weg ins Offene der gemeinsamen Wahrheit begeben und die Einhausung im bloß Eigenen hinter sich gelassen hatte. Das ist für die Frage der Anknüpfungen und des Übergangs zu anderen Völkern und Kulturen auch heute ein grundlegender Hinweis. Sicher kann der Glaube nicht an Philosophien anknüpfen, die die Wahrheitsfrage ausschließen, wohl aber an Bewegungen, die aus dem relativistischen Kerker auszubrechen sich mühen. Sicher kann er nicht unmittelbar die alten Religionen übernehmen. Wohl aber können die Religionen Formen und Gestaltungen bereitstellen, besonders aber Haltungen - der Ehrfurcht, der Demut, der Opferbereitschaft, der Güte, der Nächstenliebe, der Hoffnung auf das ewige Leben.3 Dies scheint mir -nebenbei bemerkt - auch für die Frage nach der Heilsbedeutung der Religionen wichtig zu sein. Sie retten nicht sozusagen als geschlossene Systeme und durch Systemtreue, sondern sie tragen zur Rettung bei, wo sie den Menschen dahin bringen, »nach Gott zu fragen« (wie das Alte Testament es ausdrückt), »sein Angesicht zu suchen«, »das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen«. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Fides et Ratio; Religion und Heil; Ungleichheit der Religionen; Gewissen (Paulus, Moderne)

Kurzinhalt: So ist im neuzeitlichen Gewissensbegriff das Gewissen die Kanonisierung des Relativismus, der Unmöglichkeit gemeinsamer sittlicher und religiöser Maß-stäbe, wie es umgekehrt für Paulus und die christliche Tradition die Gewähr für die Einheit ...

Textausschnitt: Religion, Wahrheit und Heil

163a Lassen Sie mich an diesem Punkt noch einen Augenblick innehalten, weil er eine Grundfrage menschlicher Existenz berührt, die mit Recht auch eine Hauptfrage in der gegenwärtigen theologischen Debatte darstellt. Denn es geht ja um den eigentlichen Impuls, von dem Philosophie ausgegangen ist und zu dem sie immer zurückkehren muß; an ihm berühren sich Philosophie und Theologie notwendig, wenn sie ihrer Aufgabe treu bleiben. Es ist die Frage: Wie wird der Mensch heil? Wie wird er recht? Die alte Zeit hat dabei vornehmlich an den Tod und an das gedacht, was nach dem Tod kommt; die Gegenwart, die das Jenseits als unsicher ansieht und daher aus ihrem Fragen weitgehend ausklammert, muß immerhin nach dem Rechtsein in der Zeit suchen und kann dabei das Problem nicht beiseite lassen, wie der Tod zu bewältigen ist. In der Debatte um das Verhältnis von Christentum und Weltreligionen ist freilich merkwürdigerweise doch der eigentliche Diskussionspunkt geblieben, wie sich die Religionen und das ewige Heil verhalten. Die Frage, wie der Mensch gerettet werden kann, wird eher noch im klassischen Sinn gestellt. Und da hat sich nun ziemlich allgemein die These durchgesetzt: Die Religionen alle sind Heilswege. Vielleicht nicht der ordentliche Heilsweg, aber - wenn schon, dann eben »außerordentliche Heilswege«: durch die Religionen alle kommt man zum Heil, das ist zur gängigen Anschauung geworden. (Fs) (notabene)

164a Diese Antwort entspricht nicht nur der Idee von Toleranz und Achtung des anderen, die sich uns heute aufdrängt. Sie entspricht auch dem modernen Gottesbild: Gott kann nicht Menschen verwerfen, nur weil sie das Christentum nicht kennen und eben in einer anderen Religion aufgewachsen sind. Er wird ihre Frömmigkeit genauso annehmen wie die unsere. So einsichtig diese - inzwischen mit vielen weiteren Argumenten untermauerte - These auf den ersten Blick auch ist, sie ruft doch Fragen hervor. Denn die einzelnen Religionen fordern nicht nur Unterschiedliches, sondern auch Gegensätzliches. Angesichts des Anwachsens der Zahl von religiös nicht gebundenen Menschen wird inzwischen diese universale Heilstheorie auch auf konsequent gelebte nicht-religiöse Existenzformen ausgedehnt. Dann gilt erst recht, daß Widersprüchliches als zum gleichen Ziel führend angesehen wird - mit einem Wort: Wir stehen wieder vor der Frage des Relativismus. Man setzt stillschweigend voraus, daß im Grund alle Inhalte gleich gültig sind. Was eigentlich gilt, kennen wir nicht. Jeder muß eben seinen Weg gehen - auf seine Facon selig werden, wie Friedrich II. von Preußen sagte. So steigt über die Heilstheorien der Relativismus unweigerlich durch die Hintertür wieder herein: Die Frage nach der Wahrheit wird aus der Frage der Religionen und aus der Heilsfrage ausgeschieden. Die Wahrheit wird durch die gute Absicht ersetzt; Religion bleibt im Subjektiven, weil das objektiv Gute und Wahre nicht zu erkennen ist. (Fs)

a) Die Ungleichheit der Religionen und ihre Gefährdungen

164b Müssen wir uns damit abfinden? Ist die Alternative zwischen dogmatischem Rigorismus und menschenfreundlichem Relativismus unausweichlich? Ich denke, daß man bei den eben besprochenen Theorien drei Dinge nicht genau genug bedacht hat. Zunächst einmal werden die Religionen (und inzwischen auch Agnostizismus und Atheismus) alle als gleichartig angesehen. Aber gerade das ist nicht der Fall. Tatsächlich gibt es degenerierte und kranke Religionsformen, die den Menschen nicht aufbauen, sondern entfremden: Die marxistische Religionskritik war nicht ganz und gar aus der Luft gegriffen. Und auch Religionen, denen man sittliche Größe und das Unterwegssein zur Wahrheit zuerkennen muß, können streckenweise erkranken. Im Hinduismus (der eigentlich ein Sammelname für vielfaltige Religionen ist) gibt es großartige Elemente, aber auch negative Aspekte - die Verflechtung mit dem Kastensystem; die Witwenverbrennung, die sich aus anfangs symbolischen Vorstellungen herausgebildet hatte; Auswüchse des Saktismus wären zu nennen, um nur ein paar Hinweise zu geben. Aber auch der Islam mit allem Großen, das er darstellt, ist immer wieder in Gefahr, die Balance zu verlieren, der Gewalt Raum zu geben und die Religion ins Äußerliche und Ritualistische abgleiten zu lassen. Und natürlich gibt es auch, wie wir alle nur zu gut wissen, Erkrankungsformen des Christlichen - etwa wenn Kreuzritter bei der Eroberung der Heiligen Stadt Jerusalem, in der Christus für alle Menschen gestorben ist, ihrerseits ein Blutbad unter Moslems und Juden anrichteten. Das bedeutet: Religion verlangt Unterscheidung, Unterscheidung zwischen Gestalten der Religionen und Unterscheidung im Inneren der Religion selbst, auf ihre eigentliche Höhe hin. Mit der Vergleichgültigung der Inhalte und der Idee, daß alle Religionen unterschiedlich und eigentlich doch gleich seien, kommt man nicht weiter. Der Relativismus ist gefährlich, ganz konkret - für die Gestalt des Menschseins im einzelnen und in der Gemeinschaft. Die Absage an die Wahrheit heilt den Menschen nicht. Wieviel Böses in der Geschichte im Namen guter Meinungen und Absichten geschehen ist, kann niemand übersehen. (Fs)

b) Die Heilsfrage

165a Damit berühren wir schon den zweiten Punkt, der gemeinhin vernachlässigt wird. Wenn man von der Heilsbedeutung der Religionen spricht, denkt man erstaunlicherweise meistens nur daran, daß alle das ewige Leben ermöglichen, womit freilich zugleich der Gedanke an das ewige Leben neutralisiert wird, denn man kommt ohnedies dorthin. Aber damit ist die Heilsfrage in einer unangemessenen Weise verkürzt. Der Himmel beginnt auf der Erde. Das Heil im Jenseits setzt das rechte Leben im Diesseits voraus. Also kann man gar nicht einfach fragen, wer in den Himmel kommt und sich damit zugleich der Frage nach dem Himmel entledigen. Man muß fragen, was der Himmel ist und wie er auf die Erde kommt. Die jenseitige Rettung muß sich abzeichnen in einer Lebensform, die den Menschen hier »menschlich« und damit gottgemäß macht. Das bedeutet wiederum, daß man bei der Heilsfrage über die Religionen selbst hinausblicken muß und daß dazu Maßstäbe rechten Lebens gehören, die nicht beliebig relativiert werden können. Ich würde also sagen: Das Heil beginnt im Rechtwerden des Menschen in dieser Welt, das immer die beiden Pole des einzelnen und der Gemeinschaft umfaßt. Es gibt Verhaltensformen, die niemals dem Rechtwerden des Menschen dienen können, und solche, die immer zum Rechtsein des Menschen gehören. Das bedeutet: Das Heil liegt nicht in den Religionen als solchen, sondern es hängt mit ihnen zusammen, sofern und soweit sie den Menschen auf das eine Gute, auf die Suche nach Gott, nach Wahrheit und Liebe bringen. Deshalb trägt die Heilsfrage immer ein religionskritisches Element in sich, wie sie umgekehrt mit den Religionen positiv verknüpft sein kann. In jedem Fall hat sie mit der Einheit des Guten, mit der Einheit des Wahren - mit der Einheit Gottes und des Menschen zu tun. (Fs)

c) Das Gewissen und die Wahrheitsfähigkeit des Menschen

166a Diese Aussage führt zu dem dritten Punkt, den ich hier ansprechen wollte. Die Einheit des Menschen hat ein Organ: das Gewissen. Es war die Kühnheit des heiligen Paulus, die Hörfähigkeit auf das Gewissen bei allen Menschen zu behaupten, die Heilsfrage so von der Erkenntnis und dem Einhalten der Thora zu lösen und sie auf den gemeinsamen Anspruch des Gewissens zu stellen, in dem der eine Gott spricht, der das wahrhaft Wesentliche der Thora einem jeden sagt: »Wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab ...« (Rom 2,14f). Paulus sagt nicht: Wenn Heiden sich an ihre Religion halten, ist es gut vor dem Gericht Gottes. Im Gegenteil, er verurteilt den Großteil der religiösen Praktiken jener Zeit. Er verweist auf eine andere Quelle - auf das, was allen ins Herz geschrieben ist, das eine Gute des einen Gottes. Hier stehen sich allerdings heute zwei konträre Gewissensbegriffe gegenüber, die freilich meist einfach ineinander geschoben werden. Für Paulus ist das Gewissen das Organ der Transparenz des einen Gottes in allen Menschen, die ein Mensch sind. In der Gegenwart hingegen erscheint das Gewissen als Ausdruck für die Absolutheit des Subjekts, über das hinaus es im Sittlichen keine Instanz mehr geben kann. Das Gute als solches ist nicht wahrnehmbar. Der eine Gott ist nicht vernehmbar. Was Moral und Religion angeht, ist das Subjekt die letzte Instanz. Das ist logisch, wenn die Wahrheit als solche unzugänglich ist. So ist im neuzeitlichen Gewissensbegriff das Gewissen die Kanonisierung des Relativismus, der Unmöglichkeit gemeinsamer sittlicher und religiöser Maß-stäbe, wie es umgekehrt für Paulus und die christliche Tradition die Gewähr für die Einheit des Menschen und die Vernehmbarkeit Gottes, für die gemeinsame Verbindlichkeit des einen und gleichen Guten gewesen war.1 Daß es zu allen Zeiten »heilige Heiden« gegeben hat und gibt, liegt daran, daß überall und in allen Zeiten - wenn auch oft nur mühsam und stückweise - der Spruch des »Herzens« vernehmbar war, daß uns Gottes Thora in uns selber, in unserem geschöpflichen Wesen als Verpflichtung hörbar wird und uns so möglich ist, das bloß Subjektive zu überschreiten, aufeinander und auf Gott hin. Und das ist Heil. Im übrigen bleibt, was Gott mit den armseligen Bruchstücken unseres Anlaufs auf das Gute, auf ihn selber hin tut, sein Geheimnis, das nachrechnen zu wollen wir uns nicht anmaßen sollten. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Fides et Ratio; Zusammenfassung; Kreisbewegung: Theologie - Philosophie

Kurzinhalt: Die Enzyklika spricht von einer »Kreisbewegung« zwischen Theologie und Philosophie und versteht sie in dem Sinn, daß die Theologie immer zuerst vom Wort Gottes ausgehen muß, ...
Auch die Philosophie als solche sollte sich nicht in das bloß Eigene ...

Textausschnitt: 167a Ich möchte noch aufmerksam machen auf einen methodischen Hinweis, den der Papst für das Verhältnis von Theologie und Philosophie, von Glaube und Vernunft gibt, weil damit die praktische Frage angesprochen ist, wie eine Erneuerung des philosophischen und theologischen Denkens im Sinn der Enzyklika in Gang kommen könnte. Die Enzyklika spricht von einer »Kreisbewegung« zwischen Theologie und Philosophie und versteht sie in dem Sinn, daß die Theologie immer zuerst vom Wort Gottes ausgehen muß, aber da dieses Wort Wahrheit ist, wird sie es in Beziehung setzen zur menschlichen Wahrheitssuche, zum Ringen der Vernunft um Wahrheit und es so in den Dialog mit der Philosophie hineinstellen. Die Wahrheitssuche des Gläubigen vollzieht sich demgemäß in einer Bewegung, in der Hören auf das ergangene Wort und Suchen der Vernunft sich immer neu begegnen. Dadurch wird einerseits der Glaube tiefer und reiner, andererseits aber empfängt auch das Denken Bereicherung, weil ihm neue Horizonte aufgehen. Mir scheint, man könne diese Idee der Zirkularität noch ein Stück weiter ausdehnen: Auch die Philosophie als solche sollte sich nicht in das bloß Eigene und selbst Erdachte einschließen. So wie sie auf die empirischen Erkenntnisse hören muß, die in den verschiedenen Wissenschaften reifen, so sollte sie auch die heilige Überlieferung der Religionen und besonders die Botschaft der Bibel als eine Quelle des Erkennens ansehen, von der sie sich befruchten läßt. Tatsächlich gibt es keine große Philosophie, die nicht von der religiösen Überlieferung her Erhellungen und Wegweisungen empfangen hätte, ob wir an die Philosophien Griechenlands und Indiens denken oder an die Philosophie, die im Inneren des Christentums sich entfaltet hat, oder auch an neuzeitliche Philosophien, die von der Autonomie der Vernunft überzeugt waren und diese Autonomie der Vernunft als letzten Maßstab des Denkens einschätzten, aber doch Schuldner der großen Motive des Denkens blieben, die der biblische Glaube der Philosophie auf den Weg gegeben hat: Kant, Fichte, Hegel, Schelling wären ohne die Vorgaben des Glaubens nicht denkbar, und selbst Marx lebt, mitten in seiner radikalen Umdeutung, dennoch von den Horizonten der Hoffnung, die er aus der jüdischen Überlieferung aufgenommen hatte. Wo Philosophie diesen Dialog mit dem Denken des Glaubens ganz ausblendet, endet sie - wie Jaspers einmal formuliert hat - in einem »leer werdenden Ernst«.1 Am Ende sieht sie sich dann genötigt, auf die Wahrheitsfrage zu verzichten, das heißt, sich selbst aufzugeben. Denn eine Philosophie, die nicht mehr danach fragt, wer wir sind, wozu wir sind, ob Gott ist und ewiges Leben, hat als Philosophie abgedankt. (Fs) (notabene)

169a Zuletzt mag noch ein Hinweis auf einen Kommentar zur Enzyklika nützlich sein, der in der sonst eher kirchenfernen deutschen Wochenzeitung »Die Zeit« erschienen ist.2 Der Kommentator, Jan Ross, erfaßt den Kern des päpstlichen Lehrschreibens sehr genau, wenn er sagt, die Entthronung von Theologie und Metaphysik habe das Denken »nicht bloß freier, sondern auch enger gemacht«, ja, er scheut sich nicht, von der »Verdummung durch Unglauben« zu sprechen. »Indem die Vernunft sich von den letzten Fragen abwandte, hat sie sich vergleichgültigt und verlangweilt, ist unzuständig geworden für die Lebensrätsel von gut und böse, von Tod und Unsterblichkeit.« Die Stimme des Papstes habe »vielen Menschen und ganzen Völkern Mut gemacht, sie hat vielen auch hart und schneidend im Ohr geklungen und sogar Haß erregt, aber wenn sie verstummt, wird es ein Augenblick schrecklicher Stille sein.« In der Tat, wenn nicht mehr von Gott und Mensch, von Sünde und Gnade, von Tod und ewigem Leben gesprochen wird, dann wird alles Geschrei und aller Lärm, den es gibt, nur ein vergeblicher Versuch sein, sich über das Verstummen des eigentlich Menschlichen hinwegzutäuschen. Der Papst hat sich der Gefahr solchen Schweigens mit seiner parrhesia, mit dem furchtlosen Freimut des Glaubens entgegengestellt, und er erfüllt so einen Dienst nicht nur für die Kirche, sondern für die Menschheit. Dafür sollten wir ihm dankbar sein. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Toleranz; Assmann, die "mosaische Unterscheidung": Wasserscheide der Religionsgeschichte; Rücknahme des Exodus (wahr - falsch); Aufklärung - Ägypten

Kurzinhalt: Dieser neue Religionstyp sei seinem Wesen nach »Gegenreligion«, die alles, was ihr vorausgeht, als »Heidentum« ausgrenze und nicht Medium interkultureller Übersetzung, sondern interkultureller Verfremdung.

Textausschnitt: 170a Sind Toleranz und Glaube an offenbarte Wahrheit Gegensätze? Anders gewendet: Sind christlicher Glaube und Modernität vereinbar? Wenn zu den Grundlagen der Neuzeit die Toleranz gehört, ist dann die Behauptung, die wesentliche Wahrheit erkannt zu haben, nicht eine überholte Anmaßung, die abgewiesen werden muß, wenn die Spirale der Gewalt abgebrochen werden soll, die die Religionsgeschichte durchzieht? Diese Frage stellt sich in der Begegnung zwischen dem Christentum und der Welt heute immer dramatischer, und immer weiter breitet sich die Überzeugung aus, daß der Verzicht auf den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens die Grundbedingung für einen neuen Weltfrieden, die Grundbedingung für die Versöhnung von Christentum und Modernität sei. (Fs) (notabene)

Die »Mosaische Unterscheidung« - oder: Gehört die Wahrheitsfrage in die Religion?
170b Diese Problematik hat kürzlich der Ägyptologe Jan Assmann von einer Gegenüberstellung zwischen biblischer und ägyptischer, ja überhaupt polytheistischer Religion her neu formuliert und instrumentiert, so daß sie in seinen Ausführungen in ihrer ganzen historischen und philosophischen Begründung erscheint.1 Es lohnt sich, Assmann zuzuhören, dessen Auffassung man - wie mir scheint - in drei Grundthesen zusammenziehen kann. Assmann läßt die Frage nach dem historischen Mose, nach dem Aufbrechen und der Gestaltwerdung des monotheistischen Glaubens in Israel offen und betrachtet »Moses« als Chiffre der Erinnerung, der Weise also, wie die Erinnerung geschichtliches Bewußtsein gestaltet hat. In diesem Sinn spricht er von der »Mosaischen Unterscheidung«, die er als die wahre Wasserscheide der Religionsgeschichte überhaupt ansieht. Was er damit sagen will, drückt er so aus: »Mit der Mosaischen Unterscheidung meine ich die Einführung der Unterscheidung zwischen wahr und falsch im Bereich der Religionen. Die Religion basierte bis dahin auf der Unterscheidung zwischen rein und unrein oder heilig und profan und hatte überhaupt keinen Platz für die Idee falscher Götter ... die man nicht anbeten darf...«2 Die Götter der polytheistischen Religionen seien einander in funktionaler Äquivalenz zugeordnet und daher gegenseitig ineinander übersetzbar gewesen. Die Religionen hätten als Medium interkultureller Übersetzbarkeit fungiert. »Die Gottheiten waren international, weil sie kosmisch waren ... niemand bestritt die Wirklichkeit fremder Götter und die Legitimität fremder Formen ihrer Verehrung. Den antiken Polytheismen war der Begriff einer unwahren Religion völlig fremd.«3 Mit der Einführung des Ein-Gott-Glaubens geschieht demnach Neues, Umstürzendes: Dieser neue Religionstyp sei seinem Wesen nach »Gegenreligion«, die alles, was ihr vorausgeht, als »Heidentum« ausgrenze und nicht Medium interkultureller Übersetzung, sondern interkultureller Verfremdung. Nun erst sei der Begriff der »Idolatrie« als der obersten aller Sünden gebildet worden: »In der Vorstellung vom goldenen Kalb, der biblischen >Ursünde< des monotheistischen Ikonoklasmus ... ist das Haß- und Gewaltpotential festgeschrieben, das sich in der Geschichte der monotheistischen Religionen immer wieder aktualisiert hat.«4 Die Exoduserzählung erscheint mit diesem ihrem Gewaltpotential als der Gründungsmythos der monotheistischen Religion und zugleich als das bleibende Porträt ihrer Wirkungen. (Fs) (notabene)

172a Die Konsequenz ist klar: Der Exodus ist rückgängig zu machen; wir müssen zurück nach »Ägypten« - das heißt: Die Unterscheidung von wahr und unwahr im Bereich der Religion muß aufgehoben werden, wir müssen wieder zurück in die Welt der Götter, die den Kosmos in seinem Reichtum und seiner Vielfalt ausdrücken und daher keinen gegenseitigen Ausschluß kennen, sondern gegenseitiges Verstehen ermöglichen. Das Verlangen, den Exodus rückgängig zu machen, zieht sich übrigens schon das ganze Alte Testament hindurch. Es bricht in der Geschichte der Wüstenwanderung immer wieder auf und wird noch einmal dramatisch gegenwärtig am Ende der alttestamentlichen Literatur im ersten Buch der Makkabäer. Da wird von »Verrätern am Gesetz« berichtet, die einen Bund »mit den Völkern« vorschlagen, »denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, geht es uns schlecht«. Sie entscheiden sich, nicht mehr nach dem Gesetz des Mose, sondern »nach den Gesetzen der fremden Völker zu leben« (1 Makk 1,11-15). Assmann schildert seinerseits eingehend die Sehnsucht nach Ägypten, nach der Rückkehr hinter die Mosaische Unterscheidung, von der Renaissance mit ihrer Verehrung des Corpus Hermeticum als einer Ur-Theologie bis in die Ägyptenträume der Aufklärung mit Mozarts Zauberflöte als großartiger künstlerischer Gestaltung dieser Sehnsucht. Er zeigt beeindruckend, wie dieses neue Interesse an Ägypten durch die religiösen und politischen Konflikte jener Zeit ausgelöst wurde, das die »schreckliche Erfahrung der Religionskriege und die religiösen Kontroversen um Atheismus, Polytheismus, Deismus, Freidenkertum im Gefolge von Thomas Hobbes und Baruch Spinoza« erlebt hatte. Ägypten stand als »Ursprung aller Religion« für die »letzte Konvergenz von Vernunft und Offenbarung oder Natur und Schrift.«5 Kein Zweifel, daß sich Assmann auf seine Weise in diese Bewegung, die Rückkehr hinter den Exodus einordnet, eben weil er die Mosaische Unterscheidung, die der Exodus ist, als Quelle der Übel ansieht, die Religion entstellt und die Intoleranz in die Welt getragen hat. Wenn ich ihn recht verstehe, ist für ihn Spinozas Formel »Deus sive natura« zugleich die Kurzformel dessen, was mit dieser Rückkehr, mit seinem »Ägypten« gemeint ist: Die Unterscheidung von wahr und falsch kann aus der Religion weggenommen werden, wenn die Unterscheidung von Gott und Kosmos fällt, wenn das Göttliche und die »Welt« wieder als ununterschieden ein Einziges gesehen werden. Die Unterscheidung von wahr und falsch in der Religion ist mit der Unterscheidung von Gott und Welt unlöslich verknüpft. Die Rückkehr nach Ägypten ist Rückkehr zu den Göttern, sofern sie einen der Welt gegenüberstehenden Gott abweist, die Götter aber nur als symbolische Ausdrucksformen der göttlichen Natur ansieht. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Toleranz; Assmann, die "mosaische Unterscheidung" 2: Sünde - Schuld - Erlösung; Wittgenstein: Glaube - Verliebtheit

Kurzinhalt: Assmann sagt des weiteren dazu: »Sünde und Erlösung sind keine ägyptischen Themen« ... Der Glaube wird auf die Ebene des Spiels verlagert, während er bisher die Ebene des Lebens als solchen betraf.

Textausschnitt: 173a Am Ende von Assmanns Buch wird aber noch eine dritte Dimension der Mosaischen Unterscheidung sichtbar, die nun sozusagen die existentielle Seite der Religion betrifft und dem modernen Menschen ganz aus der Seele gesprochen ist: Mit der Mosaischen Unterscheidung - so belehrt uns Assmann - erscheint auch unausweichlich »das Bewußtsein der Sünde und der Sehnsucht nach Erlösung«. Assmann sagt des weiteren dazu: »Sünde und Erlösung sind keine ägyptischen Themen«.1 Kennzeichnend für Ägypten sei vielmehr der »moralische Optimismus, der >sein Brot mit Freuden ißt< im Bewußtsein, daß >Gott längst sein Tun gesegnet hat< - einer der ägyptischen Verse der Bibel« (Koh 9,7-10)2 »Es sieht so aus« - schreibt Assmann -, »als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde in die Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen.«3 Eines ist daran sicher ganz richtig gesehen: Die Frage nach dem Wahren und die Frage nach dem Guten sind nicht voneinander zu trennen. Wenn das Wahre nicht mehr erkennbar und vom Unwahren nicht mehr unterscheidbar ist, so wird auch das Gute unerkennbar; die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen verliert ihren Grund. (Fs) (notabene)

173b Es ist offenkundig, daß in diesen hier kurz skizzierten Thesen die wesentlichen Inhalte der gegenwärtig immer schärfer werdenden Krise des Christentums sehr genau formuliert sind und daß jedes Mühen um Verstehen und Erneuerung des Christentums sich diesen Anfragen stellen muß. Denn hier ist sowohl das Grundlagenproblem unserer Zeit, die Frage nach Wahrheit und Toleranz wie die Problematik der Stellung des christlichen Glaubens in der Religionsgeschichte wie endlich die existentielle Problematik von Schuld und Erlösung in einem einzigen großen Zusammenhang sichtbar gemacht. Hier kann keine zulängliche Antwort darauf gegeben werden; ich kann nur versuchen, Richtungen anzudeuten, worin sich das Gespräch - wie mir scheint -wird bewegen müssen. (Fs)

174a Vielleicht ist es nützlich, bevor wir in die Auseinandersetzung um diese Probleme eintreten, noch eine andere Variante der Absage an die Wahrheit in der Religion anzudeuten, die diesmal nicht von der Geschichte, sondern vom philosophischen Denken herkommt - die Thesen Wittgensteins zu unserem Thema. G. Elisabeth M. Anscombe hat die Auffassung ihres Lehrers Wittgenstein in dieser Frage in zwei Thesen zusammengefaßt: »1. Es gibt nichts wie das Wahrsein einer Religion. Dies wird etwa angedeutet, wenn man sagt: > Dieser religiöse Satz gleicht nicht einem Satz der Naturwissenschaft< 2. Religiöser Glaube läßt sich eher der Verliebtheit eines Menschen als seiner Überzeugung vergleichen, etwas sei wahr oder falsch.«4 Dieser Logik entsprechend hat Wittgenstein in einem seiner vielen Notizbücher notiert, daß es für die christliche Religion nichts ausmachen würde, ob Christus irgendeine der von ihm berichteten Dinge tatsächlich so vollbracht oder sogar überhaupt existiert habe. Dem entspricht die These Bultmanns, an einen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde zu glauben, bedeute nicht, daß man glaube, Gott habe wirklich Himmel und Erde geschaffen, sondern nur, daß man sich selbst als Geschöpf verstehe und dadurch ein sinnvolleres Leben lebe. Ähnliche Vorstellungen haben sich inzwischen in der katholischen Theologie ausgebreitet und werden mehr oder weniger deutlich auch in der Verkündigung vernehmbar.5 Die Gläubigen spüren es und fragen sich, ob man sie eigentlich an der Nase herumgeführt habe. In schönen Fiktionen zu leben, mag den Theoretikern der Religion gegeben sein; für den Menschen, der die Frage stellt, womit und wofür er leben und sterben könne, langen sie nicht. Der Abschied vom Wahrheitsanspruch, der der Abschied vom christlichen Glauben als solcher wäre, wird hier damit verzuckert, daß man Glaube als eine Art von Verliebtheit mit ihren schönen subjektiven Tröstungen oder als eine Art von Spielwelt neben der realen Welt weiter bestehen läßt. Der Glaube wird auf die Ebene des Spiels verlagert, während er bisher die Ebene des Lebens als solchen betraf.6 Der gespielte Glaube ist jedenfalls etwas grundlegend Anderes als der geglaubte und gelebte Glaube. Er gibt keine Wegweisung, sondern verziert nur. Er hilft uns nicht im Leben und nicht im Sterben; er gibt allenfalls ein wenig Abwechslung, ein wenig schönen Schein - aber eben nur Schein, und der reicht zum Leben und zum Sterben nicht aus. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Toleranz; Antwort zu Assmann; Thesen religionsgeschichtliche nicht haltbar; Athanasius von Alexandrien; Aurelius Cotta; Sokrates: Dialog mit Eutyphron -> Widersprüchlichkeit des Seins


Kurzinhalt: Wir können festhalten: Götter waren keineswegs immer friedlich austauschbar ... Die Wahrheitsfrage ist nicht erst von »Mose« erfunden worden. Sie stellt sich notwendig ein, wo das Bewußtsein eine gewisse Reifung erlangt.

Textausschnitt: 175a Damit kehren wir zu Assmann zurück. Wie ist das nun mit dem »Deus sive natura«, mit der Verträglichkeit der Götter, die nicht nach Wahrheit fragen, mit der Befreiung von der Unterscheidung zwischen Sünde und Gutem? Wie lebt sich das? Wie »wahr« ist das? Denn - Assmann trägt ja seine Thesen als Wissenschaftler vor, und so muß an sie jedenfalls die Frage gerichtet werden, ob sie wahr sind. Und er rät uns einen Weg. So muß auch gefragt werden, ob und wie man darauf gehen kann. Wenn wir in die tatsächliche Geschichte der polytheistischen Religionen hineinsehen, so erscheint das Bild, das er davon - ziemlich vage übrigens - andeutet, selbst als ein Mythos. Zunächst einmal sind schon die polytheistischen Religionen unter sich sehr verschieden. Nicht wenige kennen in irgendeiner Form im Hintergrund den einen Gott, der wirklich Gott ist. Im Buddhismus und in Teilen des Hinduismus wie auch in späten Formen des Platonismus erscheinen die Götter als Mächte einer Welt, die als ganze nur Schein oder jedenfalls nicht das Letzte ist und übersprungen werden sollte, wenn man wirklich zum ganzen Heil gelangen möchte. Die These, die polytheistischen Götter seien durchaus untereinander vertauschbar und daher Wege interkultureller Verständigung, kann sich auf die Religionspolitik des Imperium Romanum stützen, aber sie entspricht keineswegs der Geschichte des Polytheismus im allgemeinen.1 Es genügt, Homer zu lesen, um sich an die Kriege der Götter zu erinnern und daran, daß die menschlichen Kriege als Spiegelungen und Folgen der Kriege der Götter angesehen worden sind. Es ist erhellend zu lesen, was in diesem Betreff Athanasius von Alexandrien - ein Ägypter also, der durchaus noch die Zeit der Götter erlebt hatte - zu sagen hat: »Einstens, als man die Anbetung der Götter praktizierte, lieferten sich Griechen und Barbaren den Krieg und erwiesen sich grausam ihren eigenen Blutsgefährten gegenüber. Es war praktisch unmöglich, die Erde oder das Meer zu befahren, ohne seine Hände mit dem Schwert zu bewaffnen angesichts der unbeendlichen Kämpfe untereinander. Sie brachten ihr ganzes Leben unter Waffen zu; das Schwert stand anstelle des Stabes und nur so konnten sie sich helfen. Obwohl sie - wie gesagt - den Göttern opferten, half ihnen ihre Ehrfurcht vor den Göttern nichts, um diese Mentalität zu korrigieren.«2 Athanasius sieht in der Bekehrung der Völker zum Christentum die Prophetie des Jesaja erfüllt, die Schwerter würden zu Pflugscharen umgeformt (Jes 2,4), und sagt dazu: »Diese Prophezeiung hat nichts Unglaubliches an sich. Solange die Barbaren mit ihren von Natur aus wilden Sitten ihren Göttern opferten, erbitterten sie sich gegeneinander und konnten nicht eine Stunde ohne ihre Schwerter bleiben. Aber als sie die Lehre Christi annahmen, verließen sie sogleich den Krieg, um sich dem Ackerbau zuzuwenden, und anstatt ihre Hände mit dem Schwert zu bewaffnen, erhoben sie sie zum Gebet - kurz, statt untereinander Kriege zu führen, bewaffnen sie sich gegen die Teufel und gegen die Dämonen und siegen über sie durch Maßhaltung und die Tugenden der Seele.«3 Gewiß - diese Schilderung ist apologetisch stilisiert und schematisiert. Aber Athanasius mußte durchaus mit Lesern rechnen, die die Zeit vor der christlichen Mission erlebt hatten, und konnte nicht einfach seiner Phantasie freien Lauf lassen. Als Entmythologisierung des Bildes von der so friedlichen Welt der Götter reichen seine Aussagen aus, wie immer man im einzelnen ihren historischen Gehalt beurteilen mag. (Fs)

177a Wir können festhalten: Götter waren keineswegs immer friedlich austauschbar. Sie waren genauso oft, ja häufiger Grund gegenseitiger Gewalt; auch das Phänomen, daß die Götter der einen Religion zu Dämonen der anderen wurden, ist bekannt. Übrigens stellt die Bibel selbst durchaus realistisch den Ägyptenträumen des murrenden Israel die ägyptische Realität gegenüber: Das reale Ägypten war nicht ein Land der schönen Freiheit und des Friedens, sondern ein »Sklavenhaus«, ein Land der Unterdrückung und der Kriege gewesen. Aber nun müssen wir einen weiteren Schritt tun. Die polytheistischen Religionen sind nicht eine statische Realität, die es einmal als in sich wesentlich identische Größe gab und die man nach Wunsch wiederherstellen könnte. Sie sind durchaus einem geschichtlichen Prozeß unterworfen, den wir in der Spätantike besonders anschaulich beobachten können. Die Mythen, die anfänglich die Erfahrung der Welt und des Lebens ausdrücken, die im Kult gelebt und in der Poesie gestaltet werden, verlieren - gerade im Zug ihrer konkreten Formung - immer mehr ihre Glaubwürdigkeit. Die Entwicklung der griechisch-römischen Antike zeigt uns exemplarisch den Vorgang, daß das sich ausweitende Bewußtsein unausweichlich immer nachdrücklicher die Frage stellt, ob das Ganze denn wahr sei. Die Wahrheitsfrage ist nicht erst von »Mose« erfunden worden. Sie stellt sich notwendig ein, wo das Bewußtsein eine gewisse Reifung erlangt. So etwas wie die Wittgenstein'sche Fiktion (wenn ich die eben angedeutete Theorie des Spiels, der Relativierung aller Religionen so nennen darf) bietet sich dann als ein Lösungsversuch ganz von selber an. Die griechisch-römische Antike liefert klassische Beispiele dafür. Christian Gnilka hat in seinem wichtigen Buch »Chresis« das Einbrechen der Wahrheitsfrage in die Welt der antiken Götter und die Begegnung des Christentums mit dieser Situation eingehend geschildert. Bezeichnend für diesen Vorgang ist die von Cicero beschriebene Gestalt des römischen Pontifex maximus C. Aurelius Cotta, der in seiner Funktion als Augur und Chef des Collegium Pontificum die heidnische Religion von damals vertritt. Seiner Funktion gemäß trat Cotta für die gewissenhafte Wahrung der Riten des öffentlichen Kultes ein und erklärte, er werde die von den Vorfahren ererbten »Vorstellungen« (opiniones) über die Götter verteidigen und sich nie davon abbringen lassen.4 Aber zu Hause im Freundeskreis erweist sich derselbe Cotta als akademischer Skeptiker, der die Frage nach der Wahrheit stellt. Er möchte nicht aufgrund bloßer Annahme, sondern gemäß der Wahrheit überzeugt werden und kommt dabei zu dem Ergebnis, es stehe zu befürchten, daß es die Götter gar nicht gebe. »Das Kriterium der Wahrheit, in die antike Götterwelt eingeführt, wirkt wie ein Sprengsatz«, stellt Gnilka fest.5 Assmann selber hat dargestellt, wie diese Schizophrenie zu einer vom Staat verteidigten Fiktion geführt hat: Für die nicht Eingeweihten bleiben die Götter als staatstragende Notwendigkeit bestehen, während die Eingeweihten deren Nichtigkeit durchschauen.6 (Fs)

178a Die Wahrheitsfrage war aufgebrochen bei den Vorsokratikern und hat bei Sokrates ihre größte Form gefunden. Um den ganzen Tiefgang der Frage zu sehen, mag es hilfreich sein, wenigstens einen kurzen Blick auf Sokrates zu werfen. Für das Einbrechen der Wahrheitsfrage in die Götterwelt scheint mir besonders der kurze Dialog mit Eutyphron hilfreich, dem Priester, der noch ganz in den Mythen und ihrer sorgsamen Ausführung im Kult gefangen ist, sich aber im Dialog mit Sokrates immer mehr in Widersprüche verwickelt. Schließlich muß Eutyphron auf das bohrende Fragen des Sokrates hin zugeben, daß das Nämliche von den Göttern gehaßt und geliebt wird. Auf die Frage »So wäre nach dieser Richtung das Fromme und das Unfromme das Nämliche, Eutyphron?« antwortet er notgedrungen: »So verhält es sich.«7 Hier sind wir an einem sehr wichtigen Punkt angelangt. Sokrates hatte auf den Krieg der Götter untereinander verwiesen. Guardini kommentiert dazu: »Alles ist göttlich. Überall sind Mächte und jede gehört zum Dasein ... Alle Mächte gehen in der Einheit der Welt auf, die selbst das Letzt-Göttliche ist und sämtliche Widersprüche umfaßt ... Daß sie kämpfen müssen, bildet die notwendige Tragik ...«8 Das bedeutet: Die Gleichsetzung »Deus sive natura«, die Rücknahme der Mosaischen Unterscheidung, bedeutet nicht die Allversöhnung, sondern die Unversöhnbarkeit des Alls. Denn nun ist das Sein selbst widersprüchlich, der Krieg kommt aus dem Sein selbst, gut und böse werden letztlich ununterscheidbar. Die antike Tragödie ist Seinsdeutung auf dem Grund der Erfahrung der widersprüchlichen Welt, die Schuld und Scheitern unausweichlich hervorbringt. Hegel hat in seinem System der sich in dialektischen Schritten entfaltenden Idee im Grund diese Weltsicht wieder aufgenommen und freilich ihre Versöhnung in der alles umgreifenden Synthese als Zukunftshoffnung und damit zugleich als Lösung der Tragik darzustellen versucht. Die christliche eschatologische Orientierung ist hier mit der antiken Vision der Einheit des Seins verschmolzen und scheint nun beides in sich »aufzuheben« und damit alles zu erklären. Aber die Dialektik bleibt grausam und die Versöhnung nur scheinbar. In dem Augenblick, in dem Marx die Hegel'sche Spekulation in ein konkretes Konzept zur Gestaltung der Geschichte umsetzt, wird diese Grausamkeit sichtbar, und wir sind Zeugen ihrer ganzen Grausamkeit geworden. Denn jetzt ist es nun einmal so, daß die Dialektik des Fortschritts, praktisch gesprochen, ihre Opfer verlangt: Damit die Fortschritte, die die Französische Revolution erbrachte, eintreten konnten, mußte man ihre Opfer in Kauf nehmen - so sagt man uns. Und damit der Marxismus die versöhnte Gesellschaft herstellen konnte, waren auch die Hekatomben von Menschenopfern nötig, anders geht es eben nicht: Da ist die mythologische Dialektik in Tatsachen übersetzt. Der Mensch wird zum Spielmaterial des Fortschritts; er zählt nicht als einzelner; da ist er nur Material für den grausamen Gott »Deus sive natura«. Die Evolutions-Theorie belehrt uns desgleichen: Fortschritte kosten etwas. Und die heutigen Experimente mit dem Menschen, der zur Organbank gemacht wird, zeigen uns die ganz praktische Anwendung solcher Ideen, in der der Mensch die weitere Evolution selbst in die Hand nimmt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Toleranz; Antwort zu Assmann 2; Mosaisch-sokratische Unterscheidung; Dynamik zur Wahrheit: Versöhnung: Aufklärung und Religion; Platonismus eines Porphyrius, Proklus; Argument der Skepsis


Kurzinhalt: Der Polytheismus der »Naturreligionen« ist keine statische Größe, zu der man jederzeit wieder zurückkehren könnte. Die religiöse Bewegung verläuft, soweit zu sehen ist, in drei Stadien, ...

Textausschnitt: 180a Kehren wir zurück. Die Idee von der friedlichen Austauschbarkeit der Götter hält der Wirklichkeit nicht stand. Es gibt vielmehr eine tiefreichende Unversöhnbarkeit, die in den Widersprüchen des Seins selbst gründet. Für unseren Zusammenhang noch wichtiger ist die zweite Feststellung: Die Wahrheitsfrage ist unausweichlich. Sie ist dem Menschen notwendig und betrifft gerade die Letztentscheidungen seines Daseins: Gibt es Gott? Gibt es die Wahrheit? Gibt es das Gute? Die Mosaische Unterscheidung ist auch die Sokratische Unterscheidung, so könnten wir sagen. An dieser Stelle wird der innere Grund und die innere Notwendigkeit für die historische Begegnung von Bibel und Hellas sichtbar. Was beide miteinander verbindet, ist eben die an die Religion gestellte Frage nach der Wahrheit und nach dem Guten als solchen, die Mosaisch-sokratische Unterscheidung, wie wir sie nun nennen könnten. Diese Begegnung ist längst vor dem Beginn der Synthese zwischen biblischem Glauben und griechischem Denken in Gang gekommen, um die die Kirchenväter sich mühten. Sie geschieht schon mitten im Alten Testament, vor allem in der Weisheitsliteratur und in dem denkwürdigen Schritt der Übersetzung der alttestamentlichen Bibel ins Griechische, die ein Schritt interkultureller Begegnung von höchster Tragweite gewesen ist. Freilich, in der antiken Welt bleibt der Ausgang der sokratischen Frage offen, je anders bei Platon und bei Aristoteles. Insofern bleibt in der Welt des griechischen Geistes eine Erwartung, für die die christliche Botschaft als die ersehnte Antwort erschien. Diese offene Erwartung, die im griechischen Denken als eine Gebärde der Ausschau stand, ist ein Hauptgrund für den Erfolg der christlichen Mission.1 (Fs)
181a Halten wir fest: Der Polytheismus der »Naturreligionen« ist keine statische Größe, zu der man jederzeit wieder zurückkehren könnte. Die religiöse Bewegung verläuft, soweit zu sehen ist, in drei Stadien, wobei offen bleibt, ob dem Polytheismus bereits andere Formen der Zuwendung zur Gottheit vorangingen. Wenn wir hier einfachheitshalber den Polytheismus als das erste Stadium ansehen, so findet er sich immer mehr der Kritik der Aufklärung, das heißt der Frage nach seiner Wahrheit ausgesetzt, die ihn allmählich auflöst und nach einer Phase der gespaltenen Wahrheit (die nützliche Fiktion und das Wissen der Eingeweihten) zerfallen läßt. An dieser Stelle bietet sich in der Mittelmeerwelt, später im arabischen Raum und auch in Teilen Asiens der Monotheismus als Versöhnung zwischen Aufklärung und Religion an: Die Gottheit, auf die die Vernunft zugeht, ist identisch mit dem Gott, der sich in der Offenbarung zeigt. Offenbarung und Vernunft korrespondieren einander. Es gibt die »wahre Religion«; die Wahrheitsfrage und die Frage nach dem Göttlichen sind versöhnt.2 Die Antike zeigt uns aber auch einen anderen möglichen Ausgang, der heute wieder aktuell geworden ist. Es gibt einerseits die christliche Umdeutung Platons, die Verschmelzung der griechischen Erwartung und ihrer Wahrheitsfrage mit der christlichen Antwort und ihrem Wahrheitsanspruch, in der die griechische Vorgabe aufgenommen und zugleich grundlegend neu gestaltet wird. Es gibt aber umgekehrt auch den späten Platonismus eines Porphyrius und Proklus, der sich zum Instrument der Abwehr des christlichen Anspruchs und der Neubegründung des Polytheismus macht - das andere Gesicht platonischen Denkens. Nun wird gerade die skeptische Position zur Begründung des Polytheismus: Weil man das Göttliche nicht erkennen kann, darum kann man es nur in vielgestaltigen Chiffren verehren, in denen sich das Geheimnis des Kosmos und seine in keinen Namen einzuengende Vielfalt ausdrückt.3 In der Spätantike hat sich dieser Versuch einer philosophisch gerechtfertigten und damit scheinrationalen Restauration des Polytheismus nicht halten können. Er blieb eine akademische Konstruktion, von der die nötige Kraft der Hoffnung und der Wahrheit nicht ausging. Dies um so mehr, als ihre Urheber nicht ganz auf die Spaltung der Wahrheit verzichten konnten. Die polytheistischen Einweihungen und Kulthandlungen werden als Weg für die vielen angesehen, die zum höheren Aufstieg nicht fähig sind, während die Philosophen sich als die erleseneren Geister den »Königsweg« vorbehielten, der über dies alles in der mystischen Einung ins Unaussprechliche aufsteigt. Wiederum war es die Chance des Christentums, daß es den Weg der Einfachen als den wahren »Königsweg« in der Gemeinschaft mit demjenigen eröffnete, der an der Brust Gottes lebte und Gott sah. (Fs) (notabene)

182a Es wird auch den heutigen Versuchen, einen Weg der Rückkehr nach Ägypten, einer »Erlösung« vom Christentum und seiner Sündenlehre zu bieten, nicht anders ergehen. Denn auch hier bleibt man im Fiktiven, das man akademisch denken kann, das aber zum Leben nicht ausreicht. Freilich, die Flucht vor dem einen Gott und seinem Anspruch wird anhalten. Und die Skepsis wird anhalten, für die es heute stärkere Gründe zu geben scheint als in der Antike. Dem von der modernen Wissenschaft gesetzten Maßstab für Gewißheit kann der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens nicht entsprechen, weil die Form der Verifizierung nun einmal hier ganz anderer Art ist als im Bereich des Experimentierbaren; weil die Art des geforderten Experiments - das Einstehen mit dem Leben - ganz anderer Natur ist. Die Heiligen, die das Experiment bestanden haben, können als Garanten seiner Wahrheit dienen, aber die Möglichkeit, sich dieser Evidenz zu entziehen, bleibt. Und so wird man gewiß weiter nach anderen Lösungen Ausschau halten, sie in Formen mystischer Einung suchen, für die es Weisungen und Techniken gibt und geben wird. In diesem Sinn bleibt das spätplatonische Angebot auf der Tagesordnung; Assmanns Ausführungen würde ich in diese Kategorie einordnen. (Fs)

183a Aber zeigt nicht doch Asien den Ausweg? Religion, die hält, ohne daß sie den Wahrheitsanspruch erheben muß? Diese Frage wird ohne Zweifel ein Hauptthema künftiger Dialoge sein. Hier nur eine Andeutung. Auch der Buddhismus hat seine eigene Art, die Wahrheitsfrage zu stellen. Er fragt nach der Erlösung vom Leid, das aus dem Durst nach Leben kommt. Wo ist der Ort des Heils? Der Buddhismus kommt zum Ergebnis, daß er in der Welt, in der Gesamtheit des erscheinenden Seins nicht zu finden ist. Es ist in seiner Ganzheit Leid, ein Kreislauf der Wiedergeburten und immer neuer Verstrickungen. Der Weg der Erleuchtung ist der Weg aus dem Durst nach Sein hinein in das, was uns als Nichtsein erscheint, das Nirwana. Das bedeutet: In der Welt selbst ist keine Wahrheit. Die Wahrheit geschieht im Heraustreten aus ihr. In diesem Sinn ist die Wahrheitsfrage in die Frage der Erlösung aufgelöst, oder auch: in ihr aufgehoben. Die Götter gibt es, aber sie gehören der Welt des Vorläufigen, nicht dem endgültigen Heil zu. Nur im Hinayana ist diese Sicht streng durchgehalten. Das Mahayana kennt viel stärker die soziale Dimension, die Hilfe für die Erlösung des anderen und den Helfer. Aber die Grunderwartung auf das Erlöschen des Daseins und der Person des einzelnen hin bleibt doch erhalten, wenn auch weit hinausgeschoben.4 Von »Deus sive natura« kann da nicht die Rede sein. Die Welt als solche ist Leiden - und damit auch Wahrheitslosigkeit -, und nur die Entweltlichung kann letztlich Heil sein. Hier geht es um existentielle Haltungen, die ein Weltbild einschließen, das von den abendländischen und auch »ägyptischen« polytheistischen Visionen weit entfernt ist und sich auch als Alternative dem christlichen Weltverständnis mit seiner grundsätzlichen Bejahung der Welt als Schöpfung gegenüberstellt. Von der Wahrheitsfrage dispensiert uns freilich gerade auch dieser Weg nicht. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Toleranz; Antwort zu Assmann 3; Chrsitentum - heidnische Religionen: 2 Phasen; Aurelius Cotta, Santa Maria sopra Minerva; Identität: Wahrheit - Liebe - das Gute

Kurzinhalt: Lüge aber ist immer Unfreiheit, und es ist kein Zufall, vor allem aber keine Unwahrheit, daß in der Erinnerung Israels Ägypten als Sklavenhaus, als Ort der Unfreiheit erscheint. Nur die Wahrheit macht frei.

Textausschnitt: 184a Eine letzte Überlegung ist noch notwendig. Assmann rühmt die Übersetzbarkeit der Götter ineinander, die als ein Weg interkulturellen und interreligiösen Friedens erscheint. Ihm steht die »Intoleranz« des ersten Gebotes und die Verurteilung der Idolatrie als Grundsünde entgegen. Dies wiederum erscheint als die Kanonisierung der Intoleranz, wie wir gesehen haben. Nun ist richtig, daß der eine Gott ein »eifersüchtiger Gott« ist, wie ihn das Alte Testament benennt. Er demaskiert die Götter, denn in seinem Licht wird sichtbar, daß die »Götter« nicht Gott sind, daß der Plural zu Gott als solcher eine Lüge ist. Lüge aber ist immer Unfreiheit, und es ist kein Zufall, vor allem aber keine Unwahrheit, daß in der Erinnerung Israels Ägypten als Sklavenhaus, als Ort der Unfreiheit erscheint. Nur die Wahrheit macht frei. Wo Nützlichkeit über Wahrheit gestellt wird, wie es im Fall der gespaltenen Wahrheit geschieht, von der wir oben gesprochen haben, wird der Mensch Sklave der Nützlichkeit und derer, die darüber entscheiden können, was das Nützliche ist. In diesem Sinn ist zunächst die »Entmythisierung« notwendig, die die Götter ihres falschen Glanzes und damit ihrer falschen Macht entkleidet, um dann ihre »Wahrheit« herauszustellen, das heißt zu erklären, welche realen Mächte und Wirklichkeiten hinter ihnen stehen. Anders gesagt: Wenn diese »Entmythisierung«, diese Demaskierung geschehen ist, kann und muß auch ihre relative Wahrheit erscheinen. (Fs)

184b Demgemäß gibt es in der christlichen Beziehung zu den »heidnischen« Religionen zwei Phasen, die freilich innerlich immer wieder ineinandergreifen müssen und nicht reinlich auf eine temporale Abfolge verteilt werden können. Die erste Phase ist das Bündnis des christlichen Glaubens mit der Aufklärung, das die Väterliteratur von Justin bis Augustinus und darüber hinaus beherrscht: Die Verkünder des Christentums stellen sich auf die Seite der Philosophie, der Aufklärung, gegen die Religionen, gegen die gespaltene Wahrheit eines C. Aurelius Cotta. Sie sehen die Samen des Logos, der göttlichen Vernunft, nicht in den Religionen, sondern in der Vernunftbewegung, die diese Religionen aufgelöst hat. Aber immer deutlicher zeigt sich auch eine zweite Sicht, in der auch der Zusammenhang mit den Religionen und die Grenze der Aufklärung zutage tritt. Sehr bezeichnend dafür scheint mir das Denken Gregors des Großen. In einem ersten Brief - noch in der Phase der Aufklärung - schreibt er an den englischen König Aethelbert: »Also, mein erlauchtester Sohn, bewahret sorgfältig die Gnade, die Ihr von Gott empfangen habt... Steigert noch Euren edlen Eifer ... Unterdrückt den Götzendienst; zerstört ihre Tempel und Altäre. Steigert die Tugenden Eurer Untertanen durch ein hervorragend sittliches Verhalten ...«1 Aber Gregor geht innerlich weiter mit der Frage um, und schon einen Monat nach diesem Brief schreibt er an eine kürzlich abgereiste zweite Gruppe von Missionaren und einen gewissen Mellitus ganz anders: »Wenn Ihr aber mit der Gnade des allmächtigen Gottes zu unserem hochwürdigsten Bruder, dem Bischof Augustinus, gekommen sein werdet, so sagt ihm, daß ich über eine Angelegenheit der Engländer lange mit mir zu Rate gegangen bin. Man soll nämlich bei jenem Volk die Götzentempel keineswegs zerstören, sondern nur die in ihnen befindlichen Götterbilder vernichten ... Wenn das Volk sieht, daß man seine Tempel nicht zerstört, so wird es nichtsdestoweniger den Irrtum ablegen und mit um so größerer Freude sich zur Erkenntnis und Anbetung des wahren Gottes an die gewohnten Orte begeben.«2 Gregor schlägt dabei auch vor, daß die Zeremonien und Tieropfer in Feste zur Verehrung der Heiligen und der Märtyrer umgewandelt und dabei das zum Opfer geschlachtete Tier gegessen werden sollte. Hier erscheint also das, was wir Kultkontinuität nennen. Der heilige Ort bleibt heilig, und die Intentionen der Verehrung des Göttlichen, die vorangegangen war, werden aufgenommen und umgewandelt zu neuer Bedeutung gebracht. In Rom kann man das allenthalben studieren. Ein Name wie Santa Maria sopra Minerva läßt Verwandlung und Kontinuität gleichermaßen erkennen. Die Götter sind keine Götter mehr. Als solche sind sie gestürzt: Die Frage nach der Wahrheit selbst hat ihnen ihre Göttlichkeit genommen und ihren Sturz bewirkt. Aber zugleich ist ihre Wahrheit ans Licht getreten: daß sie Abglanz von Göttlichem, Vorahnungen von Gestalten waren, in denen sich ihr verborgener Sinn gereinigt erfüllte. Auf diese Weise gibt es nun auch eine »Übersetzbarkeit« der Götter, die als Ahnungen, als Stufe auf der Suche nach dem wahren Gott und seiner Spiegelung in der Schöpfung zu Botschaftern des einen Gottes werden können. (Fs)

186a Am Ende müssen wir noch einmal zurückkommen auf Assmanns abschließende These, daß mit der Mosaischen Unterscheidung auch der Begriff der Sünde in die Welt gekommen sei. »Sünde und Erlösung sind keine ägyptischen Themen«, so hatten wir gehört. Sie sind aber sehr wohl Themen der meisten Weltreligionen, die in Hekatomben von Opfern - Menschenopfer eingeschlossen - die Gottheiten versöhnen und Entsühnung finden wollten. Aber dieser Disput kann hier nicht mehr geführt werden. Wichtig scheint mir für unsere Fragestellung eines: Die Themen des Wahren und des Guten sind in der Tat nicht voneinander zu trennen. Platon hatte recht, als er das höchste Göttliche mit der Idee des Guten identifizierte. Umgekehrt: Wenn wir Wahrheit über Gott nicht erkennen können, dann bleibt auch die Wahrheit darüber, was gut ist und was böse ist, unzugänglich. Dann gibt es das Gute und das Böse nicht; es bleibt nur das Kalkül der Folgen: Ethos wird durch Berechnung ersetzt. Noch deutlicher gesagt: Die drei Fragen nach der Wahrheit, nach dem Guten, nach Gott sind nur eine einzige Frage. Und wenn es darauf keine Antwort gibt, dann tappen wir hinsichtlich der wesentlichen Dinge unseres Lebens im Dunklen. Dann ist das menschliche Dasein wirklich »tragisch« - dann verstehen wir freilich auch, was Erlösung bedeuten soll. Der Gottesbegriff der Bibel erkennt Gott als das Gute, als den Guten (vgl. Mk 10,18). Dieser Gottesbegriff erreicht seine letzte Höhe in der johanneischen Aussage: Gott ist Liebe (1 Joh 4,8). Wahrheit und Liebe sind identisch. Dieser Satz - wenn er in seinem ganzen Anspruch begriffen wird - ist die höchste Garantie der Toleranz; eines Umgangs mit der Wahrheit, deren einzige Waffe sie selbst und damit die Liebe ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Ausgang und Frage; A. Szczypiorski

Kurzinhalt: In der Skala der Werte, auf die es für den Menschen und sein menschenwürdiges Leben ankommt, erscheint Freiheit als der eigentliche Grundwert und als das grundlegende Menschenrecht überhaupt. Dem Begriff Wahrheit begegnen wir demgegenüber ...

Textausschnitt: Frage

187a Im Bewußtsein der Menschheit von heute erscheint Freiheit weithin als das höchste Gut überhaupt, dem alle anderen Güter nachgeordnet sind. In der Rechtsprechung hat durchweg die Freiheit der Kunst, die Freiheit der Meinungsäußerung den Vorrang vor jedem anderen sittlichen Wert. Werte, die mit der Freiheit konkurrieren, zu ihrer Einschränkung nötigen könnten, erscheinen als Fesseln, als »Tabus«, das heißt als Relikte archaischer Verbote und Ängste. Politisches Handeln muß sich dadurch ausweisen, daß es freiheitsfördernd ist. Auch Religion kann sich nur dadurch behaupten, daß sie sich als befreiende Kraft für den Menschen und die Menschheit darstellt. In der Skala der Werte, auf die es für den Menschen und sein menschenwürdiges Leben ankommt, erscheint Freiheit als der eigentliche Grundwert und als das grundlegende Menschenrecht überhaupt. Dem Begriff Wahrheit begegnen wir demgegenüber eher mit Verdacht: Man erinnert sich daran, für wie viele Meinungen und Systeme schon der Begriff Wahrheit in Anspruch genommen wurde; wie oft so die Behauptung von Wahrheit ein Mittel gewesen ist, um Freiheit niederzuhalten. Dazu kommt die von der Naturwissenschaft genährte Skepsis gegenüber allem, was nicht exakt erklärbar oder belegbar ist: All das scheint letztlich nur subjektive Wertung zu sein, die keine gemeinsame Verbindlichkeit in Anspruch nehmen kann. Die moderne Haltung der Wahrheit gegenüber zeigt sich am bündigsten in dem Pilatuswort: Was ist Wahrheit? Wer behauptet, mit seinem Leben und mit seinem Reden und Tun im Dienst der Wahrheit zu stehen, muß sich gefaßt machen, als Schwärmer oder als Fanatiker eingestuft zu werden. Denn »nach drüben ist der Ausblick uns versperrt«; dieses Goethewort aus dem Faust charakterisiert unser aller Empfinden. (Fs)

187b Zweifellos, es gibt Gründe genug, gegenüber allzu sicher auftretendem Wahrheitspathos vorsichtig zu fragen: Was ist Wahrheit? Aber es gibt ebensoviel Grund, die Frage zu stellen: Was ist Freiheit? Was meinen wir eigentlich, wenn wir Freiheit rühmen und sie auf die oberste Stufe unserer Wertskala stellen? Ich glaube, daß der im allgemeinen mit dem Freiheitsverlangen verbundene Inhalt recht treffend ausgelegt ist in den Worten, mit denen einmal Karl Marx seinen Traum von Freiheit ausgedrückt hat. Der Zustand der künftigen kommunistischen Gesellschaft werde es möglich machen, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe ...«1 Genau in diesem Sinn versteht das unreflektierte Durchschnittsempfinden unter Freiheit das Recht und die Möglichkeit, alles das zu tun, was wir uns gerade wünschen, und nichts tun zu müssen, was wir nicht möchten. Anders gesagt: Freiheit würde bedeuten, daß das eigene Wollen die einzige Norm unseres Tuns sei und daß der Wille alles wollen könne und alles Gewollte auch auszuführen die Möglichkeit habe. An dieser Stelle steigen freilich Fragen auf: Wie frei ist der Wille eigentlich? Und wie vernünftig ist er? Und: Ist ein unvernünftiger Wille ein wirklich freier Wille? Ist eine unvernünftige Freiheit wirklich Freiheit? Ist sie wirklich ein Gut? Muß also die Definition der Freiheit vom Wollenkönnen und vom Tunkönnen des Gewollten her nicht durch den Zusammenhang mit der Vernunft, mit der Ganzheit des Menschen ergänzt werden, damit es nicht zur Tyrannei der Unvernunft komme? Und wird es nicht zum Zusammenspiel zwischen Vernunft und Wille gehören, dann auch die gemeinsame Vernunft aller Menschen und so die gegenseitige Verträglichkeit der Freiheiten zu suchen? Es ist offenkundig, daß in der Frage nach der Vernünftigkeit des Willens und seiner Vernunftbindung die Wahrheitsfrage verborgen mitgegeben ist. (Fs)

188a Zu solchen Fragen zwingen uns nicht nur abstrakte philosophische Überlegungen, sondern unsere ganz konkrete gesellschaftliche Situation, in der zwar das Freiheitsverlangen ungebrochen ist, aber doch Zweifel an allen bisherigen Formen von Befreiungsbewegungen und von Freiheitssystemen immer dramatischer erscheinen. Vergessen wir nicht, daß der Marxismus als die eine große politische Kraft des 20. Jahrhunderts unter dem Anspruch angetreten ist, die neue Welt der Freiheit und des befreiten Menschen heraufzuführen. Gerade dieses sein Versprechen, den wissenschaftlich gesicherten Weg zur Freiheit zu kennen und die neue Welt zu erschaffen, hat ihm viele der kühnsten Geister unserer Epoche zugeführt; schließlich erschien er gar als die Kraft, durch die die christliche Erlösungslehre endlich in eine realistische Befreiungspraxis umgewandelt werden könnte - als die Kraft, das Reich Gottes als das wahre Menschenreich heraufzuführen. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus in den osteuropäischen Staaten hat solche Hoffnungen nicht ganz beseitigt, die da und dort im stillen weiterbestehen und nach neuer Gestalt suchen. Dem politischen und ökonomischen Zusammenbruch entsprach keine wirkliche geistige Überwindung, und insofern ist die vom Marxismus gestellte Frage noch keineswegs aufgelöst. Immerhin, daß sein System nicht so funktionierte, wie es versprochen war, ist offenkundig. Daß diese vermeintliche Befreiungsbewegung neben dem Nationalsozialismus das größte Sklavensystem der neuzeitlichen Geschichte war, kann im Ernst niemand mehr leugnen: Das Ausmaß zynischer Zerstörung des Menschen und der Welt wird zwar häufig eher schamvoll verschwiegen, aber bestreiten kann es niemand mehr. (Fs)

189a Die moralische Überlegenheit des liberalen Systems in Politik und Wirtschaft, die so zum Vorschein gekommen ist, läßt dennoch keinen Enthusiasmus aufkommen. Zu groß ist die Zahl derer, die an den Früchten dieser Freiheit nicht teilhaben, ja überhaupt jede Freiheit verlieren: Arbeitslosigkeit wird erneut zum Massenphänomen; das Gefühl des Nicht-gebraucht-Werdens, der Überflüssigkeit foltert die Menschen nicht weniger als die materielle Armut. Skrupellose Ausbeutung macht sich breit; das organisierte Verbrechen nutzt die Chancen der freiheitlichen Welt, und in alledem geht das Gespenst der Sinnlosigkeit um. Der polnische Philosoph Andrzej Szczypiorski hat auf den Salzburger Hochschulwochen 1995 das Dilemma der Freiheit schonungslos beschrieben, das sich nach dem Fall der Mauer ergeben hat; es lohnt sich, ihm etwas ausführlicher zuzuhören:

»Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kapitalismus einen großen Fortschritt vollzog. Und es unterliegt auch keinem Zweifel, daß er die Erwartungen nicht erfüllte. In dem Kapitalismus ist immer wieder der Schrei der riesigen Massen zu hören, deren Begehren nicht erfüllt wurde ... Der Untergang der sowjetischen Konzeption der Welt und des Menschen in der politischen und sozialen Praxis war eine Befreiung von Millionen Menschenleben aus der Knechtschaft. Aber im europäischen Gedankengut, im Lichte der Tradition der letzten zweihundert Jahre, bedeutet die antikommunistische Revolution auch das Ende der aufklärerischen Illusionen, also die Zerstörung der intellektuellen Konzeption, die der Entwicklung des frühen Europa zugrunde lag... Es ist eine merkwürdige, niemandem bisher bekannte Epoche der Uniformierung der Entwicklung eingetreten. Und plötzlich erwies sich - wohl zum ersten Mal in der Geschichte - daß es nur ein einziges Rezept, einen einzigen Weg, ein einziges Modell und eine einzige Weise der Gestaltung der Zukunft gäbe. Und die Menschen verloren den Glauben an den Sinn der sich vollziehenden Umwandlungen. Sie verloren auch die Hoffnung darauf, daß die Welt überhaupt veränderbar ist und daß es sich lohnt, die Welt zu verändern ... Der heutige Mangel an einer Alternative läßt aber die Menschen völlig neue Fragen stellen. Die erste Frage: vielleicht hatte der Westen doch nicht recht? Die zweite Frage: wenn der Westen nicht recht hatte, wer hatte dann recht? Weil für niemanden in Europa wohl keinem Zweifel unterliegt, daß der Kommunismus nicht recht hatte, entsteht die dritte Frage: Vielleicht gibt es kein Recht? Aber wenn es so ist, hat das ganze Gedankengut der Aufklärung keinen Wert ... Vielleicht hielt die ausgediente Dampfmaschine der Aufklärung nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung an. Und der Dampf geht nur in die Luft. Wenn es so in der Tat ist, dann sind die Perspektiven finster.«2

190a Soviel man hier auch an Gegenfragen stellen könnte, der Realismus und die Logik der Grundfragen von Szczypiorski sind nicht beiseite zu schieben; aber zugleich ist die Diagnose so bedrückend, daß man bei ihr nicht stehenbleiben kann. Hatte niemand recht? Vielleicht gibt es kein Recht? Sind die Grundlagen der europäischen Aufklärung, auf denen unser Freiheitsweg beruht, falsch oder mindestens mangelhaft? Die Frage »Was ist Freiheit?« ist im letzten nicht weniger kompliziert als die Frage »Was ist Wahrheit?« Das Dilemma der Aufklärung, in das wir unleugbar hineingeraten sind, zwingt uns, beide Fragen neu zu stellen und auch neu nach beider Zusammenhang zu suchen. Um voranzukommen, müssen wir also den Ausgangspunkt des neuzeitlichen Freiheitsweges neu bedenken; die Kurskorrektur, die wir ganz offensichtlich brauchen, damit in der Verfinsterung der Perspektiven wieder Wege sichtbar werden, muß auf die Ausgangspunkte selbst zurückgreifen und dort einsetzen. Natürlich kann ich hier nur versuchen, ein paar Schlaglichter zu setzen, die Größe und Gefährdungen des neuzeitlichen Weges andeuten, um so zu neuer Besinnung zu helfen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Neuzeit: Luther; Aufklärung: 2 Richtungen (Naturrecht, Rousseau); Marxismus; J.P. Satre

Kurzinhalt: Der Mensch hat keine Natur, sondern ist nur Freiheit. Er muß das Leben irgendwo hin leben, aber es geht doch ins Leere. Diese sinnlose Freiheit ist des Menschen Hölle. Das Aufregende an diesem Denkansatz besteht darin, daß hier die Trennung von ...

Textausschnitt: Die Problematik der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte und ihres Freiheitsbegriffs

191a Es ist kein Zweifel: Die Epoche, die wir Neuzeit nennen, ist von Anfang an durch das Thema Freiheit bestimmt; der Aufbruch nach neuen Freiheiten ist überhaupt der einzige Grund, der zu einer solchen Periodisierung berechtigt. Luthers Kampfschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« schlägt sofort das Thema in kräftigen Tönen an.1 Es war der Ruf der Freiheit, der die Menschen aufhorchen machte, der eine wahre Lawine in Gang setzte und aus den Schriften eines Mönches eine Massenbewegung entstehen ließ, die das Gesicht der mittelalterlichen Welt von Grund auf umgestaltete. Es ging um die Freiheit des Gewissens gegenüber der kirchlichen Autorität, also um die innerste Freiheit des Menschen überhaupt. Nicht die gemeinschaftlichen Ordnungen retten den Menschen, sondern sein ganz persönlicher Glaube an Christus. Daß plötzlich das ganze Ordnungssystem der mittelalterlichen Kirche letztlich nicht mehr zählte, wurde als ein ungeheurer Befreiungsschub empfunden. Die Ordnungen, die eigentlich tragen und retten sollten, erschienen als Last; sie binden nicht mehr, das heißt sie haben keine Erlösungsbedeutung mehr. Die Erlösung ist Befreiung, Befreiung vom Joch der überindividuellen Ordnungen. Auch wenn man nicht vom Individualismus der Reformation sprechen sollte, so ist doch die neue Bedeutung des einzelnen und die Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Einzelgewissen und der Autorität ein tragender Zug. Diese Befreiungsbewegung blieb freilich auf den eigentlich religiösen Bereich beschränkt. Wo sie, wie in den Bauernkriegen und in der Täuferbewegung, auch zum politischen Programm wurde, hat sich ihr Luther kräftig entgegengestellt. Im politischen Bereich wurde mit der Schaffung der Staats- und Landeskirchen ganz im Gegenteil die Macht der weltlichen Autorität gesteigert und verhärtet. Im angelsächsischen Raum brechen dann die Freikirchen aus dieser neuen Verschmelzung von religiöser und politischer Herrschaft aus und werden so zu Vorläufern einer neuen Konstruktion der Geschichte, die dann in der zweiten Phase der Neuzeit, der Aufklärung, deutliche Gestalt annimmt. (Fs)

192a Der ganzen Aufklärung gemeinsam ist der Wille zur Emanzipation, zunächst im Sinn von Kants »sapere aude - wage, deine Vernunft selbst zu gebrauchen«. Es geht um den Ausbruch der Einzelvernunft aus den Bindungen der Autorität, die alle kritisch überprüft werden müssen. Nur das vernünftig Einsichtige soll gelten. Dieses philosophische Programm ist seinem Wesen nach auch ein politisches Programm: Nur die Vernunft soll herrschen, es soll letztlich keine andere Autorität geben als die der Vernunft. Nur das Einsichtige gilt; was nicht vernünftig, das heißt einsichtig ist, kann auch nicht verpflichten. Diese Grundrichtung der Aufklärung stellt sich aber doch in unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Sozialphilosophien und politischen Programmen dar. Mir scheint, man könne zwei große Strömungen unterscheiden: die mehr naturrechtlich orientierte angelsächsische Richtung, die zur konstitutionellen Demokratie als dem einzig realistischen System von Freiheit tendiert; dagegen steht der radikale Ansatz von Rousseau, der letztlich auf die völlige Herrschaftslosigkeit abzielt. Das naturrechtliche Denken kritisiert das positive Recht, die konkreten Herrschaftsformen am Maßstab der inneren Rechte des Menschseins, die allen gesetzlichen Ordnungen vorausgehen, ihr Maß und ihr Grund sind. »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wär' er in Ketten geboren« hat in diesem Sinn Friedrich von Schiller gesagt. Das ist nicht ein Satz, der Sklaven mit metaphysischen Gedanken tröstet, sondern ein kämpferischer Satz, eine Handlungsmaxime. Rechtsordnungen, die Sklaverei schaffen, sind Unrechtsordnungen. Von der Schöpfung her hat der Mensch Rechte, die geltend gemacht werden müssen, damit Gerechtigkeit sei. Freiheit wird dem Menschen nicht von außen verliehen. Er hat Recht deshalb, weil er frei geschaffen ist. Aus solchem Denken ist die Idee der Menschenrechte als Magna Charta der modernen Freiheitsbewegung entfaltet worden. Wenn hier von Natur die Rede ist, dann ist nicht einfach ein System von biologischen Abläufen gemeint. Vielmehr wird gesagt, daß vor allen Ordnungsgebilden im Menschen selbst, von seiner Natur her, Rechte da sind. Die Menschenrechtsidee ist in diesem Sinn zunächst eine revolutionäre Idee: Sie steht gegen den Staatsabsolutismus, gegen die Willkür positiver Gesetzgebung. Aber sie ist auch eine metaphysische Idee: Im Sein selbst steckt ein ethischer und rechtlicher Anspruch. Es ist nicht blinde Materialität, die man dann nach purer Zweckmäßigkeit formen kann. Natur trägt Geist in sich, trägt Ethos und Würde in sich und ist so der Rechtsanspruch auf unsere Befreiung und ihr Maß zugleich. Dies ist im Prinzip durchaus der von der Stoa inspirierte und schöpfungstheologisch verwandelte Naturbegriff von Röm 2, was uns hier begegnet: Die Heiden kennen »von Natur« das Gesetz und sind sich so selbst Gesetz (Röm 2,14). (Fs)

193a Das spezifisch Aufklärerisch-Neuzeitliche dieser Denklinie wird man wohl darin sehen dürfen, daß der Rechtsanspruch der Natur gegenüber den bestehenden Herrschaftsgestalten vor allem Einforderung der Rechte des Individuums gegenüber dem Staat, gegenüber den Institutionen ist. Als Natur des Menschen wird es vor allem angesehen, daß er Rechte gegen die Gemeinschaft hat, Rechte, die vor der Gemeinschaft zu schützen sind: Die Institution erscheint als der Gegenpol zur Freiheit; als Träger von Freiheit erscheint das Individuum und als ihr Ziel die volle Emanzipation des Individuums. (Fs)

193b Darin berührt sich diese Strömung mit der zweiten, vom Ansatz her weit radikaleren Richtung: Für Rousseau steht alles, was durch Vernunft und Wille geschaffen wurde, gegen die Natur, ist ihr Verderb und ihr Widerspruch. Der Begriff der Natur ist nicht selbst wieder vom Gedanken des Rechtes geprägt, das als Naturgesetz schon allen unseren Institutionen vorausläge. Rousseaus Naturbegriff ist antimetaphysisch, dem Traum der völligen, durch nichts reglementierten Freiheit zugeordnet.2 Ähnliches taucht bei Nietzsche wieder auf, der das Rauschhaft-Dionysische dem geordneten Apollinischen gegenüberstellt und so Ur-gegensätze der Religionsgeschichte beschwört: Die Ordnungen der Vernunft, für die Apoll steht, verderben den freien, unbeschränkten Rausch der Natur.3 Klages hat dasselbe Motiv aufgenommen mit der Idee vom Geist als Widersacher der Seele: Der Geist ist nicht die große, neue Gabe, in der es überhaupt erst Freiheit gibt, sondern der Zersetzer des Ursprünglichen mit seiner Leidenschaft und Freiheit.4 In gewisser Hinsicht ist diese Kampfansage an den Geist antiaufklärerisch, und insofern konnte sich der Nationalsozialismus mit seiner Feindseligkeit gegenüber der Aufklärung und mit seiner Anbetung von »Blut und Boden« auf solche Richtungen berufen. Aber das Grundmotiv der Aufklärung, der Schrei nach der Freiheit, ist auch hier nicht bloß wirksam, sondern zu seiner radikalsten Form gesteigert. In den politischen Radikalismen des 19. wie des 20. Jahrhunderts sind gegenüber der demokratisch domestizierten Form von Freiheit immer wieder solche Tendenzen in vielfältigen Gestalten durchgebrochen. Die Französische Revolution, die mit einer konstitutionellen demokratischen Idee begonnen hatte, hat schnell diese Fesseln von sich geworfen und sich auf die Bahnen Rousseaus und des anarchischen Freiheitsgedankens begeben; gerade damit ist sie - unausweichlich - zur blutigen Diktatur geworden. (Fs)

194a Auch der Marxismus setzt diese radikale Linie fort: Er hat die demokratische Freiheit immer als Scheinfreiheit kritisiert und eine bessere, radikalere Freiheit verheißen. Seine Faszination kam ja gerade davon, daß er eine größere und kühnere Freiheit verhieß, als sie in den Demokratien verwirklicht ist. Zwei Aspekte des marxistischen Systems scheinen mir für die Freiheitsproblematik der Neuzeit und für die Frage nach Freiheit und Wahrheit besonders wichtig zu sein:

1. Der Marxismus geht davon aus, daß Freiheit unteilbar ist, also als solche nur besteht, wenn sie Freiheit aller ist. Freiheit ist an Gleichheit gebunden: Damit Freiheit sei, muß zuallererst Gleichheit hergestellt werden. Das bedeutet, daß zum Ziel der völligen Freiheit Freiheitsverzichte notwendig sind. Die Solidarität derer, die für die gemeinsame Freiheit aller kämpfen, geht der Durchsetzung der individuellen Freiheiten voran. Das Marx-Zitat, von dem wir ausgegangen sind, zeigt, daß am Ende doch wieder die Idee der schrankenlosen Freiheit des Individuums steht, aber für die Gegenwart gilt die Überordnung des gemeinschaftlichen Aspekts, die Überordnung der Gleichheit über die Freiheit und also das Recht der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. (Fs)

2. Damit verbunden ist die Voraussetzung, daß die Freiheit des einzelnen von der Struktur des Ganzen abhängt und daß der Kampf um die Freiheit zunächst nicht als Kampf um die Rechte des Individuums, sondern als Kampf um eine veränderte Weltstruktur geführt werden muß. Bei der Frage, wie diese Struktur auszusehen habe und welches daher die rationalen Mittel zu ihrer Herstellung seien, ist freilich dem Marxismus der Atem ausgegangen. Denn daß keine der konstruierten Strukturen die Freiheit wirklich ermöglicht, derentwegen die Freiheitsverzichte verlangt werden, konnte eigentlich ein Blinder sehen. Aber Intellektuelle sind blind, wo es um ihre Denkgebilde geht. Deswegen konnten sie jedem Realismus entsagen und weiter für ein System kämpfen, dessen Verheißungen nicht einlösbar waren. Man half sich mit einer Ausflucht ins Mythologische: Die neue Struktur werde einen neuen Menschen hervorbringen - denn in der Tat, nur mit neuen Menschen, mit ganz anderen Menschen könnten die Verheißungen funktionieren. Wenn in der Forderung der Solidarität und in der Idee der Unteilbarkeit der Freiheit der moralische Charakter des Marxismus liegt, so wird in seiner Ankündigung des neuen Menschen eine Lüge deutlich, die auch den moralischen Ansatz paralysiert. Teilwahrheiten sind einer Lüge zugeordnet, und daran scheitert das Ganze: Die Freiheitslüge hebt auch die wahren Elemente auf. Freiheit ohne Wahrheit ist keine Freiheit. (Fs) (notabene)

195a An dieser Stelle stehen wir. Wir sind genau wieder an den Problemen angelangt, die Szczypiorski in Salzburg so drastisch formuliert hat. Was Lüge ist, wissen wir nun - wenigstens in bezug auf die bisherigen Erscheinungsformen des Marxismus. Aber was Wahrheit ist, wissen wir damit noch lange nicht Ja, die Furcht wird stärker: Vielleicht gibt es überhaupt keine Wahrheit? Vielleicht gibt es das Recht und das Richtige überhaupt nicht? Vielleicht müssen wir uns mit minimalen Notordnungen begnügen? Aber vielleicht gelingen gerade auch die nicht, wie die Entwicklungen in so vielen Teilen der Welt zeigen? Die Skepsis wächst, und ihre Gründe werden stärker, aber auch der Wille zum Unbedingten ist nicht aufzuheben. (Fs)

196a Das Gefühl, daß die Demokratie noch nicht die rechte Form der Freiheit sei, ist ziemlich allgemein und breitet sich immer mehr aus. Die marxistische Demokratiekritik kann man nicht einfach beiseite schieben: Wie frei sind Wahlen? Wie weit ist der Wille durch Werbung, also durch das Kapital, durch einige Herrscher über die öffentliche Meinung manipuliert? Gibt es nicht die neue Oligarchie derer, die bestimmen, was modern und fortschrittlich ist, was ein aufgeklärter Mensch zu denken hat? Die Grausamkeit dieser Oligarchie, ihre Möglichkeit öffentlicher Hinrichtungen, ist hinlänglich bekannt. Wer sich ihr in den Weg stellen möchte, ist ein Feind der Freiheit, weil er ja die freie Meinungsäußerung behindert. Und wie ist es mit der Willensbildung in den Gremien demokratischer Repräsentation? Wer möchte noch glauben, daß das Wohl der Allgemeinheit dabei das eigentlich bestimmende Moment sei? Wer könnte an der Macht von Interessen zweifeln, deren schmutzige Hände immer häufiger sichtbar werden? Und überhaupt: Ist das System von Mehrheit und Minderheit wirklich ein System der Freiheit? Und werden nicht Interessenverbände jeder Art zusehends stärker als die eigentliche politische Vertretung, das Parlament? In diesem Gewirr von Mächten steigt das Problem der Unregierbarkeit immer drohender auf: Der gegenseitige Durchsetzungswille blockiert die Freiheit des Ganzen. (Fs) (notabene)

196b Es gibt zweifellos den Flirt mit autoritären Lösungen, die Flucht vor der unbewältigten Freiheit. Aber bestimmend für den Geist unserer Zeit ist diese Haltung noch nicht. Der radikale Strom der Aufklärung hat seine Wirkung nicht verloren, er wird sogar stärker. Gerade angesichts der Grenzen der Demokratie wird der Ruf nach einer totalen Freiheit lauter. Nach wie vor, ja zusehends gelten »Gesetz und Ordnung« als Gegensatz zu Freiheit. Nach wie vor erscheinen Institution, Überlieferung, Autorität an sich als Gegenpole von Freiheit. Der anarchische Zug des Freiheitsverlangens verstärkt sich, weil die geordneten Formen gemeinschaftlicher Freiheit nicht befriedigen. Die großen Verheißungen der aufbrechenden Neuzeit wurden nicht eingelöst, aber ihre Faszination ist ungebrochen. Die demokratisch geordnete Form von Freiheit kann man heute nicht mehr bloß durch diese oder jene Gesetzesreform verteidigen. Die Frage geht an die Grundlagen selbst. Es geht darum, was der Mensch ist und wie er als einzelner und im ganzen richtig leben kann. (Fs)

197a Man sieht: Das politische, das philosophische und das religiöse Problem der Freiheit ist ein unlösbares Ganzes geworden; wer Wege in die Zukunft sucht, muß das Ganze im Blick haben und kann sich nicht mit vordergründigen Pragmatismen begnügen. Bevor ich versuche, Wegrichtungen anzudeuten, die sich mir zu öffnen scheinen, möchte ich noch einen Blick auf die vielleicht radikalste Freiheitsphilosophie des 20. Jahrhunderts werfen, diejenige von J.-P. Sartre, in der die Frage in ihrem ganzen Ernst und ihrer Größe deutlich wird. Sartre sieht die Freiheit des Menschen als seine Verdammnis an. Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch keine »Natur«. Das Tier lebt seine Existenz nach der ihm eingestifteten Gesetzmäßigkeit; es braucht nicht zu überlegen, was es mit seinem Leben anfangen will. Aber das Wesen Mensch ist undeterminiert. Es ist eine offene Frage. Ich muß selbst entscheiden, was ich unter Menschsein verstehen, was ich damit anfangen, wie ich es gestalten will. Der Mensch hat keine Natur, sondern ist nur Freiheit. Er muß das Leben irgendwo hin leben, aber es geht doch ins Leere. Diese sinnlose Freiheit ist des Menschen Hölle. Das Aufregende an diesem Denkansatz besteht darin, daß hier die Trennung von Freiheit und Wahrheit radikal durchgeführt ist: Es gibt gar keine Wahrheit. Die Freiheit hat keine Richtung und kein Maß.5 Aber diese völlige Abwesenheit von Wahrheit, die völlige Abwesenheit jeder auch sittlichen und metaphysischen Bindung, die absolut anarchische Freiheit als Wesensbestimmung des Menschen, enthüllt sich für den, der sie zu leben versucht, nicht als höchste Steigerung der Existenz, sondern als Nichtigkeit des Lebens, als absolute Leere, als die Definition von Verdammnis. In der Extrapolation eines radikalen Freiheitsbegriffs, der für Sartre selbst Lebenserfahrung war, wird sichtbar, daß Befreiung von Wahrheit nicht die reine Freiheit erzeugt, sondern sie aufhebt. Die anarchische Freiheit, radikal genommen, erlöst nicht, sondern macht den Menschen zum mißratenen Geschöpf, zum Sein ohne Sinn. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Wesen der Freiheit; Beispiel: Abtreibung; implizites Ziel der modernen Freiheitsbewegung (Gegengott)

Kurzinhalt: ... gerade an diesem Beispiel wird die Grundfigur menschlicher Freiheit, ihr typisch menschliches Wesen deutlich. Denn worum geht es da? ... Das implizite Ziel aller modernen Freiheitsbewegungen ist ...

Textausschnitt: Vom Wesen menschlicher Freiheit

198a Nach diesem Versuch, die Herkunft unserer Probleme zu verstehen und so deren inneren Ansatz vor den Blick zu bekommen, wird es Zeit, nach Antworten zu suchen. Es ist wohl klar geworden, daß die Krise der Freiheitsgeschichte, in der wir heute stehen, auf einem ungeklärten und vereinseitigten Begriff von Freiheit beruht. Zum einen hat man den Begriff der Freiheit isoliert und dadurch verfälscht: Freiheit ist ein Gut, aber sie ist es nur im Verbund mit anderen Gütern, mit denen zusammen sie eine unauflösliche Ganzheit bildet. Zum anderen hat man den Freiheitsbegriff selbst verengt auf die individuellen Freiheitsrechte hin und ihn damit seiner menschlichen Wahrheit beraubt. Ich möchte das Problem dieses Freiheitsverständnisses an einem konkreten Beispiel verdeutlichen, das uns zugleich den Weg zu einer angemessenen Auffassung von Freiheit öffnen kann. Ich meine die Frage der Abtreibung. In der Radikalisierung der individualistischen Tendenz der Aufklärung erscheint Abtreibung als ein Freiheitsrecht: Die Frau muß über sich selbst verfügen können. Sie muß die Freiheit haben, ob sie ein Kind zur Welt bringen oder sich davon befreien will. Sie muß über sich selbst entscheiden dürfen, und niemand anders kann ihr - so wird uns gesagt - da von außen her eine letztlich bindende Norm auferlegen. Es geht um das Recht der Selbstbestimmung. Aber entscheidet die Frau bei der Abtreibung eigentlich über sich selbst? Entscheidet sie nicht gerade über jemand anderen - darüber, daß einem anderen keine Freiheit zugestanden werden soll, daß ihm der Raum der Freiheit - das Leben - genommen werden muß, weil das mit meiner eigenen Freiheit konkurriert? Und so ist zu fragen: Was ist das eigentlich für eine Freiheit, zu deren Rechten es zählt, die Freiheit eines anderen gleich vom Ansatz her aufzuheben? (Fs)

199a Nun sage man nicht, das Problem Abtreibung berühre einen spezifischen Sonderfall und tauge nicht, das Gesamtproblem von Freiheit zu klären. Nein, gerade an diesem Beispiel wird die Grundfigur menschlicher Freiheit, ihr typisch menschliches Wesen deutlich. Denn worum geht es da? Das Sein eines anderen Menschen ist so eng mit dem Sein dieses Menschen, der Mutter, verwoben, daß es einstweilen überhaupt nur im körperlichen Mitsein mit der Mutter bestehen kann, in einer physischen Einheit mit ihr, die doch seine Andersheit nicht aufhebt und sein Selbstsein nicht zu bestreiten gestattet. Freilich - dieses Selbersein ist auf radikale Weise ein Sein vom anderen, durch den anderen; umgekehrt wird das Sein des anderen - der Mutter - durch dieses Mitsein ins Für-Sein gedrängt, das seinem eigenen Selbstseinwollen widerspricht und so als Gegensatz zur eigenen Freiheit erfahren wird. Nun müssen wir hinzufügen, daß das Kind, auch wenn es geboren wird und die äußere Gestalt des Von-her-Seins und des Mit-Seins sich ändert, dennoch genauso abhängig, genauso angewiesen auf ein Für-Sein bleibt. Gewiß, nun kann man es in ein Heim abschieben und einem anderen Für zuordnen, aber die anthropologische Figur ist dieselbe, es bleibt das Vonher, das ein Für verlangt, eine Annahme der Grenzen meiner Freiheit, oder vielmehr ein Leben meiner Freiheit nicht aus der Konkurrenz, sondern aus dem gegenseitigen Sichtragen. Wenn wir die Augen auftun, sehen wir, daß dies wiederum nicht nur vom Kind gilt, daß vielmehr im Kind im Mutterleib nur das Wesen menschlicher Existenz im ganzen sich sehr anschaulich zu erkennen gibt: Auch für den Erwachsenen gilt, daß er nur mit dem anderen und von ihm her sein kann und so immerfort auf jenes Für-Sein angewiesen ist, das er gerade ausschließen möchte. Sagen wir es noch genauer: Der Mensch setzt zwar ganz von selbst das Für-Sein der anderen voraus, wie es sich heute im Netz der Dienstleistungssysteme gestaltet hat, aber er möchte seinerseits nicht in den Zwang eines solchen Von und Für hineingenommen sein, sondern ganz unabhängig werden, tun und lassen können, was er nur eben will. Das radikale Freiheitsverlangen, das sich im Weg der Aufklärung, besonders in der von Rousseau eröffneten Linie, immer deutlicher ergeben hat und heute weithin das allgemeine Bewußtsein bestimmt, möchte weder vonher noch woraufhin, weder von noch für sein, sondern eben ganz frei. Das heißt: Es sieht die reale Grundfigur menschlicher Existenz selbst als das jedem einzelnen Leben und Handeln vorausliegende Attentat auf die Freiheit an; es möchte gerade von seinem eigenen menschlichen Wesen zum »neuen Menschen« hin befreit werden: In der neuen Gesellschaft dürften diese das Ich beschränkenden Angewiesenheiten und dieses Sich-selbst-geben-Müssen nicht mehr existieren. (Fs) (notabene)

200a Im Grund steht hinter dem radikalen Freiheitsverlangen der Neuzeit ganz klar die Verheißung: Ihr werdet sein wie Gott. Auch wenn Ernst Topitsch glaubte, feststellen zu können, kein vernünftiger Mensch wolle heute mehr gottähnlich oder gottgleich sein, so muß man bei näherem Zusehen das genaue Gegenteil behaupten: Das implizite Ziel aller modernen Freiheitsbewegungen ist es, endlich wie ein Gott zu sein, von nichts und niemandem abhängig, durch keine fremde Freiheit in der eigenen beschränkt. Wenn man erst einmal diesen versteckten theologischen Kern des radikalen Freiheitswillens sichtet, dann wird auch der fundamentale Irrtum sichtbar, der sich selbst da noch auswirkt, wo solche Radikalismen direkt nicht gewollt, ja, abgelehnt werden. Ganz frei sein, ohne die Konkurrenz anderer Freiheit, ohne ein Von und ein Für - dahinter steht nicht ein Gottes-, sondern ein Götzenbild. Der Urirrtum solch radikalisierten Freiheitswillens liegt in der Idee einer Göttlichkeit, die rein egoistisch konzipiert ist. Der so gedachte Gott ist nicht ein Gott, sondern ein Götze, ja, das Bild dessen, was die christliche Überlieferung den Teufel - den Gegengott - nennen würde, weil darin eben der radikale Gegensatz zum wirklichen Gott liegt: Der wirkliche Gott ist seinem Wesen nach ganz Sein-Für (Vater), Sein-Von (Sohn) und Sein-Mit (Heiliger Geist). Der Mensch aber ist Gottes Ebenbild eben dadurch, daß das Von, Mit und Für die anthropologische Grundfigur bildet. Wo man sich von ihr zu befreien versucht, bewegt man sich nicht auf Göttlichkeit zu, sondern auf Entmenschlichung, auf Zerstörung des Seins selbst durch Zerstörung der Wahrheit. Die jakobinische Variante der Befreiungsidee (nennen wir die neuzeitlichen Radikalismen einmal so) ist Rebellion gegen das Menschsein selbst, Rebellion gegen die Wahrheit, und darum führt sie den Menschen - wie Sartre scharfsichtig gesehen hat - in eine Existenz des Selbstwiderspruchs, die wir Hölle nennen. (Fs) (notabene)

200b Damit ist wohl deutlich geworden, daß Freiheit an ein Maß, das Maß der Wirklichkeit - an die Wahrheit - gebunden ist. Freiheit zur Selbstzerstörung oder zur Zerstörung des anderen ist keine Freiheit, sondern ihre teuflische Parodie. Freiheit des Menschen ist geteilte Freiheit, Freiheit im Miteinandersein von Freiheiten, die sich gegenseitig begrenzen und sich so gegenseitig tragen: Freiheit muß sich an dem messen, was ich bin, was wir sind - andernfalls hebt sie sich selber auf. Damit kommen wir aber nun zu einer wesentlichen Korrektur des weithin herrschenden oberflächlichen Freiheitsbildes der Gegenwart: Wenn Freiheit des Menschen nur im geordneten Miteinandersein von Freiheiten bestehen kann, dann heißt dies, daß Ordnung - Recht - nicht Gegenbegriff zur Freiheit ist, sondern ihre Bedingung, ja ein konstitutives Element von Freiheit selbst. Recht ist nicht das Hindernis der Freiheit, sondern es konstituiert sie. Die Abwesenheit von Recht ist Abwesenheit von Freiheit. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Augustinus (Räuberbande); Verantwortung; Weltethos (Küng, Kritik)

Kurzinhalt: Wenn Verantwortung Antwort auf die Wahrheit des Menschseins ist, dann können wir also sagen: Zu wahrer Befreiungsgeschichte gehört die immerwährende Reinigung auf Wahrheit hin. In der Reinigung der einzelnen und der Institutionen durch diese Wahrheit ...

Textausschnitt: Freiheit und Verantwortung

201a Freilich ergibt sich mit dieser Erkenntnis sogleich auch eine neue Frage: Was ist freiheitsgemäßes Recht? Wie muß Recht beschaffen sein, damit es Freiheitsrecht bilde, denn es gibt zweifellos Scheinrecht, das ein Sklavenrecht und darum kein Recht, sondern eine regulierte Form von Unrecht bildet. Unsere Kritik darf sich nicht gegen das Recht selbst richten, das zum Wesen der Freiheit gehört; sie muß Scheinrecht als solches überführen und dem Hervortreten des wirklichen Rechts dienen - jenes Rechtes, das der Wahrheit und darum der Freiheit gemäß ist. (Fs)

201b Aber wie findet man es - das ist die große Frage, die endlich richtig gestellte Frage wirklicher Befreiungsgeschichte. Gehen wir auch hier wie schon bisher nicht mit abstrakten philosophischen Erwägungen zu Werke, sondern versuchen wir, uns von den gegebenen Realitäten der Geschichte her an eine Antwort heranzutasten. Fangen wir bei einer überschaubaren kleinen Gemeinschaft an, so läßt sich wohl von ihren Möglichkeiten und Grenzen her einigermaßen ausloten, welche Ordnung am besten dem Zusammenleben aller dient, so daß aus ihrem Miteinander eine gemeinsame Gestalt von Freiheit entsteht. Aber keine kleine Gemeinschaft steht in sich selbst; sie ist eingeborgen und in ihrem eigenen Wesen mitbestimmt von den größeren Ordnungen, denen sie zugehört. Im Zeitalter der Nationalstaaten ging man davon aus, daß die eigene Nation die maßgebende Einheit sei - daß ihr gemeinsames Gut auch den rechten Maßstab der gemeinsamen Freiheit bilde. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert hat klargemacht, daß dieser Gesichtspunkt nicht ausreicht. Augustinus hatte dazu gesagt, daß ein Staat, der sich nur an den gemeinsamen Interessen dieses Staates und nicht an der Gerechtigkeit selber, an der wahren Gerechtigkeit messe, strukturell nicht von einer gut geordneten Räuberbande verschieden sei. Denn für sie ist ja charakteristisch, daß sie das Gut der Bande unabhängig vom Gut der anderen als ihr Maß nimmt. Im Rückblick auf das Kolonialzeitalter und die Schäden, die es in der Welt hinterlassen hat, sehen wir heute, daß noch so geordnete und zivilisierte Staaten sich irgendwie dem Wesen der Räuberbande annäherten, weil sie nur vom eigenen Gut und nicht vom Guten selbst her dachten. So gewährleistete Freiheit hat dann etwas von der Räuberfreiheit an sich. Es ist nicht die wahre, wahrhaft menschliche Freiheit. Bei der Suche nach dem rechten Maß muß die ganze Menschheit vor Augen stehen und - wie wir immer deutlicher sehen - wiederum nicht nur die Menschheit von heute, sondern auch die von morgen. (Fs)

202a Der Maßstab für das wirkliche Recht, das sich als wahres Recht und damit als Freiheitsrecht bezeichnen darf, kann daher nur das Gut des Ganzen, das Gute selber sein. Von dieser Einsicht her hat Hans Jonas den Begriff Verantwortung zum ethischen Zentralbegriff erklärt.1 Das bedeutet, daß Freiheit, um recht verstanden zu werden, immer mit Verantwortung zusammen gedacht werden muß. Befreiungsgeschichte kann demgemäß immer nur als Geschichte wachsender Verantwortung stattfinden. Wachstum von Freiheit kann nicht mehr einfach in der immer weiteren Entschränkung der individuellen Rechte bestehen - was zur Absurdität und zur Zerstörung gerade auch der individuellen Freiheiten führt. Freiheitswachstum muß Wachstum von Verantwortung sein. Dazu gehört das Annehmen der je größeren Bindungen, die vom Anspruch des Miteinander der Menschheit, von der Angemessenheit für das Wesentliche des Menschen gefordert werden. Wenn Verantwortung Antwort auf die Wahrheit des Menschseins ist, dann können wir also sagen: Zu wahrer Befreiungsgeschichte gehört die immerwährende Reinigung auf Wahrheit hin. In der Reinigung der einzelnen und der Institutionen durch diese Wahrheit besteht diese wahre Freiheitsgeschichte. (Fs)

203a Das Prinzip Verantwortung setzt einen Rahmen, der inhaltlicher Füllung bedarf. In diesem Zusammenhang ist der Vorschlag der Ausbildung eines Weltethos zu sehen, für das sich vor allem Hans Küng leidenschaftlich engagiert. Zweifellos ist es sinnvoll, ja, in unserer gegenwärtigen Lage nötig, nach den gemeinsamen Grundelementen der ethischen Traditionen in den verschiedenen Religionen und Kulturen zu suchen; in diesem Sinn ist eine solche Bemühung durchaus wichtig und angebracht. Andererseits sind die Grenzen eines solchen Versuchs offenkundig, auf die zum Beispiel Joachim Fest in einer durchaus wohlwollenden, aber auch sehr pessimistischen Analyse hingewiesen hat, die sich in ihrer Richtung mit dem Skeptizismus von Szczypiorski berührt.2 Denn einem solchen aus den Weltreligionen destillierten ethischen Mininum fehlt zunächst die Verbindlichkeit, die innere Autorität, die das Ethos braucht. Es fehlt ihm trotz allem Bemühen um Einsicht auch die rationale Evidenz, die nach der Meinung der Autoren wohl die Autorität ersetzen könnte und sollte; es fehlt auch die Konkretheit, die das Ethos erst wirksam macht. (Fs)

203b Ein Gedanke scheint mir richtig, der in diesem Versuch wohl mitgedacht ist: Die Vernunft muß auf die großen religiösen Überlieferungen hören, wenn sie nicht gerade für das Wesentliche menschlicher Existenz taub und stumm und blind werden will. Es gibt keine große Philosophie, die nicht vom Zuhören und Annehmen religiöser Tradition lebt. Wo immer dieser Bezug abgeschnitten wird, verdorrt das philosophische Denken und wird zu einem bloßen Spiel von Begriffen.3 Gerade am Thema Verantwortung, das heißt an der Frage nach der Verankerung der Freiheit in der Wahrheit des Guten, in der Wahrheit des Menschen und der Welt, zeigt sich die Notwendigkeit solchen Zuhörens sehr deutlich. Denn so treffend das Prinzip Verantwortung von seinem Ansatz her ist, es bleibt doch die Frage: Wie sollen wir überschauen, was gut für alle ist und was gut ist nicht nur für heute, sondern auch für morgen? Eine doppelte Gefahr lauert hier: Zum einen droht das Abgleiten in den Konsequenzialismus, den der Papst mit Recht in seiner Moralenzyklika kritisiert.4 Der Mensch übernimmt sich einfach, wenn er glaubt, die Konsequenzen seines Handelns rundum abschätzen und sie zur Norm seiner Freiheit nehmen zu können. Dann wird alsbald die Gegenwart der Zukunft geopfert, aber auch die Zukunft nicht aufgebaut. Zum anderen ist da die Frage: Wer entscheidet denn, was unsere Verantwortung gebietet? Wo man Wahrheit nicht mehr im verstehenden Aneignen der großen Überlieferungen des Glaubens sieht, wird sie ersetzt durch den Konsens. Aber wiederum ist zu fragen: wessen Konsens? Dann wird gesagt: der Konsens derer, die argumentationsfähig sind. Weil man dann die elitäre Anmaßung einer solchen intellektuellen Diktatur nicht übersehen kann, wird gesagt, die Argumentationsfähigen müßten »advokatisch« auch für die einstehen, die zum rationalen Diskurs nicht fähig seien. All das kann wenig Vertrauen erwecken. Wie brüchig Konsense sind und wie schnell sich parteiliche Gruppen in einem bestimmten intellektuellen Klima als die einzig berechtigten Vertreter des Fortschritts und der Verantwortung durchsetzen können, steht vor unser aller Augen. Hier kann nur allzu leicht der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben werden; allzu leicht könnten anstatt des Dämons vergangener geistiger Konstellationen sieben neue und schlimmere Dämonen unser Haus besetzen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Definition: Verantwortung; Dekalog

Kurzinhalt: Diese eine Wahrheit des Menschen, in der das Gut aller und die Freiheit unlösbar einander zugeordnet sind, ist in der biblischen Überlieferung zentral ausgedrückt im Dekalog, ...

Textausschnitt: Die Wahrheit unseres Menschseins

204a Die Frage danach, wie Verantwortung und Freiheit ins richtige Verhältnis zu setzen sind, kann nicht einfach durch ein Kalkül der Wirkungen entschieden werden. Wir müssen auf den vorigen Gedanken zurückkommen, daß menschliche Freiheit eine Freiheit im Miteinandersein der Freiheiten ist; nur so ist sie wahr, nämlich der realen Wirklichkeit des Menschen gemäß. Das bedeutet: Ich brauche gar nicht von außen her korrigierende Elemente zur Freiheit des einzelnen zu suchen; so würden Freiheit und Verantwortung, Freiheit und Wahrheit immer Gegensätze bleiben, die sie nicht sind. Die recht erkannte Wirklichkeit des einzelnen trägt selbst die Verwiesenheit auf das Ganze, auf den anderen in sich. Demgemäß werden wir sagen: Es gibt die in jedem Menschen liegende gemeinsame Wahrheit des einen Menschseins, die von der Überlieferung als »Natur« des Menschen bezeichnet wurde. Vom Schöpfungsglauben her können wir es noch deutlicher formulieren: Es gibt den einen Gottesgedanken Mensch, dem zu antworten unser Auftrag ist. In ihm sind Freiheit und Gemeinschaftlichkeit, Ordnung und Verwiesenheit auf die Zukunft ein einziges. (Fs)

205a Verantwortung würde dann bedeuten: Das Sein als Antwort leben - als Antwort auf das, was wir in Wahrheit sind. Diese eine Wahrheit des Menschen, in der das Gut aller und die Freiheit unlösbar einander zugeordnet sind, ist in der biblischen Überlieferung zentral ausgedrückt im Dekalog, der sich im übrigen in vieler Hinsicht mit den großen ethischen Überlieferungen anderer Religionen deckt. Der Dekalog ist zugleich Selbstvorstellung, Selbstdarstellung Gottes und Auslegung des Menschseins, Aufscheinen seiner Wahrheit, die im Spiegel des Gotteswesens sichtbar wird, weil nur von Gott her der Mensch recht zu verstehen ist. Den Dekalog leben heißt: die eigene Gottähnlichkeit leben, der Wahrheit unseres Wesens antworten und so das Gute tun. Noch mal anders gesagt: Den Dekalog leben bedeutet, die Göttlichkeit des Menschen zu leben, und das eben ist Freiheit: Verschmelzung unseres Seins mit dem göttlichen Sein und der daraus folgende Einklang aller mit allen.1 (Fs) (notabene)

205b Damit diese Aussage richtig verstanden wird, muß noch eine Anmerkung hinzugefügt werden. Jedes große Menschenwort reicht über das unmittelbar bewußt Gesagte in größere Tiefen hinein; im Gesagten steckt immer ein Überschuß des Ungesagten, der die Worte mit dem Vorangehen der Zeiten wachsen läßt. Wenn dies schon von menschlicher Rede gilt, so erst recht von dem Wort, das aus göttlicher Tiefe kommt. Der Dekalog ist nie einfach fertig verstanden. In den einander folgenden und sich verändernden Situationen geschichtlicher Verantwortung erscheint er in immer neuen Perspektiven, öffnen sich immer neue Dimensionen seiner Bedeutung. Es geschieht das Hineingeführtwerden ins Ganze der Wahrheit, in Wahrheit, die gar nicht in einem geschichtlichen Augenblick allein getragen werden könnte (vgl. Joh 16,121). Für den Christen bedeutet die Auslegung, die sich in Wort und Leben und Leiden und Auferstehen Christi vollzogen hat, die entscheidende Auslegungsinstanz, in der eine vorher nicht abzusehende Tiefe aufbricht. Weil es so ist, darum ist menschliches Zuhören auf die Botschaft des Glaubens kein passives Aufnehmen sonst unbekannter Information, sondern das Aufwecken unseres verschütteten Gedächtnisses und das Auftun der Kräfte des Verstehens, die in uns auf das Licht der Wahrheit warten. So ist solches Verstehen ein höchst aktiver Vorgang, in dem die ganze rationale Suche nach den Maßen unserer Verantwortung erst wirklich zu Kräften kommt. Die rationale Suche wird nicht erstickt, sondern aus dem hilflosen Kreisen im Unerforschlichen befreit und auf den Weg gebracht. Wenn der im rationalen Verstehen ausgefaltete Dekalog die Antwort auf den inneren Anspruch unseres Wesens ist, dann ist er nicht Gegenpol zu unserer Freiheit, sondern ihre reale Form. Dann ist er die Grundlage für jedes Recht der Freiheit und die eigentlich befreiende Kraft der menschlichen Geschichte. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Zusammenfassung; Korrektur des Freiheitsbegriffs (3 Punkte); Sein-von, Sein-mit, Sein-für

Kurzinhalt: Freiheit muß sich, wenn sie nicht zur Lüge und zur Selbstzerstörung führen soll, an der Wahrheit orientieren, das heißt daran, was wir eigentlich sind, und diesem unserem Sein entsprechen.

Textausschnitt: Zusammenfassung der Ergebnisse

206a »Vielleicht hielt die ausgediente Dampfmaschine der Aufklärung nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung an. Und der Dampf geht nur in die Luft«: Das ist die pessimistische Diagnose von Szczypiorski, die uns als Aufforderung zum Nachdenken auf den Weg getreten war. Nun, ich würde sagen: Störungslos war die Arbeit dieser Maschine nie - denken wir nur an die zwei Weltkriege des letzten Jahrhunderts und an die Diktaturen, die wir erlebt haben. Aber ich würde hinzufügen: Wir brauchen keineswegs das Erbe der Aufklärung als solches und im ganzen zu verabschieden, zur ausgedienten Dampfmaschine zu erklären. Was wir freilich brauchen, ist eine Kurskorrektur in drei wesentlichen Punkten, in denen ich den Ertrag meiner Überlegungen zusammenfassen möchte. (Fs)

207a
1. Ein Verständnis von Freiheit, das als Befreiung nur immer weitere Auflösungen von Normen und die ständige Ausweitung individueller Freiheiten bis hin zur völligen Befreiung von aller Ordnung ansehen mag, ist falsch. Freiheit muß sich, wenn sie nicht zur Lüge und zur Selbstzerstörung führen soll, an der Wahrheit orientieren, das heißt daran, was wir eigentlich sind, und diesem unserem Sein entsprechen. Da der Mensch ein Wesen im Sein-von, Sein-mit und Sein-für ist, kann menschliche Freiheit nur im geordneten Miteinander der Freiheiten bestehen. Recht ist daher nicht Gegensatz zu Freiheit, sondern ihre Bedingung, ja konstitutiv für sie selbst. Befreiung besteht nicht in der allmählichen Abschaffung von Recht und von Normen, sondern in der Reinigung unserer selbst und in der Reinigung der Normen, so daß sie das menschengemäße Miteinander der Freiheiten ermöglichen. (Fs)

2. Aus der Wahrheit unseres Wesens folgt ein weiteres: Es wird innerhalb dieser unserer Menschengeschichte nie den absolut idealen Zustand geben, und es wird nie eine endgültige Freiheitsordnung errichtet werden. Der Mensch ist immer unterwegs und immer endlich. Szczypiorski hatte angesichts des offenkundigen Unrechts der sozialistischen Gesellschaftsordnung und angesichts aller Probleme der liberalen Ordnung die zweifelnde Frage gestellt: Vielleicht gibt es überhaupt kein Recht? Darauf müssen wir nun sagen: In der Tat, die schlechthin ideale Ordnung der Dinge, die rundum recht ist, wird es nie geben.1 Wo solcher Anspruch erhoben wird, wird nicht die Wahrheit gesagt. Der Fortschrittsglaube ist nicht in jeder Hinsicht falsch. Falsch aber ist der Mythos von der künftigen befreiten Welt, in der alles anders und gut sein wird. Wir können immer nur relative Ordnungen errichten, sie können immer nur relativ recht haben und sein. Aber gerade um diese höchstmögliche Annäherung an das wahrhaft Rechte müssen wir uns mühen. Alles andere, jede innergeschichtliche Eschatologie, befreit nicht, sondern täuscht und knechtet daher. Deswegen muß auch der mythische Glanz entmythisiert werden, den man Begriffen wie Veränderung und Revolution beigelegt hat. Veränderung ist kein Gut in sich selbst. Ob sie gut oder schlecht ist, hängt von ihren konkreten Inhalten und Bezugspunkten ab. Die Meinung, die wesentliche Aufgabe im Ringen um Freiheit sei die Veränderung der Welt, ist - ich wiederhole es - ein Mythos. In der Geschichte wird es immer ein Auf und Ab geben. In bezug auf das eigentlich sittliche Wesen des Menschen verläuft sie nicht linear, sondern in Wiederholungen. Unsere Aufgabe ist es, jeweils in der Gegenwart um die relativ beste Verfassung des menschlichen Miteinander zu ringen und dabei errungenes Gutes zu bewahren, bestehendes Schlechtes zu überwinden und dem Einbruch der Mächte der Zerstörung zu wehren. (Fs)

3. Wir müssen auch den Traum der absoluten Autonomie der Vernunft und ihrer Selbstgenügsamkeit verabschieden. Die menschliche Vernunft braucht den Anhalt an den großen religiösen Traditionen der Menschheit. Sie wird die einzelnen religiösen Traditionen durchaus kritisch betrachten. Die Pathologie der Religion ist die gefährlichste Erkrankung des menschlichen Geistes. Sie existiert in den Religionen, sie existiert aber gerade auch dort, wo Religion als solche abgewiesen und relativen Gütern absoluter Rang zugewiesen wird: Die atheistischen Systeme der Neuzeit sind die erschreckendsten Beispiele einer ihrem Wesen entfremdeten religiösen Leidenschaft, das heißt aber einer lebensgefährlichen Erkrankung des menschlichen Geistes. Wo Gott geleugnet wird, wird Freiheit nicht aufgebaut, sondern ihres Grundes beraubt und daher verzerrt.2 Wo die reinsten und tiefsten religiösen Überlieferungen ganz abgelegt werden, trennt sich der Mensch von seiner Wahrheit, er lebt gegen sie und wird unfrei. Auch die philosophische Ethik kann nicht schlechthin autonom sein. Sie kann nicht auf den Gottesgedanken verzichten und nicht verzichten auf den Gedanken einer Wahrheit des Seins, die ethischen Charakter hat.3 Wenn es keine Wahrheit vom Menschen gibt, hat er auch keine Freiheit. Nur die Wahrheit macht frei. (E99; 20.06.2009)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Königreich - Regno-Zentrik (eg: Weltethik); säkularistische Umdeutung des Reichsgedankens

Kurzinhalt: Bei näherem Hinsehen erweist sich das alles als utopistisches Gerede ohne realen Inhalt, sofern man nicht im Stillen Parteidoktrinen als von jedermann anzunehmenden Inhalt dieser Begriffe voraussetzt.

Textausschnitt: 82a Inzwischen hat sich in breiten Kreisen, besonders auch der katholischen Theologie, eine säkularistische Umdeutung des Reichsgedankens entwickelt, die eine neue Sicht des Christentums, der Religionen und der Geschichte im Allgemeinen entfaltet und mit dieser tiefgehenden Umgestaltung die angebliche Botschaft Jesu wieder aneignungsfähig machen will. Es wird gesagt, vor dem Konzil habe Ekklesiozentrik geherrscht, die Kirche sei als der Mittelpunkt des Christentums hingestellt worden. Dann sei man zur Christozentrik übergegangen und habe Christus als die Mitte des Ganzen gelehrt. Aber - so sagt man - nicht nur die Kirche trennt, auch Christus gehört eben nur den Christen. So sei man von der Christozentrik zur Theozentrik aufgestiegen und sei damit schon näher an die Gemeinschaft der Religionen herangerückt. Aber noch sei damit das Ziel nicht erreicht, weil ja auch Gott trennend zwischen den Religionen und zwischen den Menschen stehen kann. (Fs) (notabene)

83a Deshalb müsse nun der Schritt zur Regno-Zentrik, zur Zentralität des Reiches getan werden. Das sei ja schließlich die Mitte von Jesu Botschaft gewesen, und das sei der richtige Weg, um endlich die positiven Kräfte der Menschheit im Zugehen auf die Zukunft der Welt zu bündeln. "Reich" - das bedeute einfach eine Welt, in der Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung herrschen. Um nichts anderes gehe es. Dieses "Reich" müsse als das Ziel der Geschichte hergestellt werden. Und das sei der wahre Auftrag der Religionen: für das Kommen des "Reiches" zusammenzuarbeiten ... Sie könnten im Übrigen durchaus ihre Traditionen bewahren, jede ihre Identität leben, aber sie müssten mit ihren je verschiedenen Identitäten zusammenwirken für eine Welt, in der Friede, Gerechtigkeit und Respekt vor der Schöpfung bestimmend sind. (Fs) (notabene)

83b Das klingt gut: Auf diesem Weg scheint es möglich, dass Jesu Botschaft endlich universal angeeignet wird, ohne dass man die anderen Religionen missionieren muss; nun scheint sein Wort endlich einen praktischen Inhalt gewonnen zu haben und so die Verwirklichung des "Reiches" zur gemeinsamen Aufgabe zu werden und damit in die Nähe zu rücken. Aber wenn man näher hinsieht, wird man doch stutzig: Wer sagt uns eigentlich, was Gerechtigkeit ist? Was in der konkreten Situation der Gerechtigkeit dient? Wie Friede geschaffen wird? Bei näherem Hinsehen erweist sich das alles als utopistisches Gerede ohne realen Inhalt, sofern man nicht im Stillen Parteidoktrinen als von jedermann anzunehmenden Inhalt dieser Begriffe voraussetzt. (Fs) (notabene)

84a Vor allem aber zeigt sich: Gott ist verschwunden, es handelt nur noch der Mensch. Der Respekt vor den religiösen "Überlieferungen" ist nur scheinbar. Sie werden in Wirklichkeit als eine Menge von Gewohnheiten angesehen, die man den Menschen lassen soll, obwohl sie im Letzten überhaupt nicht zählen. Der Glaube, die Religionen werden finalisiert auf politische Ziele hin. Nur das Einrichten der Welt zählt. Religion zählt so weit, wie sie dabei behilflich sein kann. Die Nähe dieser nachchristlichen Vision von Glaube und Religion zur dritten Versuchung Jesu ist beunruhigend. (Fs)

84b So kommen wir zum Evangelium, kommen wir zum wirklichen Jesus zurück. Unsere zentrale Kritik an dieser säkular-utopischen Idee von Reich hatte gelautet: Gott ist verschwunden. Er wird nicht mehr gebraucht oder stört sogar. Jesus aber hat das Reich Gottes, nicht irgendein Reich verkündet. Matthäus spricht allerdings vom "Reich der Himmel" (Himmelreich), aber das Wort "Himmel" ist die Umschreibung für das Wort "Gott", das man im Judentum aus Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes im Blick auf das Zweite Gebot weitgehend vermieden hat. Demgemäß ist bei dem Wort "Himmelreich" nicht einseitig etwas Jenseitiges angesagt, sondern es ist von Gott die Rede, der ebenso diesseitig wie jenseitig ist - der unsere Welt unendlich überschreitet, aber auch ihr ganz innerlich ist. (Fs)

85a Noch eine sprachliche Beobachtung ist wichtig: Das zugrundeliegende hebräische Wort malkut "ist ein nomen actionis und meint - wie das griechische Wort basileia auch - die Herrschaftsfunktion, das Herrsein (des Königs)" (Stuhlmacher I, a. a. O., S. 6j). Es ist nicht von einem bevorstehenden oder einzurichtenden "Reich" die Rede, sondern von der Regentschaft Gottes über die Welt, die auf neue Weise in der Geschichte Ereignis wird. (Fs)
85b Wir können noch einfacher sagen: Jesus verkündet, indem er vom Reich Gottes spricht, ganz einfach Gott, und zwar Gott als den lebendigen Gott, der in der Welt und in der Geschichte konkret zu handeln imstande ist und eben jetzt handelt. Er sagt uns: Gott gibt es. Und: Gott ist wirklich Gott, das heißt er hält die Fäden der Welt in Händen. In diesem Sinn ist Jesu Botschaft sehr einfach, durch und durch theo-zentrisch. Das Neue und ganz Spezifische seiner Botschaft besteht darin, dass er uns sagt: Gott handelt jetzt - es ist die Stunde, in der sich Gott in einer alles Bisherige überschreitenden Weise in der Geschichte als deren Herr, als der lebendige Gott zeigt. Insofern ist die Übersetzung "Reich Gottes" unzulänglich, besser würde man vom Herrsein Gottes oder von der Herrschaft Gottes sprechen. (Fs)

85b Wir können noch einfacher sagen: Jesus verkündet, indem er vom Reich Gottes spricht, ganz einfach Gott, und zwar Gott als den lebendigen Gott, der in der Welt und in der Geschichte konkret zu handeln imstande ist und eben jetzt handelt. Er sagt uns: Gott gibt es. Und: Gott ist wirklich Gott, das heißt er hält die Fäden der Welt in Händen. In diesem Sinn ist Jesu Botschaft sehr einfach, durch und durch theo-zentrisch. Das Neue und ganz Spezifische seiner Botschaft besteht darin, dass er uns sagt: Gott handelt jetzt - es ist die Stunde, in der sich Gott in einer alles Bisherige überschreitenden Weise in der Geschichte als deren Herr, als der lebendige Gott zeigt. Insofern ist die Übersetzung "Reich Gottes" unzulänglich, besser würde man vom Herrsein Gottes oder von der Herrschaft Gottes sprechen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Jesus; die Tora des Messia; "Gesetz Christi" - die Freiheit; Rabbi Neusner

Kurzinhalt: Das "Gesetz Christi" ist die Freiheit - das ist die Paradoxie der Botschaft des Galater-Briefs. Diese Freiheit hat also Inhalte;

Textausschnitt: 2. DIE TORA DES MESSIAS

Es ist gesagt worden - Ich aber sage euch

131a Vom Messias wurde erwartet, dass er eine erneuerte Tora - seine Tora - bringen werde. Möglicherweise spielt Paulus im Galater-Brief darauf an, wenn er vom "Gesetz Christi" spricht (6,2): Seine große und leidenschaftliche Verteidigung der Freiheit vom Gesetz gipfelt im 5. Kapitel in den Sätzen: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von Neuem das Joch der Knechtschaft auflegen" (5,1f). Aber wenn er dann in 5,13 noch einmal den Satz wiederholt "Ihr seid zur Freiheit berufen", fügt er hinzu: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!" Und nun entfaltet er, was Freiheit ist - nämlich Freiheit zum Guten, Freiheit, die sich vom Geist Gottes führen lässt; und eben dieses Sich-führen-Lassen durch den Geist Gottes ist die Weise des Freiwerdens vom Gesetz. Unmittelbar darauf gibt uns Paulus an, worin die Freiheit des Geistes inhaltlich besteht und was mit ihr unvereinbar ist. (Fs)

131b Das "Gesetz Christi" ist die Freiheit - das ist die Paradoxie der Botschaft des Galater-Briefs. Diese Freiheit hat also Inhalte, hat eine Richtung und ist daher Widerspruch zu dem, was den Menschen nur scheinbar befreit, in Wahrheit aber zum Sklaven macht. Die "Tora des Messias" ist ganz neu, anders - aber eben so "erfüllt" sie die Tora des Mose. (Fs)

132a Der größte Teil der Bergpredigt (Mt 5,17-7,27) ist dem gleichen Thema gewidmet: Nach der programmatischen Einführung durch die Seligpreisungen bietet sie uns sozusagen die Tora des Messias dar. Auch hinsichtlich der Adressaten und der bestehenden Absichten des Textes gibt es eine Analogie zum Galater-Brief: Paulus schreibt da an Judenchristen, die unsicher geworden sind, ob nicht doch die ganze Tora weiter so eingehalten werden müsse, wie es bisher verstanden worden war. (Fs)

132b Diese Unsicherheit betraf vor allem die Beschneidung, die Speisegebote, den ganzen Bereich der Reinheitsvorschriften und die Weise, den Sabbat zu halten. Paulus sieht in diesen Vorstellungen einen Rückfall hinter die Neuheit der messianischen Wende, bei dem das Wesentliche dieser Wende verlorengeht - die Universalisierung des Gottesvolkes, kraft deren nun Israel die Weite der Völker der Welt umspannen kann, der Gott Israels wirklich - den Verheißungen gemäß - zu den Völkern getragen worden ist, sich als ihrer aller Gott, als der eine Gott zeigt. (Fs)

132c Nicht mehr das "Fleisch" ist entscheidend - die leibliche Abkunft von Abraham -, sondern der "Geist": die Zugehörigkeit zum Glaubens- und Lebenserbe Israels durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus, der das Gesetz "vergeistigt" und so zum Lebensweg aller gemacht hat. In der Bergpredigt spricht Jesus zu seinem Volk, zu Israel, als dem Erstträger der Verheißung. Aber indem er ihm die neue Tora übergibt, öffnet er es, so dass nun aus Israel und den Völkern eine neue große Gottesfamilie entstehen kann. (Fs)

132d Matthäus hat sein Evangelium für Judenchristen und darüber hinaus in die jüdische Welt hineingeschrieben, um diesen großen Impuls, der von Jesus gekommen war, neu zur Geltung zu bringen. Durch sein Evangelium spricht Jesus neu und immerfort zu Israel. Er spricht im historischen Augenblick des Matthäus ganz besonders zu Judenchristen, die dadurch Neuheit und Kontinuität der bei Abraham beginnenden Gottesgeschichte mit der Menschheit und ihrer durch Jesus vollzogenen Wende erkennen; so sollen sie den Weg des Lebens finden. (Fs)

133a Aber wie sieht nun diese Tora des Messias aus? Da steht gleich zu Beginn sozusagen als Überschrift und Auslegungsschlüssel ein uns immer wieder überraschendes Wort, das die Treue Gottes zu sich selbst und die Treue Jesu zum Glauben Israels unmissverständlich klar hinstellt: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich" (Mt 5,17-19). (Fs)

133b Es geht nicht um Aufhebung, sondern um Erfüllung, und diese Erfüllung verlangt ein Mehr, nicht ein Weniger an Gerechtigkeit, wie Jesus gleich anschließend sagt: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen" (5,20). Geht es also nur um einen verschärften Rigorismus des Gesetzesgehorsams? Oder was sonst ist diese größere Gerechtigkeit?

133c Wenn so am Anfang der "Relecture" - der neuen Lesung wesentlicher Teile der Tora - die Betonung der äußersten Treue, der ungebrochenen Kontinuität steht, fällt beim weiteren Zuhören auf, dass Jesus das Verhältnis der Mose-Tora zur Tora des Messias in Antithesen darstellt: Den Alten ist gesagt worden - ich aber sage euch. Das Ich Jesu tritt mit einem Rang hervor, den sich kein Gesetzeslehrer erlauben darf. Die Menge spürt das - Matthäus sagt uns ausdrücklich, dass das Volk "erschrak" ob seiner Weise zu lehren. Er lehrt, nicht wie die Rabbinen es tun, sondern als einer, der "Vollmacht" hat (7,29; vgl. Mk 1,22; Lk 4,32). Damit ist natürlich nicht eine rhetorische Qualität von Jesu Reden gemeint, sondern der offenkundige Anspruch, selbst auf der Höhe des Gesetzgebers - auf der Höhe Gottes - zu stehen. Das "Erschrecken" (die Einheitsübersetzung mildert das leider in "Betroffenheit" ab) ist genau das Erschrecken darüber, dass ein Mensch mit der Hoheit Gottes selbst zu sprechen wagt. Entweder vergreift er sich damit an der Majestät Gottes, was furchtbar wäre - oder aber, was kaum fassbar scheint, er steht wirklich auf der Höhe Gottes. (Fs)

134a Wie sollen wir nun diese Tora des Messias verstehen? Welchen Weg zeigt sie uns? Was sagt sie uns über Jesus, über Israel, über die Kirche, über uns selbst und zu uns selbst? Auf der Suche nach Antwort ist mir das schon erwähnte Buch des jüdischen Gelehrten Jacob Neusner zu einer großen Hilfe geworden: A Rabbi talks with Jesus (Verlag Doubleday, New York 1993; deutsch: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog, Claudius Verlag, München 1997). (Fs)

134b Neusner, gläubiger Jude und Rabbi, ist in Freundschaft mit katholischen und evangelischen Christen aufgewachsen, lehrt mit christlichen Theologen zusammen an der Universität und steht dem Glauben seiner christlichen Kollegen mit tiefem Respekt gegenüber, bleibt aber doch zutiefst von der Gültigkeit der jüdischen Auslegung der Heiligen Schriften überzeugt. Seine Ehrfurcht vor dem christlichen Glauben und seine Treue zum Judentum haben ihn veranlasst, das Gespräch mit Jesus zu suchen. (Fs)

135a Er setzt sich in diesem Buch unter die Schar der Jünger auf dem "Berg" in Galiläa. Er hört Jesus zu, vergleicht sein Wort mit den Worten des Alten Testaments und mit den rabbinischen Überlieferungen, wie sie in Mischna und Talmud niedergelegt sind: Er sieht in diesen Werken mündliche Überlieferung von den Anfängen her, die ihm den Deuteschlüssel zur Tora geben. Er hört zu, er vergleicht, und er redet mit Jesus selbst. Er ist angerührt von der Größe und von der Reinheit des Gesagten und doch zugleich beunruhigt über jene letzte Unvereinbarkeit, die er im Kern der Bergpredigt findet. Er wandert dann mit Jesus weiter auf dem Weg nach Jerusalem, hört, wie in den Worten Jesu dieselbe Thematik wiederkehrt und weiter entfaltet wird. Immerfort versucht er zu verstehen, immerfort bewegt ihn das Große, und wieder und wieder redet er mit Jesus. Aber am Ende entscheidet er sich, Jesus nicht zu folgen. Er bleibt - wie er sich ausdrückt - beim "ewigen Israel" (a. a. O., S. 162). (Fs)

135b Der Dialog des Rabbi mit Jesus zeigt, wie der Glaube an das Wort Gottes in den Heiligen Schriften über die Zeiten hin Gleichzeitigkeit schafft: Von der Schrift her kann der Rabbi ins Heute Jesu eintreten, und von ihr her kommt Jesus in unser Heute. Dieser Dialog geschieht in großer Redlichkeit. Er lässt die ganze Härte der Unterschiede aufscheinen, aber er geschieht auch in großer Liebe: Der Rabbi nimmt das Anderssein der Botschaft Jesu an und verabschiedet sich in einer Trennung, die keinen Hass kennt, sondern in der Strenge der Wahrheit immer auch die versöhnende Kraft der Liebe gegenwärtig hält. (Fs)

136a Versuchen wir, das Wesentliche dieses Gesprächs aufzunehmen, um Jesus zu erkennen und um unsere jüdischen Brüder besser zu verstehen. Der Zentralpunkt wird - wie mir scheint - sehr schön sichtbar in einer der beeindruckendsten Szenen, die Neusner in seinem Buch entwirft. Neusner war - in seinem inneren Dialog - Jesus den ganzen Tag über gefolgt und zieht sich nun zu Gebet und Torastudium mit den Juden einer kleinen Stadt zurück, um das Gehörte mit dem dortigen Rabbi - immer im Gedanken der Gleichzeitigkeit über Jahrtausende hin - zu besprechen. Der Rabbi zitiert aus dem Babylonischen Talmud: ,"Rabbi Simlaj trug vor: Sechshundertdreizehn Vorschriften sind Mose überliefert worden; dreihundert-fünfundsechzig (Verbote) entsprechen den Tagen des Sonnenjahres, und zweihundertachtundvierzig (Gebote) entsprechen den Gliedern des Menschen. Hierauf kam David und brachte sie auf elf ... Hierauf kam Jesaja und brachte sie auf sechs ... Hierauf kam Jesaja abermals und brachte sie auf zwei ... Vielmehr, hierauf kam Habakuk und brachte sie auf eines, denn es heißt: Der Fromme wird durch seinen Glauben leben (Habakuk 2,4)"' (ebd., S. n3f). (Fs) (notabene)

136b In Neusners Buch folgt darauf der folgende Dialog: '"Und dies', fragt der Meister, 'hatte Jesus, der Gelehrte, zu sagen?' Ich: 'Nicht genau, aber ungefähr.' Er: 'Was hat er weggelassen?' Ich: 'Nichts.' Er: 'Was hat er dann hinzugefügt?' Ich: 'Sich selbst.'" (S. 114). Dies ist der zentrale Punkt des Erschreckens vor Jesu Botschaft für den gläubigen Juden Neusner, und dies ist der zentrale Grund, warum er Jesus nicht folgen will, sondern beim "ewigen Israel" bleibt: die Zentralität des Ich Jesu in seiner Botschaft, die allem eine neue Richtung gibt. Neusner zitiert an dieser Stelle als Beleg für diese "Hinzufügung" das Wort Jesu an den reichen jungen Mann: "Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz, komm und folge mir" (vgl. Mt 19,20; S. 114). Die Vollkommenheit, das von der Tora verlangte Heiligsein, wie Gott heilig ist (Lev 19,2; 11,44), besteht jetzt darin, Jesus nachzufolgen. (Fs)

137a Neusner spricht diese geheimnisvolle Gleichsetzung zwischen Jesus und Gott, die in den Reden der Bergpredigt vollzogen ist, nur mit großer Scheu und Ehrfurcht an, aber seine Analysen zeigen doch, dass dies der Punkt ist, durch den sich Jesu Botschaft grundlegend vom Glauben des "ewigen Israel" unterscheidet. Er tut dies von drei grundlegenden Geboten her, deren Behandlung durch Jesus er untersucht: Vom 4. Gebot aus - dem Gebot der Elternliebe - und vom 3. Gebot, dem Gebot der Sabbatheiligung her, und schließlich vom Heiligkeitsgebot aus, das wir eben berührt haben. Er kommt zu dem ihn beunruhigenden Ergebnis, dass Jesus ihn offenbar anleiten will, diesen drei grundlegenden Geboten Gottes nicht zu folgen und sich stattdessen ihm anzuschließen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Jesus; Streit um den Sabbat; Selbstverständnis J. als Tora

Kurzinhalt: Neusner. "Er (Jesus) und seine Jünger können am Sabbat das tun, was sie tun, weil sie an die Stelle der Priester im Tempel getreten sind: Der heilige Ort hat sich verlagert, ...

Textausschnitt: Der Streit um den Sabbat

138a Folgen wir dem Dialog Neusners, des gläubigen Juden, mit Jesus und beginnen wir mit dem Sabbat; ihn sorgsam einzuhalten, ist für Israel zentraler Ausdruck seiner Existenz als Leben im Bunde mit Gott. Auch dem oberflächlichen Leser der Evangelien ist bekannt, dass der Streit darum, was zum Sabbat gehört und was nicht, im Zentrum der Auseinandersetzung Jesu mit dem Volk Israel seiner Zeit steht. Die übliche Auslegung geht dahin, zu sagen, dass Jesus eine engstirnige legalistische Praxis aufgebrochen und stattdessen eine großzügigere, freiheitlichere Sicht geschenkt habe, die einem vernünftigen, situationsgemäßen Handeln die Tür auftue. Als Beleg dafür dient der Satz: "Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27), worin man eine anthropozentrische Sicht der ganzen Wirklichkeit findet, aus der sich eine "liberale" Auslegung der Gebote von selbst ergeben würde. So hat man gerade aus den Sabbat-Streitigkeiten das Bild des liberalen Jesus abgeleitet. Seine Kritik am Judentum seiner Zeit sei die Kritik des freiheitlichen und vernünftig gesonnenen Menschen an einem verknöcherten Legalismus, der im Tiefsten Heuchelei bedeute und Religion zu einem knechtischen System von letztlich unvernünftigen Verpflichtungen erniedrige, das den Menschen an der Entfaltung seines Werkes und seiner Freiheit hindere. Dass dabei kein sehr freundliches Bild des Judentums entstehen konnte, versteht sich von selbst; die moderne Kritik - beginnend mit der Reformation - sah freilich das so gesehene "Jüdische" im Katholizismus wiedergekehrt. (Fs) (notabene)

139a Jedenfalls steht hier die Frage nach Jesus - wer er wirklich war und was er wirklich wollte - und auch die ganze Frage nach der Wirklichkeit von Judentum und Christentum zur Debatte: War Jesus in Wirklichkeit ein liberaler Rabbi - ein Vorläufer des christlichen Liberalismus? Ist also der Christus des Glaubens und demnach der ganze Glaube der Kirche ein großer Irrtum? (Fs)

139b Neusner schiebt diese Art von Auslegung überraschend schnell beiseite; er darf es, weil er überzeugend den wirklichen Streitpunkt bloßlegt. Zu dem Streit über das Ährenraufen der Jünger sagt er nur: "Was mich beunruhigt, ist folglich nicht der Verstoß der Jünger gegen das Gebot, den Sabbat zu halten. Das wäre trivial und ginge am Kern der Sache vorbei" (a. a. O., S. 87). Gewiss, wenn wir den Streit um die Heilungen am Sabbat und die Berichte über die zornige Trauer des Herrn ob der Herzenshärte der Vertreter der herrschenden Sabbatauslegung lesen, sehen wir, dass in diesen Auseinandersetzungen die tieferen Fragen um den Menschen und um die rechte Weise, Gott zu ehren, im Spiel sind. Insofern ist auch diese Seite des Konflikts gewiss nicht einfach "trivial". Aber Neusner hat doch recht, wenn er in der Antwort Jesu beim Streit um das Ährenraufen am Sabbat den tiefsten Kern des Konflikts offengelegt findet. (Fs)

139c Jesus verteidigt die Vorgehensweise, in der die Jünger ihren Hunger stillen, zuerst mit dem Hinweis auf David, der mit seinen Begleitern im Haus Gottes heilige Brote aß, "die weder er noch seine Begleiter, sondern nur die Priester essen durften." Dann fährt er fort: "Oder habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was es heißt 'Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer' (Hos 6,6 [vgl. auch 1 Sam 15,22]), dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt; denn der Menschensohn ist Herr über den Sabbat (Mt 12,1-8)" (ebd., S. 76). Dazu Neusner. "Er (Jesus) und seine Jünger können am Sabbat das tun, was sie tun, weil sie an die Stelle der Priester im Tempel getreten sind: Der heilige Ort hat sich verlagert, er besteht jetzt aus dem Kreis des Meisters und seiner Jünger" (S. 86f). (Fs)

140a Hier müssen wir einen Augenblick innehalten, um zu sehen, was der Sabbat für Israel bedeutete, und so auch zu begreifen, was bei diesem Disput auf dem Spiel steht. Gott hat am siebten Tage geruht - so sagt uns der Schöpfungsbericht. "An diesem Tag feiern wir die Schöpfung", folgert Neusner mit Recht (S. 77). Und weiter: "Denn am Sabbat nicht zu arbeiten bedeutet mehr, als ein Ritual peinlich genau zu erfüllen. Es ist eine Art Nachahmung Gottes" (S. 78). So gehört zum Sabbat nicht nur negativ das Nichttun von äußeren Aktivitäten, sondern positiv die "Ruhe", die sich auch räumlich ausdrücken muss: "Um den Sabbat einzuhalten, muss man folglich zu Hause bleiben. Der Verzicht auf jegliche Arbeit allein genügt nicht, man muss auch ruhen, und das bedeutet soviel, dass an einem Tag in der Woche der Kreis von Familie und Haus wiederhergestellt wird, indem jeder zu Hause und alles an seinem Platz ist" (S. 84). Der Sabbat ist nicht nur eine Frage der persönlichen Frömmigkeit, er ist Kern einer Sozialordnung: "Dieser Tag macht das ewige Israel zu dem, was es ist, zu dem Volk, das sich wie Gott nach der Schöpfung am siebten Tage von seiner Schöpfung ausruht" (S. 77). (Fs)

141a Hier könnte man wohl darüber nachdenken, wie heilsam es auch für unsere gegenwärtige Gesellschaft wäre, wenn an einem Tag die Familien beieinanderbleiben, das Heim zum Haus und zur Erfüllung der Gemeinschaft in der Ruhe Gottes machen würden. Aber versagen wir uns an dieser Stelle solche Überlegungen und bleiben wir beim Dialog zwischen Jesus und Israel, der unausweichlich ein Dialog auch zwischen Jesus und uns wie unser Dialog mit dem jüdischen Volk heute ist. (Fs)

141b Das Stichwort von der "Ruhe" als konstitutivem Element des Sabbat stellt für Neusner die Verbindung her zu dem Ruf Jesu, der im Matthäus-Evangelium der Geschichte vom Ährenraufen der Jünger vorangeht. Es ist der sogenannte messianische Jubelruf, der so beginnt: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast..." (Mt 11,25-30). In unserer gewohnten Auslegung scheinen dies zwei ganz verschiedene Texte zu sein: Der eine spricht von der Göttlichkeit Jesu, der andere vom Streit um den Sabbat. Bei Neusner wird sichtbar, dass die zwei Texte ganz eng zueinandergehören, denn beide Male geht es um das Geheimnis Jesu - um den "Menschensohn", den "Sohn" schlechthin. (Fs)

141c Die Sätze, die unmittelbar der Sabbatgeschichte vorausgehen, lauten so: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig: So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht" (Mt 11,28-30). Gewöhnlich wird dies von der Idee des liberalen Jesus her, also moralistisch ausgelegt: Die liberale Gesetzesauffassung Jesu erleichtert das Leben gegenüber dem "jüdischen Legalismus". Sehr überzeugend ist freilich diese Auslegung in der Praxis nicht, denn die Nachfolge Christi ist nicht bequem - gerade das hatte Jesus auch nie behauptet. Aber was dann? (Fs)

142a Neusner zeigt uns, dass es nicht um eine Form von Moralismus geht, sondern um einen hoch-theologischen, oder sagen wir es genauer: um einen christologischen Text. Durch das Thema der Ruhe und das damit zusammenhängende Thema von Mühsal und Last ist der Text der Sabbatfrage zugeordnet. Die Ruhe, um die es geht, hat nun mit Jesus zu tun. Jesu Lehre vom Sabbat erscheint nun gerade im Zusammenklang dieses Rufes und des Wortes vom Menschensohn als dem Herrn des Sabbat. (Fs)

142b Neusner fasst den Inhalt des Ganzen so zusammen: "Mein Joch ist leicht, ich gebe euch Ruhe, der Menschensohn ist wahrhaftig Herr über den Sabbat, denn der Menschensohn ist jetzt der Sabbat Israels - so handeln wir wie Gott" (S. 90). (Fs) (notabene)

142c Jetzt kann Neusner noch klarer als vorher sagen: "Kein Wunder also, dass der Menschensohn Herr über den Sabbat ist! Er ist es nicht deshalb, weil er die Beschränkungen des Sabbats liberal auslegt ... Jesus war kein rabbinischer Reformator, der den Menschen das Leben 'leichter' machen wollte ... Nein, es geht hier nicht um die Erleichterung einer Last ... Jesu Autorität steht auf dem Spiel ..." (S. 89). "Jetzt steht Christus auf dem Berg und nimmt den Platz der Tora ein" (S. 91). Das Gespräch des gläubigen Juden mit Jesus kommt hier an den entscheidenden Punkt. Nun fragt er in seiner noblen Scheu nicht Jesus selbst, sondern den Jünger Jesu: "'Ist dein Meister, der Menschensohn, wirklich Herr über den Sabbat?' Und wieder frage ich: 'Ist dein Meister Gott?'" (S. 92). (Fs)

143a Damit ist der eigentliche Kernpunkt des Streits bloßgelegt. Jesus versteht sich selbst als die Tora - als das Wort Gottes in Person. Der gewaltige Prolog des Johannes-Evangeliums "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott" sagt nichts anderes, als was der Jesus der Bergpredigt und der Jesus der synoptischen Evangelien sagt. Der Jesus des vierten Evangeliums und der Jesus der Synoptiker ist ein und derselbe: der wahre "historische" Jesus. (Fs)

143b Der Kern der Sabbat-Streitigkeiten ist die Frage nach dem Menschensohn - die Frage nach Jesus Christus selbst. Wieder sehen wir, wie weit Harnack und die ihm folgende liberale Exegese irrte mit der Meinung, ins Evangelium Jesu gehöre der Sohn, gehöre Christus nicht hinein: Er ist immerfort die Mitte darin. (Fs)

143c Aber nun müssen wir noch auf einen weiteren Aspekt der Frage achten, der uns beim 4. Gebot deutlicher begegnen wird: Was Rabbi Neusner an Jesu Botschaft über den Sabbat stört, ist nicht nur die Zentralität Jesu selbst; er stellt sie klar heraus und streitet doch letztlich nicht darüber, sondern über das, was die Folge davon für das konkrete Leben Israels ist: Der Sabbat verliert seine große soziale Funktion. Er gehört zu den wesentlichen Elementen, die Israel als Israel zusammenhalten. Die Zentrierung um Jesus bricht dieses heilige Gefüge auf und gefährdet ein wesentliches Element im Zusammenhalt des Volkes. (Fs) (notabene)

143d Mit dem Anspruch Jesu selbst ist es verbunden, dass die Jüngergemeinschaft Jesu das neue Israel ist. Muss das nicht den beunruhigen, dem das "ewige Israel" am Herzen liegt? Mit der Frage nach dem Anspruch Jesu, selbst die Tora und der Tempel in Person zu sein, ist auch das Thema Israels - die Frage der lebendigen Gemeinschaft des Volkes - verbunden, in dem sich Gottes Wort verwirklicht. Neusner hat im größeren Teil seines Buches gerade diesen zweiten Aspekt unterstrichen, wie wir im Folgenden sehen werden. (Fs)

144a Nun stellt sich hier auch schon für den Christen die Frage: War es gut, die große soziale Funktion des Sabbat zu gefährden, Israels heilige Ordnung aufzubrechen zugunsten einer Jüngergemeinschaft, die sozusagen allein von der Gestalt Jesu her definiert wird? Diese Frage könnte und kann sich erst in der sich entfaltenden Jüngergemeinschaft - der Kirche - klären. Dieser Entfaltung können wir hier nicht nachgehen. Die Auferstehung Jesu "am ersten Tag der Woche" brachte es mit sich, dass nun für die Christen dieser "erste Tag" - der Schöpfungsbeginn -zum "Herrentag" wurde, auf den dann - in der Tischgemeinschaft mit Jesus - von selbst die wesentlichen Elemente des alttestamentlichen Sabbat übergingen. (Fs)

144b Dass die Kirche dabei auch die soziale Funktion des Sabbat - immer ausgerichtet auf den "Menschensohn" - neu übernommen hat, zeigte sich deutlich, als Konstantin bei seiner christlich inspirierten Rechtsreform mit diesem Tag auch Freiheiten für die Sklaven verband und also den Herrentag als einen Tag der Freiheit und der Ruhe in das christlich geformte Rechtssystem einführte. Ich finde es äußerst bedenklich, dass moderne Liturgiker diese soziale Funktion des Sonntags, die in der Kontinuität mit der Tora Israels steht, als konstantinische Verirrung wieder beiseiteschieben wollen. Aber da steht natürlich das ganze Problem des Verhältnisses von Glaube und Sozialordnung, von Glaube und Politik auf. Darauf müssen wir im nächsten Abschnitt unser Augenmerk richten. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Jesus; 4. Gebot; Neusner; konkrete politische und soziale Ordnungen - Sakralität; absolute Profanität, Laizismus; Legalismus - Marcion (Harnack); politische Theologien


Kurzinhalt: Im Fall Jesu ist es nicht die alle verbindende Anhängerschaft gegenüber der Tora, die eine neue Familie bildet, sondern es geht um die Anhängerschaft an Jesus selbst, seiner Tora gegenüber.

Textausschnitt: Das 4. Gebot - die Familie, das Volk und die jüngergemeinde Jesu

145a Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt" - so lautet das 4. Gebot in der Version des Exodus-Buches (20,12). Das Gebot wendet sich an die Söhne und spricht von den Eltern, richtet also den Zusammenhang der Generationen und die Gemeinschaft der Familie als eine von Gott gewollte und geschützte Ordnung auf. Es spricht vom Land und von der Beständigkeit des Lebens im Land, verbindet also das Land als Lebensraum des Volkes mit der Grundordnung der Familie, bindet das Bestehen von Volk und Land an das im Gefüge der Familie sich bildende Miteinander der Generationen. (Fs)

145b Nun sieht Rabbi Neusner mit Recht in diesem Gebot den Kern der sozialen Ordnung, den Zusammenhalt des "ewigen Israel" verankert - diese "wirkliche, lebendige und gegenwärtige Familie von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel" (a. a. O., S. 59; vgl. S. 73). Genau diese Familie Israels sieht Neusner durch die Botschaft Jesu bedroht, die Grundlagen seiner sozialen Ordnung beiseitegeschoben durch den Primat seiner Person: "Wir beten zu dem Gott, den wir - am Anfang - durch das Zeugnis unserer Familie kennen, zum Gott Abrahams, Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs, Leas und Rahels. Um zu erklären, wer wir, das ewige Israel, sind, verweisen die Gelehrten auf unsere Abstammung, auf fleischliche Bande, auf den Zusammenhalt der Familie als Grundlage für die Existenz Israels" (S. 59t). (Fs)

146a Genau diesen Zusammenhang stellt Jesus in Frage. Ihm wird gesagt, dass seine Mutter und seine Brüder draußen stehen und ihn sprechen wollen. Seine Antwort darauf: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: "Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mt 12,46-50). (Fs)

146b Angesichts dieses Textes fragt Neusner: "Lehrt mich Jesus nicht, gegen eines der beiden Gebote zur sozialen Ordnung zu verstoßen?" (S. 60). Der Vorwurf ist dabei ein doppelter: Zunächst geht es um den scheinbaren Individualismus der Botschaft Jesu. Während die Tora eine präzise Sozialordnung vorlegt, dem Volk seine Rechtsund Sozialgestalt für Krieg und Frieden, für rechte Politik und für das tägliche Leben gibt, ist nichts davon bei Jesus zu finden. Die Nachfolge Jesu bietet keine politisch konkret realisierbare Sozialstruktur. Auf die Bergpredigt könne man keinen Staat und keine Sozialordnung aufbauen, wird mit Recht immer wieder gesagt. Ihre Botschaft scheint auf einer anderen Ebene angesiedelt. Israels Ordnungen, die seinen Bestand die Jahrtausende hindurch und durch alle Wirrnisse der Geschichte hinweg gewährleistet haben, werden beiseitegeschoben. Von dieser neuen Interpretation des 4. Gebotes ist nicht nur das Eltern-Kind-Verhältnis betroffen, sondern der gesamte Bereich der Sozialstruktur des Volkes Israel. (Fs)

147a Diese Umschichtung auf der Ebene des Sozialen findet ihren Grund und ihre Rechtfertigung im Anspruch Jesu, mit seiner Jüngergemeinschaft Ursprung und Mitte eines neuen Israel zu sein: Wir stehen wieder vor dem Ich Jesu, der auf der Höhe der Tora selbst, auf der Höhe Gottes spricht. Die beiden Sphären - Änderung der Sozialstruktur, Aufbrechen des "ewigen Israel" in eine neue Gemeinde hinein und der göttliche Anspruch Jesu - sind unmittelbar miteinander verknüpft. (Fs)

147b Neusner macht es sich dabei mit seiner Kritik nicht leicht. Er erinnert daran, "dass auch Schüler der Tora von ihren Lehrern von Haus und Familie weggerufen würden und Frau und Kinder für lange Zeit den Rücken kehren müssten, um sich ganz dem Studium der Tora zu widmen" (S. 62). "Die Tora tritt damit an die Stelle der Abstammung, und der Meister der Tora erhält einen neuen Familienstamm" (S. 65). So scheint Jesu Forderung, eine neue Familie zu eröffnen, sich durchaus im Rahmen dessen zu bewegen, was in der Schule der Tora - im "ewigen Israel" - möglich ist. (Fs)

147c Und doch besteht ein grundlegender Unterschied. Im Fall Jesu ist es nicht die alle verbindende Anhängerschaft gegenüber der Tora, die eine neue Familie bildet, sondern es geht um die Anhängerschaft an Jesus selbst, seiner Tora gegenüber. Bei den Rabbinen bleiben alle durch die gleichen Beziehungen einer dauerhaften sozialen Ordnung verbunden, bleiben alle durch die Unterwerfung unter die Tora in der Gleichheit des ganzen Israel. So konstatiert Neusner am Ende: "... jetzt ist mir klar, dass das, was Jesus von mir fordert, allein Gott von mir verlangen kann" (S. 70). (Fs)

148a Es zeigt sich das Gleiche wie oben bei der Analyse des Sabbatgebotes. Das christologische (theologische) und das soziale Argument sind unlösbar ineinander verknotet. Wenn Jesus Gott ist, kann und darf er so mit der Tora umgehen, wie er es tut. Nur dann darf er die mosaische Ordnung der Gottesgebote so radikal neu interpretieren, wie es allein der Gesetzgeber - Gott selbst - tun kann. (Fs)

148b Aber nun ist die Frage: War es denn gut und richtig, eine solche neue Jüngergemeinde zu schaffen, die ganz auf ihn gegründet war? War es gut, die Sozialordnungen des "ewigen Israel", das von Abraham, Isaak und Jakob her durch Fleischesbande gegründet ist und besteht, beiseitezuschieben, es (wie Paulus sagen wird) zu "Israel dem Fleische nach" zu erklären? Welchen erkennbaren Sinn konnte dies alles haben?

148c Nun, wenn wir die Tora mit dem gesamten alttestamentlichen Kanon, den Propheten und den Psalmen und der Weisheitsliteratur zusammen lesen, dann wird etwas sehr deutlich, was sich der Sache nach auch in der Tora schon ankündigt: Israel ist nicht einfach nur für sich selber da, um in den "ewigen" Ordnungen des Gesetzes zu leben - es ist da, um Licht der Völker zu werden: In den Psalmen wie in den Prophetenbüchern hören wir mit wachsender Deutlichkeit die Verheißung, dass das Heil Gottes zu allen Völkern kommen wird. Wir hören immer deutlicher, dass der Gott Israels, der ja der einzige Gott selber ist, der wahre Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Gott aller Völker und aller Menschen, in dessen Händen das Geschick der Völker steht - dass dieser Gott die Völker nicht sich selbst überlassen will. Wir hören, dass alle ihn erkennen werden, dass Ägypten und Babel - die beiden Israel entgegengesetzten Weltmächte - Israel die Hände reichen und mit ihm den einen Gott anbeten werden. Wir hören, dass die Grenzen fallen werden und dass der Gott Israels von allen Völkern als ihr Gott, als der eine Gott anerkannt und verehrt werden wird. (Fs)

149a Gerade von jüdischer Seite wird - durchaus zu Recht - immer wieder gefragt: Was hat denn euer "Messias" Jesus gebracht? Er hat nicht den Weltfrieden gebracht und das Elend der Welt nicht überwunden. So kann er doch wohl der wahre Messias nicht sein, von dem gerade dies erwartet wird. Ja, was hat Jesus gebracht? Der Frage sind wir schon begegnet, und auch die Antwort kennen wir bereits: Er hat den Gott Israels zu den Völkern getragen, so dass alle Völker nun zu ihm beten und in den Schriften Israels sein Wort, des lebendigen Gottes Wort erkennen. Er hat die Universalität geschenkt, die die eine große und prägende Verheißung an Israel und an die Welt ist. Die Universalität, der Glaube an den einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in der neuen Familie Jesu über alle Völker hin und über die fleischlichen Bande der Abstammung hinaus - das ist die Frucht von Jesu Werk. Das ist es, was ihn als den "Messias" ausweist und der messianischen Verheißung eine Deutung gibt, die in Mose und den Propheten gründet und sie freilich auch ganz neu aufschließt. (Fs) (notabene)

149b Das Vehikel dieser Universalisierung ist die neue Familie, die als ihre einzige Voraussetzung die Gemeinschaft mit Jesus, die Gemeinschaft im Willen Gottes hat. Denn das Ich Jesu steht nun eben doch nicht als ein eigenwilliges, in sich kreisendes Ego da. "Wer den Willen meines Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mk 3,34f): Das Ich Jesu verkörpert die Willensgemeinschaft des Sohnes mit dem Vater. Es ist ein hörendes und gehorchendes Ich. Die Gemeinschaft mit ihm ist Sohnesgemeinschaft mit dem Vater - ist auf neuer und höchster Ebene Ja zum 4. Gebot. Sie ist Eintreten in die Familie derer, die zu Gott Vater sagen und es sagen können im Wir derjenigen, die mit Jesus und - durch das Hören auf ihn - dem Willen des Vaters geeint sind und so im Kern jenes Gehorsams stehen, den die Tora meint. (Fs)

150a Diese Einheit mit dem Willen des Vatergottes durch die Gemeinschaft mit Jesus, dessen Speise es ist, den Willen des Vaters zu tun (vgl. Joh 4,34), eröffnet nun auch den neuen Blick auf die Einzelbestimmungen der Tora. Die Tora hatte in der Tat die Aufgabe, Israel eine konkrete Rechts- und Sozialordnung zu geben, diesem besonderen Volk, das einerseits ein ganz bestimmtes, durch Abstammung und Generationenfolge ineinandergebundenes Volk ist, aber andererseits von Anfang an und seinem Wesen nach Träger einer universalen Verheißung ist. In der neuen Familie Jesu, die man später "die Kirche" nennen wird, können diese einzelnen Sozial- und Rechtsordnungen in ihrer historischen Wörtlichkeit nicht allgemein gelten: Das war genau die Frage am Anfang der "Kirche aus allen Völkern" und der Streit zwischen Paulus und den sogenannten Judaisten. Die Sozialordnung Israels wörtlich auf Menschen in allen Völkern zu übertragen, hätte bedeutet, die Universalität der wachsenden Gottesgemeinschaft faktisch zu negieren. Das hat Paulus mit aller Klarheit gesehen. Das konnte die Tora des Messias nicht sein. Und sie ist es nicht, wie uns die Bergpredigt und das ganze Gespräch des gläubigen und wahrhaft aufmerksam hörenden Rabbi Neusner zeigt. (Fs)

150b Hier geschieht freilich ein ganz wichtiger Vorgang, der in seiner vollen Tragweite erst in der Neuzeit erfasst und dann freilich auch gleich wieder einseitig verstanden und verfälscht worden ist. Die konkreten Rechts- und Sozialgestalten, die politischen Ordnungen werden nicht mehr als sakrales Recht buchstäblich für alle Zeiten und damit für alle Völker festgelegt. Entscheidend ist die grundlegende Willensgemeinschaft mit Gott, die durch Jesus geschenkt ist. Von ihr her sind die Menschen und die Völker nun frei, zu erkennen, was in politischer und sozialer Ordnung dieser Willensgemeinschaft gemäß ist, um so selbst die rechtlichen Ordnungen zu gestalten. Das Fehlen der ganzen Sozialdimension in Jesu Predigt, das Neusner aus jüdischer Sicht durchaus einsichtig kritisiert, birgt und verbirgt zugleich einen weltgeschichtlichen Vorgang, der als solcher in keinem anderen Kulturraum stattgefunden hat: Die konkreten politischen und sozialen Ordnungen werden aus der unmittelbaren Sakralität, aus der gottesrechtlichen Gesetzgebung entlassen und der Freiheit des Menschen übertragen, der durch Jesus im Willen Gottes gegründet ist und von ihm aus das Recht und das Gute sehen lernt. (Fs) (notabene)

151a So sind wir wieder bei der Tora des Messias, beim Galater-Brief angelangt: "Zur Freiheit seid ihr berufen" (Gal 5,13) - nicht zu einer blinden und willkürlichen Freiheit, zu einer "fleischlich verstandenen Freiheit", würde Paulus sagen, sondern zu einer sehenden Freiheit, die ihre Verankerung in der Willensgemeinschaft mit Jesus und so mit Gott selber hat, zu einer Freiheit also, die aus einem neuen Sehen heraus eben das baut, worum es in der Tora zutiefst geht, sie von innen heraus mit Jesus universalisiert und sie daher wirklich "erfüllt". (Fs)

151b Inzwischen ist freilich diese Freiheit ganz aus dem Blick auf Gott und aus der Gemeinschaft mit Jesus herausgerissen worden. Die Freiheit zur Universalität und damit zur rechten Profanität des Staates ist in eine absolute Profanität - in "Laizismus" - umgewandelt worden, für die die Gottvergessenheit und die Bindung allein an den Erfolg konstitutiv geworden scheinen. Für den gläubigen Christen bleiben die Weisungen der Tora durchaus ein Bezugspunkt, auf den er immer hinschaut; für ihn bleibt vor allem die Suche nach dem Willen Gottes in der Gemeinschaft mit Jesus eine Wegweisung für die Vernunft, ohne die sie immer in der Gefahr der Verblendung, der Erblindung steht. (Fs) (notabene)

152a Noch eine Beobachtung ist wesentlich. Diese Universali-sierung von Israels Glauben und Hoffen, die damit verbundene Freigabe des Buchstabens in die neue Gemeinschaft mit Jesus, ist gebunden an die Autorität Jesu und an seinen Anspruch als Sohn. Sie verliert ihr historisches Gewicht und ihren tragenden Grund, wenn man Jesus bloß als einen liberalen Reform-Rabbi abinterpretiert. Eine liberale Auslegung der Tora wäre eine bloß persönliche Meinung eines Lehrers - sie könnte nicht geschichtsbildend sein. Dabei würde im Übrigen auch die Tora, ihre Herkunft aus Gottes Willen, relativiert; für alles Gesagte bliebe nur eine menschliche Autorität: die Autorität eines Gelehrten. Daraus entsteht keine neue Gemeinschaft des Glaubens. Der Sprung in die Universalität, die dafür notwendige neue Freiheit, kann nur durch einen größeren Gehorsam ermöglicht werden. Er kann als geschichtsbildende Kraft nur wirksam werden, wenn die Autorität dieser neuen Auslegung nicht geringer ist als die des ursprünglichen Textes selbst: Es muss eine göttliche Autorität sein. Die neue, universale Familie ist das Wozu der Sendung Jesu, aber seine göttliche Autorität - das Sohnsein Jesu in der Gemeinschaft mit dem Vater - ist die Voraussetzung, damit dieser Ausbruch ins Neue und Weite ohne Verrat und ohne Eigenmacht möglich wird. (Fs) (notabene)

153a Wir haben gehört, dass Neusner Jesus fragt: Willst du mich zur Übertretung von zwei oder drei Geboten Gottes verführen? Wenn Jesus nicht in der Vollmacht des Sohnes spricht, wenn seine Auslegung nicht Anfang einer neuen Gemeinschaft eines neuen freien Gehorsams ist, dann bleibt nur dies übrig: Dann verführt Jesus zum Ungehorsam gegen Gottes Gebot. (Fs)

153b Für die Christenheit aller Zeiten ist es grundlegend, den Zusammenhang von Überschreitung (etwas anderes als "Übertretung") und Erfüllung sorgsam im Auge zu haben. Neusner kritisiert - wir sahen es - bei aller Ehrfurcht vor Jesus mit großer Entschiedenheit die Auflösung der Familie, die er in Jesu Aufforderung zum "Übertreten" des 4. Gebotes gegeben sieht; desgleichen die Bedrohung des Sabbat, der einen Angelpunkt der Sozialordnung Israels darstellt. Nun, Jesus will weder die Familie noch die Schöpfungsintention des Sabbat aufheben, aber er muss für beides einen neuen, weiteren Raum schaffen. Mit seiner Einladung, durch den gemeinsamen Gehorsam zum Vater mit ihm Glied einer neuen, universalen Familie zu werden, sprengt er zwar zunächst die soziale Ordnung Israels. Aber für die nun werdende und gewordene Kirche war es von Anfang an grundlegend, die Familie als Kern aller Sozialordnung zu verteidigen, für das 4. Gebot in der ganzen Breite seiner Bedeutung einzutreten: Wir sehen es, wie heute der Kampf der Kirche darum geht. Und ebenso wurde schnell deutlich, dass der wesentliche Gehalt des Sabbat am Herrentag neu zur Entfaltung kommen musste. Auch der Kampf um den Sonntag gehört zu den großen Anliegen der Kirche in der Gegenwart mit all ihren Auflösungen eines die Gemeinschaft tragenden Rhythmus der Zeit. (Fs) (notabene)

154a Das rechte Ineinander von Altem und Neuem Testament war und ist für die Kirche konstitutiv: Gerade die Reden des Auferstandenen legen Wert darauf, dass Jesus nur im Kontext von "Gesetz und Propheten" zu verstehen ist und dass seine Gemeinschaft nur in diesem rechtverstandenen Kontext leben kann. Zwei gegensätzliche Gefahren haben die Kirche in dieser Sache von Anfang an bedroht und werden sie immer bedrohen. Auf der einen Seite ein falscher Legalismus, gegen den Paulus kämpft und den man in der ganzen Geschichte leider unter den unglücklichen Namen "Judaismus" gestellt hat. Auf der anderen Seite steht die Abstoßung von Mose und Propheten - des "Alten Testaments" -, die zuallererst Marcion im 2. Jahrhundert formuliert hatte; sie gehört zu den großen Versuchungen der Neuzeit. Es ist nicht zufällig, dass Harnack als führender Vertreter der liberalen Theologie verlangte, nun endlich das Erbe Marcions zu vollstrecken und die Christenheit von der Last des Alten Testaments zu befreien. Die heute weitverbreitete Versuchung, das Neue Testament rein spirituell auszulegen und es von jeder sozialen und politischen Relevanz zu lösen, geht in diese Richtung. (Fs) (notabene)

154b Umgekehrt bedeuten politische Theologien aller Art die Theologisierung eines einzelnen politischen Weges, die der Neuheit und der Weite der Botschaft Jesu widerspricht. Dennoch wäre es falsch, derlei Tendenzen als Judaisierung des Christentums zu bezeichnen, weil Israel seinen Gehorsam gegen die konkreten Sozialordnungen der Tora auf die Abstammungsgemeinschaft des "ewigen Israel" bezieht und nicht zu einem universalen politischen Rezept erklärt. Insgesamt wird es der Christenheit guttun, ehrfürchtig auf diesen Gehorsam Israels hinzuschauen und so die großen Imperative des Dekalogs besser wahrzunehmen, die die Christenheit in den Raum der universalen Gottesfamilie übertragen muss und die Jesus uns als "neuer Mose" geschenkt hat. In ihm sehen wir die Mose-Verheißung erfüllt: "Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte heraus erstehen lassen ..." (Dtn 18,15). (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; Abendmahlsworte: Tempelkult Israels, Gottesknecht; Kult, Abendmahl

Kurzinhalt: "Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut": Das sind Ausdrücke aus der Opfersprache Israels, in der die Gaben bezeichnet wurden, die man Gott im Tempel opferte.1 Wenn Jesus diese Wörter nimmt, bezeichnet er sich selbst ...

Textausschnitt: [...] Der wirkliche Jesus ist allein der Jesus der Zeugen. Es gibt keine bessere Möglichkeit, von ihm zu wissen, als indem wir auf das Wort derer hören, die mit ihm gelebt haben, die mit ihm die Wege seines irdischen Lebens gegangen sind. (Fs)

26a Wenn wir diese Zeugen fragen, dann sehen wir - und eigentlich versteht es sich auch von selbst - daß Jesus keineswegs ahnungslos überrascht auf das Kreuz zugegangen ist. Er konnte nicht blind sein für das Gewitter, das heraufzog; für die Macht des Widerspruchs, der Feindschaft und der Absage, die sich um ihn herum sammelten. Nicht weniger wichtig war für sein sehendes Zugehen auf das Kreuz, daß er aus der Mitte des Glaubens Israels lebte, daß er das Beten seines Volkes mitbetete: Die Psalmen, die von den Propheten inspirierte Frömmigkeit Israels, sind zutiefst bestimmt durch die Gestalt des leidenden Gerechten, der um Gottes willen in dieser Welt keinen Platz mehr findet, um seines Glaubens willen ins Leiden hineingerät. Jesus hat dieses Beten, das wir in den Psalmen wie bei den Prophetien vom Gottesknecht des zweiten Jesaja bis zu Hiob und zu den drei Jünglingen im Feuerofen immer neu aufsteigen und sich vertiefen sehen, in seine letzte Mitte hineingeführt, es ausgefüllt, seine Gestalt selbst dafür zur Verfügung gestellt und damit überhaupt den Schlüssel zu diesem Beten eröffnet.1 (Fs)

28a So weisen alle Wege seiner Verkündigung in das Geheimnis dessen hinein, der seine Liebe und seine Botschaft im Leiden bewährt. Die letzte Ausformung bieten dann die Worte, die er beim letzten Abendmahl gesprochen hat. Sie sind nichts gänzlich Unerwartetes, sondern vorgeformt, vorgeprägt in all diesen seinen Wegen und bringen dann doch neu ans Licht, was in ihnen gemeint ist: Die Einsetzung der Eucharistie ist Vorwegnahme des Todes, sie ist geistiger Vollzug des Todes. Denn Jesus teilt sich selbst aus, er teilt sich aus als den in Leib und Blut Zerteilten und Zerrissenen. So sind die Abendmahlsworte Jesu die Antwort auf Bultmanns Frage, wie Jesus seinen Tod bestanden hat; in ihnen geschieht der geistige Vollzug des Todes oder, sagen wir richtiger, in ihnen verwandelt Jesus den Tod in den geistigen Akt des Ja, in den Akt der Liebe, die sich austeilt; in den Akt der Anbetung, der sich für Gott und von Gott her den Menschen zur Verfügung gibt. Beides gehört ineinander: Die Abendmahlsworte wären ohne den Tod sozusagen eine Währung ohne Deckung; der Tod wiederum wäre ohne diese Worte eine bloße Hinrichtung ohne erkennbaren Sinn. Beides zusammen aber ist dieses neue Geschehen, in dem das Sinnlose des Todes zu Sinn wird; in dem das Unlogische zu Logik und zu Wort verwandelt wird; in dem die Zerstörung der Liebe, die der Tod von sich aus bedeutet, gerade zu ihrer Bewährung wird, zu ihrer bleibenden Beständigkeit. Wenn wir also wissen wollen, was eigentlich Jesus selbst mit seinem Tod gemeint hat, wie er ihn angenommen hat, was er bedeutet, dann müssen wir diese Worte bedenken und umgekehrt sie ständig von der Blutwährung seines Zeugnisses gedeckt sehen. (Fs) (notabene)

28b Werfen wir, bevor wir ihnen näher nachgehen, zunächst einen Blick auf die große Schau, die der heilige Johannes im 13. Kapitel seines Evangeliums - in dem Bericht von der Fußwaschung - entwickelt hat. Der Evangelist faßt in dieser Szene gleichsam das Ganze von Jesu Wort, Leben und Leiden zusammen. Wie in einer Vision wird sichtbar, was dies Ganze ist.2 In der Fußwaschung stellt sich dar, was Jesus tut und was er ist. Er, der der Herr ist, steigt herunter; er legt die Gewänder der Herrlichkeit ab und wird zum Sklaven, der an der Tür steht und den Sklavendienst der Fußwaschung für uns tut. Dies ist der Sinn seines ganzen Lebens und Leidens: daß er sich zu unseren schmutzigen Füßen, zum Schmutz der Menschheit herunterbeugt und daß er in seiner größeren Liebe uns reinwäscht. Der Sklavendienst des Fußwaschens hatte den Sinn, die Menschen tischfähig zu machen, gemeinschaftsfähig, so daß sie miteinander sich an den Tisch setzen können. Jesus Christus macht uns gleichsam vor Gott und füreinander tischfähig und gemeinschaftsfähig. Wir, die wir einander immer wieder nicht ausstehen können, wir, die wir nicht zu Gott hin passen, werden von ihm aufgenommen. Er trägt sozusagen das Gewand unserer Armseligkeit und indem er uns mitnimmt, sind wir gottfähig, haben wir Zugang zu Gott gewonnen. Wir werden gewaschen, indem wir uns in seine Liebe hineinbeugen lassen. Diese Liebe bedeutet, daß Gott ohne Vorbedingungen, auch wenn wir seiner nicht fähig und würdig sind, uns annimmt, weil er, Jesus Christus, uns verwandelt und unser Bruder wird. Freilich zeigt der Bericht bei Johannes, daß da, wo Gott keine Grenzen setzt, der Mensch Grenzen setzen kann. Es werden deren zwei sichtbar. Die erste zeigt sich in der Gestalt des Judas: Es gibt das Nein der Habsucht und der Gier, der Selbstherrlichkeit, die Gott nicht annehmen mag. Es gibt dieses Nein, das selbst die Welt schaffen will, und das nicht bereit ist, sich von Gottes Liebe beschenken zu lassen. "Lieber schuldig bleiben als mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt -so will es unsere Souveränität", sagt Nietzsche einmal.3 Das Kamel geht nicht durch das Nadelöhr, es stellt sozusagen seinen hochmütigen Höcker auf und ist nicht imstande, durch die Pforte der erbarmenden Güte zu gehen. Ich denke, wir alle sollten uns in dieser Stunde fragen, ob wir nicht auch wie solche sind, deren Hochmut, deren Selbstherrlichkeit nicht imstande ist, sich waschen zu lassen, sich beschenken zu lassen von der heilenden Liebe Jesu Christi. Neben dieser Abweisung, die aus der Habsucht und dem Hochmut des Menschen kommt, gibt es aber auch die Gefahr des Frommen, für die Petrus steht: die falsche Demut, die das Große nicht will, daß Gott sich zu uns herabbeugt; die falsche Demut, in der auch der Hochmut steckt, keine Vergebung zu mögen, sondern aus Eigenem rein sein zu wollen; der falsche Hochmut und die falsche Bescheidenheit, die Gottes Erbarmen nicht annehmen mag. Aber Gott will nicht die falsche Bescheidenheit, die seine Güte zurückweist, sondern er will die Demut, die sich waschen läßt und so rein wird. Dies ist die Weise, wie er sich uns gibt. Gehen wir nun über zu den Abendmahlsworten, die uns in den ersten drei Evangelien berichtet sind, und fragen wir, was wir da erfahren. Da sind zunächst diese beiden unergründlichen Worte, die nun für immer im Zentrum der Kirche, im Zentrum der eucharistischen Feier stehen, die Worte, von denen wir leben, weil sie Gegenwart des lebendigen Gottes, Gegenwart Jesu Christi in unserer Mitte sind und so die Welt aufreißen aus ihrer unerträglichen Langweiligkeit, Gleichmütigkeit, Schwere und Bosheit. "Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut": Das sind Ausdrücke aus der Opfersprache Israels, in der die Gaben bezeichnet wurden, die man Gott im Tempel opferte.4 Wenn Jesus diese Wörter nimmt, bezeichnet er sich selbst als das endgültige und wirkliche Opfer, in dem all diese vergeblichen Versuche des Alten Testamentes erfüllt sind. In ihm ist das, was darin immer gewollt war und nie sein konnte, aufgenommen. Gott will keine Tieropfer; ihm gehört alles. Und er will keine Menschenopfer, denn er hat den Menschen zum Leben geschaffen. Gott will Größeres: Er will die Liebe, die den Menschen verwandelt und in der er gottfähig wird, sich Gott überläßt. Nun erscheinen all die Hekatomben von Opfern, die im Tempel zu Jerusalem je dargebracht worden waren, und all die Opfer die ganze Weltgeschichte hindurch, dieses ewige vergebliche Bemühen, mit Gott gleichzuziehen, überflüssig und doch zugleich sozusagen als Fenster, die durchschauen lassen auf das Eigentliche; als Anläufe, die jetzt erfüllt sind. Das, was dort gemeint war: Gabe an Gott, Einheit mit Gott - dies geschieht in Jesus Christus, in ihm, der Gott nicht etwas gibt, sondern sich und darin uns. (Fs)

31a Nun aber müssen wir fragen: Wie geht das und was heißt das näherhin? Dann stoßen wir auf ein zweites Element. Zu den beiden bedachten Sätzen, die aus der Tempel-Theologie Israels bzw. vom Bundesschluß am Sinai hergenommen sind, fügt Jesus ein Wort hinzu, das aus dem Buch Jesaja stammt: "Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird; mein Blut, das für euch und die Vielen vergossen wird". Dieser Satz stammt aus den Liedern vom Gottesknecht, die wir bei Jesaja finden (53).5 Wir müssen einen Augenblick auf deren Hintergrund zurückblenden, um ihren Gehalt zu verstehen. Israel hatte mit der babylonischen Verbannung seinen Tempel verloren. Es konnte Gott nicht mehr verehren; es konnte seinen Lobpreis nicht mehr darbringen; es konnte nicht mehr die Opfer der Sühne darbringen und mußte nun fragen, was hier eigentlich geschehen sollte, wie das Verhältnis zu Gott lebendig bleiben sollte, wie die Dinge der Welt richtig bleiben sollten. Denn darum ging es im Kult letztlich: das Verhältnis zwischen Mensch und Gott richtig zu halten, weil nur dann die Achse des Wirklichen überhaupt richtig bleibt. In solchen Fragen, wie sie die Zeit der Kultlosigkeit nötig machte, hat Israel eine neue Erfahrung empfangen. Es konnte keine Tempelliturgie feiern, es konnte nur leiden um seines Gottes willen. Seine größten Geister, die Propheten, haben unter der Erleuchtung Gottes begriffen, daß dieses Leiden des glaubenden Israel das wahre Opfer ist, der große neue Gottesdienst, mit dem es für die Menschen, für die ganze Welt vor den lebendigen Gott hintritt. Aber es blieb da doch eine offene Stelle: Israel ist der Gottesknecht, der in seinem Leiden Gott annimmt und für die Welt vor Gott steht, aber es ist doch zugleich auch befleckt und schuldig und egoistisch und verloren. Es kann die Gestalt des Gottesknechtes nicht vollends ausfüllen. So bleiben diese großen Lieder merkwürdig schwebend; einerseits sprechen sie von dem Geschick des leidenden Volkes und deuten es aus; helfen den Menschen, ihr Leid anzunehmen als Ja zu dem richtenden und liebenden Gott. Aber zugleich öffnen sie die Erwartung auf den, in dem dies ganz wahr sein wird, auf den, der wirklich der reine Zeuge Gottes in dieser Welt ist und der noch unnennbar bleibt. Im letzten Abendmahl nimmt Jesus dieses Wort in seinen Mund: Er leidet für die Vielen und zeigt damit, daß in ihm jene Erwartung erfüllt ist; daß in seinem Leiden dieser große Gottesdienst der Menschheit geschieht. Er selbst ist sozusagen das reine Für, der, der nicht für sich steht, sondern für alle zu Gott hin. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; Abendmahlsworte: Bund, Theologie des Bundes (Jeremia);

Kurzinhalt: ... zuerst die Opfertheologie, all das also, was um und im Tempel geschah, dann die Theologie des Exils ... Hier kommt ein Drittes dazu, eine Stelle aus Jeremia (31,31), in der der Prophet den Neuen Bund vorhersieht, ...

Textausschnitt: 36a Kehren wir zurück und achten wir noch auf ein drittes Wort in den Abendmahlstexten: "Dies ist der Neue Bund in meinem Blut". Wir hatten vorhin gesehen, wie Jesus in der Annahme seines Todes das ganze Alte Testament in sich bündelt und zusammenträgt; zuerst die Opfertheologie, all das also, was um und im Tempel geschah, dann die Theologie des Exils, der leidenden Gerechten. Hier kommt ein Drittes dazu, eine Stelle aus Jeremia (31,31), in der der Prophet den Neuen Bund vorhersieht, der nicht mehr an die leibliche Abstammung von Abraham gebunden ist, nicht mehr an die Leistung des Gesetzes, sondern aus der neuen Liebe Gottes heraustritt, die uns ein neues Herz gibt. Dies nimmt Jesus hier auf. Wo er leidet und stirbt, wird dies Erwartete Wirklichkeit; sein Sterben ist Bundesschluß. Es bedeutet sozusagen Blutsbruderschaft zwischen Gott und den Menschen. Das war ja schon der Gedanke gewesen, unter dem auf dem Sinai der Bund dargestellt wurde. Dort hatte Moses den Altar als Zeichen Gottes sowie zwölf Steine als Zeichen der zwölf Stämme Israels einander gegenübergestellt und mit Blut besprengt, um Gott und Mensch zusammenzuschließen in der einen Gemeinschaft dieses Opfers. Was dort nur tastender Versuch war - hier geschieht es. Er, der der Sohn Gottes ist, und er, der Mensch ist, gibt sich in seinem Sterben dem Vater und erweist sich so als der, der uns alle in den Vater hineinträgt. Er stiftet nun wirklich Blutsbruderschaft, Gemeinschaft von Gott und Mensch; er stößt die Tür auf, die wir Menschen nicht aufstoßen können. Wir können nur tastend Gott andenken und wenn es an uns liegt, wissen wir nicht, ob er antwortet. Dies bleibt das Tragische, der Schatten, der über so vielen Religionen steht, daß sie ein Schrei sind, dessen Antwort dunkel bleibt. Nur Gott selbst kann ihn annehmen. Jesus Christus, der Gottessohn und der Mensch, der seine Liebe im Tod durchträgt, den Tod in ein Geschehen der Liebe und der Wahrheit umwandelt, er ist die Antwort; in ihm ist der Bund gegründet. (Fs)

37a So wird sichtbar, wie Eucharistie entstanden ist, welches eigentlich ihre Quelle ist. Die Einsetzungsworte allein genügen nicht; der Tod allein genügt nicht, und auch beides zusammen reicht noch nicht, sondern dazu muß auch die Auferstehung treten, in der Gott diesen Tod annimmt und zur Tür macht in ein neues Leben hinein. Aus diesem Gesamtgefüge: daß er seinen Tod, das Unlogische, in ein Ja umwandelt, in einen Akt der Liebe und der Anbetung, kommt heraus, daß Gott ihn annimmt, und daß so er sich selbst austeilen kann. Im Kreuz hat Christus die Liebe durchgehalten. Bei allen Unterschieden, die es zwischen den Berichten der Evangelisten gibt, ist eines gemeinsam: daß Jesus als Betender gestorben ist und daß er im Abgrund des Todes das erste Gebot aufgerichtet, Gott gegenwärtig gehalten hat.1 Aus solchem Tod kommt dies Sakrament, die Eucharistie. (Fs)

38a Zum Schluß bleibt uns, noch einmal zur Frage des Anfangs zurückzukehren. Ist Jesus nun gescheitert? Nun, er war gewiß nicht erfolgreich in dem Sinn wie Cäsar oder Alexander der Große. Irdisch gesehen ist er zunächst gescheitert: Er starb nahezu verlassen; er wurde verurteilt für sein Wort. Seiner Botschaft antwortete nicht das große Ja seines Volkes, sondern das Kreuz. Aus solchem Ende sollten wir erkennen, daß Erfolg keiner der Namen Gottes ist und daß es nicht christlich ist, nach dem äußeren Erfolg und nach der Zahl zu schielen. Gottes Wege sind anders: Sein Erfolg geschieht durch das Kreuz hindurch und steht immer unter diesem Zeichen. Seine wahre Beglaubigung durch die ganzen Jahrhunderte hindurch sind die, die dieses Zeichen angenommen haben. Wenn wir heute zurückschauen in die vergangene Geschichte, dann müssen wir sagen: Nicht die Kirche der Erfolgreichen beeindruckt uns; die Kirche der Päpste, die Weltherrscher waren; die Kirche derer, die sich mit der Welt zu arrangieren wußten; sondern was uns Glauben schafft, was beständig geblieben ist, was uns Hoffnung gibt, das ist die Kirche der Leidenden. Sie steht bis heute als Zeichen dafür, daß Gott ist und daß der Mensch nicht nur eine Kloake ist, sondern daß er gerettet werden kann. Dies gilt von den Märtyrern der ersten drei Jahrhunderte bis herauf zu Maximilian Kolbe und den vielen ungenannten Zeugen, die in den Diktaturen unserer Tage ihr Leben für den Herrn gegeben haben; sei es, indem sie sterben mußten, sei es, indem sie sich lebend Jahr um Jahr und Tag um Tag seinetwillen zertreten ließen. Die Kirche der Leidenden beglaubigt ihn: Sie ist Gottes Erfolg in der Welt; das Zeichen, das uns Hoffnung und Mut gibt; das Zeichen, aus dem immer noch die Kraft des Lebens kommt, die hinausgeht über das bloße Erfolgsdenken und die damit den Menschen reinigt, Gott die Tür auftut in diese Welt herein. So wollen wir uns von Jesus Christus anrufen lassen, der im Kreuz den Erfolg Gottes errungen hat; der als gestorbenes Weizenkorn fruchtbar geworden ist über die Jahrhunderte hin.- Baum des Lebens, auf den die Menschen auch heute hoffen dürfen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Der Geist der Liturgie

Titel: Der Geist der Liturgie

Stichwort: Kult: kosmisch -geschichtlich; Schöpfungsgeschichte - Sabbat

Kurzinhalt: Die Vorstellung von kosmischer oder geschichtlicher Orientierung des Kultes ist zwar nicht völlig unbegründet, aber falsch, wo sie zu einer ausschließenden Gegenüberstellung führt:

Textausschnitt: 20a In der modernen Theologie hat sich weitgehend die Meinung durchgesetzt, in den sogenannten Naturreligionen wie auch in den nichttheistischen Hochreligionen sei der Kult kosmisch orientiert, währender im Alten Testament und im Christentum geschichtlich ausgerichtet sei; der Islam kennt - ähnlich wie das nachbiblische Judentum - nur Wort-Liturgie, die ihre Prägung und Richtung von der geschichtlich ergangenen Offenbarung empfängt, aber der universalen Tendenz dieser Offenbarung entsprechend durchaus von Bedeutung für die Welt im ganzen sein will. Die Vorstellung von kosmischer oder geschichtlicher Orientierung des Kultes ist zwar nicht völlig unbegründet, aber falsch, wo sie zu einer ausschließenden Gegenüberstellung führt: Dann verkennt man das Geschichtsbewußtsein, das es durchaus auch in den Naturreligionen gibt, und man verengt die Bedeutung der christlichen Gottesverehrung; man vergißt, daß der Erlösungsglaube vom Bekenntnis zum Schöpfer nicht abgetrennt werden kann. Im Verlauf dieses Buches werden wir sehen, welche Bedeutung dieser Frage bis in scheinbare Äußerlichkeiten der liturgischen Gestaltung hinein zukommt. (Fs)

Ich möchte versuchen, das in mehreren Schritten klarzumachen. In den Religionen der Welt sind Kult und Kosmos immer fest miteinander verbunden; die Verehrung der Götter ist nie bloß so etwas wie ein Sozialisationsakt der betreffenden Gemeinschaft, die sich durch Symbole ihres gegenseitigen Zusammenhalts vergewissern würde. Verbreitet ist die Vorstellung, daß es sich um einen Kreislauf des Gebens und des Nehmens handle: Die Götter erhalten die Welt, aber die Menschen müssen durch ihre kultischen Gaben die Götter nähren und erhalten. Zum Kreislauf des Seins gehört beides: die Macht der Götter, die die Welt trägt, aber auch die Gabe der Menschen, die die Götter von der Welt her versorgt. Das geht bis zu dem Gedanken, die Menschen seien überhaupt dazu erschaffen worden, die Götter zu erhalten, und seien auf diese Weise ein wesentliches Glied im Zirkel des Alls. Wie einfältig das auch scheinen mag, es zeigt sich darin doch eine tiefe Sinnbestimmung des Menschseins: Der Mensch ist für Gott da, und so dient er dem Ganzen. Freilich lauern auch die Umkehrung und der Mißbrauch gleich hinter der Tür: Der Mensch hat irgendwie Macht über die Götter; er hat ein Stückweit mit seinem Verhalten zu ihnen den Schlüssel zur Wirklichkeit in der Hand. Die Götter brauchen ihn, aber freilich braucht er auch sie: Sollte er seine Machtmiß brauchen, so könnte er zwar ihnen schaden, aber er würde auch sich selber zerstören. (Fs)

21a Im alttestamentlichen Schöpfungsbericht Gen 1,1-2,4 sind diese Anschauungsformen durchaus erkennbar, aber zugleich verwandelt. Die Schöpfung geht auf den Sabbat zu, auf den Tag, an dem der Mensch und die ganze Schöpfung an Gottes Ruhe, an seiner Freiheit teilnehmen. Von Kult ist unmittelbar nicht die Rede, noch viel weniger davon, daß etwa der Schöpfer die Gaben der Menschen bräuchte. Sabbat ist eine Vision der Freiheit: Sklave und Herr sind an diesem Tage gleich; die »Heiligung« des Sabbats bedeutet eben dies, daß alle Unterordnungsverhältnisse ruhen und alle Last des Werkens für eine Weile aussetzt. Wenn man aber daraus schließt, das Alte Testament habe Schöpfung und Anbetung nicht verbunden, es münde in einer reinen Vision der befreiten Gesellschaft als Ziel aller Geschichte, sei also von Anfang an nur anthropologisch und sozial, ja, revolutionär ausgerichtet, so verkennt man die Bedeutung des Sabbats. Denn der Schöpfungsbericht und die Bestimmungen des Sinai über den Sabbat sind aus der gleichen Quelle; man muß die Sabbat-Ordnungen der Thora dazu lesen, um die Bedeutung des Schöpfungsberichtes recht zu verstehen. Dann aber wird sichtbar: Der Sabbat ist das Zeichen des Bundes zwischen Gott und Mensch; er faßt das Wesen des Bundes von innen herzusammen. Von da aus können wir jetzt die Intention der Schöpfungsberichte schon so definieren: Schöpfung ist, damit ein Ort sei für den Bund, den Gott mit den Menschen schließen will. Das Ziel der Schöpfung ist der Bund, die Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch. Die Freiheit und die Gleichheit der Menschen, die der Sabbat wirken soll, ist keine rein anthropologische oder soziologische Vision; sie ist nur theologisch denkbar: Nur wenn der Mensch im Bund mit Gott steht, wird er frei, erscheint die Gleichheit und die Würde aller Menschen. Wenn also alles auf den »Bund« ankommt, dann ist wichtig zu sehen, daß der Bund Beziehung ist: ein Sich-Schenken Gottes an den Menschen, aber auch ein Antworten des Menschen auf ihn. Die Antwort des Menschen auf einen Gott, der ihm gut ist, heißt: Liebe, und Gott lieben heißt: ihn anbeten. Wenn Schöpfung als ein Raum des Bundes, als Ort der Begegnung von Gott und Mensch gemeint ist, dann heißt das auch, daß sie als Raum der Anbetung gedacht ist. Aber was heißt das eigentlich - Anbetung? Was ist da anders gegenüber der Vorstellung vom Kreislauf des Gebens und Nehmens, der die vorchristliche Kultwelt weitgehend bestimmte?

22a Bevor wir uns dieser entscheidenden Frage zuwenden, möchte ich noch auf den Text hinweisen, mit dem im Buch Exodus die Kultgesetzgebung abgeschlossen wird. Dieser Text ist in strenger Parallelität zum Schöpfungsbericht gebaut: Siebenmal wird hier gesagt »Mose tat, wie der Herr ihm befohlen hatte«, womit das Siebentagewerk des Tempels als Nachbild des Siebentagewerks der Schöpfung erscheint. Schließlich endet die Erzählung von der Einrichtung des Tempels mit einer Art von Sabbatvision: »So vollendete Mose das Werk. Die Wolke bedeckte das Offenbarungszelt, und die Herrlichkeit des Herrn erfüllte die Wohnstätte« (Ex 40,33f). Die Vollendung des Zeltes nimmt die Vollendung der Schöpfung voraus: Gott bezieht Wohnung in der Welt, Himmel und Erde vereinen sich. In diesen Zusammenhang gehört es auch, daß das Verbum bara im Alten Testament zwei - und nur zwei - Bedeutungen hat. Es bezeichnet einerseits den Vorgang der Schöpfung der Welt, das Scheiden der Elemente, das aus Chaos Kosmos werden läßt; es bezeichnet zum anderen den Grundvorgang der Heilsgeschichte, das heißt die Erwählung und die Scheidung von rein und unrein, also das Hervorbringen der Geschichte Gottes mit den Menschen und so die geistige Schöpfung, die Schöpfung des Bundes, ohne den der geschaffene Kosmos ein leeres Gehäuse bliebe. So stehen Schöpfung und Geschichte, Schöpfung, Geschichte und Kult in einem Wechselverhältnis: Schöpfung wartet auf den Bund, aber der Bund vollendet die Schöpfung und bewegt sich nicht neben ihr. Wenn aber der Kult - recht verstanden - die Seele des Bundes ist, dann heißt dies, daß er nicht nur den Menschen rettet, sondern die ganze Wirklichkeit in die Gemeinschaft mit Gott hineinziehen soll. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Der Geist der Liturgie

Titel: Der Geist der Liturgie

Stichwort: Kult 2: kosmisch - gesachichtlich; Anbetung; Opfer: Zerstörung - Vereinigung mit Gott; Kreisbewegung: exitus - reditus; Pfeil (Chardin); Gnosis

Kurzinhalt: Die wahre Übereignung an Gott muß doch wohl ganz anders aussehen. Sie besteht ... in der Vereinigung des Menschen und der Schöpfung mit Gott.

Textausschnitt: 23a Damit stehen wir erneut vor der Frage: Was ist das eigentlich - Anbetung? Was geschieht da? Als Kern des Kultes erscheint praktisch in allen Religionen das Opfer. Aber dies ist ein Begriff, der von einem wahren Schuttberg von Mißverständnissenüberlagert ist. Die allgemeine Auffassung geht dahin, Opfer habe etwas mit Zerstörung zu tun. Es bedeute die Übereignung einer dem Menschen irgendwie kostbaren Wirklichkeit an Gott; diese Übereignung setze aber voraus, daß sie dem Gebrauch des Menschen entzogen wird, und das eben könne nur durch ihre Zerstörung geschehen, mit der sie endgültig aus dem Verfügen des Menschen ausscheidet. Aber da ist sofort die Gegenfrage zu stellen: Welche Freude sollte Gott eigentlich an der Zerstörung haben? Ist ihm durch Zerstörung denn irgend etwas übergeben? Man antwortet, in dem Zerstören verberge sich immerhin der Akt der Anerkennung von Gottes Oberhoheit über alle Dinge. Aber kann ein solch formaler Akt wirklich der Herrlichkeit Gottes dienen? Offenbar nicht. Die wahre Übereignung an Gott muß doch wohl ganz anders aussehen. Sie besteht - so sehen es die Väter der Kirche im Anschluß an biblisches Denken - in der Vereinigung des Menschen und der Schöpfung mit Gott. Gottzugehörigkeit hat nichts mit Zerstörung oder Nichtsein zu tun, wohl aber mit einer Weise des Seins: Sie bedeutet das Heraustreten aus dem Status der Trennung, der scheinbaren Autonomie, des Seins nur für sich selber und in sich selber. Sie bedeutet jenes Sich-Verlieren, das die einzig mögliche Weise des Sich-Findens ist (vgl. Mk 8,35; Mt 10,39). Deswegen konnte Augustinus sagen, das wahre »Opfern sei die civitas Dei, das heißt die zur Liebe gewordene Menschheit, die die Schöpfung vergöttlicht und die Übereignung des Alls an Gott ist: Gott alles in allem (1 Kor 15,28) - das ist das Ziel der Welt, das ist das Wesen von »Opfer« und Kult. (Fs)

24a So können wir nun sagen: Das Ziel des Kultes und das Ziel der Schöpfung im ganzen ist dasselbe - Vergöttlichung, eine Welt der Freiheit und der Liebe. Damit erscheint aber im »Kosmischen« selbst das Geschichtliche: Der Kosmos ist nicht eine Art von einem geschlossen hingestellten Gebäude, er ist nicht ein in sich ruhender Behälter, in dem sich allenfalls Geschichte abspielen kann. Er ist selbst Bewegung, von einem Anfang zu einem Ziel hin. Er ist in gewisser Weise selbst Geschichte. (Fs)

Das kann in mehrfacher Weise vorgestellt werden. Auf dem Hintergrund der modernen evolutionären Weltanschauung hat zum Beispiel P. Teilhard de Chardin den Kosmos als einen Prozeß des Aufstiegs, als einen Weg der Vereinigungen beschrieben. Vom ganz Einfachen führe dieser Weg zu immer größeren und komplexeren Einheiten, in denen Vielfalt nicht aufgehoben, aber in eine wachsende Synthese hinein verschmolzen werde, hin zur Noosphäre,in der der Geist und sein Verstehen das Ganze umgreife, zu einer Art von lebendigem Organismus verschmelze. Vom Epheser- und Kolosserbrief her betrachtet Teilhard Christus als jene zur Noosphäre vorwärtstreibende Energie, die schließlich alles in ihrer »Fülle« einbegreift. Von da aus vermochte Teilhard den christlichen Kult auf seine Weise neu zu deuten: Die verwandelte Hostie ist für ihn die Antizipation der Verwandlung der Materie und ihrer Vergöttlichung in der christologischen »Fülle«. Die Eucharistie gibt für ihn sozusagen die Richtung der kosmischen Bewegung an; sie nimmt ihr Ziel voraus und treibt sie damit zugleich an. (Fs)

25a Die ältere Überlieferung geht begreiflicherweise von einem anderen Modell aus. Ihr Bild ist nicht der aufsteigende Pfeil, sondern sie denkt eher an eine Art Kreisbewegung, als deren beide wesentliche Richtungselemente exitus und reditus, Auskehr und Einkehr, benannt werden. Dieses der allgemeinen Religionsgeschichte wie auch dem christlichen Altertum und Mittelalter gemeinsame »Paradigma« läßt aber sehr verschiedene Ausgestaltungen zu. Der Kreis kann als eine große kosmische Bewegung verstanden werden - so bei den christlichen Denkern -; er kann - so in den Naturreligionen und in vielen nichtchristlichen Philosophien - als eine immer neu sich wiederholende Bewegung gedacht sein. Der Gegensatz dieser beiden Sichtweisen ist, bei Licht betrachtet, nicht so ausschließend, wie es beim ersten Zusehen erscheinen mag. Denn auch für die christliche Ansicht der Welt sind in den einen großen Kreis der Geschichte, die von exitus zu reditus geht, die vielen kleinen Kreise des individuellen Lebens eingeschrieben, die alle den großen Rhythmus des Ganzen in sich tragen, ihn je neu verwirklichen und ihm so überhaupt die Kraft seiner Bewegung geben. Und es sind in den großen einzigen Kreis auch die vielen Lebenskreise der verschiedenen Kulturen und Geschichtsgemeinschaften eingeschrieben, in denen sich immer neu das Drama von Anfang, Aufstieg und Ende abspielt: In ihnen wiederholt sich immer wieder das Mysterium des Beginns; in ihnen trägt sich aber auch immer wieder Ende der Zeit und Untergang zu, der auf seine Weise neuem Aufgang den Boden bereiten kann. Die Summe der Kreise spiegelt den großen Kreis; beide Kreise sind aufeinander verwiesen und greifen ineinander. Und so hat auch der Kult mit allen drei Dimensionen dieser Kreisbewegungen zu tun: mit der persönlichen, mit der sozialen, mit der universalen. (Fs)

25b Bevor wir das näher zu klären versuchen, müssen wir aber noch auf die zweite und in vieler Hinsicht wichtigere Alternative achten, die sich im Schema von exitus und reditus verbirgt. Da gibt es zunächst die Vorstellung, die vielleicht am eindrücklichsten bei dem spätantiken Philosophen Plotin ausgearbeitet ist, aber in verschiedenen Formen weite Teile der nichtchristlichen Kulte und Religionen bestimmt. Der exitus, durch den überhaupt nichtgöttliches Sein erscheint, wird nicht als Ausgang, sondern als Fall, als ein Absturz aus der Höhe des Göttlichen verstanden, der den Fallgesetzen entsprechend in immer größere Tiefen, in immer weitere Entfernung vom Göttlichen hinuntertreibt. Das bedeutet: Das nichtgöttliche Sein ist selbst und als solches gefallenes Sein; die Endlichkeit ist selbst schon eine Art Sünde, das Negative, das geheilt werden muß durch die Rückholung ins Unendliche. Die Heimkehr- der reditus - besteht dann eben darin, daß in der letzten Tiefe der Sturz abgefangen wird, daß nun der Pfeil nach oben weist. Am Ende löst sich die »Sünde« des Endlichen, des Nicht-Gott-Seins auf, und in diesem Sinne wird »Gott alles in allem«. Der Weg des reditus bedeutet Erlösung, und Erlösung bedeutet Befreiung von der Endlichkeit, die als solche die eigentliche Last unseres Seins ist. Der Kult hat dann mit der Kehre der Bewegung zu tun: Er ist das Innewerden des Sturzes, gleichsam der Augenblick der Reue des verlorenen Sohnes, das Wieder-Hinschauen zum Ursprung hin. Weil nach vielen dieser Philosophien Erkenntnis und Sein überhaupt ineinander fallen, ist der neue Blick auf den Anfang zugleich auch schon neuer Aufstieg dorthin. Kult als Aufschauen zu dem, was vor allem Sein und über allem Sein ist, ist seinem Wesen nach Erkenntnis und als Erkenntnis Bewegung, Heimkehr, Erlösung. Freilich gehen da dann auch die Wege der Kultphilosophien auseinander. Es gibt nun die Theorie, nur die Philosophen, nur die zu höherem Denken befähigten Geister seien zu der Erkenntnis fähig, die Weg ist. Nur sie seien fähig zum Aufstieg, zur vollen Vergöttlichung, die Erlösung und Befreiung von der Endlichkeit ist. Für die anderen, die einfacheren Seelen, die den vollen Aufblick noch nicht vermögen, gebe es die verschiedenen Liturgien, die ihnen eine gewisse Erlösung zu bieten vermöchten, ohne sie ganz auf die Höhe der Göttlichkeit führen zu können. Über diese Unterschiede tröstet dann häufig die Lehre von der Seelenwanderung hinweg, die ja die Hoffnung gibt, daß irgendwann in der Wanderung der Existenzen der Punkt erreicht werde, an dem endlich der Ausweg aus der Endlichkeit und ihrer Qual gelinge. Weil hier Erkenntnis (= Gnosis) die eigentliche Macht der Erlösung und damit auch die höchste Form von Erhebung, nämlich Vereinigung mit der Gottheit ist, nennt man die so gearteten-im einzelnen sehr verschiedenenDenk- und Religionssysteme »Gnosis«. Für das werdende Christentum bedeutet die Auseinandersetzung mit der Gnosis das entscheidende Ringen um seine eigene Identität. Denn die Faszination solcher Anschauungen ist groß, und sie scheinen so leicht mit der christlichen Botschaft identifizierbar. Die »Erbsünde« zum Beispiel, sonst so schwer verstehbar, wird mit dem Sturz ins Endliche selbst identisch, und so erscheint auch klar, daß sie allen anhaftet, die im Kreislauf der Endlichkeit stecken. Erlösung als Befreiung aus der Last der Endlichkeit wird einsichtig usw. Auch heute ist auf vielfache Weise die Faszination des Gnostischen neu am Werk: Die fernöstlichen Religionen tragen das gleiche Grundmuster in sich. Die Formen angewandter Erlösungslehre, die sie anbieten, sind darum höchst einleuchtend. Die Übungen körperlicher Entspannung und seelischer Leere erscheinen als Zugänge auf die Erlösung hin. Sie zielen auf Befreiung von der Endlichkeit, ja, nehmen sie augenblicksweise voraus und haben so heilende Kraft. (Fs)

27a Das christliche Denken hat, wie gesagt, das Schema von exitus und reditus durchaus aufgenommen, aber es hat darin zwei Bewegungen voneinander unterschieden. Exitus ist nicht zunächst Abfall aus dem Unendlichen, die Entzweiung des Seins und damit die Ursache allen Elends der Welt, sondern exitus ist zunächst etwas durchaus Positives: der freie Schöpfungsakt des Schöpfers, der positiv will, daß es das Geschaffene als etwas Gutes ihm gegenüber gebe, aus dem eine Antwort der Freiheit und der Liebe zu ihm zurückkommen kann. Nichtgöttliches Sein ist daher nicht in sich schon etwas Negatives, sondern ganz im Gegenteil positive Frucht eines göttlichen Wollens. Es beruht nicht auf einem Sturz, sondern auf einer Setzung Gottes, die gut ist und Gutes schafft. Der Seinsakt Gottes, der geschaffenes Sein bewirkt, ist ein Freiheitsakt. Insofern ist im Sein selbst von seinem Grund her das Prinzip Freiheit anwesend. Der exitus - oder besser: der freie Schöpfungsakt Gottes - zielt in der Tatauf reditus, aber damit ist nun nicht die Rücknahme des geschaffenen Seins gemeint, sondern was wir oben beschrieben haben: daß das Zu-sich-selbst-Kommendes in sich selbst stehenden Geschöpfs in Freiheit auf Gottes Liebe antworte, Schöpfung als sein Liebesgebot annehme, und daß so ein Dialog der Liebe entstehe, jene ganz neue Einheit, die allein die Liebe schaffen kann. In ihr wird das Sein des anderen nicht absorbiert, nicht aufgelöst, sondern gerade im Sich-Geben wird er ganz er selber. Es entsteht Einheit, die höher ist als die Einheit des nicht mehr teilbaren Elementarteilchens. Dieser reditus ist »Heimkehr«, aber er löst die Schöpfung nicht auf, sondern gibt ihr vollends ihre Endgültigkeit. Das ist die christliche Idee des »Gott alles in allem«. Aber das Ganze ist eben an Freiheit geknüpft, und die Freiheit des Geschöpfes ist es nun, die den positiven exitus der Erschaffung umbiegt, ja, gleichsam umbricht in den Fall: in das Nicht-abhängig-sein-Wollen, in das Nein zum reditus. Liebe wird nun als Abhängigkeit verstanden und abgelehnt; an ihre Stelle tritt die Autonomie und Autarkie: nur aus sich und in sich selber zu sein, aus Eigenem ein Gott zu sein. So bricht der Bogen von exitus zu reditus auseinander. Einkehr wird nicht mehr gewollt, und der Aufstieg aus eigener Kraft erweist sich als unmöglich. Wenn »Opfer« seinem Wesen nach einfach Einkehr in die Liebe ist und so Vergöttlichung, so muß nun in den Kult das Moment der Heilung der verwundeten Freiheit, der Sühne, der Reinigung und der Lösung aus der Entfremdung eintreten. Das Wesen des Kultes, des »Opfers« als Prozeß der Verähnlichung, des Liebewerdens und so des Weges in die Freiheit bleibt unverändert. Aber es nimmt nun das Moment der Heilung in sich auf, der liebenden Umwandlung der gebrochenen Freiheit in die durchlittene Weise des Versöhnens. Zu ihm gehört nun - gerade weil alles auf das Selbersein, auf die Unbedürftigkeit vom anderen abgestellt war - das Verwiesensein auf den anderen, der mich aus der Schlinge lösen muß, die ich selbst nicht mehr aufknüpfen kann. Erlösung braucht nun den Erlöser: Die Väter haben das im Gleichnis vomverirrten Schaf ausgedrückt gefunden. Dieses Schaf, das im Dornstrauch verfangen ist und den Rückweg nicht mehr weiß, ist für sie ein Bild des Menschen überhaupt, der aus seinem Dorngestrüpp nicht mehr herauskommt und auch den Weg zu Gott nicht mehr selber finden kann. Der Hirt, der es holt und heimträgt, ist für sie der Logos selbst, das ewige Wort, der ewige, im Sohn Gottes wohnende Sinn des Alls, der sich selbst aufden Weg macht zu uns und der nun das Schaf auf die Schultern nimmt, das heißt Menschennatur annimmt und als Gottmensch das Geschöpf Mensch wieder heimträgt. So wird reditus möglich, die Heimkehr schenkt. Damit nimmt nun freilich das Opfer die Form des Kreuzes Christi an, der sich im Tod verschenkenden Liebe, die nichts mit Zerstörung zu tun hat, sondern ein Akt der Neuschöpfung ist, der die Schöpfung wieder zu sich selber bringt. Und aller Kult ist nun Beteiligung an diesem »Pascha« Christi, an diesem seinen »Übergang« vom Göttlichen zum Menschlichen, vom Tod zum Leben, zur Einheit von Gott und Mensch. Christlicher Kult ist so konkretes Einlösen und Verwirklichen des Wortes, das Jesus am ersten Tag der großen Woche, am Palmsonntag, im Tempel zu Jerusalem ausgerufen hat: »Wenn ich von der Erde erhöht sein werde, werde ich alles an mich ziehen« (Joh 12,32). (Fs)

29a Kosmischer und geschichtlicher Kreis sind nun unterschieden: Das geschichtliche Element hat von der Gabe der Freiheit als Mitte des göttlichen wie des geschaffenen Seins her seine eigene und unwiderrufliche Bedeutung, aber es wird deswegen vom Kosmischen nicht losgerissen. Beide Kreise bleiben trotz ihrer Differenz letztlich der eine Kreis des Seins: Die geschichtliche Liturgie des Christentums ist und bleibt - ungetrennt und unvermischt - kosmisch, und nur so steht sie in ihrer ganzen Größe. Es gibt die einmalige Neuheit des Christlichen, und doch stößt es das Suchen der Religionsgeschichte nicht von sich ab, sondern nimmt alle bestehenden Motive der Weltreligionen in sich auf und bleibt auf solche Weise mit ihnen verbunden. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie, Opfer; Johannes (Seite, Blut, Wasser, Vorhang), Abraham

Kurzinhalt: Die Eucharistie ist Opfer, Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu Christi. Wenn wir dies hören, stehen Widerstände in uns auf, und es war zu allen Zeiten so... Gott schenkt, damit wir schenken können. Dies ist das Wesen des eucharistischen Opfers ...

Textausschnitt: 41a Der Evangelist Johannes hat seine Darstellung der Passion Jesu Christi mit zwei großen Bildern umrahmt, in denen er jeweils das Ganze dessen, was Jesu Leben und Leiden bedeuten, sichtbar macht, um darin zugleich auch den Ursprung des christlichen Lebens, Ursprung und Sinn der Sakramente auszulegen. Am Anfang der Passionsgeschichte steht der Bericht von der Fußwaschung; an ihrem Ende die feierliche, bewegende Erzählung von der Öffnung der Seite Jesu (Jon 19,30-37). Johannes hat dabei mit großer Sorgfalt den Tag des Todes Jesu datiert.1 Aus seinem Evangelium geht hervor, daß Jesus genau in der Stunde starb, in der im Tempel die Osterlämmer für das Paschafest geschlachtet wurden. So wird durch diesen Augenblick des Todes sichtbar, daß er das wirkliche Osterlamm ist; daß die Lämmer zu Ende sind, weil das Lamm gekommen ist. Für die Seite Jesu, die geöffnet wird, hat Johannes genau das Wort verwendet, das in der Schöpfungsgeschichte bei dem Bericht von der Erschaffung Evas steht, wo wir gewöhnlich "Rippe" Adams übersetzen.2 Johannes macht auf diese Weise deutlich, daß Jesus der neue Adam ist, der in die Nacht des Todesschlafes hinuntersteigt und in ihr den Anfang einer neuen Menschheit eröffnet. Aus seiner Seite, aus dieser in der liebenden Hingabe geöffneten Seite kommt eine Quelle heraus, die die ganze Geschichte befruchtet. Aus der Todeshingabe Jesu strömen Blut und Wasser, Eucharistie und Taufe als Quell einer neuen Gemeinschaft. (Fs) (notabene)

42a Die offene Seite ist der Ursprungsort, aus dem die Kirche kommt, aus dem die Sakramente kommen, die die Kirche bauen. So wird in diesem Bild, das der Evangelist zeichnet, noch einmal ansichtig, was wir in der ersten Besinnung zu verstehen suchten. Für die Einsetzung der Eucharistie genügt das Abendmahl allein nicht. Denn die Worte, die Jesus da spricht, sind Vorwegnahme seines Todes, Umwandlung des Todes in ein Geschehen der Liebe, Umwandlung des Sinnlosen in den Sinn, der sich öffnet für uns. Aber das bedeutet dann auch, daß diese Worte nur dadurch Gewicht haben, nur dadurch schöpferisch sind über die Zeiten hin, daß sie nicht Worte blieben, sondern daß sie gedeckt wurden mit seinem wirklichen Tod. Und wiederum würde dieser Tod leer bleiben, würden seine Worte bloßer uneingelöster Anspruch bleiben; würde sich nicht wahrhaft zeigen, daß seine Liebe stärker ist als der Tod, daß der Sinn stärker ist als der Unsinn. Der Tod würde leer bleiben und auch die Worte nichtig machen, wenn nicht die Auferstehung käme, in der sichtbar wird, daß diese Worte aus göttlicher Vollmacht heraus gesprochen sind; daß seine Liebe in der Tat stark genug ist, weiterzureichen über den Tod hinaus. So gehören diese drei zusammen.- das Wort, der Tod und die Auferstehung. Und diese Dreieinigkeit von Wort, Tod und Auferstehung, die uns etwas vom Geheimnis des dreieinigen Gottes selbst ahnen läßt, die nennt die christliche Überlieferung das "Paschamysterium", das Ostergeheimnis. Nur alles drei zusammen ist ein Ganzes, nur diese drei zusammen sind wahrhaft Wirklichkeit, und dieses eine Ostergeheimnis ist der Ursprung, aus dem Eucharistie herauskommt. (Fs) (notabene)

43a Das aber bedeutet: Eucharistie ist weit mehr als bloß ein Mahl; sie hat einen Tod gekostet, und die Majestät des Todes ist anwesend in ihr. Wenn wir sie begehen, muß uns die Ehrfurcht vor diesem Geheimnis, die Scheu vor dem Mysterium des Todes erfüllen, der anwesend wird in unserer Mitte. Anwesend ist freilich zugleich auch, daß dieser Tod überwunden wurde durch Auferstehung und daß wir deshalb diesen Tod begehen können als das Fest des Lebens, als die Verwandlung der Welt. Zu allen Zeiten und in allen Völkern haben die Menschen in ihren Festen letztlich versucht, die Tür des Todes aufzustoßen. Ein Fest bleibt solange oberflächlich, bloße Zerstreuung und Betäubung, so lange es an diese letzte Frage nicht rührt. Der Tod ist die Frage aller Fragen und wo er ausgeklammert wird, ist letztlich keine Antwort gegeben. Nur wo er beantwortet wird, kann der Mensch wahrhaft feiern und frei werden. Das christliche Fest, die Eucharistie, reicht bis in diese Tiefe des Todes hinunter. Es ist nicht bloß fromme Unterhaltung und Zerstreuung, irgendeine religiöse Verschönerung und Verbrämung der Welt; es reicht bis in den tiefsten Grund hinab, der da genannt ist Tod, und stößt den Weg auf in das Leben, das den Tod überwindet. Damit ist aber eigentlich nun schon das ausgelegt, worüber wir in dieser Besinnung nachdenken wollen und was die Überlieferung zusammenfaßt in dem Satz: Die Eucharistie ist Opfer, Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu Christi. Wenn wir dies hören, stehen Widerstände in uns auf, und es war zu allen Zeiten so. Es erhebt sich die Frage: Liegt nicht eigentlich ein unwürdiges oder zumindest ein naives Gottesbild vor, wo von Opfern geredet wird? Steckt dahinter nicht die Vorstellung, wir Menschen müßten und wir könnten Gott etwas schenken? Zeigt sich da nicht die Meinung, daß wir sozusagen gleichrangige Partner Gottes sind, die ein Tauschgeschäft mit ihm machen: Wir geben ihm, damit er uns gebe? Verkennen wir nicht die Größe Gottes, der unserer Gaben nicht bedarf, weil er selbst Geber aller Gaben ist? Aber andererseits bleibt da freilich doch die Frage: Sind wir nicht alle Schuldner Gottes, ja, nicht nur Schuldner, sondern Schuldige, weil wir nicht mehr bloß einfach unser Leben und Sein ihm schulden, sondern schuldig geworden sind gegen ihn? Wie sollen wir mit ihm ins reine kommen? Wir können ihm nicht geben, und trotzdem können wir ja auch nicht einfach annehmen, daß er die Schuld wie nichtig behandelt, daß er sie nicht ernst nimmt, daß er den Menschen nur als ein Spiel betrachtet. (Fs)

44a Auf eben diese Frage gibt die Eucharistie Antwort. Als erstes sagt sie uns dabei dies: Gott selber schenkt uns, damit wir schenken können. Die Initiative in dem Opfer Jesu Christi kommt von Gott her. Zuerst ist es er selbst, der herabsteigt: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab" Joh 3,16). Christus ist nicht zuerst eine Gabe, die wir Menschen dem zürnenden Gott darbringen, sondern daß er da ist, daß er lebt, leidet und liebt, dies ist schon Werk der Liebe Gottes. Er ist das Heruntersteigen der erbarmenden Liebe, die sich zu uns herabbeugt; der Herr wird für uns zum Sklaven, wie wir in der vorausgehenden Betrachtung gesehen haben. Im selben Sinn steht im zweiten Korintherbrief als Ruf der Gnade an uns das Wort: "Laßt euch mit Gott versöhnen!" (2 Kor 5,20) Obwohl wir den Streit vom Zaun gebrochen haben, obwohl nicht Gott an uns schuldig wurde, sondern wir an ihm, geht er auf uns zu und bettelt gleichsam in Christus um Versöhnung. Er verwirklicht das, was der Herr in dem Gleichnis vom Opfer im Tempel sagt, wo es heißt: "Wenn du deine Gabe zum Altar bringst und es fällt dir ein, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, dann laß die Gabe vor dem Altar liegen, geh hinaus, versöhne dich zuerst mit deinem Bruder und dann komm wieder und bring deine Gabe" (Mt 5,23 f.). Gott selber ist uns in Christus diesen Weg vorgegangen; er ist uns, seinen unversöhnten Kindern, entgegengepilgert - hinausgegangen aus dem Tempel seiner Herrlichkeit, um uns zu versöhnen. (Fs)

45a Dasselbe zeigt sich aber auch schon, wenn wir zurückblicken auf den Anfang der Geschichte des Glaubens. Zuletzt opfert Abraham nicht etwas, was er selbst bereitgestellt hat, sondern er schenkt den Widder (das Lamm), der ihm von Gott geschenkt worden ist. So öffnet sich in diesem Uropfer Abrahams der Blick durch die Jahrtausende hin; dies Lamm im Dornengestrüpp, das Gott ihm schenkt, damit er schenken könne, ist gleichsam der erste Vorbote jenes Lammes Jesus Christus, das die Dornenkrone unserer Schuld trägt; das in die Dornen der Weltgeschichte eingetreten ist, um uns zu geben, was wir geben dürfen. Wer die Abrahamsgeschichte recht begreift, dem kann es nicht so gehen wie Tilman Moser in seinem unheimlichen Buch "Gottesvergiftung"; Moser liest aus ihr einen Gott heraus, der grausam ist wie ein Gift, das unser ganzes Leben vergällt.3 Auch als Abraham unterwegs war und von dem Geheimnis des Widders noch nicht wußte, konnte er vertrauenden Herzens zu Isaak sagen: Deus providebit - Gott wird Sorge tragen. Weil er diesen Gott kannte, deswegen wußte er auch in der Nacht seiner Unbegreiflichkeit, daß er ein Liebender ist; deswegen konnte er auch da, wo nichts mehr zu begreifen war, auf ihn setzen und wissen, daß gerade der, der ihn scheinbar bedrängte, gerade so der wahrhaft Liebende war. In solchem Hineinschreiten, in dem sein Herz weit wurde, in dem er in den Abgrund des Vertrauens hineintrat und in der Nacht des unverstandenen Gottes es mit ihm wagte, da wurde er erst fähig, den Widder zu empfangen; den Gott zu begreifen, der schenkt, damit wir schenken können. Dieser Abraham allerdings spricht uns alle an. Wenn wir nur von außen zuschauen, wenn wir nur von außen und nur auf uns gerichtet Gottes Wirken ergehen lassen, dann werden wir Gott bald für einen Tyrannen ansehen, der mit dieser Welt spielt. Aber je mehr wir mit ihm gehen, je mehr wir ihm in der Nacht des Unverstandenen trauen, desto mehr werden wir innewerden, daß gerade der Gott, der uns scheinbar quält, der wahrhaft Liebende ist, auf den wir uns unbedingt verlassen können. Je tiefer wir hinabgehen in die Nacht des Unverstandenen und ihm trauen, desto mehr werden wir ihn finden, werden wir die Liebe und die Freiheit finden, die uns durch alle Nächte trägt. Gott schenkt, damit wir schenken können. Dies ist das Wesen des eucharistischen Opfers, des Opfers Jesu Christi; so drückt es auch seit ältesten Zeiten der römische Kanon aus: De tuis donis ac datis offerimus tibi - aus deinen Geschenken und Gaben schenken wir dir. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie, Opfer; Passahaggada; Umwandlung des Todes in das Wort;

Kurzinhalt: Israel fängt an zu begreifen, daß das gottgemäße Opfer der gottgemäße Mensch ist, und daß daher das wahre Opfer das Gebet, die dankende Rühmung Gottes ist, in der wir uns selbst ihm zurückgeben und damit auch uns und die Welt erneuern.

Textausschnitt: 46a Auch das Zweite - wir schenken - gilt in aller Wahrheit und nicht bloß fiktiv. So ist nun zu fragen: Wie soll dies zugehen, daß einerseits, da wir nichts zu geben haben, Gott schenkt, und daß wir andererseits dabei doch nicht zu bloß passiven Objekten werden, die nur beschämt dastehen können, sondern wahrhaft ihn beschenken dürfen? Um das zu verstehen, müssen wir noch einmal in die Geschichte Israels zurückgehen, dessen glaubende Menschen ja leidenschaftlich und tief darum gerungen haben, was das eigentlich sei - ein Opfer, und wie es wirklich gottgemäß und menschengemäß geschehen könne. Durch solches Ringen ist in der Frömmigkeit der Psalmen und der Propheten immer tiefer eine Einsicht gereift, die sich etwa ausdrückt in solchen Worten: Ein zerknirschter Geist ist das wahre Opfer vor dir. Unsere Gebete mögen aufsteigen wie Weihrauch zu dir hin. Mehr als Tausende von fetten Widdern möge unser Gebet wiegen vor dir. (Fs)

47a Israel fängt an zu begreifen, daß das gottgemäße Opfer der gottgemäße Mensch ist, und daß daher das wahre Opfer das Gebet, die dankende Rühmung Gottes ist, in der wir uns selbst ihm zurückgeben und damit auch uns und die Welt erneuern. Immer schon war der Kern des Kultes in Israel das, was wir mit einem lateinischen Wort "Memoriale" nennen: das Gedenken. Bei dem Begehen des Pascha wurde, ehe man das Lamm aß, vom Hausvater die Passahaggada gesprochen, das heißt, eine rühmende Erzählung der Großtaten Gottes an Israel. Der Hausvater preist die Geschichte, die Gott mit dem Volk gemacht hat, damit die Nachkommenden es hören. Aber er erzählt dies alles nicht wie eine vergangene Geschichte, sondern er rühmt darin die Gegenwart Gottes, der uns trägt und führt, dessen Tun also an uns und in uns gegenwärtig ist. In der Zeit, in der Jesus lebte, war immer mehr das Bewußtsein gewachsen, daß diese Passahaggada die eigentliche Mitte der Liturgie Israels, das eigentliche Opfer an Gott sei. Darin traf sich die Frömmigkeit Israels mit der neuen Frömmigkeit, die auch in der heidnischen Welt gewachsen war, in der ebenfalls immer mehr der Gedanke aufbrach, daß das wahre Opfer das Wort ist oder vielmehr: der Mensch, der im Wort des Dankes die Dinge und sich selbst vergeistigt, reinigt und so gottgemäß wird. (Fs)

48a Jesus hat nun seine Abendmahlsworte in diese Passahaggada, in das Gebet des Dankes hineinverflochten, das damit über seine in Israel entwickelte Gestalt hinaus eine ganz neue Mitte gewann. Es blieb vorher eben doch bloß Wort, mit der Gefahr, bloße Rede zu werden; es blieb Wort in einer Geschichte, in der Gottes Sieg nicht offenkundig ist, trotz aller seiner großen Taten. Erst Jesus Christus gibt diesem Gebet die Mitte, die die verschlossene Tür aufstößt; diese Mitte ist seine Liebe, in der Gott siegt und den Tod besiegt. Der Kanon der römischen Messe ist direkt aus diesen jüdischen Lobpreisungsgebeten entstanden; er ist der unmittelbare Nachfahre und die direkte Fortsetzung dieses Abendmahlsgebetes Jesu Christi und damit der Kern der Eucharistie. Er ist der eigentliche Träger des Opfers, denn Jesus Christus hat darin seinen Tod in Wort umgewandelt - in Gebet - und er hat so die Welt verändert.1 Denn das hat zur Folge, daß dieser Tod vergegenwärtigungsfähig ist, weil er in dem Gebet lebt und das Gebet nun durch die Jahrhunderte hindurchgeht. Es hat weiterhin die Folge, daß dieser Tod mitteilbar ist, weil wir in dieses verwandelnde Gebet eintreten, es mitbeten können. Dies also ist das neue Opfer, das er uns geschenkt hat, in das er uns alle aufnimmt: Weil er den Tod zum Wort des Dankes und der Liebe machte, kann er nun durch alle Zeiten hindurch anwesend werden als Quelle des Lebens, können wir im Mitbeten in ihn eintreten. Er sammelt sozusagen das Armselige unserer Leiden, unseres Liebens, unseres Hoffens und Wartens in dieses Gebet hinein zu einem großen Strom, in dem es mitlebt, so daß wir darin wahrhaft Mitopfernde sind. Christus steht nicht isoliert uns gegenüber. Er ist als Weizenkorn allein gestorben, aber er steht nicht allein auf, sondern in seiner Auferstehung ist er Ähre, die die Gemeinschaft der Heiligen mitnimmt. Christus steht seit der Auferstehung nicht mehr allein, sondern er ist - wie die Kirchenväter sagen - immer "caput et corpus": Haupt und Leib, geöffnet auf uns alle hin. So macht er sein Wort wahr: "Wenn ich am Kreuz erhöht sein werde, werde ich alles an mich ziehen" (Joh 12,32). Deswegen brauchen wir die Furcht nicht zu hegen, die Luther zum Protest gegen den katholischen Meßopfergedanken veranlaßte, es werde dadurch die Ehre Christi gemindert; das "Meßopfer" beruhe auf dem Gedanken, daß Christi Opfer nicht genügt habe und wir noch etwas danebensetzen müßten und könnten. Solch irrige Meinung mag es durchaus gegeben haben, mit dem wirklichen Sinn des Meßopfergedankens hat sie nichts zu tun. Die Größe von Christi Werk besteht eben darin, daß er nicht in einem getrennten Gegenüber zu uns bleibt, das uns in die bloße Passivität verwiese; er erträgt uns nicht nur, sondern er trägt uns, identifiziert sich so mit uns, daß ihm unsere Sünde, uns sein Sein zugehört: Er nimmt uns wirklich an und auf, so daß wir mit ihm und von ihm her selbst aktiv werden, selbst zu Mithandelnden und so zu Mitopfernden werden, zu Teilhabern des Geheimnisses. So kann auch unser Leben und Leiden, Hoffen und Lieben fruchtbar werden in der neuen Mitte, die Er uns geschenkt hat. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie, Opfer; Zusammenfassung; Passahaggada - Kanon; rationabile obsequium; Einheit, Priesterweihe; Interkommunion

Kurzinhalt: Die Umwandlung des Todes in Liebe, die sich in seinem Allmachtswort vollzieht, verschmilzt daher menschliches Wort mit dem Wort der ewigen Liebe ...

Textausschnitt: 49a Fassen wir das bisher Bedachte zusammen. Der Kanon als Fortführung der Passahaggada ist als "Eucharistia" (das heißt als Umwandlung von Sein in Dank) eigentlicher Kern der Messe. Die Liturgie selbst nennt ihn "rationabile obsequium", Opfer in der Weise des Wortes. Sie setzt dabei zunächst das geistige Ringen der Propheten, der leidenden Gerechten in Israel, aber auch die sich daran annähernde reife Frömmigkeit der griechischen Welt voraus. Sie weiß aber vor allem, daß auch das menschliche Wort nur dadurch wahrhaft Anbetung und Opfer werden konnte, daß es gedeckt war vom Leben und Leiden dessen, der selbst das Wort ist. Die Umwandlung des Todes in Liebe, die sich in seinem Allmachtswort vollzieht, verschmilzt daher menschliches Wort mit dem Wort der ewigen Liebe, das der Sohn ist, der sich immerwährend dem Vater in Liebe übereignet. Deshalb kann dieses Wort, was menschliche Liebe nur wünscht: im Tod die Tür zur Auferstehung aufstoßen. So ist der Kanon als "wahrhaftes Opfer" Wort vom Wort; in ihm spricht der, der als Wort Leben ist. Indem er uns dieses Wort auf die Zunge legt, es uns mitsprechen läßt, macht er uns zu Mitopfernden: Sein Wort wird unser Wort, seine Anbetung unsere Anbetung, sein Opfer unser Opfer. (Fs) (notabene)

50a Demgemäß müssen wir jetzt noch einen Blick auf die Struktur des Kanons werfen. Dabei ist anzumerken, daß die neuen Hochgebete mit dem überlieferten römischen Kanon dieselbe Struktur teilen; was wir an ihm exemplarisch bedenken, gilt sachlich ebenso von ihnen. Wenn wir nun also auf den sogenannten römischen Kanon schauen, stoßen wir zunächst auf etwas Merkwürdiges: Er spricht keineswegs nur von Gott und Christus, von seinem Tod und seiner Auferstehung. Er spricht von Menschen, nennt Namen: Xystus, Clemens, Cyprian; er gibt uns die Freiheit, Namen einzufügen, die Namen der Menschen, die wir liebten und die uns vorangegangen sind in die andere Welt; die Namen der Menschen, denen wir danken oder deren Last wir mittragen möchten. Ja, der Kanon spricht darüber hinaus von der ganzen Schöpfung, denn wenn es am Schluß heißt: "Durch ihn segnest du all diese guten Gaben", dann geht sein Blick hinaus auf alles, was wir aus Gottes guten Händen empfangen; jede Mahlzeit soll gleichsam hineingehalten sein in diese neue Mahlzeit, die Christus uns schenkt, soll etwas von ihrem Dank für den Schöpfer-Gott in sich tragen. Wir sollten - nebenher bemerkt - dieses Bewußtsein wieder erneuern, daß all unsere Mahlzeiten von der Schöpfergüte Gottes leben und hinweisen auf diese höchste Mahlzeit, in der wir nicht mehr nur irdische Dinge, sondern Gottes leibhaftiges Erbarmen empfangen. Wir sollten uns vornehmen, unsere Mahlzeiten wieder mehr zu heiligen Zeiten zu machen; sie mit Gebet zu eröffnen und zu schließen. Solches Tun wird ein neues Klima in unsere Häuser tragen; wo wir gemeinsam beten, wo wir die Gaben Gottes dankend von ihm empfangen, entsteht eine neue Mitte, die auch uns verändert. Im Kanon kommen Menschen vor, so sagten wir; dies hat einen sehr einfachen Grund. Es gibt nur einen Christus. Wo immer Eucharistie gefeiert wird, da ist er ganz da. Deswegen ist auch in der ärmsten Dorfkirche, wenn Eucharistie stattfindet, das ganze Geheimnis der Kirche, ihre lebendige Mitte, der Herr, anwesend. Aber dieser ganze Christus ist eben auch nur einer. Darum können wir ihn nur mit allen anderen zusammen haben. Er ist derselbe, hier oder in Rom, in Amerika oder in Australien oder in Afrika. Weil er nur einer ist, können wir ihn nur in der Einheit empfangen. Wo wir gegen die Einheit stünden, könnten wir ihm nicht mehr begegnen. Aus diesem Grund hat jede Eucharistiefeier die Struktur des "Communicantes", der Kommunion nicht nur mit dem Herrn, sondern auch mit der Schöpfung und mit den Menschen aller Orte und aller Zeiten. Auch dies sollten wir neu in unsere Seele hineinnehmen, daß wir mit dem Herrn nicht kommunizieren können, wenn wir es nicht miteinander tun; daß wir, wenn wir zu ihm hintreten, auch neu aufeinanderzutreten, eins miteinander werden müssen. Von daher ist es nicht nur eine Äußerlichkeit, sondern von innen notwendig, daß in der Eucharistiefeier Papst und Bischof genannt werden. Denn Eucharistiefeier ist nicht nur Begegnung von Himmel und Erde, sondern auch Begegnung der Kirche von damals und von heute, Begegnung der Kirche von hier und dort; sie setzt das sichtbare Hineintreten in ihre sichtbare und nennbare Einheit voraus. Die Namen von Papst und Bischof stehen dafür, daß wir wahrhaft die eine Eucharistie Jesu Christi feiern, die wir nur in der einen Kirche empfangen können. (Fs)

52a So wird ein Letztes sichtbar: Mitte des Kanons ist der Bericht vom Abend vor Jesu Leiden. Wenn er gesprochen wird, dann erzählt der Priester nicht eine vergangene Geschichte, eine bloße Erinnerung an damals, sondern dann geschieht Gegenwart. "Dies ist mein Leib", das wird im Heute gesagt. Aber dieses Wort ist ein Wort Jesu Christi. Kein Mensch kann es von sich aus sagen. Niemand kann von sich aus seinen Leib als den Leib Christi, dieses Brot als seinen Leib im Ich Jesu Christi erklären. Dieses Ich-Wort - "mein Leib" kann nur Er selber sagen. Wenn ein Mensch es wagen würde, es aus sich zu sagen, sein Ich als das Ich Christi zu sehen, könnte dies nur Lästerung sein. Niemand kann sich selbst solche Vollmacht geben; kein anderer kann sie ihm geben; keine Gemeinde kann sie ihm geben. Sie kann nur geschenkt werden durch die Gesamtkirche, die eine ganze Kirche, der der Herr sich selbst übertragen hat. Aus diesem Grunde braucht die Messe den, der nicht im eigenen Namen spricht, der nicht im eigenen Auftrag kommt, sondern der die ganze Kirche, die Kirche aller Orte und Zeiten vertritt, die ihm übertragen hat, was sie selbst empfangen hat. Daß Eucharistiefeier an Priesterweihe gebunden ist, ist nicht, wie wir manchmal hören, eine Erfindung der Kirche, die sich damit allerlei Rechte anmaßt und den Geist einengt. Es folgt aus dem innersten Wesen dieses Wortes, das kein Mensch aus sich zu sprechen das Recht hat; es folgt daraus, daß dieses Wort nur im Sakrament der ganzen Kirche, in der Vollmacht, die sie allein als Einheit und Ganzheit hat, gesprochen werden kann. Solches Beschenktwerden mit dem Auftrag, den die ganze Kirche in ihrer Einheit selbst empfangen hat, nennen wir Priesterweihe. Von alledem her sollten wir versuchen, eine neue Ehrfurcht vor dem eucharistischen Geheimnis zu finden. Darin geschieht Größeres, als wir machen können. Seine Größe hängt nicht von unserer Gestaltung ab, sondern all unser Gestalten kann immer nur ein Dienen sein an dem Großen, das uns vorausgeht und das wir nicht schaffen. Wir sollten neu lernen, daß Eucharistie niemals das Werk bloß einer Gemeinde ist, sondern daß wir vom Herrn her empfangen, was der Einheit der Kirche geschenkt ist. Mich bewegen immer wieder jene Berichte aus Konzentrationslagern oder aus russischer Gefangenschaft, wo Menschen über Wochen und Monate die Eucharistie entbehren mußten und nicht zu der Eigenmacht griffen, sie sich selbst zu erschaffen, sondern die Eucharistie der Sehnsucht feierten, verlangend auf den Herrn warteten, der allein sich selber schenken kann. In solcher Eucharistie der Sehnsucht wurden sie auf eine neue Weise reif für sein Geschenk und empfingen es ganz neu, wenn dann irgendwo ein Priester ein Stück Brot und etwas Wein fand. (Fs) (notabene)

53a Wir sollten von da aus auch die Frage der Interkommunion mit der gebührenden Demut und Geduld annehmen. Es ist nicht unsere Sache, selbst zu tun, als ob Einheit wäre, wo sie nicht gegeben ist. Eucharistie ist niemals ein Mittel, das wir anwenden können; sie ist die Gabe des Herrn, die Mitte der Kirche selbst, über die wir nicht verfügen. Es geht hier nicht um persönliche Freundschaft, um subjektive Glaubensgrade, die wir ohnedies nicht messen können, sondern um das Stehen in der Einheit der einen Kirche und um unser demütiges Warten darauf, daß Gott selbst sie schenken möge. Statt hier zu experimentieren und dem Geheimnis seine Größe zu nehmen und es zu einem Mittel in unseren Händen herabzuwürdigen, sollten auch wir lernen, die Eucharistie der Sehnsucht zu feiern und im gemeinsamen Beten und Hoffen auf neue Weise der Einheit mit dem Herrn entgegenzugehen. (Fs)

54a Der Bericht des heiligen Johannes vom Tod des Herrn schließt mit den Worten: "Sie werden schauen auf den, den sie durchbohrt haben" (Joh 19,37 = Sach 12,10). Seine Geheime Offenbarung beginnt er mit diesen Worten (Offb 1,7), die dort als die Eröffnung des Gerichtstages dastehen, jenes Tages, an dem endgültig der Durchbohrte aufgehen wird über der Welt als ihr Gericht und als ihr Leben. Uns aber trägt er auf, schon jetzt auf ihn hinzuschauen, um so das Gericht zur Rettung zu machen. "Sie werden schauen auf den, den sie durchbohrt haben." Dies könnte geradezu Beschreibung der inneren Richtung unseres christlichen Lebens sein, daß wir lernen, immer mehr wahrhaft auf ihn hinzuschauen, die Augen unseres Herzens auf ihn gerichtet zu halten, ihn zu sehen und daran demütig zu werden; unsere Sünde zu erkennen, zu erkennen, wie wir ihn geschlagen haben, wie wir unsere Brüder und darin ihn verwundet haben; hinschauen auf ihn und zugleich hoffend werden, weil der Verwundete der Liebende ist; hinschauen auf ihn und davon den Weg des Lebens empfangen. Herr, schenke uns, daß wir auf dich hinschauen und darin wahres Leben finden!

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie - Entsakralisierung: Opferkult im Tempel - Osterlamm; Kult - Mahl des Alltags; Sakrament der Versöhnten, Fest der Auferstehung


Kurzinhalt: Durch die Einpflanzung in den neuen Zusammenhang der Auferstehung, ohne die Eucharistie nur Erinnerung an einen Abschied ohne Wiederkehr wäre, ergab sich also von selbst zweierlei Neues:

Textausschnitt: 55a Ich höre, daß es Spaltungen unter euch gibt, wenn ihr als Kirche zusammenkommt; zum Teil glaube ich das auch. Denn es muß zu Auseinandersetzungen unter euch kommen: So wird sichtbar, wer unter euch treu und zuverlässig ist. Was ihr also bei euren Zusammenkünften tut, ist keine Feier des Herrenmahls mehr; denn jeder verzehrt sogleich seine eigenen Speisen, so daß der eine hungert, während der andere schon betrunken ist. Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes? Wollt ihr die Armen bloßstellen? Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben? In diesem Fall kann ich euch nicht loben. Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sagte Dank, brach es und sprach: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Das tut zum Gedenken an mich! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Das tut, sooft ihr daraus trinkt, zum Gedenken an mich! Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. Wer also unwürdig von dem Brot ißt und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich an Leib und Blut des Herrn schuldig. Jeder soll sich selbst prüfen, und dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer ißt und trinkt, ohne zu bedenken, daß es der Leib des Herrn ist, der richtet sich selbst, indem er ißt und trinkt. (1 Kor 11,18-29)

56a Die Zurechtweisung des heiligen Paulus gegenüber der Gemeinde von Korinth trifft uns, denn auch bei uns ist Streit um die Eucharistie ausgebrochen; auch bei uns droht das Gegenüber von Parteiungen die heilige Mitte der Kirche zu verdunkeln. In diesem Streit um die Eucharistie stehen sich zwei entgegengesetzte Parteien gegenüber: Die eine, nennen wir sie die fortschrittliche, sagt, daß sich die Kirche mit ihrer traditionellen Meßfeier weit von dem ursprünglichen Willen des Herrn entfernt habe. Der Herr habe ein schlichtes Mahl der Brüderlichkeit mit seinen Jüngern gehalten und er habe gesagt: "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" Die Kirche tue aber gerade nicht dieses, sondern sie habe daraus wieder eine sakrale kultische Handlung gemacht; sie habe das Ganze wieder zur Messe umstilisiert, prunkvolle Kathedralen, die Größe einer erhabenen Liturgie darum herumgebaut und so das einfache Wesen dessen, was Jesus aufgetragen hatte, bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Die Parole, die aus solchen Anschauungen folgt, lautet: Entsakralisierung. Das Mahl des Herrn müsse wieder ein einfaches Mahl der Alltäglichkeit und der Menschlichkeit werden. Daraus entstand dann zum Beispiel die Schlußfolgerung, daß der Kirchenbau eigentlich nicht rechtens ist, sondern der Mehrzweckraum sei nötig, damit wirklich das Herrenmahl in dem Raum des Alltags geschehe und nicht ins Kultische überhöht werde. Ebenso ergab sich von da die Forderung nach Abbau der liturgischen Form, der liturgischen Gewänder und das Verlangen nach einfacher Hinkehr in die gewöhnliche Gestalt unseres heutigen Lebens. Je lauter diese Stimmen wurden und je mehr derlei auch verwirklicht wurde, desto stärker entstand gegen die Liturgiereform insgesamt der gegenteilige Einspruch. Der neugestalteten Liturgie wurde Puritanismus, Armseligkeit, Bilderstürmerei vorgeworfen. Es wurde gesagt, die Messe sei verprotestantisiert worden und das eigentlich Katholische sei in ihr zerstört. So habe die Kirche an diesem ihrem Mittelpunkt aufgehört, katholische Kirche zu sein. Man müsse neben ihr und gegen sie die Eucharistie feiern, weil es in ihr gültige Eucharistie nicht mehr gebe. Versuchen wir in dieser Besinnung, uns diesen beiden Fragen zuzuwenden. (Fs)

57a Zunächst der ersten Frage: Jesus habe gar keinen Kult, keine Liturgie, sondern nur ein brüderliches Mahl des Alltags verlangt, indem er sagte: Tut dies! So plausibel dieser Einwand auch scheinen mag, wenn wir ein wenig näher in die Heilige Schrift hineinhören und uns nicht mit ihrer Oberfläche begnügen, wird sehr schnell seine Falschheit offenkundig. Denn Jesus hat den Jüngern nicht befohlen, das letzte Abendmahl als Solches und Ganzes zu wiederholen. Dies wäre auch gar nicht möglich gewesen, es war ein Paschamahl.1 Pascha aber ist ein Jahresfest mit einem ganz bestimmten Datum im Mondkalender, das eben einmal im Jahr trifft. Sowenig ich beliebig Weihnachten feiern kann, sowenig ist Pascha einfach laufend wiederholbar. Jesus hat nicht aufgetragen, diese jüdische Liturgie, die er mit seinem Volke mitgefeiert hat, als Ganze zu wiederholen, was, wie gesagt, gar nicht möglich gewesen wäre. Der Wiederholungsbefehl bezieht sich auf das Neue, das er schenkt, auf die Gabe seiner selbst, die er eingestiftet hat mitten in den alten Zusammenhang der Liturgie Israels. Das Wesentliche ist damit geschenkt, aber es hat noch keine neue christliche Form gefunden. Erst in dem Augenblick, in dem durch Kreuz und Auferstehung und die folgende Geschichte die Kirche als selbständige Gemeinschaft neu aus Israel heraustritt, kann auch dieses neue Geschenk seine neue Gestalt finden. Damit ergibt sich nun aber die Frage: Von woher hat die Messe eigentlich ihre Form bekommen, wenn es nicht möglich war, das letzte Abendmahl als Solches und Ganzes zu wiederholen? Woran konnten die Jünger sich anschließen, um diese Gestalt zu finden?

58a Die Ausleger der Heiligen Schrift geben heute in der Hauptsache zwei verschiedene Antworten. Ein Teil von ihnen sagt, die Eucharistiefeier der werdenden Kirche schließe sich an die täglichen Mahlzeiten Jesu mit seinen Jüngern an. Andere meinen, die Eucharistie sei die Fortsetzung der Sündermähler, die Jesus gehalten hat.2 Dies Zweite ist für viele zu einem faszinierenden Gedanken mit weitreichenden Konsequenzen geworden. Denn das würde ja bedeuten: Eucharistie ist der Tisch der Sünder, an den sich Jesus hinsetzt; Eucharistie ist die offene Gebärde, zu der er alle ohne Grenzen einlädt. Daraus folgt dann notwendig eine tiefgehende Kritik der kirchlichen Eucharistie, denn es besagt ja.- Eucharistie kann keine Vorbedingungen kennen, nicht an Konfession und auch nicht an Taufe gebunden sein. Sie muß der offene Tisch sein, an dem sich alle mit dem weltweiten Gott ohne Bedingungen, ohne Grenzen und ohne konfessionelle Voraussetzungen treffen können. Aber wiederum - so verführerisch der Gedanke ist, er widerspricht dem Zeugnis der Bibel. Das letzte Abendmahl Jesu war keines derjenigen Mähler, die er mit "Zöllnern und Sündern" hielt. Er hat es der Grundform des Pascha unterstellt, welche besagt, daß dieses Mahl in der Hausgemeinschaft der Familie gefeiert wird. So hat er es mit seiner neuen Familie, mit den Zwölfen, begangen; mit denen, denen er die Füße gewaschen hatte, die er durch sein Wort und durch dieses Bad der Vergebung dafür bereitet hatte (Joh 13,10), mit ihm Blutsgemeinschaft zu empfangen, mit ihm ein einziger Leib zu werden.3 Die Eucharistie ist nicht selbst das Sakrament der Versöhnung, sondern sie setzt dieses Sakrament voraus. Sie ist das Sakrament der Versöhnten, zu dem der Herr diejenigen lädt, die mit ihm eins geworden sind; die gewiß immer Sünder und schwach bleiben, aber die doch ihm die Hand gegeben haben und seine Familie geworden sind. Deswegen geht von Anfang an der Eucharistie die Unterscheidung voraus. Wir haben dies ja gerade sehr dramatisch beim heiligen Paulus gehört: Wer unwürdig ißt, der ißt und trinkt sich das Gericht, weil er den Leib des Herrn nicht unterscheidet (1 Kor 11,27 ff.). Die Zwölfapostellehre, eine der ältesten nachneutestamentlichen Schriften aus dem Beginn des zweiten Jahrhunderts, nimmt diese apostolische Tradition auf und läßt den Priester vor der Austeilung des Sakraments sagen: "Wer heilig ist, der trete hinzu, wer nicht, tue Buße!"4 Eucharistie ist - wiederholen wir es - das Sakrament derer, die sich vom Herrn haben versöhnen lassen, die seine Familie wurden und sich so in seine Hände hineingeben. Deswegen hat sie Zutrittsbedingungen; sie setzt das schon geschehene Hineingehen in das Geheimnis Jesu Christi voraus. (Fs)

60a Aber auch der Anschluß an die täglichen Mahlgemeinschaften Jesu mit den Jüngern - die zweite der erwähnten Auskünfte - überzeugt nicht, denn wir wissen, daß die Eucharistie zunächst sonntäglich gefeiert wurde; sie trat also gerade heraus aus dem Gewöhnlichen des Alltags und so auch aus der gewöhnlichen Weise der Mahlgemeinschaft. Den eigentlichen Ansatzpunkt für die christliche Gestaltung des Vermächtnisses Jesu bot die Auferstehung. Sie war ja die grundlegende Ermöglichung dafür, daß er nun wirklich über die Grenzen der irdischen Leiblichkeit hinweg gegenwärtig ist und sich austeilen kann. Die Auferstehung aber war am ersten Tag der Woche geschehen. Bei den Juden galt dies als der Tag der Weltschöpfung. Für die Jünger Jesu wurde es der Tag, an dem eine neue Welt begann, der Tag, an dem mit dem Durchbruch aus dem Tod Neuschöpfung ihren Anfang fand. Es war der Tag, an dem Jesus Christus neu als der Erstandene in die Welt eingetreten war. Damit hatte er diesen ersten Tag, den Schöpfungstag, zu seinem Tag gemacht, zum "Tag des Herrn". So heißt er schon im ersten Jahrhundert; in der Geheimen Offenbarung (1,10) trägt er diesen Namen. Und bereits in der Apostelgeschichte (20,7) und im ersten Brief an die Korinther (16,2) finden wir diesen Tag als den Tag der Eucharistie bezeugt. Der Herr war am ersten Tag der Woche auferstanden; dieser sein Tag war nun Woche um Woche der Tag des Gedenkens an das Neue, das geschehen war. Die Jünger brauchten sich dabei nicht nur rückschauend an die Auferstehung wie an etwas Vergangenes zu erinnern: Der Auferstandene lebt; deswegen war der Auferstehungstag von innen her der Tag seiner Gegenwart, der Tag, da er sie versammelte, da sie sich um ihn versammelten. Der Sonntag als der Auferstehungstag wurde der innere Ansatz, der innere Ort für die Eucharistiefeier der werdenden Kirche. Von daher bekam sie ihre Gestalt. Sie wird gleichsam nun aus dem Boden des jüdischen Pascha herausgenommen und hineingepflanzt in den Auferstehungszusammenhang: Fest der Auferstehung zu sein, das ist nun ihr eigentliches Wesen. Schon zu Beginn des zweiten Jahrhunderts bezeichnete Ignatius von Antiochien die Christen als diejenigen, die "gemäß dem Sonntag leben",5 das heißt, die von der Auferstehung, von ihrer Gegenwart im eucharistischen Fest her leben. So war der Grund zu der neuen Gestalt der eucharistischen Feier gesetzt. Nach dem irdischen Sättigungsmahl bei der Versammlung der Gläubigen begeht man danksagend und lobpreisend die Gegenwart von Tod und Auferstehung des Herrn. Mit innerer Notwendigkeit ist so aus dem letzten Abendmahl ein Fest geworden, zu dem die Freude gehört. Wiederum wissen wir schon aus der Apostelgeschichte, daß die Christen die Eucharistie mit Lobgesang feierten und aus dem fünften Kapitel des Epheserbriefes (5,19; vgl. Kol 3,16) sowie aus vielen anderen Stellen, daß sie den Herrn mit Psalmen und Hymnen und Gesängen lobpriesen.6 Durch die Einpflanzung in den neuen Zusammenhang der Auferstehung, ohne die Eucharistie nur Erinnerung an einen Abschied ohne Wiederkehr wäre, ergab sich also von selbst zweierlei Neues: Anbetung und Lobpreis, das heißt der kultische Charakter, sowie die Freude über die Herrlichkeit des Auferstandenen. (Fs)

61a Aber noch war damit die eucharistische Gestalt, die Form der Liturgie der Kirche, nicht abgeschlossen. Wir müssen dazu bedenken, daß der jüdische Kult zwei Teile hatte. Der eine war der Opferkult im Tempel, wo gemäß den Vorschriften des Gesetzes die verschiedenen Opfer dargebracht wurden. Neben diesem Kult im Tempel, den es allein in Jerusalem gab und geben durfte, entwickelte sich immer mehr ein zweites: die Synagoge, die an allen Orten stehen konnte. In ihr wurde der Gottesdienst des Wortes gefeiert, die heiligen Schriften gelesen, die Psalmen gebetet, gemeinsam Gott gelobt, das Wort ausgelegt, die Bitte an Gott gerichtet. Nach der Auferstehung Jesu hörten seine Jünger auf, sich am Opferkult im Tempel zu beteiligen. Sie konnten es nicht mehr, denn der Vorhang des Tempels war zerrissen, das heißt: der Tempel war leer.7 Nicht mehr der steinerne Bau war der Tempel, sondern der Herr, der sich selbst als der lebendige Tempel dem Vater geöffnet und von ihm her den Vater in die Menschheit herein eröffnet hatte. An die Stelle des Tempels tritt die Eucharistie, denn Christus ist das wahre Osterlamm; in ihm ist alles erfüllt, was je im Tempel geschehen war. Aber während die Jünger aus diesem Grunde nicht mehr an den blutigen Opfern des Tempels teilnahmen, sondern an deren Stelle das neue Osterlamm feierten, haben sie sich nach wie vor an dem Gottesdienst der Synagoge beteiligt. Die Bibel Israels war ja die Bibel Jesu Christi. Sie wußten, daß diese ganze Heilige Schrift, Gesetz und Propheten, von ihm redet; sie haben daher versucht, mit Israel dieses heilige Buch der Väter auf Jesus hin zu lesen und so das Herz Israels auf Jesus hin zu öffnen. Sie haben weiterhin mit den Israeliten die Psalmen gebetet, um sie so mit Jesus zu beten und in den Neuen Bund hinein zu eröffnen, sie von Ihm her neu zu verstehen. Wir können aber zugleich in den Texten des Neuen Testaments jenen tragischen Weg verfolgen, in dem allmählich auch diese verbliebene Einheit mit Israel zerbrach. Es gelang nicht, ganz Israel dahin zu bringen, die Bibel als Wort von Jesus Christus und für Jesus Christus zu lesen. Die Synagoge verschloß sich zusehends solcher Auslegung der Heiligen Schrift und gegen Ende des ersten Jahrhunderts war die Trennung vollzogen. Es war nicht mehr möglich, in der Synagoge die Schrift mit Jesus zu verstehen. Damit traten nun Israel und Kirche getrennt nebeneinander. Die Kirche war vollends zu einer eigenen Größe geworden. Da sie sich nun an dem Wortgottesdienst Israels nicht mehr beteiligen konnte, mußte sie ihn selbst aus Eigenem vollziehen. Dies bedeutete mit Notwendigkeit, daß die beiden bislang getrennten Hälften des Gottesdienstes aneinanderrückten: Der Gottesdienst des Wortes vereint sich mit dem eucharistischen; jetzt, wo er die Vollgestalt eines geschlossenen christlichen Gottesdienstes gefunden hat, und damit Kirche vollends als Kirche gestaltet ist, wird dies Ganze in den Sonntagmorgen hineinverlegt, in die Stunde der Auferstehung; die Logik der Auferstehung kommt an ihr Ziel. Damit war die wesentlich christliche Form, wie wir sie bis heute in der Eucharistie der Kirche begehen, vollendet. Sie sieht so aus: Am Anfang steht der Wortgottesdienst, bestehend aus Lesungen aus dem Alten und Neuen Bund, Gesängen aus den Psalmen, neuen Gebeten und der freudigen Begrüßung des Herrn, dem Kyrie, das den antiken Huldigungsruf an den Kaiser in einen Huldigungsruf an Christus als den wahren Herrn der Welt umwandelt.8 Dann folgt der eigentlich eucharistische Gottesdienst, von dem wir in der vorigen Besinnung sahen, daß der Kanon als umfassendes "Opfer des Wortes" direkt aus dem Beten Israels und Jesu herausgewachsen ist, aufgefüllt nun mit der neuen Mitte des Abendmahlsberichtes und -geschehens sowie der heiligen Kommunion. So war aus der inneren Logik der Gabe Jesu selbst die Gestalt der Messe geworden. Sie formt sich ohne Bruch als Erfüllung des ursprünglichen Auftrags; nun, da sie geworden war, stand sie auch offen dazu, den Reichtum des Tempels, den Reichtum der Völker aufzunehmen. Natürlich bedarf es da immer wieder der Reinigung. Dies ist die Aufgabe aller Jahrhunderte. In diesem großen Prozeß steht auch das, was sich in der Mitte unseres Jahrhunderts durchaus nicht zum ersten Mal abgespielt hat. Immer gilt es einerseits, den Reichtum des Betens und Hoffens und Glaubens der Völker einzulassen, aber andererseits, ihn so zu reinigen, daß die Mitte nicht verdeckt wird, daß das eigentliche Geheimnis Jesu Christi rein und groß sichtbar bleibt. Wer dies verstanden hat, weiß, daß die geschichtlich gewachsene Eucharistie der Kirche nicht Abfall vom Ursprung ist, sondern dessen wahre Frucht. Jene Versuche, die uns lehren wollen, zu einem einfachen profanen Mahl, zu Mehrzweckräumen und dergleichen "zurückzukehren", sind nur scheinbar Zuwendung zum Ursprung. In Wirklichkeit sind sie ein Rückschritt hinter die Wende von Kreuz und Auferstehung, das heißt hinter das, was überhaupt Christentum in seiner Neuheit begründet. Hier wird nicht der Ursprung hergestellt, sondern das Ostergeheimnis und damit der Kern des Christusgeheimnisses aufgegeben. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; Einwand: Zerstörung des Opfergedankens?; Opferung, Opfer (offere, operari; immolare)

Kurzinhalt: Aus diesem Grunde wollten die Liturgiereformer zunächst wieder in die Situation vor dem 9. Jahrhundert zurückkehren und den Ritus der Erhebung der Gaben wortlos belassen. Der Heilige Vater, Papst Paul VI.,

Textausschnitt: 64a Damit können wir uns jetzt der zweiten Frage zuwenden, die ja immer lauter wird. Ist nicht in der Liturgiereform eben dies Gewachsene zerstört worden? Wir wollen uns dabei nicht mit einzelnen Mißbräuchen befassen, die es zweifellos gegeben hat und wohl auch noch immer gibt. Ich möchte dazu jetzt nur dies sagen: Wir alle müssen uns wieder neu darüber klar werden, daß die Eucharistie nicht in der Verfügung des Priesters und nicht in der Verfügung einer einzelnen Gemeinde steht, sondern daß sie das Geschenk Jesu Christi an die ganze Kirche ist und daß sie in ihrer Größe nur bleibt, wenn wir sie in dieser Unbeliebigkeit annehmen. All die ersten Scheinerfolge, die erzielt werden, wenn wir statt dessen unsere Gestaltungen wuchern lassen, bleiben Schein und Linsenmus, weil sie überdecken, daß in der wirklichen Eucharistie der Kirche mehr geschieht, als wir selbst je gestalten könnten. Reden wir also nicht weiter von Mißbräuchen, die Sache von einzelnen sind, und die wir im gemeinsamen Glauben zu überwinden versuchen müssen. Sprechen wir von den Angriffen, die auf die amtliche Gestalt der Liturgiereform vorgetragen werden. Von dem Streit um die Übersetzung "für viele" oder "für alle" war schon in der ersten Besinnung die Rede. (Fs) (notabene)

65a Drei weitere Haupteinwände gibt es. Der eine sagt, daß mit der Veränderung der "Opferung" der Opfercharakter der Messe zerstört worden sei, und daß sie so aufgehört habe, katholisch zu sein. Ein zweiter wendet sich gegen die Form des Kommunizierens: stehend in die Hände hinein. Und natürlich bleibt auch immer die Frage der Sprache umstritten. (Fs)

65b Beginnen wir mit dem ersten. Ein in Saarbrücken lehrender Soziologe hat mit einem großen Aufwand an Gelehrsamkeit zu zeigen versucht, daß für jede Religion, und insbesondere für die katholische, wesentlich sei, daß dazu erst eine Opferdarbringung geschehe.1 Nun aber seien stattdessen Lobpreisungen eingefügt. So werde nicht mehr geopfert, also sei die Eucharistie nach dem Konzil nicht mehr die Messe der katholischen Kirche. Nun würde eigentlich schon ein bescheidenes Wissen um den kleinen Katechismus genügen, um zu erkennen, daß der Opfergedanke seinen Sitz nie in der "Opferung" hatte, sondern im Hochgebet, dem "Kanon". Denn wir opfern ja Gott nicht dies und das; das Neue der Eucharistie ist die Gegenwart von Christi Opfer. Deswegen ist das Opfergeschehen dort, wo Sein Wort ertönt, Wort vom Worte, in dem er seinen Tod in ein Geschehen des Wortes und der Liebe verwandelt hat, damit wir so, indem wir es aufnehmen dürfen, hineingeführt werden in seine Liebe, hineingeführt werden in die trinitarische Liebe, in der er ewig sich dem Vater übergibt. Dort, wo das Wort vom Wort ertönt und damit unsere Gaben zu seiner Gabe werden, in der er sich selbst schenkt, dort ist das Opfer, das die Eucharistie seit eh und je ausmacht. (Fs; tblVrw)

66a Das, was wir "Opferung" nennen, hat eine andere Bedeutung. Unser deutsches Wort Opferung kommt entweder von dem lateinischen offerre, oder wahrscheinlicher von operari.2 Offerre bedeutet nicht opfern (das hieße im Lateinischen immolare), sondern es heißt herbeibringen, bereitstellen.3 Und "operari" heißt wirken; es bedeutet hier auch: bereiten. Gedacht war einfach daran, daß da der eucharistische Altar bereitet werden mußte und daß dafür "operari", das heißt mancherlei Tun nötig war, damit die Lichter, damit die Gaben, damit Brot und Wein auf geziemende Weise für die Eucharistie zur Verfügung standen. Zunächst war dies also ein einfaches äußeres Bereiten für das eigentliche Geschehen. Aber sehr bald hat man es in einem tieferen Sinn verstanden. Man hat die Geste des jüdischen Hausvaters übernommen, der das Brot vor das Angesicht Gottes emporhält, um es von ihm neu zu empfangen. In solchem Aufheben der Gabe vor Gott hin, in solchem Miteintreten in die Selbstbereitung Israels für Gott hat man das äußere Bereiten immer mehr als das innere Bereitwerden für die Nähe des Herrn begriffen, der uns selber sucht in unseren Gaben. Bis ins 9. oder 10. Jahrhundert hinein ist diese Geste der Bereitung, die aus Israel übernommen war, wortlos geschehen. Dann entstand der Eindruck, daß jede Gebärde im Christlichen auch des Wortes bedürfe. So wurden etwa im 10. Jahrhundert jene Gebete zur Opferbereitung geschaffen, die die Älteren von uns aus dem alten Missale kennen und lieben und vielleicht auch vermissen in der neuen Meßform. Es waren schöne und tiefe Gebete. Aber man muß doch auch zugeben, daß eine gewisse Mißverständlichkeit in ihnen lag. Sie wurden immerfort im Vorgriff auf das eigentliche Geschehen des Kanons formuliert. Beides, das Bereiten und das Endgültige des Opfers Christi, durchdringt sich in diesen Worten. Was in der Welt des Glaubens seinen guten Sinn hat und im Innern des Glaubens auch verstanden wird - daß wir nämlich in unserem Zugehen auf Christus immer schon von seinem Vorausgehen getragen sind - das konnte doch auch für den Suchenden und von außen Schauenden zum Mißverständnis führen. Daß es dies auch tatsächlich getan hat, zeigen gerade die Reaktionen, von denen eben die Rede war. (Fs)

67a Aus diesem Grunde wollten die Liturgiereformer zunächst wieder in die Situation vor dem 9. Jahrhundert zurückkehren und den Ritus der Erhebung der Gaben wortlos belassen. Der Heilige Vater, Papst Paul VI., hat sich ganz persönlich mit Nachdruck dafür entschieden, daß auch hier Worte des Gebetes bleiben müßten. Er hat selbst an der Formung dieser Gebete Anteil genommen. Sie sind im Großen ihrer Gestalt aus den Tischgebeten Israels genommen. Dabei müssen wir bedenken, daß all diese Tischgebete Israels, diese Segnungen, wie sie heißen, um das Paschageheimnis kreisen, auf das Pascha Israels hinschauen, von ihm her gedacht sind und leben. Dies bedeutet, daß sie im stillen Vorgriffe auf das österliche Geheimnis Jesu Christi sind, daß wir sie adventlich und österlich zugleich nennen dürfen. Vor allem werden wir uns daran erinnern, daß ja auch die Heilige Familie: Jesus, Maria, Joseph, so gebetet hat - auf der Flucht nach Ägypten, im fremden Land und dann zu Hause in Nazaret, und daß wiederum Jesus mit seinen Jüngern so gebetet hat. Wahrscheinlich galt auch damals schon die jüdische Regel, daß am Abend die Mutter die Kerzen entzündet und daß sie die Vörbeterin der Familie ist. So dürfen wir in diesen Segnungen die Stimme Marias hören, mit ihr beten. Das ganze Geheimnis von Nazaret, dieses adventliche Zugehen auf das österliche Geschehen, ist darin anwesend. So ist ein neuer Reichtum in die Liturgie gekommen. Wir beginnen gleichsam mit Nazaret in der Geste der Bereitung und gehen von da aus -in der Mitte des Kanon - hin auf Golgota, und schließlich hinein in das Auferstehungsgeschehen der Kommunion.1 Ich glaube, wenn wir diese neuen alten Gebete so hören, dann können sie uns zu einem wunderbaren Schatz werden in der Vereinigung mit dem irdischen Leben Jesu, in der Vereinigung mit dem wartenden Beten Israels und im gemeinsamen Zugehen von Nazaret auf Golgota und in die Stunde der Auferstehung. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; Einwand: Haltung -> kniend - stehend; Hand - Mund; Cyrill von Jerusalem; Einwand: Sprache

Kurzinhalt: Der zweite Einwand, den wir bedenken wollten, richtet sich gegen die Kommunion: kniend - stehend, Hand - Mund. Nun, zunächst möchte ich sagen, daß beide Haltungen möglich sind ...

Textausschnitt: 68a Der zweite Einwand, den wir bedenken wollten, richtet sich gegen die Kommunion: kniend - stehend, Hand - Mund. Nun, zunächst möchte ich sagen, daß beide Haltungen möglich sind und alle Priester darum bitten, die Toleranz zu üben, die eines jeden Entscheidung anerkennt; ich möchte darüber hinaus Sie alle bitten, solche Verträglichkeit zu üben und nicht den anderen zu verdächtigen, der sich zu einer bestimmten Form entschieden hat. Aber Sie werden fragen: Ist hier eigentlich Toleranz die rechte Antwort? Oder ist sie nicht bei diesem Allerheiligsten fehl am Platz? Nun, wiederum wissen wir, daß bis zum 9. Jahrhundert die Kommunion stehend in die Hand empfangen worden ist. Das muß gewiß nicht besagen, daß es immer so bleiben soll. Denn das Große und Schöne an der Kirche ist, daß sie wächst, daß sie reift, daß sie das Geheimnis tiefer begreift. Insofern hat die neue Entwicklung, die nach dem 9. Jahrhundert begann, durchaus als Ausdruck der Ehrfurcht ihr Recht und ihre guten Gründe. Aber umgekehrt müssen wir doch auch sagen, daß unmöglich die Kirche 900 Jahre lang unwürdig die Eucharistie gefeiert haben kann. Wenn wir die Texte der Väter lesen, sehen wir, aus welchem Geist der Ehrfurcht heraus sie kommuniziert haben. Bei Cyrill von Jerusalem im 4. Jahrhundert finden wir einen besonders schönen Text. Er schildert in seinen Taufkatechesen den Kommunikanten, wie sie es machen sollen. Sie sollen vorgehen, ihre Hände zum Thron bilden, die rechte auf die linke legen, damit sie ein Thron für den König sei und zugleich ein Kreuz darstelle. Um diesen symbolischen Ausdruck voller Schönheit und Tiefe geht es ihm: Die Hände des Menschen bilden das Kreuz, das zum Thron wird, in das sich der König hineinbeugt. Die ausgestreckte, geöffnete Hand kann so zum Zeichen dafür werden, wie der Mensch sich dem Herrn entgegenhält, seine Hände öffnet für ihn, damit sie Werkzeug seiner Nähe, Thron seiner Erbarmungen in dieser Welt werden.1 Wer dies bedenkt, wird erkennen: Hier ist es falsch, um diese oder jene Haltung zu streiten. Streiten müssen und dürfen wir allein um das, worum die Kirche vor und nach dem 9. Jahrhundert gerungen hat, nämlich um die Ehrfurcht des Herzens, die sich vor dem Geheimnis des Gottes beugt, der sich in unsere Hände legt. Wir sollten dabei nicht vergessen, daß nicht nur unsere Hände unrein sind, sondern unsere Zunge auch und unser Herz auch, und daß wir mit der Zunge oft mehr sündigen als mit den Händen. Das größte Wagnis und zugleich Ausdruck für die erbarmende Güte Gottes ist es, daß nicht nur Hand und Zunge, sondern unser Herz ihn berühren darf. Daß der Herr in uns eintritt und in uns, mit uns leben, von innen her Mitte unseres Lebens und seine Verwandlung werden will. (Fs)

70a Lassen Sie mich zuletzt noch zur Sprache ein paar Worte sagen. Auch hier sind zwei Dinge zu bedenken, die einen Spielraum unterschiedlicher Entscheidungen und Verwirklichungen freigeben. Auf der einen Seite nennt der römische Kanon das Geschehen der Messe mit der großen Sprache der griechischen Welt "rationabile obsequium" - ein Geschehen des Wortes, ein Geschehen, an dem Geist und Vernunft beteiligt sind. Das Wort Gottes will den Menschen anreden, es will von ihm verstanden und verständig beantwortet sein. Deswegen ist man in Rom etwa im 3. Jahrhundert, als man griechisch nicht mehr allgemein verstand, von der bis dahin geltenden griechischen Eucharistie-Sprache zur lateinischen übergegangen.2 Aber daneben steht ein Zweites. Die Kirche hat später damit gezögert, die neuen sich bildenden Nationalsprachen Europas zu Liturgiesprachen zu machen. Zunächst deshalb, weil sie über lange Zeit hin noch nicht die Höhe und die Einheitlichkeit erreicht hatten, um in einem großen Raum gemeinsame Eucharistie zu ermöglichen; dann aber auch deswegen, weil sie sich jeder Nationalisierung dieses Geheimnisses widersetzte, weil sie auch in der Sprache das Umfassende ausdrücken wollte, das über die Grenzen der Orte und der Zeiten hinausreicht. Sie konnte bei der gemeinsamen lateinischen Liturgiesprache bleiben, weil sie wußte, daß es gewiß auch um den Verstand geht in der Eucharistie, aber um mehr als den Verstand - daß hier ein größeres, reiferes und umfassenderes Verstehen als das des bloßen Verstandes verlangt ist: daß hier auch das Herz verstehen muß. (Fs)

71a Muttersprache ist nach dem Gesagten grundsätzlich berechtigt. Gefährlich würde sie dann werden, wenn sie die Eucharistie ins Nationale zurücknähme; gefährlich würde sie dann, wenn wir solang übersetzen wollten, bis nur noch das unmittelbar dem Verstand, gar der banalen Alltäglichkeit Verständliche übrig bliebe. In solchem Übersetzen müßte man immer mehr streichen, bis das Eigentliche verschwände. Weil es so steht, sollten wir dankbar beides annehmen: Die normale Form der Eucharistie ist die muttersprachliche, aber wir dürfen darüber nicht verlernen, sie in der gemeinsamen Sprache der Kirche der Jahrhunderte zu beten, zu lieben, um sie so in dieser Welt, die voller Bewegung ist, in der die Nationen immerfort einander begegnen und durchdringen, auch immer wieder gemeinsam feiern und in ihr miteinander den lebendigen Gott lobpreisen zu können. Auch hier sollten wir den unfruchtbaren Streit überwinden und eins werden in der Vielfalt, die der Herr uns geschenkt hat; eins darin, das Verständige und Verständliche, eins darin aber auch, das Umgreifende und über die Vernunft des augenblicklichen Verstehens Hinausreichende anzuerkennen und zu lieben. (Fs)

72a Lassen Sie mich dazu am Schluß eine kleine Geschichte von Martin Buber erzählen. In ihr wird der Wert des verstandlichen Verstehens sichtbar; aber sie ist zugleich ein großartiges Plädoyer für die größeren Möglichkeiten des verstehenden Herzens. Martin Buber berichtet, daß der Rabbi Levi Jizchak von Berditschew eines Tages in eine Herberge kam, in der viele Kaufleute übernachteten. Am Morgen beteten sie das Morgengebet. Es zeigte sich, daß nur ein Gebetsriemen vorhanden war, den man aber nach jüdischer Tradition anlegen muß, um das Morgengebet sprechen zu können. So wurde er von einem zum anderen weitergereicht, und weil das viel Zeit kostete, beteten die einzelnen mit Rücksicht auf den Nächsten die Dinge so hastig herunter, daß kaum noch irgendein verständliches Wort übrig blieb. Der Rabbi beobachtete dies mit wachsendem Befremden; als das Ganze vorüber war, wandte er sich an zwei junge Leute und sagte einfach zu ihnen: "Ma-ma-ma, wa-wa-wa." Sie schauen ihn verwundert an und sagen: "Was willst du eigentlich?" Er antwortet wieder nur: "Ma-ma-ma, wa-wa-wa". Daraufhin halten sie ihn - verständlich - für einen Narren. Er aber sagt zu ihnen: "Wie, versteht ihr die Sprache nicht und habt doch soeben zu Gott dem Herrn in ihr gesprochen?" Nach einem Augenblick der Betroffenheit antwortet ihm einer: "Habt ihr nicht ein Kind in der Wiege liegen sehen, das die Stimme noch nicht zu gliedern vermag? Habt ihr nicht gehört, wie es allerlei Geräusch mit seinem Munde macht: Ma-ma-ma, wa-wa-wa? Alle Weisen und Gelehrten können es nicht verstehen. Wenn aber seine Mutter hinzukommt, weiß sie sogleich, was die Laute meinen."1 Diese Geschichte ist keine Apologie des Geplappers. Aber sie läßt uns innewerden, daß es ein Verstehen des Herzens gibt, das über das Verstehen der Worte hinausreicht. Um dieses Verstehen des Herzens sollten wir vor allem suchen, damit auch unsere Worte gefüllt seien und damit wir würdig verherrlichen den lebendigen Gott. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; Realpräsenz; dies "ist" mein Leib; Augustinus, Kommunionfrömmigkeit; Brot, Assimilierung

Kurzinhalt: ... wie die Gegenwart Jesu Christi zu verstehen ist. Sie ist nicht etwas in sich Ruhendes, sondern sie ist eine Macht, die auf uns ausgreift, die uns aufnehmen, in sich hineinführen will.

Textausschnitt: 76a Der heilige Thomas von Aquin hat in seiner Fronleichnamspredigt das Wort aus dem fünften Buch Mose aufgenommen, in dem sich die Freude Israels über seine Erwählung, über das Geheimnis des Bundes ausspricht. Dieses Wort heißt: "Wo wäre noch einmal eine große Nation, der ihre Götter so nahe sind wie uns unser Gott?" (Dtn 4,7).1 Man kann spüren, wie bei Thomas eine triumphale Freude darüber aufklingt, daß dieses Wort des Alten Bundes in der Kirche, im neuen Volk Gottes, erst seine volle Größe gefunden hat. Denn wenn in Israel Gott sich durch sein Wort zu Mose herabgebeugt hatte und so seinem Volk nahe geworden war, dann hat er jetzt selbst Fleisch angenommen, ist Mensch unter Menschen geworden und geblieben, so sehr geblieben, daß er sich im Geheimnis des verwandelten Brotes in unsere Hände und in unsere Herzen legt. Aus dieser Freude heraus, daß damit wahrhaft "Volk Gottes" geworden ist, Gott so nahe ist, daß er nicht näher sein könnte, ist im 13. Jahrhundert das Fronleichnamsfest entstanden als ein einziger Hymnus des Dankes ob solchen Geschehens. Aber wir alle wissen, daß, was eigentlich Grund der Freude ist und sein sollte, zugleich Stein des Anstoßes ist, der Punkt der Krise, und dies von Anfang her. Denn in der Lesung aus dem Johannes-Evangelium haben wir gehört, wie schon bei der ersten Ankündigung der Eucharistie die Menschen murrten und sich auflehnten. Dieses Murren geht seither durch die Jahrhunderte hindurch und es hat gerade auch die Kirche unserer Generation tief verwundet. Wir wollen Gott gar nicht so nahe; wir wollen ihn nicht so klein, sich herabbeugend; wir wollen ihn groß und ferne haben. So stehen Fragen auf, die solche Nähe als unmöglich erweisen möchten. Wenn wir in der folgenden Besinnung über ein paar dieser Fragen nachdenken, soll es nicht darum gehen, der Lust am Problem nachzuhängen, sondern darum, das Ja des Glaubens wieder tiefer zu lernen, seine Freude wieder zu empfangen und so auch das Beten, die Eucharistie selbst wieder neu zu erlernen. Es sind hauptsächlich drei Fragen, die sich dem Glauben an die wirkliche Nähe des Herrn entgegenstellen. Die erste: Sagt denn eigentlich die Bibel solches? Legt sie uns derlei auf oder ist dies nicht erst das naive Mißverständnis einer späteren Zeit, die das Hohe und Geistige des Christentums ins Kleine und ins Kirchliche heruntertransponiert? Die zweite Frage lautet: Kann denn das eigentlich sein, daß ein Leib sich mitteilt an allen Orten und zu allen Zeiten? Widerspricht dies nicht einfach der Grenze, die dem Leib wesentlich ist? Die dritte Frage heißt: Hat nicht die moderne Naturwissenschaft mit allem, was sie über "Substanz" und über die Materie sagt, die betreffenden Dogmen der Kirche so augenscheinlich überholt, daß wir sie in der Welt der Wissenschaft endgültig zum alten Eisen werfen müssen, sie gar nicht mehr vereinbar mit dem Denken von heute halten können?

77a Wenden wir uns der ersten Frage zu: Sagt die Bibel solches? Wir wissen, daß im 16. Jahrhundert dieser Streit leidenschaftlich geführt worden ist als Streit um ein Wort, um das "Ist": "Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut." Meint dieses "Ist" wirklich die volle Kraft leiblicher Anwesenheit? Oder weist es nicht doch nur auf ein Sinnbild hin, so daß es auszulegen wäre: "Dies bedeutet meinen Leib und mein Blut"? Inzwischen haben sich die Gelehrten an diesem Wort müde gestritten und begriffen, daß der Disput um ein einziges, aus dem Zusammenhang herausgeschnittenes Wort nur in eine Sackgasse führen kann. Denn so wie in einer Melodie der Ton seine Bedeutung nur vom Gefüge des Ganzen erhält und allein aus ihm heraus zu verstehen ist, so können wir auch Wörter eines Satzes nur verstehen aus dem Sinngefüge des Ganzen, in dem sie ihren Platz haben. Wir müssen nach dem Ganzen fragen. Tun wir dies, so ist die Antwort der Bibel sehr klar. Wir haben ja gerade die dramatischen, an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Worte Jesu aus dem Johannes-Evangelium gehört: "Wer mein Fleisch nicht ißt und mein Blut nicht trinkt, kann das Leben nicht haben ... Mein Fleisch ist wahre Speise ..." (6,53-55) Als das Murren der Juden anhob, hätte der Widerspruch leicht gestillt werden können durch die Versicherung: Freunde, regt euch nicht auf; dies war nur eine bildliche Rede; die Speise bedeutet nur das Fleisch, ist es aber nicht! - Nichts davon im Evangelium. Jesus verzichtet auf solche Besänftigung, er sagt nur mit neuer Nachdringlichkeit, daß dies Brot leibhaftig gegessen werden muß. Er sagt, daß der Glaube an den menschgewordenen Gott einen leibhaftigen Gott glaubt und daß dieser Glaube zum wahren, erfüllten Glauben, zum Einswerden erst wird, wenn er selbst leibhaftig ist, wenn er sakramentales Geschehen ist, in dem der leibhaftige Herr unsere leibhaftige Existenz ergreift. Paulus vergleicht das Geschehen der heiligen Kommunion mit der leiblichen Vereinigung, die zwischen Mann und Frau geschieht, um die ganze Intensität und Wirklichkeit dieser Verschmelzung auszusagen. Er verweist zum Verständnis der Eucharistie auf das Wort der Schöpfungsgeschichte: "Die zwei (= Mann und Frau) werden ein Fleisch sein" (Gen 2,24). Er fügt hinzu: "Wer sich dem Herrn verbindet, wird ein Geist (das heißt: eine einzige neue Existenz aus dem Heiligen Geist) mit ihm sein" (1 Kor 6,16). (Fs)

78a Wenn wir dies hören, erfahren wir zugleich schon etwas darüber, wie die Gegenwart Jesu Christi zu verstehen ist. Sie ist nicht etwas in sich Ruhendes, sondern sie ist eine Macht, die auf uns ausgreift, die uns aufnehmen, in sich hineinführen will.2 Augustinus hat dies in seiner Kommunionfrömmigkeit tief verstanden. In der Zeit vor seiner Bekehrung, in seinem Ringen um die Leiblichkeit des Christlichen, die ihm vom platonischen Idealismus her ganz unzugänglich war, hatte er eine Art Vision, in der er eine Stimme hörte, die zu ihm sagte: "Ich bin das Brot der Starken, iß mich! Doch nicht du wirst mich in dich verwandeln, sondern ich werde dich in mich verwandeln."3 Beim gewöhnlichen Essen ist es so, daß der Mensch der Stärkere ist. Er nimmt die Dinge auf und sie werden in ihn assimiliert, so daß sie Teil seiner eigenen Substanz werden. Sie werden in ihn umgewandelt und bauen seine leibliche Existenz auf. Aber im Zueinander mit Christus ist es umgekehrt; er ist die Mitte, er ist der Eigentliche. Wenn wir wahrhaft kommunizieren, heißt dies, daß wir aus uns herausgenommen werden, daß wir in ihn hineinassimiliert werden, daß wir eins werden mit ihm und durch ihn mit der Gemeinschaft der Brüder. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; ein Leib in vielen Hostien; Leib: Grenze - Mittel der Offenheit; Auferstehung:

Kurzinhalt: Auferstehung heißt eigentlich ganz einfach, daß Leib als Grenze aufhört und daß das, was an ihm Kommunion ist, bleibt. Jesus konnte deshalb auferstehen, ist deshalb auferstanden, weil ...

Textausschnitt: 79a Damit sind wir nun schon bei unserer zweiten Frage angelangt: Geht das eigentlich, daß ein Leib sich so mitteilt, daß in vielen Hostien er ist, daß über die Orte und Zeiten hin immer dieser Leib da ist? Nun, wir müssen uns zunächst sicher bewußt machen, daß wir solches nie ganz verstehen werden, denn was hier geschieht, kommt aus der Welt Gottes und aus der Welt der Auferstehung heraus. Wir aber leben nicht in der Auferstehungswelt. Wir leben diesseits der Grenze des Todes. Wenn wir uns etwa ein Gebilde vorstellen würden, das nicht drei Dimensionen, Höhe, Breite, Länge hätte, sondern nur zwei, nur die Fläche, so könnte sich ein derartiges Wesen niemals die dritte Dimension vorstellen, einfach weil es sie nicht hat. Es könnte nur versuchen, hinauszudenken über seine Grenze, ohne dies andere je wirklich sich ausmalen, umfassend begreifen zu können. Gerade so steht es mit uns. Wir leben in der Todeswelt; wir können hinüberdenken in die Auferstehungswelt, Annäherungen versuchen. Aber sie bleibt das andere, das wir nie ganz begreifen. Dies liegt an der Grenze des Todes, in die wir eingeschlossen sind, innerhalb deren wir leben. (Fs)

80a Aber Annäherungen können wir versuchen. Eine solche eröffnet sich, wenn wir bedenken, daß das Wort "Leib" - "Dies ist mein Leib" - in der Sprache der Bibel nicht einfach den Körper im Gegensatz etwa zum Geist bedeutet. Leib bezeichnet in der Sprache der Bibel vielmehr die ganze Person, in der Leib und Geist untrennbar eins sind. "Dies ist mein Leib", das heißt also: Dies ist meine im Leib wesende ganze Person. Wie aber diese Person geartet ist, erfahren wir aus dem nächsten Wort: "Der für euch hingegeben wird." Das bedeutet: Diese Person ist: Sein-für-die-anderen. Sie ist in ihrem innersten Wesen das Sichausteilen. Deswegen aber, weil es um die Person geht und weil sie selbst von innen her das Offenstehen, das Sichgeben ist, kann sie ausgeteilt werden. (Fs) (notabene)

80b Ein wenig können wir das sogar von der Erfahrung unserer eigenen Leiblichkeit aus verstehen. Wenn wir darüber nachdenken, was der Leib für uns bedeutet, werden wir bemerken, daß er eine gewisse Gegensätzlichkeit in sich trägt. Einerseits ist der Leib die Grenze, die uns vom anderen abschließt. Wo dieser Leib ist, kann kein anderer sein. Wenn ich an dieser Stelle bin, bin ich nicht zugleich woanders. So ist der Leib die Grenze, die uns voneinander trennt; er bringt es deshalb mit sich, daß wir einander irgendwie fremd sind. Wir können nicht in den anderen hineinschauen; die Leibhaftigkeit verdeckt sein Inneres, er bleibt uns verborgen; ja, wir sind deshalb sogar uns selbst fremd. Wir sehen ja auch nicht in uns selbst, in unsere eigene Tiefe hinunter. Dies ist also das Eine: Der Leib ist Grenze, die uns undurchsichtig, undurchdringlich füreinander macht, die uns nebeneinanderstellt und uns verwehrt, einander zuinnerst zu sehen und zu berühren. Aber zugleich gilt ein Zweites: Der Leib ist auch Brücke. Denn durch den Leib hindurch begegnen wir uns, durch ihn kommunizieren wir in der gemeinsamen Materie der Schöpfung; durch ihn sehen wir uns, fühlen wir uns, werden wir einander nahe. In der Gebärde des Leibes wird offenbar, wer und was der andere ist. In der Weise, wie er sieht, blickt, handelt, sich gibt, sehen wir uns; er führt uns zueinander hin: Er ist Grenze und Kommunion in einem. Deshalb kann man sich selbst, seine Leiblichkeit verschieden leben: Man kann sie leben mehr nach der Versperrung oder mehr nach der Kommunion hin. Man kann seine Leiblichkeit und in ihr sich selbst so sehr auf Verschließung zu, in die Richtung des Egoismus hinein leben, daß fast nur noch Grenze bleibt und kein Begegnen mit dem anderen mehr sich auftut. Dann geschieht das, was Albert Camus einmal als die tragische Situation der Menschen miteinander schildert: Es ist, wie wenn zwei Menschen durch die Glaswand einer Telefonzelle voneinander getrennt sind. Sie sehen sich, sind ganz nah und doch ist da diese Wand, die sie einander unerreichlich macht. Ja, sie scheint wie ein Milchglas, das uns nur Umrisse ahnen läßt. Der Mensch kann sich also auf "Körper" hin leben; er kann sich im Egoismus so verschließen, daß der Leib nur noch Trennung, Grenze ist, die jede Kommunion ausschließt, in der er niemandem mehr wirklich begegnet, niemand an sein verschlossenes Inneres rühren läßt. Aber Leibhaftigkeit kann auch umgekehrt gelebt werden: als Sich-öffnen, als Freiwerden des Menschen, der sich mitteilt. Wir alle wissen, daß es auch dieses gibt; daß wir über Grenzen hinweg inwendig aneinanderrühren, einander nahe sind. Was man die Telepathie nennt, ist nur ein äußerster Fall dessen, was es auf geringere Weise doch unter uns allen gibt: verborgenes Sich-Berühren von der Mitte her, auch in der Ferne Einander-nahe-Sein. Auferstehung heißt eigentlich ganz einfach, daß Leib als Grenze aufhört und daß das, was an ihm Kommunion ist, bleibt. Jesus konnte deshalb auferstehen, ist deshalb auferstanden, weil er als der Sohn und der am Kreuz Liebende ganz Austeilen seiner selbst geworden ist. Auferstandensein heißt: kommunikabel sein; es bedeutet: der Offene, der Sich-Verschenkende sein. Von daher können wir auch verstehen, daß Jesus in der von Johannes überlieferten Eucharistierede Eucharistie und Auferstehung zusammenbringt und daß die Väter sagen, die Eucharistie sei das Medikament der Unsterblichkeit.1 Kommunizieren heißt: mit Jesus Christus in Kommunion eintreten; es bedeutet: durch ihn, der allein die Grenze überwinden konnte, ins Offene treten und so mit ihm, von ihm her selbst auferstehungsfähig werden. (Fs)

82a Damit ergibt sich aber ein Nächstes. Was uns hier gegeben wird, ist nicht ein Stück Körper, nicht eine Sache, sondern es ist er selbst, der Auferstandene - die Person, die sich uns mitteilt in ihrer durch das Kreuz hindurchgegangenen Liebe. Dies bedeutet, daß kommunizieren immer ein persönlicher Vorgang ist. Es ist nie einfach ein gemeinschaftlicher Ritus, den wir abwickeln wie irgendwelche anderen gemeinschaftlichen Verrichtungen auch. Im Kommunizieren trete ich in den Herrn hinein, der sich mir kommuniziert. Sakramentale Kommunion muß daher immer auch geistliche Kommunion sein. Deswegen geht die Liturgie vor der Kommunion von dem liturgischen Wir in das Ich über.2 Hier bin ich selbst gefordert. Hier muß ich aufbrechen, ich ihm entgegengehen, ihn anrufen. Die eucharistische Gemeinschaft der Kirche ist kein Kollektiv, in der Gemeinschaft dadurch erreicht wird, daß man auf den untersten Nenner heruntergeht, sondern sie wird eben dadurch Gemeinschaft, daß wir ganz wir selber sind. Sie beruht nicht auf dem Auslöschen des Ich, auf der Kollektivierung, sondern sie entsteht dadurch, daß wir wirklich mit unserem ganzen Ich selbst aufbrechen und in diese neue Gemeinschaft des Herrn hineintreten. Nur so ereignet sich etwas anderes als Kollektivität; nur so wächst wirkliches, an die Wurzel und in die Mitte und in die Höhe des Menschen reichendes Zueinander. Weil es so ist, gehört zur Kommunion vorab das persönliche Hintreten zu Christus, das Ich-Gebet; deshalb braucht sie hernach die Weile der Stille, in der wir ganz persönlich mit dem anwesenden Herrn sprechen. Wir haben dies vielleicht in den letzten Jahrzehnten alle zu sehr verlernt. Wir haben Gemeinde, Liturgie als Feier der Gemeinschaft neu entdeckt, und dies ist groß. Aber wir müssen auch neu entdecken, daß Gemeinschaft die Person verlangt. Wir müssen dieses stille Beten vor der Kommunion und das stille Einswerden mit dem Herrn, das uns-Aussetzen an ihn neu lernen. (Fs)

83a Daraus ergibt sich ein Weiteres schließlich ganz von selbst. Was wir empfangen, ist - wir sagten es - Person. Diese Person aber ist der Herr Jesus Christus, Gott und Mensch zugleich. Die vergangene Kommunionfrömmigkeit früherer Jahrhunderte hat wahrscheinlich zu sehr des Menschen Jesus vergessen, zu sehr an Gott gedacht. Aber wir sind in der umgekehrten Gefahr, nur noch den Menschen Jesus zu sehen und vergessen dabei, daß wir in ihm, der sich uns leibhaftig schenkt, zugleich den lebendigen Gott anrühren. Weil es aber so ist, darum ist Kommunizieren immer zugleich auch Anbeten. Schon in jeder echten menschlichen Liebe steckt etwas von einem Sich-Beugen vor der gottgeschenkten Würde des anderen, der Ebenbild Gottes ist. Schon echte menschliche Liebe kann nicht bedeuten, daß wir den anderen vereinnahmen und besitzen; sie schließt ein, daß wir das Große, das Einmalige der nie einfach in Besitz zu nehmenden Person des anderen ehrfürchtig anerkennen, uns beugen und so einander eins werden. In dem Kommunizieren mit Jesus Christus erreicht dies eine neue Höhe, denn hier wird menschliche Partnerschaft notwendig überschritten. Das Wort vom Herrn als unserem "Partner" erklärt zwar manches, deckt aber noch mehr zu. Wir stehen ja nicht auf gleicher Ebene. Er ist der ganz andere, die Majestät des lebendigen Gottes tritt mit ihm auf uns zu. Mit ihm sich vereinigen heißt sich beugen und dadurch sich auftun für seine Größe. Das hat sich in jeder Zeit auch in der Kommunionfrömmigkeit ausgedrückt. Augustinus sagt einmal in einer Predigt zu seinen Kommunikanten: Niemand kann kommunizieren, ohne zuerst angebetet zu haben. Theodor von Mopsuestia, ein Zeitgenosse von ihm, der in Syrien wirkte, berichtet, daß jeder Kommunikant vor dem Nehmen der heiligen Gabe ein Wort der Anbetung sprach. Besonders ergreifend ist, was uns von den Mönchen in Cluny um das Jahr 1000 erzählt wird. Wenn sie zur Kommunion hintraten, zogen sie ihre Schuhe aus. Sie wußten, daß hier der brennende Dornbusch ist, daß das Geheimnis, vor dem Mose in die Knie sank, hier anwesend war.3 Die Formen wechseln, aber was bleiben muß, ist der Geist der Anbetung, der erst wahres Heraustreten aus uns selbst, Kommunizieren, Freiwerden von uns und so Finden auch gerade der menschlichen Gemeinschaft bedeutet. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Gott ist uns nah

Titel: Gott ist uns nah

Stichwort: Eucharistie; Transsubstantiation (Substanz) - Transsignifikation; eucharistische Anbetung

Kurzinhalt: Hier aber, wo Christus begegnet, geht es um dies Eigentliche. Genau das wurde mit dem Wort "Substanz" ausgedrückt. Nicht die Quanten sind gemeint, sondern der tiefe, der eigentliche Grund des Seins.

Textausschnitt: 85a Kommen wir zu der dritten und letzten Frage: Ist die Lehre von der realen Gegenwart Christi in den eucharistischen Gaben nicht durch die Naturwissenschaft längst widerlegt, überholt? Hat die Kirche sich mit ihrem Substanzbegriff - sie redet ja von "Transsubstantiation" - nicht viel zu weit an eine im Grund primitive und überholte Wissenschaft gekettet, die heute keinen Stand mehr haben kann? Wissen wir denn nicht genau, wie die Materie zusammengesetzt ist: aus Atomen, und diese aus Elementarteilchen? Daß Brot keine Substanz ist und folglich auch schon alles Weitere nicht stimmen kann? Nun, solche Einwendungen sind im Letzten sehr oberflächlich. Wir können sie jetzt nicht im einzelnen bedenken und es ist auch gewiß nicht notwendig, daß immer jeder einzelne alles das mitbedenkt, was in der Kirche hier geistig gerungen worden ist. Wichtig ist nur, daß das Gerüst des Denkens steht, das uns dann hilft, den eigentlichen, von ihm gestützten Kern des Glaubens angstlos und heiter zu leben. Begnügen wir uns also mit ein paar Hinweisen. Ein erster: Mit dem Wort Substanz hat die Kirche gerade die Naivität weggenommen, die sich an das Greifbare und Meßbare hält. Im zwölften Jahrhundert drohte das Geheimnis der Eucharistie zerrissen zu werden zwischen zwei Gruppierungen, die je auf ihre Weise seine Mitte verfehlten. Da waren die einen, die ganz erfüllt waren von dem Gedanken: Jesus ist wirklich da. Aber "Wirklichkeit", das war für sie nur das Körperliche. Folglich kamen sie zu dem Satz: In der Eucharistie kauen wir das Fleisch des Herrn; damit aber waren sie einem bösen Mißverständnis erlegen. Denn Jesus ist auferstanden. Wir kauen nicht Fleisch, wie Menschenfresser es tun würden. Deswegen standen mit Recht andere gegen sie auf, die sich gegen solch primitiven "Realismus" wehrten. Aber auch sie waren dem gleichen Grundirrtum verfallen, nämlich nur das Materielle, das Greifbare, das Sichtbare für Wirklichkeit zu halten. Sie sagten: Weil Christus nicht in kaubarer Körperlichkeit da sein kann, kann Eucharistie nur Sinnbild Christi sein; kann das Brot den Leib nur bedeuten, aber nicht der Leib sein. In solchem Streit hat sich die Kirche dadurch geholfen, daß sie den Begriff von Wirklichkeit vertiefte. In einem schwierigen Ringen wurde die Erkenntnis aussagbar: "Wirklich" ist nicht bloß, was man messen kann. Wirklich sind nicht bloß die "Quanten", die quantitativen Dinge; die sind im Gegenteil immer nur Erscheinungen des verborgenen Geheimnisses des eigentlichen Seins. Hier aber, wo Christus begegnet, geht es um dies Eigentliche. Genau das wurde mit dem Wort "Substanz" ausgedrückt.1 Nicht die Quanten sind gemeint, sondern der tiefe, der eigentliche Grund des Seins. Jesus ist nicht da wie ein Stück Fleisch, nicht im Bereich des Meßbaren und Quantitativen. Wer so die Wirklichkeit anfaßt, der täuscht sich über sie und damit über sich selbst. Damit aber lebt er verkehrt. Deswegen ist dies kein Streit unter Gelehrten, sondern es geht um uns selbst: Wie müssen wir zur Wirklichkeit stehen? Was ist "wirklich"? Wie müssen wir selbst sein, damit wir der Wahrheit entsprechen? Auf die Eucharistie hin wird uns gesagt: Die Substanz wird verwandelt, das heißt, der eigentliche Grund des Seins. Um ihn geht es und nicht um das Vordergründige, zu dem all das Meßbare und Greifbare gehört. Mit dem so Bedachten sind wir zwar einen guten Schritt vorangekommen, aber noch nicht am Ende. Denn wir wissen nun zwar, was nicht gemeint ist, aber es bleibt die Frage: Wie ist es positiv aufzufassen? Wieder müssen ein paar Hinweise genügen, denn die Begrenzung unseres Blickfelds erlaubt uns nur, uns tastend zum Geheimnis vorzuwagen. (Fs) (notabene)

87a
a) Ein Erstes. Was der Kirche immer wichtig war, ist dies, daß hier wirkliche Verwandlung geschieht. In der Eucharistie trägt sich wirklich etwas zu. Es wird Neues, was vorher nicht war. Das Wissen um Verwandlung gehört zu den Urgegebenheiten des eucharistischen Glaubens. Es kann daher auch nicht so sein, daß der Leib Christi zu dem Brot noch hinzutritt, als ob Brot und Leib Christi zwei gleichartige Dinge wären, die auf gleicher Weise als zwei "Substanzen" nebeneinander stehen können. Wenn der Leib Christi, das heißt Christus, der auferstanden-Leibhaftige, kommt, so ist er Größeres, Anderes, nicht in derselben Art wie das Brot. Es geschieht Verwandlung, die unsere Dinge durch Aufnahme in eine höhere Ordnung in ihrem eigenen Wesen trifft und ändert, auch wenn man das nicht messen kann. Wenn materielle Dinge als Nahrung in unseren Leib aufgenommen werden bzw. wenn überhaupt Materie Teil eines lebendigen Organismus wird, bleibt sie gleich und wird doch als Teil eines Neuen auch selbst verändert.2 So Ähnliches geschieht auch hier. Der Herr bemächtigt sich des Brotes und des Weins, er hebt sie gleichsam aus den Angeln ihres gewöhnlichen Seins in eine neue Ordnung hinein; auch wenn sie rein physikalisch gleichbleiben, sind sie zutiefst Anderes geworden. (Fs) (notabene)

Kommentar (13.01.10): Seele als Operator des Leiblichen = der Auferstandene als Operator von Brot und Wein

87b Das hat eine wichtige Konsequenz, die zugleich das Gemeinte selbst noch einmal deutlicher werden läßt: Wo Christus anwesend wurde, kann es hernach nicht sein, als ob nichts gewesen wäre. Dort, wohin er seine Hand gelegt hat, ist Neues geworden. Dies verweist wiederum darauf, daß Christsein als solches Verwandlung ist, daß es Bekehrung sein muß und nicht irgendeine Verzierung zum übrigen Leben hinzu. Es greift in die Tiefe hinein und läßt uns von der Tiefe her neu werden. Je mehr wir selbst als Christen von der Wurzel her neu werden, desto mehr können wir das Geheimnis von Verwandlung überhaupt verstehen. Schließlich läßt solche Verwandelbarkeit der Dinge uns inne werden, daß die Welt selbst verwandelbar ist, daß sie als Ganze einmal neues Jerusalem, Tempel, Gefäß der Anwesenheit Gottes sein wird. (Fs)

88a
b) Das Zweite ist dies: Was sich in der Eucharistie abspielt, ist objektives Geschehen an der Sache selbst und nicht bloß eine Vereinbarung, die wir unter uns vornehmen. Träfe das letztere zu, so wäre Eucharistie nur eine Vereinbarung unter uns; eine Fiktion, in der wir übereinkämen, "dies" als "etwas anderes" anzusehen. Dann wäre sie nur Spiel, nicht Wirklichkeit. Ihre Feier hätte nur den Charakter eines Spiels. Die Gaben würden nur zeitweise für kultische Zwecke "umfunktioniert". Demgegenüber gilt: Was hier geschieht, ist nicht "Umfunktionierung", sondern wirkliche Umwandlung; die Kirche nennt sie Umsubstantiierung. Wir berühren damit einen Streit, der in den sechziger Jahren viel Staub aufgewirbelt hat. Da wurde gesagt, man müsse Eucharistie etwa folgendermaßen verstehen: Stellen wir uns vor, wir hätten ein Stück Tuch, das nun zu einer Nationalfahne oder etwa zu einer Regimentsfahne gemacht wird. Als Tuch ist es sich gleich geblieben, aber weil dies Stück Tuch nun Sinnbild der Nation oder Sinnbild dieses Regiments geworden ist, muß ich davor die Kopfbedeckung abnehmen. Es ist nichts anderes, bedeutet aber etwas anderes. Später wird es in einem Museum verwahrt werden und die ganze Geschichte jener Zeit in sich tragen. Man nannte die so geschehene Veränderung des Tuches Transsignifikation, zu deutsch: Bedeutungsänderung, "Umfunktionierung". Nun, ein Stück weit kann uns ein solches Beispiel durchaus verstehen helfen, daß Hineinnahme in einen neuen Zusammenhang Veränderung bewirkt.3 Aber das Beispiel reicht nicht zu. Was in der Eucharistie an Brot und Wein geschieht, geht viel tiefer; es ist mehr als Umfunktionierung. Eucharistie überschreitet den Raum des Funktionalen. Das ist ja die Not unserer Zeit, daß wir nur noch in Funktionen denken und leben, daß der Mensch selbst nach seinem Funktionswert eingestuft wird und daß wir alle nur noch Funktionen und Funktionäre sein können, wo das Sein geleugnet wird. Die Bedeutung der Eucharistie als Sakrament des Glaubens besteht eben darin, daß sie aus dem Funktionalen herausführt und den Grund der Wirklichkeit trifft. Die Welt der Eucharistie ist keine gespielte Welt; sie beruht nicht auf Abmachungen, die wir treffen und auch widerrufen können, sondern hier geht es um Wirklichkeit, um ihren tiefsten Grund. Dies ist der springende Punkt, wenn die Kirche bloße Umfunktionierung ("Transsignifikation") als ungenügend ablehnt und auf "Umsubstantiierung" besteht: Die Eucharistie ist mehr Wirklichkeit als die Dinge, mit denen wir täglich umgehen. Hier ist die eigentliche Wirklichkeit. Hier ist der Maßstab, die Mitte; hier begegnen wir jener Wirklichkeit, von der aus wir alle andere Wirklichkeit messen lernen sollten. (Fs)

90a
c) Daraus ergibt sich ein Letztes. Wenn es so steht, das heißt, wenn Brot und Wein nicht von uns umfunktioniert werden, sondern durch das glaubende Beten der Kirche hindurch der Herr selbst handelt und Neues wirkt, dann bedeutet das, daß seine Gegenwart bleibt. Weil sie bleibt, darum beten wir den Herrn in der Hostie an. Dagegen gibt es manche Einwendungen. Es wird gesagt, das habe man doch im ersten Jahrtausend nicht getan. Darauf ist zunächst einfach zu sagen, daß die Kirche wächst und reift im Gang der Geschichte. Man muß hinzufügen, daß sie immer schon die heiligen Gestalten aufbewahrt hat, um sie zu den Kranken zu bringen. Solches Tun beruhte auf dem Wissen, daß die Gegenwart des Herrn bleibt. Deswegen hat sie die Gestalten immer schon mit heiliger Ehrfurcht umgeben. Ein zweiter Einwand lautet: Der Herr hat sich in Brot und Wein gegeben. Das sind Dinge zum Essen. Damit habe er doch deutlich genug gezeigt, was er damit will und was nicht. Brot ist nicht zum Anschauen, sondern zum Essen da, wurde demgemäß formuliert. Im Kern ist das richtig; auch das Konzil von Trient sagt so.1 Aber erinnern wir uns zurück: Was heißt das: den Herrn empfangen? Dies ist nie nur ein leiblicher Vorgang, wie wenn ich ein Stück Brot esse. Dies kann deshalb nie nur das Geschehen eines Augenblicks sein. Christus empfangen heißt: auf ihn zugehen, ihn anbeten. Aus diesem Grund kann das Empfangen über den Moment der eucharistischen Feier hinausreichen, ja, muß es tun. Je mehr die Kirche in das eucharistische Geheimnis hineinwuchs, desto mehr hat sie begriffen, daß sie Kommunion nicht in den umgrenzten Minuten der Messe zu Ende feiern kann. Erst als so das Ewige Licht in den Kirchen entzündet wurde und neben dem Altar der Tabernakel aufgerichtet wurde, war gleichsam die Knospe des Geheimnisses aufgesprungen und die Fülle des eucharistischen Geheimnisses von der Kirche angenommen. Immer ist der Herr da. Die Kirche ist nicht bloß ein Raum, in dem in der Frühe einmal etwas stattfindet, während er den Rest des Tages "funktionslos" leer bliebe. Im Kirchenraum ist immer "Kirche", weil immer der Herr sich schenkt, weil das eucharistische Geheimnis bleibt und weil wir im Zugehen darauf immerfort im Gottesdienst der ganzen glaubenden, betenden und liebenden Kirche eingeschlossen sind. (Fs)

91a Wir alle wissen, welch ein Unterschied ist zwischen einer durchbeteten Kirche und einer solchen, die zum Museum geworden ist. Wir stehen heute sehr in Gefahr, daß unsere Kirchen Museen werden und daß es ihnen dann geht wie Museen: Wenn sie nicht verschlossen sind, werden sie ausgeraubt. Sie leben nicht mehr. Das Maß der Lebendigkeit der Kirche, das Maß ihrer inneren Offenheit wird sich darin zeigen, daß sie ihre Türen offen halten kann, weil sie durchbetete Kirche ist. Ich bitte Sie deshalb alle von Herzen, daß wir darauf einen neuen Anlauf nehmen. Entsinnen wir uns wieder dessen, daß Kirche immer lebt, daß in ihr immerfort der Herr auf uns zugeht. Die Eucharistie und ihre Gemeinschaft wird umso gefüllter sein, je mehr wir im stillen Beten vor der eucharistischen Gegenwart des Herrn uns selbst auf ihn bereiten und wahrhaft Kommunizierende werden. Solches Anbeten ist ja immer mehr als Reden mit Gott im allgemeinen. Dagegen könnte sich dann mit Recht der immer wieder zu hörende Einwand richten: Ich kann ja auch im Wald, in der freien Natur beten. Gewiß kann man das. Aber wenn es nur dies gäbe, dann läge die Initiative des Betens allein bei uns; dann wäre Gott ein Postulat unseres Denkens - ob er antwortet, antworten kann und will, bliebe offen. Eucharistie bedeutet: Gott hat geantwortet: Eucharistie ist Gott als Antwort, als antwortende Gegenwart. Nun liegt die Initiative des Gott-Mensch-Verhältnisses nicht mehr bei uns, sondern bei ihm, und so erst wird es wirklich ernst. Deshalb erreicht das Gebet im Raum der eucharistischen Anbetung eine völlig neue Ebene; erst jetzt ist es zweiseitig und so erst jetzt wirklicher Ernstfall. Ja, es ist nun nicht nur zweiseitig, sondern allumfassend: Wenn wir in der eucharistischen Gegenwart beten, sind wir nie allein. Dann betet immer die ganze eucharistiefeiernde Kirche mit. Dann beten wir im Raum der Erhörung, weil wir im Raum von Tod und Auferstehung beten, also dort, wo die eigentliche Bitte in all unseren Bitten erhört ist: die Bitte um die Überwindung des Todes; die Bitte um die Liebe, die stärker ist als der Tod.2 In diesem Beten stehen wir nicht mehr vor einem erdachten Gott, sondern vor dem Gott, der sich uns wirklich gegeben hat; vor dem Gott, der Kommunion geworden ist für uns und der so uns selbst aus Grenze zu Kommunion befreit und zur Auferstehung führt. Solches Beten müssen wir neu suchen. Es sollte die Frucht der Fastenzeit sein, daß wir wieder betende Kirche und damit offene Kirche werden. Nur die betende Kirche ist offen. Nur sie lebt und lädt die Menschen ein; sie schenkt Gemeinschaft und den Raum der Stille zugleich. Aus allem Bedachten folgt von selbst noch eine abschließende Überlegung. Der Herr schenkt sich uns leibhaft. Deswegen muß auch ihm unsere leibhaftige Antwort entsprechen. Das bedeutet vor allem, daß Eucharistie über die Grenze des Kirchenraums hinausreichen muß, in die vielfältigen Formen des Dienstes am Menschen und an der Welt. Es bedeutet aber auch, daß auch unsere Frömmigkeit, unser Gebet den Ausdruck im Leib verlangt. Weil der Herr sich als Auferstandener im Leibe gibt, müssen wir mit Seele und Leib antworten. Alle geistigen Möglichkeiten unseres Leibes gehören notwendig zur Gestalt der Eucharistie: Singen, Reden, Schweigen, Sitzen, Stehen, Knien. Wir haben vielleicht früher das Singen und das Reden zu sehr vernachlässigt und ausschließlich nebeneinander geschwiegen. Heute sind wir umgekehrt in Gefahr, das Schweigen zu vergessen. Aber nur alles drei zusammen - Singen, Reden, Schweigen - ist die Antwort, in der die Fülle unseres geistigen Leibes sich auftut für den Herrn. Das gleiche gilt für die drei körperlichen Grundhaltungen: Sitzen, Stehen, Knien. Wiederum haben wir früher vielleicht das Stehen und zum Teil auch das Sitzen als Ausdruck entspannten Hörens zu sehr vergessen und sind zu ausschließlich gekniet; heute finden wir uns auch da in der umgekehrten Gefahr. Und doch ist auch hier der eigene Ausdruck aller drei Haltungen notwendig. Zur Liturgie gehört das sitzende, besinnliche Hineinhören in das Wort Gottes. Zu ihr gehört das Stehen als Ausdruck der Bereitschaft so wie Israel das Osterlamm stehend aß, um seine Bereitschaft zum Auszug unter der Führung des Wortes Gottes zu bekunden. Stehen ist darüber hinaus auch Ausdruck für den Sieg Jesu Christi: Am Ende eines Zweikampfes ist es der Sieger, der steht. Von da erhält es seine Bedeutung, daß Stephanus vor seinem Martyrium Christus zur Rechten Gottes stehen sieht (Apg 7,56). Unser Stehen beim Evangelium ist so über die Exodus-Geste hinaus, die wir mit Israel teilen, Stehen beim Auferstandenen, Bekenntnis zu seinem Sieg. Schließlich ist auch das Knien wesentlich: als die leibhaftige Gebärde der Anbetung, in der wir aufrecht, bereit, verfügbar bleiben, aber zugleich uns vor der Größe des lebendigen Gottes und seines Namens beugen. Jesus Christus selbst hat nach dem Bericht des heiligen Lukas die letzten Stunden vor seinem Leiden auf dem Ölberg kniend gebetet (Lk 22,41). Stephanus fiel auf die Knie, als er vor seinem Martyrium den Himmel offen und Christus stehen sah (Apg 7,60). Vor ihm, dem Stehenden, kniet er. Petrus hat kniend gebetet, um die Auferweckung der Tabita von Gott zu erflehen (Apg 9,40). Paulus hat nach seiner großen Abschiedsrede vor den Presbytern von Ephesus (vor seinem Weggang nach Jerusalem in die Gefangenschaft hinein) kniend zusammen mit ihnen gebetet (Apg 20,36). Am tiefsten führt der Christushymnus des Philipperbriefs (Phil 2,6-11), der die jesajanische Verheißung der weltweiten knienden Huldigung vor dem Gott Israels auf Jesus Christus überträgt: Er ist der "Name, in dem jedes Knie sich beugt im Himmel, auf der Erde und unter der Erde" (Phil 2,10). Aus diesem Text erfahren wir nicht nur die Tatsache, daß die Urkirche vor Jesus Christus kniete, sondern auch ihren Grund: Sie huldigt ihm - dem Gekreuzigten - damit öffentlich als dem Herrscher der Welt, in dem die Verheißung der Weltherrschaft des Israels-Gottes erfüllt ist. Sie bezeugt damit den Juden gegenüber ihren Glauben daran, daß Gesetz und Propheten von Jesus sprechen, wenn sie vom "Namen" Gottes handeln; sie hält damit dem Kaiserkult - dem totalen Anspruch der Politik gegenüber - an der neuen Weltherrschaft Jesu fest, die die politische Macht begrenzt. Sie drückt ihr Ja zur Gottheit Jesu aus. Wir knien mit Jesus; wir knien mit seinen Zeugen - von Stephanus, Petrus und Paulus an - vor Jesus und dies ist ein Ausdruck des Glaubens, der ihm von Anfang an als sichtbares Zeugnis seines Gottes- und Christusverhältnisses in dieser Welt unerläßlich war. Solches Knien ist der leibhaftige Ausdruck unseres Ja zur wirklichen Gegenwart Jesu Christi, der als Gott und Mensch, mit Leib und Seele, mit Fleisch und Blut unter uns anwesend ist. (Fs)

95a "Wo wäre ein Volk, dem seine Götter so nahe sind wie uns unser Gott ist?" Bitten wir den Herrn, daß er die Freude über seine Nähe neu in uns erweckt, daß er uns neu zu Anbetenden macht. Ohne Anbetung gibt es keine Verwandlung der Welt. (E; E10 13.01.2010)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus Maria der Jungfrau; Jungfrauengeburt, Religionsgeschichte; Gott-Sohn, Jesus; falsche Verknüpfung: Jungfrauengeburt - Gottessohnschaft Jesu



Kurzinhalt: ... die Empfängnis Jesu bedeutet nicht, dass ein neuer Gott-Sohn entsteht, sondern dass Gott als Sohn in dem Menschen Jesus das Geschöpf Mensch an sich zieht, sodass er selber Mensch »ist«.

Textausschnitt: 1. »Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus Maria der Jungfrau«

255a Die Herkunft Jesu steht im Geheimnis. Zwar wenden die Jerusalemer im Johannesevangelium gegen seine Messianität ein, von ihm wisse man, »woher er ist; wenn aber der Christus kommt, weiß niemand um sein Woher« (Jo 7,27). Aber gleich die folgende Rede Jesu enthüllt, wie unzulänglich dieses ihr vermeintliches Wissen um Jesu Herkunft ist: »Ich komme nicht von mir selber her, sondern der Wahrhafte ist es, der mich gesandt hat, und ihn kennt ihr nicht« (7,28). Gewiss, Jesus stammt aus Nazareth. Aber was weiß man schon um sein wahres Woher, wenn man den geographischen Ort angeben kann, von dem er kommt? Das Johannesevangelium betont immer wieder, dass die wirkliche Herkunft Jesu »der Vater« ist, dass er totaler und anders von ihm herkommt als jeder Gottesgesandte zuvor. (Fs)

255b Dieses Herkommen Jesu aus dem Geheimnis Gottes, »das niemand weiß«, schildern die so genannten Kindheitsgeschichten des Matthäus- und des Lukasevangeliums, nicht um es aufzuheben, sondern um es gerade als Geheimnis zu bestätigen. Beide Evangelisten, besonders aber Lukas, erzählen den Anfang der Geschichte Jesu fast ganz in Worten des Alten Testaments, um so von innen her das, was sich hier zuträgt, als Erfüllung der Hoffnung Israels auszuweisen und es einzuordnen in den Zusammenhang der ganzen Bundesgeschichte Gottes mit den Menschen. Das Wort, mit dem der Engel bei Lukas die Jungfrau anspricht, lehnt sich eng an den Gruß an, mit dem der Prophet Sophonias das gerettete Jerusalem der Endzeit grüßt (Soph 3,14 ff1), und es nimmt zugleich die Segensworte auf, mit denen man die großen Frauen Israels gepriesen hatte (Ri 5,24; Jdt 13,18 f). So wird Maria als der heilige Rest Israels, als das wahre Sion gekennzeichnet, auf das sich in den Verwüstungen der Geschichte die Hoffnungen gerichtet hatten. Mit ihr beginnt nach dem Text des Lukas das neue Israel, nein: es beginnt nicht bloß mit ihr, sie ist es, die heile »Tochter Sion«, in der Gott den neuen Beginn setzt2.

256a Nicht weniger gefüllt ist das zentrale Verheißungswort: »Heiliger Geist wird auf dich herabkommen und Kraft des Höchsten dich überschatten. Darum wird, was aus dir geboren wird, heilig genannt werden: Sohn Gottes« (Lk 1,35). Über die Bundesgeschichte Israels hinaus wird hier der Blick auf die Schöpfung geweitet: Der Geist Gottes ist im Alten Testament Gottes Schöpfungsmacht; er ist es, der am Beginn über den Wassern schwebte und Chaos zu Kosmos gestaltete (Gn 1,2); wenn er gesandt wird, werden die lebendigen Wesen geschaffen (Ps 104 [1O3],3O). So ist, was hier an Maria geschehen soll, neue Schöpfung: Der Gott, der aus dem Nichts das Sein rief, setzt inmitten der Menschheit einen neuen Anfang; sein Wort wird Fleisch. Das andere Bild unseres Textes - die »Überschattung mit der Kraft des Höchsten« - verweist auf den Tempel Israels und auf das heilige Zelt in der Wüste, wo sich Gottes Gegenwart in der Wolke anzeigte, die seine Herrlichkeit ebenso verbirgt wie offenbart (Ex 40,34; 3 Kg 8,11). Wie Maria vorher als das neue Israel, als die wahre »Tochter Sion« geschildert worden war, so erscheint sie nun als der Tempel, auf den sich die Wolke herabsenkt, in der Gott mitten in die Geschichte eintritt. Wer sich Gott zur Verfügung stellt, verschwindet mit ihm in der Wolke, in der Vergessenheit und Unansehnlichkeit, und wird gerade so seiner Herrlichkeit teilhaftig. (Fs) (notabene)

257a Die Geburt Jesu aus der Jungfrau, von der solchermaßen in den Evangelien berichtet wird, ist den Aufklärern aller Art nicht erst seit gestern ein Dorn im Auge. Quellenscheidungen sollen das neutestamentliche Zeugnis minimalisieren, der Hinweis auf das unhistorische Denken der Alten soll es ins Symbolische abschieben und die Einordnung in die Religionsgeschichte es als Variante eines Mythos ausweisen. Der Mythos von der wunderbaren Geburt des Retterkindes ist in der Tat weltweit verbreitet. Eine Menschheitssehnsucht spricht sich in ihm aus: die Sehnsucht nach dem Herben und Reinen, das die unberührte Jungfrau verkörpert; die Sehnsucht nach dem wahrhaft Mütterlichen, Bergenden, Reifen und Gütigen und endlich die Hoffnung, die immer wieder aufsteht, wo ein Mensch geboren wird - die Hoffnung und Freude, die ein Kind bedeutet. Man wird es als wahrscheinlich ansehen dürfen, dass auch Israel Mythen dieser Art gekannt hat; Jes 7,14 (»Siehe, die Jungfrau wird empfangen ...«) könnte durchaus sich als Aufgreifen einer solchen Erwartung erklären, auch wenn aus dem Wortlaut dieses Textes nicht ohne weiteres hervorgeht, dass dabei an eine Jungfrau im strengen Sinne gedacht ist. Wenn der Text von solchen Ursprüngen her zu verstehen wäre, würde das heißen, dass auf diesem Umweg das Neue Testament die verworrenen Hoffnungen der Menschheit auf die Jungfrau-Mutter aufgenommen hätte; einfach bedeutungslos ist ein solches Urmotiv der menschlichen Geschichte sicher nicht. (Fs)

257b Gleichzeitig ist aber völlig klar, dass die unmittelbaren Anknüpfungspunkte der neutestamentlichen Berichte von der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria nicht im religionsgeschichtlichen Raum, sondern in der alttestamentlichen Bibel liegen. Die außerbiblischen Erzählungen dieser Art sind tief gehend durch ihr Vokabular und durch ihre Anschauungsformen von der Geburtsgeschichte Jesu unterschieden; der zentrale Gegensatz besteht darin, dass in den heidnischen Texten fast immer die Gottheit als befruchtende, zeugende Macht, also unter einem mehr oder weniger geschlechtlichen Aspekt und von da aus in einem physischen Sinne als der »Vater« des Retterkindes erscheint. Nichts davon ist, wie wir sahen, im Neuen Testament der Fall:

259a An alledem ändern auch zwei Ausdrücke nichts, die den Unkundigen allerdings leicht irreführen können. Wird denn nicht im lukanischen Bericht im Zusammenhang mit der Verheißung der wunderbaren Empfängnis gesagt, das Geborene werde »heilig geheißen werden, Sohn Gottes« (Lk 1,35)? Wird hier also nicht doch Gottessohnschaft und Jungfrauengeburt verkoppelt und damit der Weg des Mythos beschritten? Und was die kirchliche Theologie angeht: Spricht sie nicht andauernd von der »physischen« Gottessohnschaft Jesu, und enthüllt sie nicht damit doch ihren mythischen Hintergrund? Beginnen wir vom Letzteren her. Ohne Zweifel: die Formel von der »physischen« Gottessohnschaft Jesu ist höchst unglücklich und missverständlich; sie zeigt, dass es der Theologie in fast zweitausend Jahren noch immer nicht gelungen ist, ihre Begriffssprache von den Eierschalen ihrer hellenistischen Herkunft zu befreien. »Physisch« ist hier im Sinne des antiken Begriffs der Physis, also der Natur, besser: des Wesens, gemeint. Es besagt das dem Wesen Zugehörige. »Physische Sohnschaft« bedeutet also, dass Jesus dem Sein und nicht bloß dem Bewusstsein nach von Gott ist; das Wort drückt mithin den Gegensatz zur Vorstellung der bloßen Adoption Jesu durch Gott aus. Selbstverständlich ist das Sein-von-Gott, das mit dem Wort »physisch« angedeutet werden soll, nicht biologisch-generativ, sondern auf der Ebene des göttlichen Seins und seiner Ewigkeit gemeint. Es will sagen, dass in Jesus derjenige Menschennatur angenommen hat, der von Ewigkeit her der dreifach-einen Relation der göttlichen Liebe »physisch« (= wirklich, dem Sein nach) zugehört. (Fs)

259b Was soll man aber sagen, wenn ein so verdienstvoller Forscher wie E. Schweizer sich zu unserer Frage folgendermaßen äußert: »Da Lukas an der biologischen Frage nicht interessiert ist, ist die Grenze zu einem metaphysischen Verständnis hin auch bei ihm nicht überschritten«1? An diesem Satz ist so ziemlich alles falsch. Das Verblüffendste daran ist die stillschweigende Gleichsetzung von Biologie und Metaphysik, die darin vorgenommen wird. Die metaphysische (seinsmäßige) Gottessohnschaft wird allem Anschein nach als biologische Abstammung missdeutet und damit in ihrem Sinn völlig auf den Kopf gestellt: Sie ist, wie wir sahen, gerade die nachdrückliche Abwehr einer biologischen Auffassung der Herkunft Jesu von Gott. Es kann einen freilich etwas betrübt stimmen, dass man eigens sagen muss, dass die Ebene der Metaphysik nicht diejenige der Biologie ist. Die kirchliche Lehre von der Gottessohnschaft Jesu liegt nicht in der Verlängerung der Geschichte der Jungfrauengeburt, sondern in der Verlängerung des Dialogs Abba-Sohn und der Relation des Wortes und der Liebe, die wir darin eröffnet fanden. Ihr Seinsgedanke gehört nicht der biologischen Ebene zu, sondern dem »Ich-bin's« des Johannesevangeliums, das darin, wie wir sahen, bereits die ganze Radikalität des Sohnesgedankens entfaltet hat - eine Radikalität, die viel umfassender und weitreichender ist als die biologischen Gottmensch-Ideen des Mythos. All dies haben wir schon früher ausgiebig bedacht; es sollte hier nochmals in Erinnerung gerufen werden, weil sich der Eindruck aufdrängt, dass die heutige Aversion gegen die Botschaft von der Jungfrauengeburt wie gegen das volle Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu auf einem gründlichen Missverständnis beider beruht und auf der falschen Verknüpfung miteinander, in der man sie weithin zu sehen scheint. (Fs)


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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Lukas: Maria, Sohn Gottes; Jungfrauengeburt - Gnade, Gnadentheologie

Kurzinhalt: Die Jungfrauengeburt bedeutet weder ein Kapitel Askese noch gehört sie unmittelbar der Lehre von der Gottessohnschaft Jesu zu; sie ist zuerst und zuletzt Gnadentheologie, Botschaft davon, wie uns das Heil zukommt: in der Einfalt des Empfangens, ...

Textausschnitt: 260a Eine Frage ist noch offen: die nach dem Sohnesbegriff in der lukanischen Verkündigungsgeschichte. Ihre Beantwortung führt uns zugleich zu der eigentlichen Frage, die sich aus den bisherigen Überlegungen ergibt. Wenn die Empfängnis Jesu aus der Jungfrau durch Gottes schöpferische Macht zumindest unmittelbar nichts mit seiner Gottessohnschaft zu tun hat, was für einen Sinn hat sie dann überhaupt? Was das Wort »Sohn Gottes« im Verkündigungstext meint, lässt sich von unseren früheren Überlegungen her leicht beantworten: Im Gegensatz zu dem einfachen Ausdruck »der Sohn« gehört es, wie wir hörten, der Erwählungs- und Hoffnungstheologie des Alten Bundes zu und kennzeichnet Jesus als den wahren Erben der Verheißungen, den König Israels und der Welt. Damit wird aber nun der geistige Zusammenhang deutlich sichtbar, aus dem heraus unser Bericht zu verstehen ist: der Hoffnungsglaube Israels, der, wie gesagt, von den heidnischen Hoffnungen auf wunderbare Geburten kaum völlig unberührt geblieben ist, ihnen aber eine völlig neue Gestalt und einen gänzlich verwandelten Sinn gegeben hat. (Fs)

261a Das Alte Testament kennt eine Reihe von wunderbaren Geburten, jeweils an entscheidenden Wendepunkten der Heilsgeschichte: Sara, die Mutter Isaaks (Gn 18), die Mutter Samuels (1 Sam 1-3) und die anonyme Mutter Samsons (Ri 13) sind unfruchtbar, und jede menschliche Hoffnung auf Kindersegen ist sinnlos geworden. Bei allen dreien kommt die Geburt des Kindes, das zum Heilsträger für Israel wird, zustande als eine Tat der gnädigen Erbarmung Gottes, der das Unmögliche möglich macht (Gn 18,14; Lk 1,37), der die Niedrigen erhöht (1 Sam 2,7; 1,11; Lk 1,52; 1,48) und die Stolzen vom Throne stößt (Lk 1,52). Bei Elisabeth, der Mutter Johannes' des Täufers, wird diese Linie fortgeführt (Lk 1,7-25.36), die bei Maria an ihrem Höhepunkt und Ziel ankommt. Der Sinn des Geschehens ist allemal derselbe: Das Heil der Welt kommt nicht vom Menschen und von dessen eigener Macht; der Mensch muss es sich schenken lassen, und nur als reines Geschenk kann er es empfangen. Die Jungfrauengeburt bedeutet weder ein Kapitel Askese noch gehört sie unmittelbar der Lehre von der Gottessohnschaft Jesu zu; sie ist zuerst und zuletzt Gnadentheologie, Botschaft davon, wie uns das Heil zukommt: in der Einfalt des Empfangens, als unerzwingbares Geschenk der Liebe, die die Welt erlöst. Im Buch Jesaja ist dieser Gedanke des Heils allein aus Gottes Macht großartig formuliert, wenn es heißt: »Frohlocke, Unfruchtbare, die nicht gebar; brich los und juble, die keinen Geburtsschmerz kannte! (Fs) (notabene)

262a Denn zahlreicher werden sein der Vereinsamten Kinder als die der Vermählten, spricht der Herr« (Jes 54,1; vgl. Gal 4,27; Röm 4,17-22). In Jesus hat Gott inmitten der unfruchtbaren und hoffnungslosen Menschheit einen neuen Anfang gesetzt, der nicht Ergebnis ihrer eigenen Geschichte, sondern Geschenk von oben ist. Wenn schon jeder Mensch etwas unaussprechbar Neues, mehr als die Summe von Chromosomen und das Produkt einer bestimmten Umwelt darstellt: ein einmaliges Geschöpf Gottes, so ist Jesus der wahrhaft Neue, nicht aus dem Eigenen der Menschheit kommend, sondern aus Gottes Geist. Deshalb ist er Adam, zum zweiten Male (1 Kor 15,47) - eine neue Menschwerdung beginnt mit ihm. Im Gegensatz zu allen Erwählten vor ihm empfängt er nicht nur Gottes Geist, sondern auch in seiner irdischen Existenz ist er allein durch den Geist und darum die Erfüllung aller Propheten: der wahre Prophet. (Fs) (notabene)

262a Es sollte eigentlich keiner eigenen Erwähnung bedürfen, dass all diese Aussagen Bedeutung nur haben unter der Voraussetzung, dass das Geschehnis sich wirklich zugetragen hat, dessen Sinn ans Licht zu heben sie sich mühen. Sie sind Deutung eines Ereignisses; nimmt man dies weg, so werden sie zu leerem Gerede, das man dann nicht nur als unernst, sondern auch als unehrlich bezeichnen müsste. Im Übrigen liegt über solchen Versuchen, so gut sie mitunter gemeint sein mögen, eine Widersprüchlichkeit, die man beinahe als tragisch bezeichnen möchte:

262a In einem Augenblick, in dem wir die Leibhaftigkeit des Menschen mit allen Fasern unserer Existenz entdeckt haben und seinen Geist nur noch als inkarnierten, als Leib-Sein, nicht als Leib-Haben zu verstehen vermögen, versucht man den Glauben dadurch zu retten, dass man ihn gänzlich entleiblicht, in eine Region des bloßen »Sinnes«, der puren, sich selbst genügenden Deutung flüchtet, die nur durch ihre Wirklichkeitslosigkeit der Kritik entzogen zu sein scheint. Christlicher Glaube bedeutet aber in Wahrheit gerade das Bekenntnis dazu, dass Gott nicht der Gefangene seiner Ewigkeit und nicht begrenzt aufs nur Geistige ist, sondern dass er hier und heute, mitten in meiner Welt zu wirken vermag und dass er in ihr gewirkt hat in Jesus, dem neuen Adam, der geboren ist aus Maria der Jungfrau durch die schöpferische Macht des Gottes, dessen Geist am Anbeginn über den Wassern schwebte, der aus dem Nichts das Sein erschuf1. (Fs) (notabene)

263a Noch eine Bemerkung drängt sich auf. Der rechtverstandene Sinn des Gotteszeichens der Jungfrauengeburt zeigt zugleich an, welches der theologische Ort einer Marienfrömmigkeit ist, die sich vom Glauben des Neuen Testaments her leiten lässt. Sie kann nicht auf einer Mariologie beruhen, die eine Art von verkleinerter Zweitausgabe der Christologie darstellt - zu einer solchen Verdoppelung gibt es weder Recht noch Grund. Wenn man einen theologischen Traktat angeben will, dem die Mariologie als dessen Konkretisierung zugehört, wäre es wohl am ehesten die Gnadenlehre, die freilich mit der Ekklesiologie und mit der Anthropologie ein Ganzes bildet. Als die wahre »Tochter Sion« ist Maria Bild der Kirche, Bild des gläubigen Menschen, der nicht anders als durch das Geschenk der Liebe - durch Gnade - ins Heil und zu sich selbst kommen kann. Jenes Wort, mit dem Bernanos das Tagebuch eines Landpfarrers schließen lässt - »Alles ist Gnade« -, jenes Wort, in dem dort ein Leben, das nur Schwachheit und Vergeblichkeit zu sein schien, sich als voller Reichtum und Erfüllung erkennen darf: dieses Wort ist in Maria, der »Gnadenvollen« (Lk 1,28), wahrhaft Ereignis geworden. Sie ist nicht die Bestreitung oder Gefährdung der Ausschließlichkeit des Christusheils, sondern der Verweis darauf. Darstellung der Menschheit, die als ganze Erwartung ist und die dieses Bild um so nötiger braucht, je mehr sie in Gefahr ist, das Warten abzulegen und sich dem Machen anzuvertrauen, das - so unerlässlich es ist - die Leere niemals ausfüllen kann, die den Menschen bedroht, wenn er jene absolute Liebe nicht findet, die ihm Sinn, Heil, das wahrhaft Lebensnotwendige gibt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Gerechtigkeit - Gnade; Sühne, Opfer, Sühnetheologie (Anselm von Canterbury); Kreuzestheologie; Kreuz, Kult, Eucharistie; Neues Testament: religionsgeschichtliche Wende

Kurzinhalt: Hier stehen wir vor der Wende, die das Christentum in die Religionsgeschichte getragen hat: Das Neue Testament sagt nicht, dass die Menschen Gott versöhnen, wie wir es eigentlich erwarten müssten, da ja sie gefehlt haben, nicht Gott.

Textausschnitt: a) Gerechtigkeit und Gnade.

264a Welche Stellung nimmt eigentlich das Kreuz innerhalb des Glaubens an Jesus als den Christus ein? Das ist die Frage, mit der uns dieser Glaubensartikel noch einmal konfrontiert. Wir haben in unseren bisherigen Überlegungen die wesentlichen Elemente einer Antwort bereits gesammelt und müssen nun versuchen, sie zusammen vor den Blick zu bekommen. Das christliche Allgemeinbewusstsein ist in dieser Sache, wie wir gleichfalls früher schon feststellten, weithin von einer reichlich vergröberten Vorstellung der Sühnetheologie Anselms von Canterbury bestimmt, deren Grundlinien wir in anderem Zusammenhang bedacht haben. Für sehr viele Christen und besonders für jene, die den Glauben nur ziemlich von weitem kennen, sieht es so aus, als wäre das Kreuz zu verstehen innerhalb eines Mechanismus des beleidigten und wiederhergestellten Rechtes. Es wäre die Form, wie die unendlich beleidigte Gerechtigkeit Gottes mit einer unendlichen Sühne wieder versöhnt würde. So erscheint es den Menschen als Ausdruck einer Haltung, die auf einem genauen Ausgleich zwischen Soll und Haben besteht; zugleich behält man das Gefühl, dass dieser Ausgleich dennoch auf einer Fiktion beruht. Man gibt zuerst im Geheimen mit der linken Hand, was man feierlich mit der rechten wieder entgegennimmt. Die »unendliche Sühne«, auf der Gott zu bestehen scheint, rückt so in ein doppelt unheimliches Licht. Von manchen Andachtstexten her drängt sich dem Bewusstsein dann geradezu die Vorstellung auf, der christliche Glaube an das Kreuz stelle sich einen Gott vor, dessen unnachsichtige Gerechtigkeit ein Menschenopfer, das Opfer seines eigenen Sohnes, verlangt habe. Und man wendet sich mit Schrecken von einer Gerechtigkeit ab, deren finsterer Zorn die Botschaft von der Liebe unglaubwürdig macht. (Fs)

265a So verbreitet dieses Bild ist, so falsch ist es. In der Bibel erscheint das Kreuz nicht als Vorgang in einem Mechanismus des beleidigten Rechtes; in ihr steht das Kreuz vielmehr ganz umgekehrt da als Ausdruck für die Radikalität der Liebe, die sich gänzlich gibt, als der Vorgang, in dem einer das ist, was er tut, und das tut, was er ist; als Ausdruck für ein Leben, das ganz Sein für die anderen ist. Für den, der genauer zusieht, drückt sich in der Kreuzestheologie der Schrift wahrhaft eine Revolution aus gegenüber den Sühne- und Erlösungsvorstellungen der außerchristlichen Religionsgeschichte, wobei freilich nicht zu leugnen ist, dass im späteren christlichen Bewusstsein diese Revolution weitgehend wieder neutralisiert und selten in ihrer ganzen Tragweite erkannt worden ist. In den Weltreligionen bedeutet Sühne gewöhnlich die Wiederherstellung des gestörten Gottesverhältnisses mittels sühnender Handlungen der Menschen. Fast alle Religionen kreisen um das Problem der Sühne; sie steigen auf aus dem Wissen des Menschen um seine Schuld vor Gott und bedeuten den Versuch, dieses Schuldgefühl zu beheben, die Schuld zu überwinden durch Sühneleistungen, die man Gott anbietet. Das sühnende Werk, mit dem Menschen die Gottheit versöhnen und gnädig stimmen wollen, steht im Mittelpunkt der Religionsgeschichte. (Fs)

265a Im Neuen Testament sieht die Sache fast genau umgekehrt aus. Nicht der Mensch ist es, der zu Gott geht und ihm eine ausgleichende Gabe bringt, sondern Gott kommt zum Menschen, um ihm zu geben. Aus der Initiative seiner Liebesmacht heraus stellt er das gestörte Recht wieder her, indem er durch sein schöpferisches Erbarmen den ungerechten Menschen gerecht macht, den Toten lebendig. Seine Gerechtigkeit ist Gnade; sie ist aktive Gerechtigkeit, die den verkrümmten Menschen richtet, das heißt zurechtbiegt, richtig macht. Hier stehen wir vor der Wende, die das Christentum in die Religionsgeschichte getragen hat: Das Neue Testament sagt nicht, dass die Menschen Gott versöhnen, wie wir es eigentlich erwarten müssten, da ja sie gefehlt haben, nicht Gott. Es sagt vielmehr, dass »Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat« (2 Kor 5,19). Das ist etwas wahrhaft Unerhörtes, Neues - der Ausgangspunkt der christlichen Existenz und die Mitte neutestamentlicher Kreuzestheologie: Gott wartet nicht, bis die Schuldigen kommen und sich versöhnen, er geht ihnen zuerst entgegen und versöhnt sie. Darin zeigt sich die wahre Bewegungsrichtung der Menschwerdung, des Kreuzes. (Fs) (notabene)

266a Demgemäß erscheint im Neuen Testament das Kreuz primär als eine Bewegung von oben nach unten. Es steht nicht da als die Versöhnungsleistung, die die Menschheit dem zürnenden Gott anbietet, sondern als Ausdruck jener törichten Liebe Gottes, die sich weggibt, in die Erniedrigung hinein, um so den Menschen zu retten; es ist sein Zugehen auf uns, nicht umgekehrt. Mit dieser Wende in der Sühne-Idee, also in der Achse des Religiösen überhaupt, erhält im Christlichen auch der Kult, die ganze Existenz, eine neue Richtung. Anbetung erfolgt im Christlichen zunächst im dankenden Empfangen der göttlichen Heilstat. Die wesentliche Form des christlichen Kultes heißt daher mit Recht Eucharistia, Danksagung. In diesem Kult werden nicht menschliche Leistungen vor Gott gebracht; er besteht vielmehr darin, dass der Mensch sich beschenken lässt; wir verherrlichen Gott nicht, indem wir ihm vermeintlich aus dem Eigenen geben - als ob es nicht immer schon das Seinige wäre! -, sondern indem wir uns das Seinige schenken lassen und ihn dadurch als den einzigen Herrn anerkennen. Wir beten ihn an, indem wir die Fiktion eines Bereichs fallen lassen, mit dem wir uns wie selbständige Geschäftspartner ihm gegenüberstellen könnten, während wir doch in Wahrheit nur in ihm und von ihm her überhaupt sein können. Christliches Opfern besteht nicht in einem Geben dessen, was Gott ohne uns nicht hätte, sondern darin, dass wir ganz Empfangende werden und uns ganz nehmen lassen von ihm. Das Handelnlassen Gottes an uns - das ist das christliche Opfer. (Fs; tblVrw) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Hebräerbrief: Versöhnungsfest - Kreuz, Opfer Jesu; vernichtende Bilanz der Religionsgeschichte;

Kurzinhalt: Gott gehört alles, dem Menschen aber ist die Freiheit des Ja und des Nein, der Liebe und der Verweigerung, verliehen; das freie Ja der Liebe ist das Einzige, worauf Gott warten muss - die Anbetung und das »Opfer«, das allein Sinn haben kann.

Textausschnitt: b) Das Kreuz als Anbetung und Opfer.

267a Damit ist freilich noch nicht das Ganze gesagt. Wenn man das Neue Testament von Anfang bis Ende liest, wird man die Frage nicht unterdrücken können, ob es nicht doch die Sühnetat Jesu als Opferdarbringung an den Vater schildert, das Kreuz als das Opfer darstellt, das Christus im Gehorsam dem Vater übergibt. In einer Reihe von Texten erscheint es dennoch als die aufsteigende Bewegung von der Menschheit zu Gott, sodass alles wieder aufzutauchen scheint, was wir eben abgewiesen hatten. In der Tat, mit der absteigenden Linie allein kann man den Befund des Neuen Testaments nicht erfassen. Wie aber sollen wir uns dann das Verhältnis der beiden Linien erklären? Müssen wir etwa eine zugunsten der anderen ausschließen? Und wenn wir es tun wollten, welcher Maßstab berechtigte uns dazu? Es ist klar, dass wir nicht so vorgehen können: Damit würden wir schließlich die Willkür unserer eigenen Meinung zum Maßstab des Glaubens erheben. (Fs)

267b Um vorwärts zu kommen, müssen wir unsere Frage ausweiten und uns klarzumachen versuchen, wo der Ausgangspunkt der neutestamentlichen Sinndeutung des Kreuzes liegt. Man muss sich zunächst bewusst werden, dass das Kreuz Jesu den Jüngern fürs Erste als das Ende, als das Scheitern seines Beginnens erschien. Sie hatten geglaubt, in ihm den König gefunden zu haben, der nie mehr gestürzt werden könne, und waren unversehens zu Gefährten eines Hingerichteten geworden. Die Auferstehung gab ihnen zwar die Gewissheit, dass Jesus dennoch König war, aber wozu das Kreuz diente, mussten sie erst langsam verstehen lernen. Das Mittel des Verstehens bot ihnen die Schrift, das heißt das Alte Testament, mit dessen Bildern und Begriffen sie das Geschehene auszulegen sich mühten. So zogen sie auch dessen liturgische Texte und Vorschriften heran, in der Überzeugung, dass alles dort Gemeinte in Jesus erfüllt sei, ja, dass man von ihm her nun umgekehrt erst eigentlich begreifen könne, um was es dort in Wahrheit ging. Auf diese Weise finden wir im Neuen Testament das Kreuz unter anderem auch mit den Gedanken der alt-testamentlichen Kulttheologie erklärt. (Fs)

268a Die konsequenteste Durchführung dieses Bemühens begegnet uns im Brief an die Hebräer, der den Tod Jesu am Kreuz mit Ritus und Theologie des jüdischen Versöhnungsfestes in Beziehung setzt und ihn als das wahre kosmische Versöhnungsfest auslegt. Der Gedankengang des Briefes ließe sich dabei in Kürze etwa so wiedergeben: Alles Opferwesen der Menschheit, alle Versuche, durch Kult und Ritus Gott zu versöhnen, von denen die Welt voll ist, mussten hilfloses Menschenwerk bleiben, weil Gott nicht Stiere und Böcke sucht, oder was immer sonst ihm rituell dargeboten wird. Man kann ganze Hekatomben von Tieren Gott allenthalben auf der Welt opfern; er braucht sie nicht, weil alles das ohnedies ihm gehört und weil dem Herrn des Alls nichts gegeben wird, wenn man solches zu seiner Ehre verbrennt. »Ich nehme den Stier aus deinem Stall nicht an und Böcke aus deinen Hürden. Alles Wild des Waldes ist ja mein Eigentum, der Tiere auf meinen Bergen sind tausend. Die Vögel der Luft sind mir alle bekannt, was im Felde sich regt, gehört mir an. Hätte ich Hunger, dann sagte ich dir's nicht, denn mein ist der Erdkreis und seine Fülle. Genieße ich denn Stierfleisch überhaupt, trinke ich denn das Blut von Böcken? Bringe Gott Danksagung als Opfer dar...«, so sagt ein Gottesspruch des Alten Testaments (Ps 50 [49],9-14). Der Verfasser des Hebräerbriefs stellt sich in die geistige Linie dieses und ähnlicher Texte. Mit noch endgültigerem Nachdruck betont er die Vergeblichkeit des rituellen Bemühens. Gott sucht nicht Stiere und Böcke, sondern den Menschen; das uneingeschränkte Ja des Menschen zu Gott könnte allein die wahre Anbetung sein. Gott gehört alles, dem Menschen aber ist die Freiheit des Ja und des Nein, der Liebe und der Verweigerung, verliehen; das freie Ja der Liebe ist das Einzige, worauf Gott warten muss - die Anbetung und das »Opfer«, das allein Sinn haben kann. Das Ja zu Gott, in dem der Mensch sich selbst zurückgibt an Gott, ist aber nicht durch das Blut von Stieren und Böcken zu ersetzen und zu vertreten. »Was könnte der Mensch als Ersatz für sich selber bieten?« heißt es einmal im Evangelium (Mk 8,3V). Die Antwort kann nur lauten: Es gibt nichts, womit er sich aufwiegen könnte. (Fs) (notabene)

269a Da aber der ganze vorchristliche Kult auf der Idee des Ersatzes, der Vertretung beruht, das zu ersetzen versucht, was unersetzbar ist, musste dieser Kult vergeblich bleiben. Der Hebräerbrief kann im Lichte des Christusglaubens es wagen, diese vernichtende Bilanz der Religionsgeschichte zu ziehen, die auszusprechen in einer Welt voller Opfer als ungeheurer Frevel erscheinen musste. Er kann es wagen, dies völlige Scheitern der Religionen ohne Rückhalt auszusagen, weil er weiß, dass in Christus die Idee des Ersatzes, der Vertretung einen neuen Sinn bekommen hat. Er, der religionsgesetzlich gesehen ein Laie war, kein Amt im Kultdienst Israels innehatte, er war - so sagt es der Text - der einzige wahre Priester der Welt. Sein Tod, der innergeschichtlich gesehen einen völlig profanen Vorgang darstellte - die Hinrichtung eines Mannes, der als politischer Verbrecher verurteilt war -, dieser Tod war in Wirklichkeit die einzige Liturgie der Weltgeschichte, kosmische Liturgie, in der nicht im abgegrenzten Bereich des liturgischen Spiels, im Tempel, sondern in der Öffentlichkeit der Welt Jesus durch den Vorhang des Todes hindurch in den wirklichen Tempel, das heißt vor das Angesicht Gottes selbst, hintrat, um nicht Dinge, Blut von Tieren oder was auch immer, sondern sich selbst darzubringen (Hebr 9,11 ff). (Fs)

269b Achten wir auf diese grundlegende Umkehrung, die zum Kerngedanken des Briefes gehört: Was irdisch betrachtet ein profanes Geschehen war, ist der wahre Kult der Menschheit, denn der ihn vollzog, hat den Raum des liturgischen Spiels durchbrochen und Wahrheit gemacht: Er gab sich selbst. Er nahm den Menschen die Opfersachen aus der Hand und setzte an ihre Stelle die geopferte Persönlichkeit, sein eigenes Ich. Wenn in unserem Text dennoch gesagt wird, Jesus habe durch sein Blut die Versöhnung vollzogen (9,12), so ist dieses Blut nicht wieder als eine sachliche Gabe zu verstehen, als ein quantitativ zu bemessendes Sühnemittel, sondern es ist einfach die Konkretisierung einer Liebe, von der gesagt ist, dass sie bis zum äußersten reicht (Jo 13,1). Es ist Ausdruck der Totalität seiner Hingabe und seines Dienstes; Inbegriff der Tatsache, dass er nicht mehr und nicht weniger bringt als sich selbst. Der Gestus der alles gebenden Liebe, er und er allein war nach dem Hebräerbrief die wirkliche Versöhnung der Welt; deshalb ist die Kreuzesstunde der kosmische Versöhnungstag, das wahre und endgültige Versöhnungsfest. Einen anderen Kult gibt es nicht und einen anderen Priester nicht als den, der ihn vollzog: Jesus Christus. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Christlicher Kult, Opfer, Stellvertretung; Schmerz - Liebe; Danielou; Kreuz - "aufgespannt"; Platon: Bild vom gekreuzigten Gerechten


Kurzinhalt: Der Schmerz ist im letzten Ergebnis und Ausdruck des Ausgespanntseins Jesu Christi vom Sein in Gott bis in die Hölle des »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«.

Textausschnitt: c) Das Wesen des christlichen Kultes.

270a Das Wesen des christlichen Kultes besteht demnach nicht in der Hingabe von Dingen, auch nicht in irgendeiner Zerstörung, wie man seit dem 16. Jahrhundert immer wieder in den Meßopfertheorien lesen kann - auf diese Weise müsse die Oberherrschaft Gottes über alles anerkannt werden, sagte man dort. Alle diese Denkbemühungen sind durch das Christusgeschehen und seine biblische Auslegung einfach überholt. Der christliche Kult besteht in der Schlechthinnigkeit der Liebe, wie sie nur der eine zu schenken vermochte, in dem Gottes eigene Liebe menschliche Liebe geworden war; und er besteht in der neuen Form von Stellvertretung, die in dieser Liebe eingeschlossen ist: darin, dass er für uns stand und wir uns von ihm nehmen lassen. So bedeutet er, dass wir unsere eigenen Rechtfertigungsversuche beiseite tun, die im Grunde nur Ausreden sind und uns gegeneinander stellen - wie Adams Rechtfertigungsversuch eine Ausrede und ein Abschieben der Schuld auf den anderen, ja, schließlich ein Versuch, Gott selber zu verklagen, war: »Das Weib, das du mir als Gefährtin gegeben, hat mir etwas vom Baume gereicht...« (Gn 3,12). Er verlangt, dass wir statt des zerstörerischen Gegeneinander der Selbstrechtfertigung das Geschenk der für uns einstehenden Liebe Jesu Christi annehmen, uns darin vereinigen lassen und so mit ihm und in ihm Anbetende werden. Von hier aus dürfte es möglich sein, in gedrängter Kürze auf einige Fragen zu antworten, die sich noch stellen. (Fs)

271a
1. Im Blick auf die Liebesbotschaft des Neuen Testaments drängt heute immer mehr eine Tendenz nach vorn, die christlichen Kult vollständig in Bruderliebe, in »Mitmenschlichkeit« auflösen und keine direkte Gottesliebe oder Gottesverehrung mehr zulassen will: Nur noch die Horizontale wird anerkannt, die Vertikale der unmittelbaren Beziehung zu Gott verneint. Vom Gesagten aus ist wohl unschwer einzusehen, warum diese auf den ersten Blick so sympathisch scheinende Konzeption mit der Sache des Christentums auch die der wahren Menschlichkeit verfehlt. Die sich selbst genügen wollende Bruderliebe würde gerade so zum äußersten Egoismus der Selbstbehauptung werden. Sie verweigert ihre letzte Offenheit, Gelassenheit und Selbstlosigkeit, wenn sie nicht auch noch die Erlösungsbedürftigkeit dieser Liebe durch den annimmt, der allein wirklich genügend liebte. Und sie tut bei allem Wohlwollen letztlich dem anderen und sich selber Unrecht, weil der Mensch sich nicht im Zueinander der Mitmenschlichkeit allein vollendet, sondern erst im Miteinander jener zwecklosen Liebe, die Gott selbst verherrlicht. Die Zwecklosigkeit der einfachen Anbetung ist die höchste Möglichkeit des Menschseins und erst seine wahre und endgültige Befreiung. (Fs)

2. Vor allem von den herkömmlichen Passionsandachten her kommt immer wieder die Frage auf, in welcher Weise eigentlich Opfer (also Anbetung) und Schmerz zusammenhängen. Nach dem eben Bedachten ist das christliche Opfer nichts anderes als der Exodus des Für, das sich selbst verlässt, grundlegend vollzogen in dem Menschen, der ganz Exodus, Selbstüberschreitung der Liebe ist. Das konstitutive Prinzip des christlichen Kultes ist folglich diese Bewegung des Exodus mit ihrer zweieinigen Richtung auf Gott und Mitmensch hin. Indem Christus das Menschsein zu Gott hinträgt, trägt er es in sein Heil hinein. Das Kreuzesgeschehen ist deshalb Brot des Lebens »für die Vielen« (Lk 22,19), weil der Gekreuzigte den Leib der Menschheit ins Ja der Anbetung umgeschmolzen hat. Es ist deshalb ganz »anthropozentrisch«, ganz menschbezogen, weil es radikale Theozentrik, Auslieferung des Ich und darin des Wesens Mensch an Gott war. Insofern nun dieser Exodus der Liebe die Ekstase des Menschen aus sich selbst heraus ist, in der er unendlich über sich hinausgespannt, gleichsam auseinander gerissen wird, weit über seine scheinbar möglichen Ausstreckungsmöglichkeiten hinaus, insofern ist Anbetung (Opfer) immer zugleich Kreuz, Schmerz des Zerrissenwerdens, Sterben des Weizenkorns, das nur im Tod zur Frucht kommen kann. Aber damit ist zugleich deutlich, dass dies Element des Schmerzhaften das Sekundäre ist, das sich aus einem vorausgehenden Primaren ergibt und nur von ihm her seinen Sinn hat. Das konstitutive Prinzip des Opfers ist nicht die Zerstörung, sondern die Liebe. Und nur insofern sie aufbricht, öffnet, kreuzigt, zerreißt, gehört auch dieses mit zum Opfer: als die Form der Liebe in einer vom Tod und von der Selbstsucht gezeichneten Welt. (Fs)

272a Es gibt zu dieser Sache einen bedeutenden Text von Jean Danielou, der zwar einer anderen Fragestellung zugeordnet ist, aber doch gut geeignet sein dürfte, den Gedanken weiter zu erhellen, um den wir uns mühen: »Zwischen der Heidenwelt und dem Dreifaltigen Gott gibt es nur eine einzige Verbindung, und das ist das Kreuz Christi. Wenn wir uns dennoch in dieses Niemandsland stellen und von neuem die verbindenden Fäden zwischen der Heidenwelt und dem Dreifaltigen Gott hin- und herziehen wollen, wie sollen wir uns da noch wundern, dass wir es nur im Kreuz Christi tun können? Wir müssen uns diesem Kreuz ähnlich machen, es in uns tragen und, wie der heilige Paulus vom Glaubensboten sagt, >allzeit das Todesleiden Christi in unserem Leibe mittragen< (2 Kor 4,10). Diese Zerrissenheit, die uns ein Kreuz ist, dieses Unvermögen unseres Herzens, gleichzeitig die Liebe zur hochheiligen Dreifaltigkeit und die Liebe zu einer der Dreifaltigkeit entfremdeten Welt in sich zu tragen, das ist gerade das Todesleiden des eingeborenen Sohnes, zu dessen Teilnahme er uns beruft. Er, der diese Trennung in sich getragen hat, um sie in sich aufzuheben, der sie aber nur aufgehoben hat, weil er sie vorhin in sich trug: Er reicht von einem Ende bis zum andern. Ohne den Schoß der Dreifaltigkeit zu verlassen, streckt er sich bis zur äußersten Grenze menschlichen Elends aus und erfüllt den ganzen Zwischenraum. Dieses Sichausspannen Christi, das die vier Richtungen des Kreuzes sinnbilden, ist der geheimnisvolle Ausdruck unserer eigenen Zerrissenheit und macht uns ihm gleichförmig«1. Der Schmerz ist im letzten Ergebnis und Ausdruck des Ausgespanntseins Jesu Christi vom Sein in Gott bis in die Hölle des »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Wer seine Existenz so ausgestreckt hat, dass er gleichzeitig in Gott eingetaucht ist und eingetaucht in die Tiefe des gottverlassenen Geschöpfes, der muss gleichsam auseinanderreißen - der ist wirklich »gekreuzigt«. Aber dieses Zerrissenwerden ist identisch mit der Liebe: Es ist ihre Verwirklichung bis ins Letzte (Jo 13,1) und der konkrete Ausdruck für die Weite, die sie schafft. (Fs) (notabene)

273a Von hier aus könnte wohl der wahre Grund sinnvoller Passionsfrömmigkeit sichtbar gemacht werden und auch deutlich werden, wie Passionsfrömmigkeit und apostolische Spiritualität ineinander übergehen. Es könnte sichtbar werden, dass das Apostolische, der Dienst an dem Menschen und in der Welt, sich mit dem Innersten christlicher Mystik und christlicher Kreuzesfrömmigkeit durchdringt. Beides hindert einander nicht, sondern in seiner wahren Tiefe lebt je eins vom andern. Damit sollte nun auch deutlich sein, dass es beim Kreuz nicht auf eine Summierung physischer Schmerzen ankommt, als ob in der größtmöglichen Summe von Qualen sein Erlösungswert bestünde. Wie sollte Gott an der Qual seiner Kreatur oder gar seines Sohnes Freude haben oder womöglich gar darin die Valuta sehen können, mit der von ihm Versöhnung erkauft werden müsste? Die Bibel und der rechte christliche Glaube sind weit von solchen Gedanken entfernt. Nicht der Schmerz als solcher zählt, sondern die Weite der Liebe, die die Existenz so ausspannt, dass sie das Ferne und das Nahe vereint, den gottverlassenen Menschen mit Gott in Beziehung bringt. Sie allein gibt dem Schmerz Richtung und Sinn. Wäre es anders, dann wären die Henkersknechte am Kreuz die eigentlichen Priester gewesen; sie, die den Schmerz provoziert haben, hätten ja dann das Opfer dargebracht. Aber weil es nicht darauf ankam, sondern auf jene innere Mitte, die ihn trägt und erfüllt, darum waren nicht sie es, sondern war Jesus der Priester, der die beiden getrennten Enden der Welt in seinem Leibe wieder vereinte (Eph 2,13 f). (Fs)

274a Damit ist nun im Grunde auch schon die Frage beantwortet, von der wir ausgegangen sind, ob es nicht ein unwürdiger Gottesbegriff sei, sich einen Gott vorzustellen, der die Schlachtung seines Sohnes verlangt, damit sein Zorn besänftigt werde. Auf eine solche Frage kann man nur sagen: In der Tat, so darf Gott nicht gedacht werden. Aber ein solcher Gottesbegriff hat auch nichts mit dem Gottesgedanken des Neuen Testaments zu tun. Denn dieses handelt gerade umgekehrt von dem Gott, der von sich aus in Christus das Omega - der letzte Buchstabe - im Alphabet der Schöpfung werden wollte. Es handelt von dem Gott, der selbst der Akt der Liebe ist, das reine Für, und der darum notwendig in das Inkognito des letzten Wurms eintritt (Ps 22 [21],7). Es handelt von dem Gott, der sich mit seinem Geschöpf identifiziert und in diesem »contineri a minimo«, im Umgriffen- und Übermächtigtwerden vom Geringsten, jenen »Überfluss« setzt, der ihn als Gott ausweist. (Fs)

274b Das Kreuz ist Offenbarung. Es offenbart nicht irgendetwas, sondern Gott und den Menschen. Es enthüllt, wer Gott ist und wie der Mensch ist. In der griechischen Philosophie gibt es eine eigentümliche Vorahnung dieses Zusammenhangs: Platons Bild vom gekreuzigten Gerechten. Der große Philosoph fragt sich in seinem Werk über den Staat, wie es wohl um einen ganz und gar gerechten Menschen in dieser Welt bestellt sein müsste. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Gerechtigkeit eines Menschen erst dann vollkommen und bewährt sei, wenn er den Schein der Ungerechtigkeit auf sich nehme, denn dann erst zeige sich, dass er nicht der Meinung der Menschen folgt, sondern allein zur Gerechtigkeit um ihrer selbst willen steht. So muss also nach Platon der wahrhaft Gerechte in dieser Welt ein Verkannter und Verfolgter sein, ja, Platon scheut sich nicht, zu schreiben: »Sie werden denn sagen, dass der Gerechte unter diesen Umständen gegeißelt, gefoltert, gebunden werden wird, dass ihm die Augen ausgebrannt werden und dass er zuletzt nach allen Misshandlungen gekreuzigt werden wird ... «2. Dieser Text, 400 Jahre vor Christus niedergeschrieben, wird einen Christen immer wieder tief bewegen. Vom Ernst philosophischen Denkens her ist hier erahnt, dass der vollendete Gerechte in der Welt der gekreuzigte Gerechte sein muss; es ist etwas geahnt von jener Offenbarung des Menschen, die sich am Kreuz zuträgt. (Fs) (notabene)

275a Dass der vollendete Gerechte, als er erschien, zum Gekreuzigten, von der Justiz dem Tod Ausgelieferten, wurde, das sagt uns nun schonungslos, wer der Mensch ist: So bist du, Mensch, dass du den Gerechten nicht ertragen kannst - dass der einfach Liebende zum Narren, zum Geschlagenen und zum Verstoßenen wird. So bist du, weil du als Ungerechter selbst immer die Ungerechtigkeit des andern brauchst, um dich entschuldigt zu fühlen, und also den Gerechten, der dir diese Entschuldigung zu nehmen scheint, nicht brauchen kannst. Das bist du. Johannes hat dies alles zusammengefasst in dem »Ecce homo« (»Siehe, das ist der Mensch!«) des Pilatus, das ganz grundsätzlich sagen will: So steht es um den Menschen. Dies ist der Mensch. Die Wahrheit des Menschen ist seine Wahrheitslosigkeit. Das Psalmwort, jeder Mensch sei ein Lügner (Ps 116 [115],11), lebe irgendwo gegen die Wahrheit, enthüllt schon, wie es wirklich um den Menschen steht. Die Wahrheit des Menschen ist, dass er immer wieder gegen die Wahrheit anrennt; der gekreuzigte Gerechte ist so der dem Menschen hingehaltene Spiegel, in dem er unbeschönigt sich selber sieht. Aber das Kreuz offenbart nicht nur den Menschen, es offenbart auch Gott: So ist Gott, dass er bis in diesen Abgrund hinein sich mit dem Menschen identifiziert und dass er richtet, indem er rettet. Im Abgrund des menschlichen Versagens enthüllt sich der noch viel unerschöpflichere Abgrund der göttlichen Liebe. Das Kreuz ist so wahrhaft die Mitte der Offenbarung, einer Offenbarung, die nicht irgendwelche bisher unbekannten Sätze enthüllt, sondern uns selbst, indem sie uns vor Gott und Gott in unserer Mitte offenbart. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Hölle; Karsamstag; Gottes Schweigen; Einsamkeit


Kurzinhalt: ... als der tiefste Kern seiner Passion nicht irgendein physischer Schmerz, sondern die radikale Einsamkeit, die vollständige Verlassenheit. Darin kommt aber schließlich einfach der Abgrund der Einsamkeit des Menschen überhaupt zum Vorschein, ...

Textausschnitt: 3. »Abgestiegen zu der Hölle«

276a Vielleicht kein Glaubensartikel steht unserem heutigen Bewusstsein so fern wie dieser. Neben dem Bekenntnis zur Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria und demjenigen zur Himmelfahrt des Herrn reizt er am meisten zur »Entmythologisierung«, die man hier gefahrlos und ohne Ärgernis scheint vollziehen zu können. Die paar Stellen, an denen die Schrift etwas von dieser Sache zu sagen scheint (1 Petr 3,19 f; 4,6; Eph 4,9; Röm 10,7; Mt 12,40; Apg 2,27.31), sind so schwer zu verstehen, dass man sie leicht in vielerlei Richtungen auslegen kann. Wenn man demgemäß die Aussage zuletzt ganz eliminiert, scheint man den Vorteil zu haben, eine seltsame und in unser Denken schwer einzuordnende Sache losgeworden zu sein, ohne sich einer besonderen Untreue schuldig gemacht zu haben. Aber ist damit wirklich etwas gewonnen? Oder ist man vielleicht nur der Schwere und dem Dunkel des Wirklichen aus dem Weg gegangen? Man kann versuchen, mit Problemen fertig zu werden, indem man sie einfach negiert oder indem man sich ihnen stellt. Der eine Weg ist bequemer, aber nur der zweite führt weiter. Müssten wir also, anstatt die Frage beiseite zu schieben, nicht viel eher einsehen lernen, dass dieser Glaubensartikel, dem im Ablauf des Kirchenjahres der Karsamstag liturgisch zugeordnet ist, uns heute ganz besonders nahe steht, in ganz besonderem Maß die Erfahrung unseres Jahrhunderts ist? Am Karfreitag bleibt immerhin der Blick auf den Gekreuzigten, Karsamstag aber ist der Tag des »Todes Gottes«, der Tag, der die unerhörte Erfahrung unserer Zeit ausdrückt und vorwegnimmt, dass Gott einfach abwesend ist, dass das Grab ihn deckt, dass er nicht mehr aufwacht, nicht mehr spricht, sodass man nicht einmal mehr ihn zu bestreiten braucht, sondern ihn einfach übergehen kann. »Gott ist tot, und wir haben ihn getötet«. Dieses Wort Nietzsches gehört sprachlich der Tradition der christlichen Passionsfrömmigkeit zu; es drückt den Gehalt des Karsamstags aus, das »Abgestiegen zu der Hölle«1. (Fs)

277a Mir kommen im Zusammenhang mit diesem Artikel immer wieder zwei biblische Szenen in den Sinn. Zunächst jene grausame Geschichte des Alten Testaments, in der Elias die Baalspriester auffordert, von ihrem Gott Feuer für das Opfer zu erflehen. Sie tun es, und es geschieht natürlich nichts. Er verhöhnt sie, gerade so wie ein Aufklärer den Frommen verhöhnt und ihn der Lächerlichkeit überführt findet, wenn sich nichts zuträgt auf sein Beten hin. Er ruft ihnen zu, sie hätten vielleicht nicht laut genug gebetet: »Schreit doch lauter. Baal ist ja ein Gott. Er ist aber in Gedanken vertieft oder vielleicht ausgetreten; vielleicht schläft er auch und wacht dann auf!« (3 Kg 18,27). Wenn man heute diese Verhöhnung der Frommen Baals liest, kann einem etwas unheimlich zumute werden; man kann das Gefühl haben, wir seien jetzt in jene Situation geraten und jener Spott müsse nun auf uns fallen. Kein Rufen scheint Gott aufwecken zu können. Der Rationalist scheint beruhigt uns sagen zu dürfen: Betet lauter, vielleicht erwacht dann euer Gott. »Abgestiegen zu den Toten«: wie sehr ist das die Wahrheit unserer Stunde, der Abstieg Gottes in das Verstummen, in das dunkle Schweigen des Abwesenden hinein. (Fs)

278a Aber neben der Eliasgeschichte und ihrer neutestamentlichen Analogie in der Erzählung von dem Herrn, der mitten im Seesturm schläft (Mk 4,35-41 par), gehört auch die Emmausgeschichte hierher (Lk 24,13-35). Die verstörten Jünger reden vom Tod ihrer Hoffnung. Für sie ist so etwas wie der Tod Gottes geschehen: Der Punkt, an dem Gott endlich gesprochen zu haben schien, ist erloschen. Der Gesandte Gottes ist tot, und so ist völlige Leere. Nichts antwortet mehr. Aber während sie so vom Tod ihrer Hoffnung sprechen und Gott nicht mehr zu sehen vermögen, merken sie nicht, dass eben diese Hoffnung lebendig in ihrer Mitte steht. Dass »Gott« oder vielmehr jenes Bild, das sie von seiner Verheißung sich gebildet hatten, sterben musste, damit er größer leben konnte. Ihr Bild, das sie von Gott geformt hatten und in das sie ihn einzuzwängen versuchten, musste zerstört werden, damit sie gleichsam über den Trümmern des zerstörten Hauses wieder den Himmel sehen konnten und ihn selber, der der unendlich Größere bleibt. Eichendorff hat es in der gemütvollen, uns fast zu harmlos erscheinenden Weise seines Jahrhunderts so formuliert:

Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Dass wir den Himmel schauen -
Darum so klag ich nicht. (Fs)

278b So aber erinnert uns der Artikel vom Höllenabstieg des Herrn daran, dass zur christlichen Offenbarung nicht nur Gottes Reden, sondern auch Gottes Schweigen gehört. Gott ist nicht nur das verstehbare Wort, das auf uns zugeht, er ist auch der verschwiegene und unzugängliche, unverstandene und unverstehbare Grund, der sich uns entzieht. Gewiss gibt es im Christlichen einen Primat des Logos, des Wortes, vor dem Schweigen: Gott hat gesprochen. Gott ist Wort. Aber darüber dürfen wir die Wahrheit von der bleibenden Verborgenheit Gottes nicht vergessen. Nur wenn wir ihn als Schweigen erfahren haben, dürfen wir hoffen, auch sein Reden zu vernehmen, das im Schweigen ergeht2. Die Christologie reicht über das Kreuz, den Augenblick der Greifbarkeit göttlicher Liebe, hinaus in den Tod, in das Schweigen und die Verdunkelung Gottes hinein. Können wir uns wundern, dass die Kirche, dass das Leben des Einzelnen immer wieder in diese Stunde des Schweigens hineingeführt wird, in den vergessenen und beiseite geschobenen Artikel »Abgestiegen zu der Hölle«?

279a Wenn man dies bedenkt, löst sich die Frage nach dem »Schriftbeweis« von selber; zum wenigsten im Todesruf Jesu »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) wird das Geheimnis des Höllenabstiegs Jesu wie in einem grellen Blitz in dunkler Nacht sichtbar. Vergessen wir dabei nicht, dass dieses Wort des Gekreuzigten die Anfangszeile eines Gebetes Israels ist (Ps 22 [21],2), in welchem die Not und die Hoffnung dieses von Gott erwählten und gerade so scheinbar zutiefst von ihm verlassenen Volkes erschütternd sich zusammenfasst. Dieses Gebet aus der tiefsten Not der Gottesfinsternis endet mit einem Lobpreis der Größe Gottes. Auch das ist im Todesruf Jesu mit anwesend, den Ernst Käsemann kürzlich als ein Gebet aus der Hölle herauf bezeichnet hat, als das Aufrichten des ersten Gebotes in der Wüste der scheinbaren Abwesenheit Gottes: »Der Sohn hält dann noch den Glauben, wenn Glaube sinnlos geworden zu sein scheint und die irdische Wirklichkeit den abwesenden Gott kundtut, von dem nicht umsonst der erste Schacher und die höhnende Menge sprechen. Sein Schrei gilt nicht dem Leben und Überleben, nicht sich selbst, sondern dem Vater. Sein Schrei steht gegen die Realität der ganzen Welt«. Brauchen wir da noch zu fragen, was Anbetung in unserer Stunde der Finsternisse heißen muss? Kann sie etwas anderes sein als der Ruf aus der Tiefe zusammen mit dem Herrn, der »abgestiegen ist zur Hölle« und Gottesnähe mitten in der Gottverlassenheit aufgerichtet hat? (Fs)

280a Versuchen wir noch eine weitere Überlegung, um in dieses vielschichtige Geheimnis einzudringen, das von einer Seite allein her nicht aufzuhellen ist. Nehmen wir dabei zunächst noch einmal eine exegetische Feststellung zur Kenntnis. Man sagt uns, dass in unserem Glaubensartikel das Wort »Hölle« nur eine falsche Übersetzung für Scheol (griechisch: Hades) sei, womit der Hebräer den Zustand jenseits des Todes bezeichnet, den man sich sehr undeutlich als eine Art von Schattendasein, mehr Nichtsein als Sein, vorstellte. Demnach hätte der Satz ursprünglich nur bedeutet, dass Jesus in die Scheol eingetreten, das heißt, dass er gestorben ist. Nun mag das durchaus richtig sein. Aber es bleibt die Frage, ob die Sache damit einfacher und geheimnisloser geworden ist. Ich denke, dass sich jetzt erst recht das Problem auftut, was das eigentlich ist: der Tod, und was denn geschieht, wenn jemand stirbt, also ins Geschick des Todes eintritt. Wir alle werden vor dieser Frage unsere Verlegenheit bekennen müssen. Niemand weiß es wirklich, weil wir alle diesseits des Todes leben, die Erfahrung des Todes nicht kennen. Aber vielleicht können wir eine Annäherung versuchen, indem wir noch einmal ausgehen von dem Kreuzesruf Jesu, in dem wir den Kern dessen ausgedrückt fanden, was Abstieg Jesu, Teilhabe am Todesgeschick des Menschen meint. In diesem letzten Gebet Jesu erscheint, ähnlich wie in der Ölbergsszene, als der tiefste Kern seiner Passion nicht irgendein physischer Schmerz, sondern die radikale Einsamkeit, die vollständige Verlassenheit. Darin kommt aber schließlich einfach der Abgrund der Einsamkeit des Menschen überhaupt zum Vorschein, des Menschen, der im Innersten allein ist. Diese Einsamkeit, die zwar meist vielfältig überdeckt, aber doch die wahre Situation des Menschen ist, bedeutet zugleich den tiefsten Widerspruch zum Wesen des Menschen, der nicht allein sein kann, sondern das Mitsein braucht. Deshalb ist die Einsamkeit die Region der Angst, die in der Ausgesetztheit des Wesens gründet, das sein muss und doch in das ihm Unmögliche ausgestoßen ist. (Fs)

281a Versuchen wir, uns das mit einem Beispiel noch weiter zu verdeutlichen. Wenn ein Kind einsam in dunkler Nacht durch den Wald gehen muss, fürchtet es sich, auch wenn man ihm noch so überzeugend bewiesen hat, dass überhaupt nichts sei, wovor es sich zu fürchten brauche. Im Augenblick, wo es allein in der Finsternis ist und so Einsamkeit radikal erfährt, steht Furcht auf, die eigentliche Furcht des Menschen, die nicht Furcht vor etwas, sondern Furcht an sich ist. Die Furcht vor etwas Bestimmtem ist im Grunde harmlos, sie kann gebannt werden, indem man den betreffenden Gegenstand wegnimmt. Wenn jemand sich beispielsweise vor einem bissigen Hund fürchtet, kann man die Sache schnell bereinigen, indem man den Hund an die Kette nimmt. Hier stoßen wir auf etwas viel Tieferes: dass der Mensch da, wo er in letzte Einsamkeit gerät, sich fürchtet, nicht vor etwas Bestimmtem, das man wegbeweisen könnte; er erfährt vielmehr die Furcht der Einsamkeit, die Unheimlichkeit und Ausgesetztheit seines eigenen Wesens, die nicht rational überwindbar ist. Nehmen wir noch ein Beispiel hinzu: Wenn jemand nachts allein mit einem Toten in einem Zimmer wachen muss, wird er seine Lage immer irgendwie als unheimlich empfinden, selbst wenn er sich's nicht gestehen will und imstande ist, sich rational das Gegenstandslose seiner Empfindung begreiflich zu machen. Er weiß an sich genau, dass der Tote ihm nichts antun kann und dass seine Lage vielleicht viel gefährlicher wäre, wenn der Betreffende noch leben würde. Was hier aufsteht, ist eine völlig andere Art von Furcht, nicht Furcht vor etwas, sondern im Einsamsein mit dem Tod das Unheimliche der Einsamkeit an sich, die Ausgesetztheit der Existenz. (Fs)

282a Wie aber, so müssen wir nun fragen, kann solche Furcht überwunden werden, wenn der Beweis der Gegenstandslosigkeit ins Leere zielt? Nun, das Kind wird seine Furcht verlieren in dem Augenblick, in dem eine Hand da ist, die es nimmt und führt, eine Stimme, die mit ihm redet; in dem Augenblick also, in dem es das Mitsein eines liebenden Menschen erfährt. Und auch derjenige, der mit dem Toten einsam ist, wird die Anwandlung der Furcht verschwinden fühlen, wenn ein Mensch mit ihm ist, wenn er die Nähe eines Du erfährt. In dieser Überwindung der Furcht enthüllt sich zugleich noch einmal ihr Wesen: dass sie die Furcht der Einsamkeit ist, die Angst eines Wesens, das nur im Mitsein leben kann. Die eigentliche Furcht des Menschen kann nicht durch den Verstand, sondern nur durch die Gegenwart eines Liebenden überwunden werden. (Fs)

282b Wir müssen unsere Frage noch weiter fortsetzen. Wenn es eine Einsamkeit gäbe, in die kein Wort eines anderen mehr verwandelnd eindringen könnte; wenn eine Verlassenheit aufstünde, die so tief wäre, dass dorthin kein Du mehr reichte, dann wäre die eigentliche, totale Einsamkeit und Furchtbarkeit gegeben, das, was der Theologe »Hölle« nennt. Was dieses Wort bedeutet, können wir von hier aus genau definieren: Es bezeichnet eine Einsamkeit, in die das Wort der Liebe nicht mehr dringt und die damit die eigentliche Ausgesetztheit der Existenz bedeutet. Wem fiele in diesem Zusammenhang nicht ein, dass Dichter und Philosophen unserer Zeit der Meinung sind, im Grunde blieben alle Begegnungen zwischen Menschen an der Oberfläche; kein Mensch habe zur eigentlichen Tiefe des anderen Zutritt? Niemand kann danach wirklich ins Innerste des anderen hineinreichen; jede Begegnung, wie schön sie auch scheint, betäubt im Grunde nur die unheilbare Wunde der Einsamkeit. Im tiefsten Grunde von unser aller Dasein würde so die Hölle, die Verzweiflung wohnen - die Einsamkeit, die ebenso unentrinnbar wie grauenvoll ist. Sartre hat bekanntlich seine Anthropologie von dieser Vorstellung her konstruiert. Aber auch ein so versöhnlicher und so heiter-gelassen erscheinender Dichter wie Hermann Hesse lässt im Grunde die gleichen Gedanken sichtbar werden:

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein!

283a In der Tat - eines ist gewiss: Es gibt eine Nacht, in deren Verlassenheit keine Stimme hinabreicht; es gibt eine Tür, durch die wir nur einsam schreiten können: das Tor des Todes. Alle Furcht der Welt ist im Letzten die Furcht dieser Einsamkeit. Von da aus ist es zu verstehen, weshalb das Alte Testament nur ein Wort für Hölle und Tod hat, das Wort Scheol: Beides ist ihm letztlich identisch. Der Tod ist die Einsamkeit schlechthin. Jene Einsamkeit aber, in die die Liebe nicht mehr vordringen kann, ist die Hölle. Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt, beim Glaubensartikel vom Abstieg in die Hölle. Dieser Satz besagt von hier aus, dass Christus das Tor unserer letzten Einsamkeit durchschritten hat, dass er in seiner Passion eingetreten ist in diesen Abgrund unseres Verlassenseins. Wo uns keine Stimme mehr erreichen kann, da ist Er. Damit ist die Hölle überwunden, oder genauer: der Tod, der vordem die Hölle war, ist es nicht mehr. Beides ist nicht mehr das Gleiche, weil mitten im Tod Leben ist, weil die Liebe mitten in ihm wohnt. Nur noch die gewollte Selbstverschließung ist jetzt Hölle oder, wie die Bibel sagt: zweiter Tod (etwa Apk 20,14). Das Sterben aber ist kein Weg in die eisige Einsamkeit mehr, die Pforten der Scheol sind geöffnet. Ich glaube, dass man von hier aus die vordergründig so mythologisch wirkenden Bilder der Väter verstehen kann, die vom Heraufholen der Toten, von der Öffnung der Pforten sprechen; auch der scheinbar so mythische Text des Matthäusevangeliums wird verständlich, der davon spricht, dass beim Tode Jesu die Gräber sich öffneten und die Leiber der Heiligen erstanden (Mt 27,52). Die Todestür steht offen, seit im Tode das Leben: die Liebe, wohnt... (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Politik, Gesellschaft: Verändern oder erhalten?; Conservator mundi - Salvator; Tao, Dharma - Glaube Israels : kosmische Ordnung, Stabilität - Ausrichtung auf Zukunft, Geschichte; Danielbuch, Menschensohn; Makkabäer, Bar Kochba

Kurzinhalt: Neu gegenüber den kosmischen Visionen, in denen einfach das Tao oder das Dharma selbst als die Macht des Göttlichen, als das "Göttliche" dastehen, ist also nicht nur das Erscheinen der nicht auf den Kosmos reduzierbaren Realität Geschichte, sondern ...

Textausschnitt: I Verändern oder erhalten?

Politische Visionen und Praxis der Politik

10a Für Politiker aller Parteien ist es heute selbstverständlich, dass sie Veränderungen - natürlich zum Besseren hin - versprechen. Während der ehedem mythische Glanz des Wortes Revolution gegenwärtig verblasst ist, werden um so entschiedener weitgreifende Reformen verlangt und verheißen. Daraus muss man schließen, dass in der modernen Gesellschaft ein tiefgehendes Gefühl des Unbefriedigtseins herrscht und dies gerade dort, wo Wohlstand und Freiheit eine bisher nicht gekannte Höhe erreicht haben. Die Welt wird als schwer erträglich empfunden, sie muss besser werden, und dies ins Werk zu setzen, erscheint als die Aufgabe der Politik. Da also nach allgemeiner Auffassung Weltverbesserung, das Heraufführen einer neuen Welt den wesentlichen Auftrag der Politik bildet, kann man auch verstehen, warum das Wort "konservativ" anrüchig geworden ist und kaum jemand leichthin als konservativ angesehen werden will: Es geht eben, so scheint es, nicht darum, den gegenwärtigen Zustand zu bewahren, sondern darum, ihn zu überwinden. (Fs)

1. Zwei Visionen des Auftrags der Politik: die Welt verändern oder ihre Ordnung erhalten
10b Mit dieser Grundorientierung steht die moderne Vorstellung von Politik, ja, vom Leben in dieser Welt überhaupt in deutlichem Gegensatz zu den Anschauungen früherer Perioden, für die gerade das Erhalten und das Verteidigen des Bestehenden gegenüber dessen Bedrohung als die große Aufgabe politischen Handelns galt. Hier mag eine kleine sprachliche Beobachtung erhellend sein. (Fs)

11a Als das Christentum in der römischen Welt nach einem Wort suchte, mit dem man bündig und für die Menschen verständlich ausdrücken konnte, was Jesus Christus für sie bedeutete, stieß man auf das Wort "Conservator mundi", mit dem in Rom die wesentliche Aufgabe und der höchste Dienst umschrieben wurde, der in der Menschheit zu leisten war. Aber gerade diesen Titel konnten und wollten die Christen nicht auf ihren Erlöser übertragen; gerade damit konnten sie das Wort Messias - Christus, den Dienst des Retters der Welt nicht übersetzen. Vom Gesichtspunkt des Römischen Reiches her musste es in der Tat als die wichtigste Aufgabe angesehen werden, das Ordnungsgefüge des Reiches gegenüber all seinen Bedrohungen von innen und außen zu erhalten, weil dieses Reich einen Raum des Friedens und des Rechts verkörperte, in dem Menschen in Sicherheit und Würde leben konnten. Tatsächlich haben die Christen - auch schon der apostolischen Generation - diese Garantie von Recht und Frieden zu schätzen gewusst, die das Römische Reich gewährte. Den Kirchenvätern lag angesichts des drohenden Chaos, das sich mit der Völkerwanderung ankündigte, durchaus am Erhalt des Reiches, seiner Rechtsgarantien, seiner Friedensordnung. (Fs)

11b Dennoch konnten die Christen nicht einfach wollen, dass alles bleibe, wie es war; die Apokalypse, die freilich mit ihrer Vorstellung vom Reich am Rande des Neuen Testaments steht, zeigte doch für alle deutlich auf, dass es auch das gab, was nicht erhalten werden durfte, sondern geändert werden musste. Dass Christus nicht als Conservator, sondern als Salvator bezeichnet wurde, hatte zwar durchaus keinen politisch-revolutionären Inhalt, zeigte aber doch die Grenzen des bloßen Bewahrens an und wies auf eine Dimension menschlicher Existenz hin, die über die Friedens- und Ordnungsfunktionen der Politik hinausreicht. (Fs)

11c Versuchen wir, diese Momentaufnahme einer Weise des Daseinsverständnisses des Auftrags der Politik etwas mehr ins Grundsätzliche zu erweitern. Hinter der Alternative, die sich uns im Gegenüber der Titel Conservator und Salvator bisher noch eher undeutlich gezeigt hatte, lassen sich tatsächlich zwei unterschiedene Visionen dessen erkennen, was politisches und ethisches Handeln bewirken soll und kann, wobei nicht nur Politik und Moral, sondern auch Politik, Religion und Moral auf je verschiedene Weise ineinander verschränkt erscheinen. (Fs)
12a Da gibt es einerseits die statische, auf Erhalten ausgerichtete Vision, die vielleicht am deutlichsten im chinesischen Universismus erscheint: Die Ordnung des Himmels, die ewig gleichbleibende, gibt auch dem Handeln auf Erden seine Maße vor. Es ist das Tao, das Gesetz des Seins und der Wirklichkeit, das die Menschen erkennen und im Handeln aufnehmen müssen. Das Tao ist ebenso kosmisches wie sittliches Gesetz. Es verbürgt die Harmonie von Himmel und Erde und so auch die Harmonie des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Unordnung, Störung des Friedens, Chaos entsteht, wo der Mensch sich gegen das Tao wendet, an ihm vorbei oder gegen es lebt. Dann muss gegen solche Störungen und Zerstörungen des gemeinschaftlichen Lebens wieder das Tao aufgerichtet und so die Welt wieder lebbar gemacht werden. Alles kommt darauf an, die beständige Ordnung gegenwärtig zu halten oder wieder zu ihr zurückzukehren, wo sie verlassen war. (Fs)

Ähnliches ist im indischen Begriff des Dharma ausgesagt, das ebenso kosmische wie ethische und soziale Ordnung bedeutet, der der Mensch sich einfügen muss, damit das Leben recht werde. Der Buddhismus hat diese zugleich kosmische, politische und religiöse Vision relativiert, indem er die ganze Welt als einen Kreislauf des Leidens erklärte; das Heil ist nicht im Kosmos, sondern im Heraustreten aus ihm zu suchen. Aber er hat keine neue politische Vision geschaffen, insofern das Heilsstreben nicht-weltlich -aufs Nirwana gerichtet - gefasst ist; für die Welt als solche werden neue Modelle nicht vorgeschlagen. (Fs)

12b Anders der Glaube Israels. Er kennt zwar mit dem noachitischen Bund auch so etwas wie eine kosmische Ordnung und die Verheißung ihrer Stabilität. Aber für den Glauben Israels selbst wird die Orientierung auf Zukunft hin immer deutlicher. Nicht das Immerwährende, das immer gleiche Heute, sondern das Morgen, die noch ausstehende Zukunft erscheint als der Raum des Heils. Das wohl im Lauf des zweiten Jahrhunderts vor Christus entstandene Danielbuch bietet zwei große geschichtstheologische Visionen, die für die weitere Entwicklung des politischen und des religiösen Denkens von größter Bedeutung wurden. Da findet sich im zweiten Kapitel die Vision von dem Standbild, das Teile aus Gold, Teile aus Silber, Teile aus Eisen und schließlich solche aus Ton umfasst. Diese vier Elemente zeigen eine Abfolge von vier Reichen an. Sie alle werden schließlich zermalmt durch einen Stein, der sich ohne Zutun von Menschenhand von einem Berg löst und das Ganze so zerstäubt, dass der Wind die Reste davonträgt und keine Spur davon übrigbleibt. Der Stein aber wird zum großen Berg und erfüllt die ganze Erde - Sinnbild eines Reiches, das der Gott des Himmels und der Erde errichten wird und das in Ewigkeit nicht untergeht (2,44). Im siebten Kapitel desselben Buches erscheint in einem vielleicht noch einprägsameren Bild die Abfolge der Reiche als das Nacheinander von vier Tieren, über die schließlich Gott - als "Hochbetagter" dargestellt - Gericht hält. Die vier Tiere - die Großreiche der Weltgeschichte - waren aus dem Meer aufgestiegen, das als Sinnbild für die Macht der Bedrohung des Lebens durch den Tod und seine Gewalten steht; nach dem Gericht aber kommt vom Himmel her der Mensch ("Menschensohn"), und ihm werden alle Völker, Nationen und Sprachen übergeben zu einem Reich, das ewig, unvergänglich ist und nie untergeht. (Fs)

13a Während in den Konzeptionen des Tao und des Dharma die ewigen Ordnungen des Kosmos eine Rolle spielen, die Idee "Geschichte" also gar nicht erscheint, ist hier nun "Geschichte" als eine eigene, nicht auf den Kosmos reduzierbare Realität gefasst, und mit dieser vorher gar nicht in den Blick gekommenen anthropologischen und dynamischen Realität eine ganz andere Vision eröffnet. Es ist offenkundig, dass eine solche Vorstellung von einer geschichtlichen Abfolge von Reichen, die gefräßige Tiere in immer schrecklicher werdenden Formen sind, sich nicht in einem der Herrschaftsvölker bilden konnte, sondern als ihren soziologischen Träger ein Volk voraussetzt, das sich selbst von der Gefräßigkeit dieser Tiere bedroht weiß und auch eine Abfolge von Mächten erlebt hat, die ihm das Existenzrecht streitig machen. Es ist die Vision von Unterdrückten, die Ausschau halten nach einer Wende der Geschichte und nicht an der Erhaltung des Bestehenden interessiert sein können. In der danielischen Vision kommt die Wende der Geschichte nicht durch politisches oder militärisches Handeln zustande - dafür fehlten einfach die nötigen Kräfte. Sie tritt ein durch ein Eingreifen Gottes allein: Der Stein, der die Reiche zerstört, löst sich "ohne Zutun von Menschenhand" von einem Berg (2,34). Die Kirchenväter sahen darin eine geheimnisvolle Vorausankündigung der Geburt Jesu aus der Jungfrau, allein durch Gottes Kraft; in Christus sehen sie den Stein, der schließlich selbst zum Berg wird und die Erde erfüllt. (Fs)

14a Neu gegenüber den kosmischen Visionen, in denen einfach das Tao oder das Dharma selbst als die Macht des Göttlichen, als das "Göttliche" dastehen, ist also nicht nur das Erscheinen der nicht auf den Kosmos reduzierbaren Realität Geschichte, sondern dies Dritte und zugleich Erste: ein handelnder Gott, auf den sich die Hoffnung der Unterdrückten richtet. Aber schon bei den Makkabäern, die ungefähr gleichzeitig mit den Danielvisionen anzusetzen sind, muss auch der Mensch durch politisches und militärisches Handeln selbst die Sache Gottes in die Hand nehmen; in Teilen der Qumran-Literatur wird die Verschmelzung von theologischer Hoffnung und eigenem menschlichen Handeln noch deutlicher. Endlich bedeutet der Kampf von Bar Kochba eine klare Politisierung des Messianismus: Gott bedient sich für die Wende eines "Messias", der im Auftrag und mit der Vollmacht Gottes in aktivem politischem und militärischem Handeln das Neue herbeiführt. Das Sacrum imperium der Christen hat sowohl, in seiner byzantinischen wie in seiner lateinischen Variante solche Vorstellungen nicht aufnehmen können und wollen, vielmehr wieder auf die Erhaltung der nun christlich begründeten Weltordnung gesetzt, freilich mit der Vision, dass man im sechsten Zeitalter, dem Greisenalter der Geschichte stehe und dass dann die andere Welt kommen werde, die als Gottes achter Tag schon neben der Geschichte herlief und sie dann einmal definitiv ablösen werde. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Daniel; Messianismus - Neues Testament (zwei Textgruppen); Christentum - Staat; Revolutionär - Märtyrer, Postulat der Religionsfreiheit; christliche - gnostische Apokalyptik; Gnosis

Kurzinhalt: Die Geschichte ist sozusagen das Reich der Vernunft; die Politik errichtet nicht das Reich Gottes, wohl aber hat sie für das rechte Reich der Menschen zu sorgen, das heißt: die Voraussetzungen für inneren und äußeren Frieden ...

Textausschnitt: 3. Die Position der Schriften des Neuen Testaments

17a Wo steht nun aber, von Daniel und von den politischem Messianismen aus gesehen, der christliche Glaube? Was ist seine Vision von der Geschichte und für unser geschichtliches Handeln? Bevor ich versuchen kann, ein zusammenfassendes Urteil zu formulieren, müssen wir einen Blick auf die wichtigsten Texte des Neuen Testaments werfen. (Fs)

17b Man kann da ohne große Analysen leicht zwei Textgruppen unterscheiden: Auf der einen Seite stehen die Texte der Evangelien und der Apostelgeschichte, die höchstens von ferne Zusammenhänge mit der Apokalyptik erkennen lassen; auf der anderen Seite die Offenbarung des Johannes, die - wie schon der Name sagt -dem Strom der Apokalyptik zugehört. Es ist bekannt, dass die Texte der Apostelbriefe - in Übereinstimmung mit der in den Evangelien angedeuteten Sicht - vom Pathos der Revolution schlechterdings nicht berührt sind, ja, ihm klar entgegenstehen. Die beiden Grundtexte Röm 13,1-6 und 1 Petr 2,13-17 sind sehr eindeutig und von je her allen Revolutionären ein Dorn im Auge. Röm 13 verlangt, dass "jedermann" (wörtlich: jede Seele) sich den vorgesetzten Obrigkeiten unterwerfe, denn es gebe keine Obrigkeit außer von Gott her. Widersetzlichkeit gegenüber der Obrigkeit sei daher Widersetzlichkeit der Anordnung Gottes gegenüber. Unterordnen müsse man sich also nicht nur des Zwanges wegen, sondern vom Gewissen her. Ganz ähnlich verlangt der erste Petrusbrief Unterordnung unter die rechtmäßigen Obrigkeiten "um des Herrn willen": "Denn so ist es der Wille Gottes, dass ihr durch gute Taten den Unverstand der törichten Menschen zum Schweigen bringt, als freie Menschen, doch nicht als solche, die in der Freiheit einen Deckmantel sehen zum Bösen..." Weder Paulus noch Petrus drücken hier eine unkritische Verherrlichung des römischen Staates aus. So sehr sie auf dem göttlichen Ursprung der staatlichen Rechtsordnungen bestehen, sind sie weit von einer Divinisierung des Staates entfernt. Gerade weil sie die Grenzen des Staats sehen, der nicht Gott ist und sich nicht als Gott gerieren darf, erkennen sie seine Ordnungsfunktion und seine sittliche Qualität an. (Fs)

18a Sie stehen damit in guter biblischer Tradition - denken wir an Jeremia, der die verbannten Israeliten zur Loyalität gegenüber dem Unterdrückungsstaat Babylon auffordert, insofern dieser Staat Recht und Frieden garantiert und damit auch das relative Wohlergehen Israels, das die Bedingung seiner Wiederherstellung als Volk ist. Denken wir an Deutero-Jesaja, der sich nicht scheut, Kyros als den Gesalbten Gottes zu bezeichnen: Der König der Perser, der den Gott Israels nicht kennt und das Volk aus rein pragmatisch-politischen Erwägungen in die Heimat entlässt, handelt doch, weil er sich um die Herstellung des Rechts müht, als Werkzeug Gottes. Auf dieser Linie bewegt sich die Antwort Jesu an die Pharisäer und Herodianer über die Steuerfrage: Was des Kaisers ist, ist dem Kaiser zu geben (Mk 12,13-17). Insofern der römische Kaiser Garant des Rechts ist, hat er Anspruch auf Gehorsam; freilich wird gleichzeitig der Bereich der Gehorsamspflicht eingegrenzt: Es gibt das, was des Kaisers ist und das, was Gottes ist. Wo der Kaiser sich zum Gott erhebt, hat er seine Grenzen überschritten, und Gehorsam würde dann zur Verleugnung Gottes. Schließlich gehört hierher auch Jesu Antwort an Pilatus, in der der Herr gerade dem ungerechten Richter gegenüber doch anerkennt, dass die Gewalt zur Ausübung des Richteramtes, des Dienstes am Recht, nur von oben gegeben werden kann (Joh 19,11). (Fs)

18b Überblickt man diese Zusammenhänge, so wird eine sehr nüchterne Sicht des Staates deutlich: Es kommt nicht auf die persönliche Gläubigkeit oder die subjektiven guten Intentionen der Staatsorgane an. Sofern sie Frieden und Recht garantieren, entsprechen sie einer göttlichen Verfügung; in heutiger Terminologie würden wir sagen: Sie stellen eine Schöpfungsordnung dar. Gerade in seiner Profanität ist der Staat zu achten; er ist vom Wesen des Menschen als animal sociale et politicum her notwendig, in diesem menschlichen Wesen und damit schöpfungsmäßig begründet. In alledem ist zugleich eine Begrenzung des Staates enthalten: Er hat seinen Bereich, den er nicht überschreiten darf; er muss das höhere Recht Gottes respektieren. Die Verweigerung der Anbetung des Kaisers und überhaupt die Verweigerung des Staatskultes ist im Grunde einfach die Ablehnung des totalitären Staates. (Fs)

19a Im ersten Petrusbrief kommt diese Unterscheidungslinie sehr deutlich zum Vorschein, wenn der Apostel sagt: "Keiner von euch soll leiden als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als Ehebrecher. Leidet er dagegen als Christ, so schäme er sich nicht, sondern verherrliche Gott in diesem Namen" (4,15f). Der Christ ist an die Rechtsordnung des Staates als eine sittliche Ordnung gebunden. Etwas anderes ist es, wenn er "als Christ" leidet: Wo der Staat das Christsein als solches unter Strafe stellt, waltet er nicht mehr als Wahrer, sondern als Zerstörer des Rechts. Dann ist es keine Schande, sondern eine Ehre, bestraft zu werden. Wer so leidet, der steht gerade im Leiden in der Nachfolge Christi: Der gekreuzigte Christus zeigt die Grenze staatlicher Gewalt an und zeigt, wo seine Rechte enden und der Widerstand im Leiden zur Notwendigkeit wird. Der Glaube des Neuen Testaments kennt nicht den Revolutionär, sondern den Märtyrer: Der Märtyrer anerkennt die Autorität des Staates, er kennt aber auch seine Grenzen. Sein Widerstand besteht darin, dass er alles tut, was dem Recht und der geordneten Gemeinschaft dient, auch wenn es von glaubensfremden oder -feindlichen Autoritäten kommt, dass er aber da nicht gehorcht, wo ihm geboten wird, das Böse zu tun, das heißt sich dem Willen Gottes entgegenzusetzen. Sein Widerstand ist nicht der Widerstand aktiver Gewalt, sondern der Widerstand dessen, der für Gottes Willen zu leiden bereit ist: Der Widerstandskämpfer, der mit der Waffe in der Hand stirbt, ist kein Märtyrer im Sinn des Neuen Testaments. (Fs)

19b Dieselbe Linie zeigt sich auch, wenn wir auf weitere Texte des Neuen Testaments hinschauen, die zum Problem der christlichen Haltung zum Staat Stellung nehmen. Tit 3,1 sagt: "Ermahne sie, den obrigkeitlichen Gewalten Untertan und gehorsam zu sein, bereit zu jedem guten Werk..." Sehr bezeichnend ist 2 Thess 3,10-12, wo der Apostel sich gegen diejenigen wendet, die - wohl mit dem Vörwand der christlichen Erwartung der Wiederkunft des Herrn - nicht arbeiten und nichts Nützliches tun wollen. Sie werden demgegenüber zu ruhiger Arbeit ermahnt, denn "wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen". Die schwärmerische Eschatologie wird höchst nüchtern in die Schranken gewiesen. Ein wichtiger Aspekt erscheint auch in 1 Tim 2,2, wo die Christen ermahnt werden, für den König und alle Obrigkeiten zu beten, "damit wir ein ruhiges und ungestörtes Leben führen können."
20a Zweierlei wird hier deutlich: Die Christen beten für den König und für die Obrigkeit, aber nicht zum König. Der Text fällt entweder - wenn er von Paulus stammt - in die Zeit des Nero oder, wenn er später anzusetzen ist, etwa in die Zeit Domitians, also zweier christenfeindlicher Tyrannen. Trotzdem beten die Christen für den Herrscher, damit er seinen Auftrag erfüllen kann. Wo er sich freilich zum Gott macht, verweigern sie den Gehorsam. Das Zweite besteht darin, dass auf eine außerordentlich nüchterne, beinahe banal wirkende Art die Aufgabe des Staates formuliert wird: Er hat für den inneren und äußeren Frieden zu sorgen. Das mag, wie gesagt, eher banal klingen, aber darin ist doch ein wesentlicher moralischer Anspruch ausgedrückt: Innerer und äußerer Friede sind nur möglich, wenn die wesentlichen Rechtsgüter des Menschen und der Gemeinschaft gesichert sind. (Fs)

20b Versuchen wir nun möglichst kurz, diese Aussagen den Perspektiven zuzuordnen, denen wir vorher begegnet waren. Mir scheint, man könne zweierlei sagen. Das dynamisierte Geschichtsbild der Apokalyptik und der messianischen Hoffnungen tritt nur indirekt in Erscheinung; der Messianismus ist durch die Gestalt Jesu wesentlich modifiziert. Er bleibt insofern politisch relevant, als er den Punkt markiert, an dem das Martyrium notwendig und damit der Anspruch des Staates begrenzt wird. Jedes Martyrium aber steht unter der Verheißung des auferstandenen und wiederkommenden Christus; es weist insofern über die bestehende Welt hinaus auf eine neue, endgültige Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander. Aber diese Begrenzung der Reichweite des Staates und diese Eröffnung des Horizonts einer künftigen neuen Welt hebt die bestehenden staatlichen Ordnungen nicht auf, die auf der Basis der natürlichen Vernunft und ihrer Logik weiter walten müssen und gültige Ordnungen für die Zeit der Geschichte sind. Ein schwärmerischer eschatologisch-revolutionärer Messianismus ist dem Neuen Testament absolut fremd. Die Geschichte ist sozusagen das Reich der Vernunft; die Politik errichtet nicht das Reich Gottes, wohl aber hat sie für das rechte Reich der Menschen zu sorgen, das heißt: die Voraussetzungen für inneren und äußeren Frieden und für eine Gerechtigkeit zu schaffen, in der alle "ein ungestörtes und ruhiges Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" (1 Tim 2,2). Man könnte sagen, dass darin auch das Postulat der Religionsfreiheit ausgesprochen ist, wie umgekehrt der Vernunft zugetraut wird, die wesentlichen moralischen Grundlagen des Menschseins zu erkennen und politisch zur Wirkung zu bringen. Insofern gibt es da eine Gemeinsamkeit mit den Positionen, die das Tao oder das Dharma zur Grundlage des Staates erklären. Deswegen konnten sich die Christen mit der stoischen Idee des sittlichen Naturgesetzes befreunden, das ähnliche Auffassungen im Kontext griechischer Philosophie zur Geltung brachte. Die besonders im Danielbuch sichtbare Dynamisierung der Geschichte, die die Geschichte nicht einfach kosmisch sieht, sondern als Dynamik von gut und böse in fortschreitender Bewegung interpretiert, bleibt durch die messianische Hoffnung präsent. Sie verdeutlicht die sittlichen Maßstäbe der Politik und zeigt die Grenzen der politischen Macht an; durch den Horizont der Hoffnung, den sie über der Geschichte und in ihr sichtbar werden lässt, gibt sie den Mut zum rechten Handeln und zum rechten Leiden. Insofern kann man von einer Synthese von kosmischer und geschichtlicher Sicht sprechen. (Fs)

21a Ich glaube, dass man von hier aus sogar genau definieren kann, wo die Grenze zwischen christlicher und nichtchristlicher, gnostischer Apokalyptik verläuft. Christlich ist Apokalyptik dann, wenn sie den Zusammenhang mit dem Schöpfungsglauben wahrt; wo der Schöpfungsglaube, seine Konstanz und sein Vertrauen auf die Vernunft aufgegeben wird, da ist der Umschlag vom christlichen Glauben zur Gnosis vollzogen. Innerhalb dieser Grundentscheidungen gibt es zweifellos eine große Bandbreite von Variationen, aber doch eine gemeinsame Grundoption. Eine Analyse der Texte, die hier nicht möglich ist, könnte zeigen, dass die Apokalypse des Johannes, so sehr ihr Pathos des Widerstandes sie von den apostolischen Schriften unterscheidet, ganz klar innerhalb der christlichen Option verbleibt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Politischen Mythen, Ideologien heute: Fortschritt, Wissenschaft, Freiheit;

Kurzinhalt: Schließlich steht da der Begriff der Freiheit ... Menschliche Freiheit kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, andernfalls wird sie zur Lüge und führt zur Sklaverei.

Textausschnitt: 4. Konsequenzen für den Einsatz der Christen in der Politik

22a Was folgt aus alledem für den Zusammenhang von politischer Vision und politischer Praxis heute? Darüber wäre ohne Zweifel ein weit gespannter Disput zu führen, für den ich mich nicht zuständig fühle. Aber in zwei Thesen möchte ich möglichst kurz Hinweise für die Übersetzung dieser Vorgaben ins Heute versuchen. (Fs)

1. Die Politik ist das Reich der Vernunft, und zwar einer nicht bloß technisch-kalkulatorischen, sondern der moralischen Vernunft, da das Staatsziel und so das letzte Ziel aller Politik moralischer Natur ist, nämlich Friede und Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass immer wieder die moralische Vernunft oder - vielleicht besser - die vernünftige Einsicht in das, was der Gerechtigkeit und dem Frieden dient, also moralisch ist, in Gang gebracht und gegen Verdunklungen verteidigt werden muss, die die moralische Einsichtsfähigkeit der Vernunft lahmen. Die Parteilichkeit, die sich der Macht verbündet, wird immer wieder in unterschiedlichen Formen Mythen produzieren, die sich als der wahre Weg des Moralischen in der Politik präsentieren, in Wahrheit aber Blendungen und Verblendungen der Macht sind. (Fs) (notabene)

22b Wir haben im abgelaufenen Jahrhundert zwei große Mythenbildungen mit schrecklichen Folgen erlebt: den Rassismus mit seiner verlogenen Heilsverheißung von Seiten des Nationalsozialismus; die Divinisierung der Revolution auf dem Hintergrund des dialektischen Geschichtsevolutionismus; beide Male wurden die moralischen Ureinsichten des Menschen über gut und böse außer Kraft gesetzt. Alles, was der Herrschaft der Rasse bzw. alles, was der Heraufführung der zukünftigen Welt dient, ist gut - so wurde uns gesagt -, auch wenn es nach den bisherigen Einsichten der Menschheit als schlecht zu gelten hätte. (Fs)

23a Nach dem Abtreten der großen Ideologien sind heute die politischen Mythen weniger deutlich umschrieben, aber es gibt auch heute Formen der Mythisierung von wirklichen Werten, die gerade dadurch glaubwürdig erscheinen, dass sie sich an echte Werte heften, aber eben doch auch dadurch gefährlich sind, dass sie diese Werte in einer mythisch zu nennenden Weise vereinseitigen. Ich würde sagen, dass heute drei Werte im allgemeinen Bewusstsein führend sind, deren mythische Vereinseitigung zugleich die Gefährdung der moralischen Vernunft im Heute darstellt. Diese drei immer wieder mythisch vereinseitigten Werte sind Fortschritt, Wissenschaft, Freiheit. (Fs) (notabene)

Fortschritt ist nach wie vor ein geradezu mythisches Wort, das sich als Norm politischen und allgemein menschlichen Handelns aufdrängt und als dessen höchste moralische Qualifikation erscheint. Wer den Weg auch nur der letzten hundert Jahre überblickt, kann nicht leugnen, dass ungeheure Fortschritte in der Medizin, in der Technik, im Verstehen und in der Nutzung der Kräfte der Natur erzielt worden sind und weitere Fortschritte erhofft werden dürfen. Allerdings liegt auch die Ambivalenz dieses Fortschritts zutage: Der Fortschritt fängt an, die Schöpfung - die Basis unserer Existenz - zu gefährden; er produziert Ungleichheit unter den Menschen, und er produziert auch immer neue Bedrohungen von Welt und Mensch. Insofern sind moralische Steuerungen des Fortschritts unerlässlich. Nach welchen Maßstäben?

23b Das ist die Frage. Vor allem aber muss klar gesehen werden, dass der Fortschritt sich ja auf den Umgang des Menschen mit der materiellen Welt erstreckt und nicht als solcher - wie Marxismus und Liberalismus gelehrt hatten - den neuen Menschen, die neue Gesellschaft hervorbringt. Der Mensch als Mensch bleibt sich in primitiven wie in technisch entwickelten Situationen gleich und steht nicht einfach deshalb höher, weil er mit besser entwickelten Geräten umzugehen gelernt hat. Das Menschsein beginnt in allen Menschen neu. Deswegen kann es die endgültig neue, fortgeschrittene und heile Gesellschaft nicht geben, auf die nicht bloß die großen Ideologien gehofft haben, sondern die - nachdem die Hoffnung auf das Jenseits abgebaut wurde - immer mehr zum allgemeinen Hoffnungsziel wird. Eine endgültig heile Gesellschaft würde das Ende der Freiheit voraussetzen. Weil aber der Mensch immer frei bleibt, in jeder Generation neu beginnt, darum muss auch die rechte Form der Gesellschaft immer neu in den je neuen Bedingungen errungen werden. Das Reich der Politik ist deshalb die Gegenwart und nicht die Zukunft - die Zukunft nur insoweit, als die heutige Politik Formen des Rechts und des Friedens zu schaffen versucht, die auch morgen standhalten können und zu entsprechenden Neugestaltungen einladen, die das Errungene aufnehmen und fortführen. Aber garantieren können wir das nicht. Ich denke, dass es sehr wesentlich ist, diese Grenzen des Fortschritts ins Bewusstsein zu rücken und falsche Ausflucht in die Zukunft abzubauen. (Fs)

24a An zweiter Stelle nenne ich den Begriff Wissenschaft. Wissenschaft ist ein hohes Gut, gerade deshalb weil sie kontrollierte und von Erfahrung bestätigte Form von Rationalität ist. Aber es gibt auch Pathologien der Wissenschaft, Verzwecklichung ihres Könnens für die Macht, in denen zugleich der Mensch entehrt wird. Wissenschaft kann auch der Unmenschlichkeit dienen, ob wir an die Massenvernichtungswaffen denken oder an Menschenversuche oder an die Behandlung des Menschen als Organvorrat usw. Deswegen muss klar sein, dass auch die Wissenschaft moralischen Maßstäben untersteht und ihr wahres Wesen immer dann verlorengeht, wenn sie sich statt der Menschenwürde der Macht oder dem Kommerz oder einfach dem Erfolg als einzigem Maßstab verschreibt. (Fs)

Schließlich steht da der Begriff der Freiheit. Auch er hat in der Neuzeit vielfach mythische Züge angenommen. Freiheit wird nicht selten anarchisch und einfach antiinstitutionell gefasst und wird damit zu einem Götzen: Menschliche Freiheit kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, andernfalls wird sie zur Lüge und führt zur Sklaverei. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Mythos, Ideologie: Mehrheitsentscheid - Naturrecht; Dekalog; inhaltlich unbestimmt: Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Gleichheit

Kurzinhalt: Die Trias Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung ist allgemein anerkannt, freilich inhaltlich völlig unbestimmt: Was dient dem Frieden? Was ist Gerechtigkeit? ... Gleichheit der Menschen gegenüber dem Rassismus, die gleiche Würde der Geschlechter,

Textausschnitt: 24b
2. Das Ziel aller immer von neuem nötigen Entmythisierungen ist die Freigabe der Vernunft zu sich selbst. Hier muss aber noch einmal ein Mythos entlarvt werden, der uns erst vor die letzte entscheidende Frage vernünftiger Politik stellt: Der Mehrheitsentscheid ist in vielen Fällen, vielleicht in den allermeisten der "vernünftigste" Weg, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Aber die Mehrheit kann kein letztes Prinzip sein; es gibt Werte, die keine Mehrheit außer Kraft zu setzen das Recht hat. Die Tötung Unschuldiger kann nie Recht werden und von keiner Macht zu Recht erhoben werden. Auch hier geht es letztlich um die Verteidigung der Vernunft: Die Vernunft, die moralische Vernunft, steht über der Mehrheit. Aber wie können diese letzten Werte erkannt werden, die die Grundlage jeder "vernünftigen", jeder moralisch rechten Politik sind und daher über allen Wechsel der Mehrheiten hinaus alle binden? Welche Werte sind das?

25a Die Staatslehre hat sowohl im Altertum und Mittelalter wie gerade auch in den Gegensätzen der Neuzeit an das Naturrecht appelliert, das die recta ratio erkennen kann. Aber heute scheint diese recta ratio nicht mehr zu antworten, und Naturrecht wird nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als eine katholische Sonderlehre betrachtet. Dies bedeutet eine Krise der politischen Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist. Es scheint nur noch die parteiliche Vernunft, nicht mehr die wenigstens in den großen Grundordnungen der Werte gemeinsame Vernunft aller Menschen zu geben. An der Überwindung dieses Zustandes zu arbeiten, ist eine vordringliche Aufgabe aller, die für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt Verantwortung tragen - und das sind wir im letzten doch alle. Dieses Mühen ist keineswegs aussichtslos, eben deshalb nicht, weil die Vernunft sich selbst immer wieder gegen die Macht und die Parteilichkeit zu Worte melden wird. (Fs) (notabene)

25b Es gibt heute einen veränderten Wertekanon, der praktisch nicht bestritten ist, aber allerdings zu unbestimmt bleibt und blinde Stellen aufweist. Die Trias Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung ist allgemein anerkannt, freilich inhaltlich völlig unbestimmt: Was dient dem Frieden? Was ist Gerechtigkeit? Wie bewahrt man die Schöpfung am besten? Andere praktisch allgemein anerkannte Werte sind die Gleichheit der Menschen gegenüber dem Rassismus, die gleiche Würde der Geschlechter, die Freiheit des Denkens und des Glaubens. Auch hier gibt es inhaltliche Undeutlichkeiten, die sogar wieder zur Bedrohung der Freiheit des Denkens und des Glaubens werden können, aber die Grundrichtungen sind zu bejahen und sind wichtig. (Fs) (notabene)

26a Ein wesentlicher Punkt bleibt kontrovers: das Recht zu leben für jeden, der Mensch ist, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen. Im Namen der Freiheit und im Namen der Wissenschaft werden hier immer mehr gravierendere Lücken in dieses Recht gerissen: Wo Abtreibung als Freiheitsrecht angesehen wird, ist die Freiheit des Einen über das Lebensrecht des Anderen gestellt. Wo Menschenversuche mit Ungeborenen im Namen der Wissenschaft eingefordert werden, ist die Würde des Menschen in den Wehrlosesten geleugnet und getreten. Hier müssen die Entmythisierungen der Begriffe Freiheit und Wissenschaft Platz greifen, wenn wir nicht die Grundlagen allen Rechts, die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde verlieren wollen. (Fs)

Ein zweiter blinder Punkt besteht in der Freiheit, das zu verhöhnen, was anderen heilig ist. Gottlob kann sich bei uns niemand erlauben, das zu verspotten, was Juden oder was Moslems heilig ist. Aber zu den grundlegenden Freiheitsrechten zählt man das Recht, das Heilige der Christen in den Staub zu ziehen und mit Spott zu überschütten. Und endlich ist da ein weiterer dunkler Punkt: Ehe und Familie erscheinen nicht länger als grundlegende Werte einer modernen Gesellschaft. Eine Vervollständigung der Wertetafel und eine Entmythisierung von mythisch entstellten Werten ist dringend geboten. (Fs)

26b Bei meinem Disput mit dem Philosophen Arcais de Flores kam gerade dieser Punkt - die Grenze des Konsensprinzips - zur Sprache. Der Philosoph konnte nicht leugnen, dass es Werte gibt, die auch für Mehrheiten nicht zur, Debatte stehen dürfen. Aber welche? Angesichts dieses Problems hat der Moderator des Disputs, Gad Lemer, die Frage gestellt: Warum nicht den Dekalog zum Maßstab nehmen? Und in der Tat - der Dekalog ist nicht ein Sonderbesitz der Christen oder der Juden. Er ist ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft, der sich als solcher weithin auch mit der Weisheit der anderen großen Kulturen trifft. Am Dekalog wieder Maß zu nehmen, könnte gerade für die Heilung der Vernunft, für das neue Aktivwerden der recta ratio wesentlich sein. (Fs)

27a Hier wird nun auch deutlich, was der Glaube zur rechten Politik beitragen kann: Er ersetzt nicht die Vernunft, aber er kann zur Evidenz der wesentlichen Werte beitragen. Durch das Experiment des Lebens im Glauben gibt er ihnen Glaubwürdigkeit, die dann auch die Vernunft erleuchtet und heilt. Im vergangenen Jahrhundert hat - wie in allen Jahrhunderten - gerade das Zeugnis der Märtyrer die Ekzesse der Macht begrenzt und so entscheidend zur Genesung der Vernunft beigetragen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Voraussetzungen des Rechts: Recht - Natur - Vernunft; doppelter Bruch der Neuzeit: Entdeckungen (Francisco de Vitoria, "ius gentium"), Glaubensspaltung (Grotius, Pufendorf); Menschenrechte (Rest d. Naturrechts)

Kurzinhalt: Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen.

Textausschnitt: 3. Voraussetzungen des Rechts: Recht - Natur - Vernunft

34a Zunächst legt sich ein Blick in geschichtliche Situationen nahe, die der unseren vergleichbar sind, soweit es Vergleichbares gibt. Immerhin lohnt sich ein ganz kurzer Blick darauf, dass Griechenland seine Aufklärung kannte, dass das götterbegründete Recht seine Evidenz verlor und nach tieferen Gründen des Rechts gefragt werden musste. So kam der Gedanke auf: Gegenüber dem gesetzten Recht, das Unrecht sein kann, muss es doch ein Recht geben, das aus der Natur, dem Sein des Menschen selbst folgt. Dieses Recht muss gefunden werden und bildet dann das Korrektiv zum positiven Recht. (Fs)

Uns näher liegend ist der Blick auf den doppelten Bruch, der zu Beginn der Neuzeit für das europäische Bewusstsein eingetreten ist und zu den Grundlagen neuer Reflexion über Inhalt und Quelle des Rechts nötigte. Da ist zuerst der Ausbruch aus den Grenzen der europäischen, der christlichen Welt, der sich mit der Entdeckung Amerikas vollzieht. Nun begegnet man Völkern, die nicht dem christlichen Glaubens- und Rechtsgefüge zugehören, das bisher die Quelle des Rechts für alle war und ihm seine Gestalt gab. Es gibt keine Rechtsgemeinsamkeit mit diesen Völkern. Aber sind sie dann rechtlos, wie manche damals behaupteten und wie es weithin praktiziert wurde, oder gibt es ein Recht, das alle Rechtssysteme überschreitet, Menschen als Menschen in ihrem Zueinander bindet und weist? Francisco de Vitoria hat in dieser Situation die Idee des "ius gentium", des "Rechts der Völker", die schon im Raum stand, entwickelt, wobei in dem Wort "gentes" die Bedeutung Heiden, Nichtchristen, mitschwingt. Gemeint ist also das Recht, das der christlichen Rechtsgestalt vorausliegt und ein rechtes Miteinander aller Völker zu ordnen hat. (Fs)

34b Der zweite Bruch in der christlichen Welt vollzog sich innerhalb der Christenheil Selbst durch die Glaubensspaltung, durch die die Gemeinschaft der Christen in einander - zum Teil feindselig - gegenüberstehende Gemeinschaften aufgefächert worden ist. Wiederum ist ein dem Dogma vorausgehendes gemeinsames Recht, wenigstens ein Rechtsminimum, zu entwickeln, dessen Grundlagen nun nicht mehr im Glauben, sondern in der Natur, in der Vernunft des Menschen liegen müssen. Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und andere haben die Idee des Naturrechts als eines Vernunftrechts entwickelt, das über Glaubensgrenzen hinweg die Vernunft als das Organ gemeinsamer Rechtsbildung in Kraft setzt. (Fs)

35a Das Naturrecht ist - besonders in der katholischen Kirche - die Argumentationsfigur geblieben, mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht. Aber dieses Instrument ist leider stumpf geworden, und ich möchte mich daher in diesem Gespräch nicht darauf stützen. Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen. Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt: Das ist die Diagnose, die uns von dort gestellt wird und die heute weithin unwidersprechlich scheint1. Von den verschiedenen Dimensionen des Naturbegriffs, die dem ehemaligen Naturrecht zugrunde lagen, ist so nur diejenige übrig geblieben, die Ulpian (frühes 3. Jahrhundert nach Christus) in den bekannten Satz fasste: "Ius naturae est, quod natura omnia animalia docet."2 Aber das gerade reicht für unsere Fragen nicht aus, in denen es eben nicht um das geht, was alle "animalia" betrifft, sondern um spezifisch menschliche Aufgaben, die die Vernunft des Menschen geschaffen hat und die ohne Vernunft nicht beantwortet werden können. (Fs)

36a Als letztes Element des Naturrechts, das im Tiefsten ein Vernunftrecht sein wollte, jedenfalls in der Neuzeit, sind die Menschenrechte stehen geblieben. Sie sind nicht verständlich ohne die Voraussetzung, dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind. Vielleicht müsste heute die Lehre von den Menschenrechten um eine Lehre von den Menschenpflichten und von den Grenzen des Menschen ergänzt werden, und das könnte nun doch die Frage erneuern helfen, ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben könne. Ein solches Gespräch müsste heute interkulturell ausgelegt und angelegt werden. Für Christen hätte es mit der Schöpfung und dem Schöpfer zu tun. In der indischen Welt entspräche dem der Begriff des "Dharma", der inneren Gesetzlichkeit des Seins, in der chinesischen Überlieferung die Idee der Ordnungen des Himmels. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Interkulturalität (de facto: keine universale Menschenbilder); Spannung in den großen Kulturräumen; Weltformel, Weltethos als Abstraktion

Kurzinhalt: ... die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen ... gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar. Deswegen bleibt auch das sogenannte Weltethos eine Abstraktion.

Textausschnitt: 4. Interkulturalität und ihre Folgen

36b Bevor ich versuche, zu Schlussfolgerungen zu kommen, möchte ich die eben gelegte Spur noch ein wenig ausweiten. Interkulturalität erscheint mir heute eine unerlässliche Dimension für die Diskussion um die Grundfragen des Menschseins zu bilden, die weder rein binnenchristlich noch rein innerhalb der abendländischen Vernunfttradition geführt werden kann. Beide sehen sich zwar ihrem Selbstverständnis nach für universal an und mögen es de iure auch sein. De facto müssen sie anerkennen, dass sie nur in Teilen der Menschheit angenommen und auch nur in Teilen der Menschheit verständlich sind. Die Zahl der konkurrierenden Kulturen ist freilich viel begrenzter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. (Fs)

37a Vor allem ist wichtig, dass es innerhalb der kulturellen Räume keine Einheitlichkeit mehr gibt, sondern dass alle kulturellen Räume durch tiefgreifende Spannungen innerhalb ihrer eigenen kulturellen Tradition geprägt sind. Im Westen ist das ganz offenkundig. Auch wenn die säkulare Kultur einer strengen Rationalität, von der uns Jürgen Habermas ein eindrucksvolles Bild gegeben hat, weithin dominant ist und sich als das Verbindende versteht, ist das christliche Verständnis der Wirklichkeit nach wie vor eine wirksame Kraft. Beide Pole stehen in unterschiedlicher Nähe oder Spannung, in gegenseitiger Lernbereitschaft oder in mehr oder weniger entschiedener Abweisung zueinander. (Fs)

Auch der islamische Kulturraum ist von ähnlichen Spannungen geprägt; vom fanatischen Absolutismus eines Bin Laden bis zu den Haltungen, die einer toleranten Rationalität offen stehen, reicht ein weiter Bogen. Der dritte große Kulturraum, die indische Kultur, oder besser, die Kulturräume des Hinduismus und des Buddhismus, sind wiederum von ähnlichen Spannungen geprägt, auch wenn sie, jedenfalls für unseren Blick, weniger dramatisch hervortreten. Auch diese Kulturen sehen sich sowohl dem Anspruch der westlichen Rationalität wie den Anfragen des christlichen Glaubens ausgesetzt, die beide darin präsent sind; sie assimilieren das eine wie das andere in unterschiedlichen Weisen und suchen dabei doch ihre eigene Identität zu wahren. Die Stammeskulturen Afrikas und die von bestimmten christlichen Theologien wieder wachgerufenen Stammeskulturen Lateinamerikas ergänzen das Bild. Sie erscheinen weithin als Infragestellung der westlichen Rationalität, aber auch als Infragestellung des universalen Anspruchs der christlichen Offenbarung. (Fs)

37b Was folgt aus alledem? Zunächst einmal, so scheint mir, die faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität, so sehr sie beide in der ganzen Welt und in allen Kulturen auf je ihre Weise mitprägend sind. Insofern scheint mir die Frage des Teheraner Kollegen, die Jürgen Habermas erwähnt hat, doch von einigem Gewicht zu sein, die Frage nämlich, ob nicht aus kulturvergleichender und religionssoziologischer Sicht die europäische Säkularisierung ein Sonderweg sei, der einer Korrektur bedürfe. Ich würde diese Frage nicht unbedingt, jedenfalls nicht notwendig, auf die Stimmungslage von Carl Schmitt, Martin Heidegger und Levi Strauss, sozusagen einer rationalitätsmüden europäischen Situation, reduzieren. (Fs)

38a Tatsache ist jedenfalls, dass unsere säkulare Rationalität, so sehr sie unserer westlich geformten Vernunft einleuchtet, nicht jeder Ratio einsichtig ist, dass sie als Rationalität, in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Ihre Evidenz ist faktisch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden, und sie muss anerkennen, dass sie als solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und daher in ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten, die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen, und die dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar. Deswegen bleibt auch das sogenannte Weltethos eine Abstraktion. (Fs) (notabene)

5. Ergebnisse

38b Was also ist zu tun? Hinsichtlich der praktischen Konsequenzen finde ich mich in weitgehender Übereinstimmung mit dem, was Jürgen Habermas über eine postsäkulare Gesellschaft, über die Lernbereitschaft und die Selbstbegrenzung nach beiden Seiten hin ausgeführt hat. Meine eigene Sicht möchte ich in zwei Thesen zusammenfassen und damit schließen. (Fs)

1. Wir hatten gesehen, dass es Pathologien in der Religion gibt, die höchst gefährlich sind und die es nötig machen, das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan anzusehen, von dem her sich Religioft immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muss, was übrigens auch die Vorstellung der Kirchenväter war.1 Aber in unseren Überlegungen hat sich auch gezeigt, dass es (was der Menschheit heute im allgemeinen nicht ebenso bewusst ist) auch Pathologien der Vernunft gibt, eine Hybris der Vernunft, die nicht minder gefährlich, sondern von ihrer potentiellen Effizienz her noch bedrohlicher ist: Atombombe, Mensch als Produkt. Deswegen muss umgekehrt auch die Vernunft an ihre Grenzen gemahnt werden und Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit lernen. Wenn sie sich völlig emanzipiert und diese Lernbereitschaft, diese Korrelationalität ablegt, wird sie zerstörerisch. (Fs)

39a Kurt Hübner hat kürzlich eine ähnliche Forderung formuliert und gesagt, es gehe bei einer solchen These unmittelbar nicht um "Rückkehr zum Glauben", sondern darum, "dass man sich von der epochalen Verblendung befreit, er (d.h. der Glaube) habe dem heutigen Menschen deswegen nichts mehr zu sagen, weil er seiner humanistischen Idee von Vernunft, Aufklärung und Freiheit widerspreche"2. Ich würde demgemäß von einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen. (Fs)

39b
2. Diese Grundregel muss dann praktisch, im interkulturellen Kontext unserer Gegenwart, konkretisiert werden. Ohne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität. Das kann und muss man ohne falschen Eurozentrismus sagen. Beide bestimmen die Weltsituation in einem Maß wie keine andere der kulturellen Kräfte. Aber das bedeutet doch nicht, dass man die anderen Kulturen als eine Art "quantité négligeable" beiseite schieben dürfte. Dies wäre nun doch eine westliche Hybris, die wir teuer bezahlen würden und zum Teil schon bezahlen. Es ist für die beiden großen Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen Korrelation hineinzunehmen, in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen, so dass ein universaler Prozess der Reinigungen wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Individuelle Freiheit und gemeinschaftliche Werte; F., Recht, das Gute; Demokratie - Mehrheitsprinzip; Bayle, 17. Jhdt.: gemeinsame Grundüberzeugungen; Nationalsozialismus, Fremdenfeindlichkeit, Nihilismus;

Kurzinhalt: Auch hier liegt letzten Endes ein Nihilismus zugrunde, der aus der Entleerung der Seelen kommt: In der nationalsozialistischen wie in der kommunistischen Diktatur gab es keine Handlung, die als in sich schlecht und immer unmoralisch angesehen worden wäre.

Textausschnitt: 2. Individuelle Freiheit und gemeinschaftliche Werte

43c Hier stehen wir vor der Frage, die Sacharow heute an uns stellt: Wie kann die freie Welt ihrer moralischen Verantwortung gerecht werden? Die Freiheit behält ihre Würde nur, wenn sie auf ihren sittlichen Grund und auf ihren sittlichen Auftrag bezogen bleibt. Eine Freiheit, deren einziger Inhalt in der Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung bestünde, wäre keine menschliche Freiheit; sie bliebe im Bereich des animalischen. Die inhaltslose Individualfreiheit hebt sich selber auf, weil die Freiheit des Einzelnen nur in einer Ordnung der Freiheiten bestehen kann. Freiheit bedarf eines gemeinschaftlichen Inhalts, den wir als die Sicherung der Menschenrechte definieren könnten. Nochmals anders ausgedrückt: Der Begriff der Freiheit verlangt seinem Wesen nach der Ergänzung durch zwei weitere Begriffe: das Recht und das Gute. Wir könnten sagen: Zu ihr gehört die Wahrnehmungsfähigkeit des Gewissens für die grundlegenden und jeden angehenden Wert der Menschlichkeit. (Fs) (notabene)

44a An dieser Stelle müssen wir das Denken Sacharows heute fortführen, um es angemessen in die Situation der Gegenwart zu übertragen. Sacharow hat bei aller Dankbarkeit für den Einsatz der freien Welt zu seinen Gunsten und zugunsten anderer Verfolgter das Versagen des Westens immer wieder in vielen politischen Vorgängen und an vielen persönlichen Schicksalen dramatisch erleben müssen. Er sah es nicht als seine Aufgabe an, die tieferen Gründe dafür zu analysieren, aber er hat doch deutlich gesehen, dass Freiheit häufig egoistisch und oberflächlich verstanden wird1. Freiheit kann man nicht nur für sich haben wollen; sie ist unteilbar und muss immer als Auftrag für die ganze Menschheit gesehen werden. Das bedeutet, dass man sie nicht ohne Opfer und Verzicht haben kann. Sie verlangt die Sorge darum, dass Moral als eine öffentliche und gemeinschaftliche Bindung so verstanden werde, dass man ihr - die an sich ohne Macht ist - die eigentliche Macht zuerkenne, die dem Menschen dient. Freiheit verlangt, dass die Regierungen und alle, die Verantwortung tragen, sich vor dem beugen, was aus sich wehrlos dasteht und keinen Zwang ausüben kann. (Fs)

44b An dieser Stelle liegt die Gefährdung der modernen Demokratien, mit der wir uns im Geiste Sacharows auseinander setzen müssen. Denn es ist schwer zu sehen, wie die Demokratie, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht, ohne einen ihr fremden Dogmatismus einzuführen, diejenigen moralischen Werte in Geltung halten kann, die von keiner Mehrheitsüberzeugung getragen werden. Rorty meint dazu, eine an der Mehrheit orientierte Vernunft schließe immer einige intuitive Ideen mit ein wie etwa die Ablehnung der Sklaverei. (Fs)

45a Noch weit optimistischer äußerte sich im 17. Jahrhundert P. Bayle. Am Ende der blutigen Kriege, in die die großen Glaubensstreitigkeiten Europa gestürzt hatten, meinte er, Metaphysik berühre das politische Leben nicht; es genüge die praktische Wahrheit. Es gebe nur eine einzige, universelle und notwendige Moral, die ein wahres und klares Licht sei, das alle Menschen wahrnehmen, sobald sie nur die Augen öffnen2. Bayles Ideen spiegeln die geistesgeschichtliche Situation seines Jahrhunderts: Die Einheit im Glauben war zerfallen, Wahrheiten des metaphysischen Bereichs waren nicht mehr als gemeinsames Gut festzuhalten. Aber noch waren die wesentlichen moralischen Grundüberzeugungen, mit denen das Christentum die Seelen geformt hatte, selbstverständliche Gewissheiten, die scheinbar von der Vernunft allein in ihrer reinen Evidenz wahrgenommen werden konnten. (Fs) (notabene)

45b Die Entwicklungen dieses Jahrhunderts haben uns gelehrt, dass es diese Evidenz als in sich ruhende und verlässige Grundlage aller Freiheit nicht gibt. Der Blick auf die wesentlichen Werte kann der Vernunft sehr wohl verloren gehen; auch die Intuition, auf die Rorty baut, hält nicht unbegrenzt. Die von ihm etwa angesprochene Einsicht, dass Sklaverei abzulehnen ist, bestand jahrhundertelang nicht, und wie leicht man von ihr wieder abfallen kann, zeigt die Geschichte der totalitären Staaten in unserem Jahrhundert mit hinlänglicher Deutlichkeit. Freiheit kann sich selbst aufheben, ihrer selbst überdrüssig werden, wenn sie leer geworden ist. Auch dies haben wir in unserem Jahrhundert erlebt, dass ein Mehrheitsentscheid dazu dient, die Freiheit außer Kraft zu setzen. (Fs)

45c Wenn Sacharow durch die Erfahrung von Naivität und Zynismus im Westen beunruhigt war, so steht dahinter dieses Problem einer leeren und richtungslosen Freiheit. Der strenge Positivismus, der sich in der Verabsolutierung des Mehrheitsprinzips ausdrückt, schlägt irgendwann unvermeidlich in Nihilismus um. Dieser Gefahr müssen wir entgegentreten, wenn es um die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte geht. (Fs)

46a Der Danziger Politiker Hermann Rauschning hat 1938 den Nationalsozialismus als Revolution des Nihilismus diagnostiziert: "Es gab und gibt kein Ziel, das nicht der Nationalsozialismus um der Bewegung willen jederzeit preiszugeben oder aufzustellen bereit wäre."3 Der Nationalsozialismus war nur ein Instrument, dessen sich der Nihilismus bediente, das er aber auch jederzeit wegzuwerfen und durch anderes zu ersetzen bereit war. Mir scheint, dass auch die Vorgänge, die wir im heutigen Deutschland mit einiger Beunruhigung beobachten, mit dem Etikett der Fremdenfeindlichkeit nicht hinlänglich erfasst werden können. Auch hier liegt letzten Endes ein Nihilismus zugrunde, der aus der Entleerung der Seelen kommt: In der nationalsozialistischen wie in der kommunistischen Diktatur gab es keine Handlung, die als in sich schlecht und immer unmoralisch angesehen worden wäre. Was den Zielen der Bewegung oder der Partei diente, war gut, wie unmenschlich es auch sein mochte. So ist schon über Jahrzehnte hin ein Zertreten des moralischen Sinnes vor sich gegangen, das zum vollständigen Nihilismus werden muss in dem Augenblick, in dem keines der vorherigen Ziele mehr galt und Freiheit nur als Möglichkeit stehen blieb, alles zu tun, was ein leer gewordenes Leben einen Augenblick spannend und interessant machen kann. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Relativismus - Demokratie; D.: rein formal vs. Wahrheit geht Praxis voraus; Kelsen, Pilatus, Jesus

Kurzinhalt: Der moderne Begriff von Demokratie scheint mit dem Relativismus unlöslich verbunden zu sein ... Die Menschenrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und dem Toleranzgebot, sie sind der Inhalt der Toleranz und der Freiheit.

Textausschnitt: 1. Relativismus als Voraussetzung der Demokratie

49a Nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme, die dem 20. Jahrhundert zunächst weithin sein Gepräge gegeben haben, hat sich heute in einem großen Teil der Erde die Überzeugung durchgesetzt, dass Demokratie zwar nicht die ideale Gesellschaft bewirkt, aber praktisch das einzig angemessene Regierungssystem ist. Sie verwirklicht Machtverteilung und Machtkontrolle und bietet damit die größtmögliche Gewähr gegen Willkür und Unterdrückung, für die Freiheit jedes Einzelnen und für die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn wir heute von Demokratie sprechen, denken wir vor allem an diese Güter: an die Machtbeteiligung aller, die Ausdruck von Freiheit ist. Keiner soll nur Objekt von Herrschaft, nur ein Beherrschter sein; jeder soll seinen Willen ins Ganze des politischen Handelns einbringen können. Nur als Mitbestimmende können auch wirklich alle freie Bürger sein. (Fs)

Das eigentliche Gut, das bei der Machtbeteiligung angestrebt wird, ist also die Freiheit und die Gleichheit aller. Weil aber Macht nicht beständig durch alle direkt ausgeübt werden kann, muss sie zeitweilig delegiert werden. Auch wenn diese Machtübertragung nur befristet, das heißt bis zu den nächsten Wahlen geschieht, so erheischt sie doch Kontrolle, damit der gemeinsame Wille derer bestimmend bleibt, die Macht übertragen haben, und nicht der Wille derer, die sie ausüben, sich verselbständigt. Manche machen an dieser Stelle halt und sagen: Wenn die Freiheit aller gesichert ist, dann ist das Ziel des Staates erreicht. (Fs) (notabene)

49b Auf diese Weise wird die Selbstverfügung des Individuums zum eigentlichen Ziel der Gemeinsamkeit erklärt; die Gemeinschaft habe eigentlich in sich gar keinen Wert, sondern sie wäre nur da, um den Einzelnen ihn selber sein zu lassen. Aber die inhaltslose Individualfreiheit, die so als höchstes Ziel erscheint, hebt sich selber auf, weil Einzelfreiheit nur in einer Ordnung der Freiheiten bestehen kann. Sie braucht ein Maß, sonst wird sie zur Gewalt gegen den anderen: Nicht ohne Grund führen diejenigen, die totalitäre Herrschaft anstreben, zunächst eine ordnungslose Freiheit der Einzelnen und einen Zustand des Kampfes aller gegen alle herbei, um sich dann mit ihrer Ordnung als die wahren Retter der Menschheit hinstellen zu können. Freikeit bedarf also eines Inhalts. Wir können ihn definieren als die Sicherung der Menschenrechte. Wir können ihn aber auch weitläufiger beschreiben als die Gewährleistung der Wohlfahrt des Ganzen wie des Gutes der Einzelnen: Der Beherrschte, das heißt derjenige, der Macht übertragen hat, "kann frei sein, wenn er in dem von den Herrschenden angestrebten Gemeingut sich selbst, das heißt sein eigenes Gut wiedererkennt"1. (Fs)

50a Durch diese Überlegung sind nun neben die Idee der Freiheit zwei weitere Begriffe getreten: das Recht und das Gute. Beide, das heißt die Freiheit als Lebensform der Demokratie und das Recht wie das Gute als ihr Inhalt, stehen in einer gewissen Spannung zueinander, die der wesentliche Gehalt des heutigen Ringens um die rechte Form von Demokratie und Politik überhaupt darstellt. (Fs)

50b Freilich denken wir zunächst einmal vor allem an die Freiheit als das wahre Gut des Menschen; alle anderen Güter erscheinen uns heute eher strittig und allzu leicht zu missbrauchen. Wir wollen nicht, dass der Staat uns eine bestimmte Idee des Guten aufdränge. Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir den Begriff des Guten durch den Begriff der Wahrheit verdeutlichen. Die Achtung der Freiheit jedes Einzelnen scheint uns heute ganz wesentlich darin zu bestehen, dass die Wahrheitsfrage nicht vom Staat entschieden wird: Wahrheit, also auch die Wahrheit über das Gute, erscheint nicht als gemeinschaftlich erkennbar. Sie ist strittig. Der Versuch, allen aufzuerlegen, was einem Teil der Bürger als Wahrheit erscheint, gilt daher als Knechtung der Gewissen: Der Begriff Wahrheit ist in die Zone der Intoleranz und des Antidemokratischen gerückt. Sie ist kein öffentliches, sondern nur ein privates Gut bzw. ein Gut von Gruppen, aber eben nicht des Ganzen. Anders ausgedrückt: Der moderne Begriff von Demokratie scheint mit dem Relativismus unlöslich verbunden zu sein; der Relativismus aber erscheint als die eigentliche Garantie der Freiheit, gerade auch ihrer wesentlichen Mitte - der Religions- und Gewissensfreiheit. (Fs)

51a Das ist heute uns allen durchaus einsichtig. Trotzdem stellt sich bei näherem Zusehen die Frage, ob es nicht doch einen nichtrelativistischen Kern auch in der Demokratie geben müsse: Ist sie denn nicht letztlich um die Menschenrechte herumgebaut, die unverletzlich sind, sodass gerade ihre Gewährung und Sicherung der tiefste Grund ist, warum Demokratie als nötig erscheint? Die Menschenrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und dem Toleranzgebot, sie sind der Inhalt der Toleranz und der Freiheit. Den anderen seines Rechtes zu berauben kann niemals Inhalt des Rechts werden und niemals Inhalt der Freiheit sein. Das bedeutet, dass ein Grundbestand an Wahrheit, nämlich an sittlicher Wahrheit, gerade für die Demokratie unverzichtbar zu sein scheint. Wir sprechen dabei heute lieber von Werten als von Wahrheit, um nicht mit dem Toleranzgedanken und dem demokratischen Relativismus in Konflikt zu geraten. Aber der eben gestellten Frage kann man durch diese terminologische Verschiebung nicht ausweichen, denn die Werte beziehen ihre Unantastbarkeit daraus, dass sie wahr sind und wahren Forderungen des menschlichen Wesens entsprechen. (Fs)

51b Umso mehr erhebt sich nun die Frage: Wie kann man diese gemeinschaftlich gültigen Werte begründen? Oder, in der heutigen Sprache gesagt: Wie sind die Grundwerte zu begründen, die nicht dem Spiel von Mehrheit und Minderheit unterworfen sind? Woher kennen wir sie? Was ist dem Relativismus entzogen, warum und wie?

51c Diese Frage bildet das Zentrum im heutigen Disput der politischen Philosophie, in unserem Ringen um die wahre Demokratie. Man kann etwas vereinfachend sagen, dass sich zwei Grundpositionen gegenüberstehen, die in verschiedenen Varianten auftreten und dabei auch zum Teil einander begegnen. Auf der einen Seite finden wir die radikal relativistische Position, die den Begriff des Guten (und damit erst recht den des Wahren) aus der Politik ganz ausscheiden will, weil freiheitsgefährdend. "Naturrecht" wird als metaphysikverdächtig abgelehnt, um den Relativismus konsequent durchzuhalten: Es gibt danach letztlich kein anderes Prinzip des Politischen als die Entscheidung der Mehrheit, die im staatlichen Leben an die Stelle der Wahrheit trete. Recht könne nur rein politisch verstanden werden, das heißt Recht sei, was von den dazu befugten Organen als Recht gesetzt wird. Demokratie wird demgemäß nicht inhaltlich, sondern rein formal definiert: als ein Gefüge von Regeln, die Mehrheitsbildung, Machtübertragung und Machtwechsel ermöglichen. Sie bestünde dann wesentlich im Mechanismus von Wahl und Abstimmung. (Fs) (notabene)

52a Dieser Auffassung steht die andere These gegenüber, dass die Wahrheit nicht Produkt der Politik (der Mehrheit) ist, sondern ihr vorangeht und sie erleuchtet: Nicht die Praxis schafft Wahrheit, sondern die Wahrheit ermöglicht rechte Praxis. Politik ist dann gerecht und freiheitsfördernd, wenn sie einem Gefüge von Werten und Rechten dient, das uns von der Vernunft gezeigt wird. Gegenüber dem ausdrücklichen Skeptizismus der relativistischen und positivistischen Theorien finden wir also hier ein Grundvertrauen in die Vernunft, die Wahrheit zeigen kann2. (Fs)

52b Das Wesen beider Positionen lässt sich sehr gut am Prozess Jesu zeigen, nämlich an der Frage, die Pilatus dem Erlöser stellt: "Was ist Wahrheit?" (Joh 18, 38). Kein Geringerer als der herausragende Vertreter der streng relativistischen Position, der später nach Amerika emigrierte österreichische Rechtslehrer Hans Kelsen, hat in einer Meditation dieses biblischen Textes seine Auffassung unmissverständlich dargelegt3. (Fs)

53a Wir werden auf seine Philosophie des Politischen noch einmal zurückkommen müssen; begnügen wir uns einstweilen mit dem Blick darauf, wie er den biblischen Text auslegt. (Fs)

53b Die Pilatus-Frage ist nach ihm Ausdruck für die notwendige Skepsis des Politikers. Darum ist die Frage irgendwie auch schon Antwort: Wahrheit ist unerreichbar. Dass Pilatus es so versteht, sieht man daran, dass er eine Antwort gar nicht erst abwartet, sondern sich stattdessen unmittelbar an die Menge wendet. So habe er nach Kelsen die Entscheidung des strittigen Falles dem Votum des Volkes unterworfen. Kelsen ist der Meinung, Pilatus habe hier als vollkommener Demokrat gehandelt. Da er nicht weiß, was gerecht ist, überlässt er es der Mehrheit, darüber zu entscheiden. Pilatus wird auf diese Weise in der Darstellung des österreichischen Gelehrten zur emblematischen Figur der relativistischen und skeptischen Demokratie, die sich nicht auf Werte und Wahrheit stützt, sondern auf Prozeduren. Dass im Falle Jesu ein unschuldiger Gerechter verurteilt wurde, scheint Kelsen nicht anzufechten. Es gibt eben keine andere Wahrheit als die der Mehrheit. Hinter sie zurückzufragen ist sinnlos. Kelsen geht an einer Stelle sogar so weit zu sagen, diese relativistische Gewissheit müsse man notfalls auch mit Blut und Tränen auferlegen; man müsse ihrer so sicher sein, wie Jesus seiner Wahrheit sicher war4. (Fs)

53c Ganz anders und gerade auch unter politischen Gesichtspunkten viel überzeugender ist die Auslegung die der große Exeget Heinrich Schlier von dem Text gegeben hat. Er tat dies in dem Augenblick in dem der Nationalsozialismus in Deutschland sich anschickte, die Macht zu ergreifen. Schliers Auslegung war ein bewusstes Gegenzeugnis gegen diejenigen Teile der evangelischen Christenheit, die bereit waren, Glaube und Volk auf dieselbe Ebene zu stellen5. Schlier macht darauf aufmerksam, das Jesus in dem Prozess die richterliche Vollmacht des von Pilatus vertretenen Staates durchaus anerkennt. Er begrenzt sie aber zugleich dadurch, dass er sagt, solche Vollmacht habe Pilatus nicht aus sich selbst, sondern "von oben" (19, 11). Pilatus verfälscht seine Macht und so die Macht des Staates in dem Augenblick, in dem er sie nicht mehr als treuhänderische Verwaltung einer höheren, an der Wahrheit hängenden Ordnung wahrnimmt, sondern sie zu seinen eigenen Gunsten benützt. Der Statthalter fragt nicht mehr nach Wahrheit, sondern versteht Macht als reine Macht. "Sobald er also sich selbst legitimierte, lieh er dem Justizmord an Jesus seine Hand."6 (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Staat (Aufgabe: Ordnung, Recht - nicht Glück, Paradies); Paulus (Römerbrief) - Staat; Nationalsozialismus, Marxismus: Verneinung d. Sts (Volkswill, klassenlose Gesellschaft)

Kurzinhalt: Der Staat garantiert das Recht als die Bedingung der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstands... Nicht ist es Aufgabe des Staates, das Glück der Menschheit herbeizuführen ...

Textausschnitt: 2. Wozu Staat?

54a Die Fraglichkeit einer streng relativistischen Position ist damit wohl deutlich geworden. Auf der anderen Seite ist uns die Problematik einer Position, die Wahrheit auch für die demokratische Praxis als grundlegend und erheblich ansieht, heute wohl allen bewusst; zu tief ist uns die Furcht vor Inquisition und vor Vergewaltigung der Gewissen eingebrannt. Wie soll man diesem Dilemma entfliehen? Fragen wir zunächst einmal danach, was der Staat eigentlich ist; wozu er da ist und wozu nicht. Dann wollen wir einen Blick auf die verschiedenen Antworten zu dieser Frage werfen und schließlich versuchen, uns von ihnen aus zu einer abschließenden Antwort vorzutasten. (Fs)

54b Was also ist der Staat? Wozu dient er? Wir könnten ganz schlicht sagen: Die Aufgabe des Staates ist es, "das menschliche Miteinander in Ordnung zu halten"1, also einen solchen Ausgleich der Freiheit und der Güter zu schaffen, dass jeder ein menschenwürdiges Leben führen kann. Wir könnten auch sagen: Der Staat garantiert das Recht als die Bedingung der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstands. Zum Staat gehört deshalb zum Einen, dass regiert werde; zum Anderen aber, dass dieses Regieren nicht einfach Ausübung von Macht, sondern Schutz des Rechtes eines jeden Einzelen und des Wohlergehens aller sei. Nicht ist es Aufgabe des Staates, das Glück der Menschheit herbeizuführen, und nicht ist es daher seine Aufgabe, neue Menschen zu erschaffen. Es ist ferner nicht seine Aufgabe, die Welt in ein Paradies zu verwandeln, und er kann es auch nicht; wenn er es dennoch versucht, setzt er sich absolut und verlässt dann seine Grenzen. Er benimmt sich dann, als ob er Gott wäre, und er wird dadurch - wie die Apokalypse zeigt - zum Tier aus dem Abgrund, zur Macht des Antichrist. (Fs) (notabene)

55a Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, zwei Bibeltexte immer beieinander zu halten, die sich nur scheinbar widersprechen, in Wirklichkeit aber wesentlich zueinander gehören: Römer 13 und Apokalypse 13. Der Römerbrief beschreibt den Staat in seiner geordneten Form - den Staat, der sich an seine Grenze hält und sich nicht selbst als Quelle von Wahrheit und Recht ausgibt. Paulus hat den Staat als Treuhänder der Ordnung vor Augen, der dem Menschen sein Einzelsein wie sein Gemeinsamsein ermöglicht. Diesem Staat gebührt der Gehorsam. Der Gehorsam gegen das Recht ist nicht Behinderung der Freiheit, sondern ihre Bedingung. Die Geheime Offenbarung zeigt demgegenüber den Staat, der sich selbst für Gott erklärt und aus Eigenem festlegt, was als gerecht und wahr zu gelten hat. Ein solcher Staat zerstört den Menschen. Er verneint sein eigentliches Wesen und kann daher auch keinen Gehorsam mehr einfordern2. (Fs)

55b Es ist bezeichnend, dass sowohl der Nationalsozialismus wie der Marxismus im Grunde den Staat und das Recht verneinten, die Bindung des Rechts als Unfreiheit erklärten und demgegenüber etwas Höheres zu setzen beanspruchten: den so genannten Volkswillen oder die klassenlose Gesellschaft, die den Staat ablösen sollte, der das Instrument der Hegemonie einer Klasse sei. Wenn so der Staat und seine Ordnung als Gegner der Absolutheit des Anspruchs der eigenen Ideologie betrachtet wurden, so war gerade in solcher Ablehnung etwas vom eigentlichen Wesen des Staates bewusst geblieben. Staat als Staat richtet eine relative Ordnung des Zusammenlebens auf, kann aber nicht allein die Antwort auf die Frage der menschlichen Existenz geben. Er muss nicht nur Freiräume für ein Anderes und vielleicht Höheres offen lassen; er muss auch die Wahrheit über das Recht immer wieder von außen empfangen, da er sie nicht in sich selber trägt. Aber wie und von wo? Das ist die Frage, der wir uns nun endgültig stellen müssen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Demokratie, Grundlagen - relativistische Theorie; Kern d. D.: Freiheit - nicht das Gute; Mehrheitsentscheid (Rorty, Kelsen); Dogmatismus - Relativismus

Kurzinhalt: Hier waltet ein leerer Begriff von Freiheit, der sogar dahin geht, die Auflösung des Ich zu einem Phänomen ohne Zentrum und ohne Wesen sei notwendig, um unsere Intuition über den Vorrang der Freiheit konkret gestalten zu können.

Textausschnitt: a) Die relativistische Theorie

56a Auf diese Fragen antworten, wie oben schon gesagt, zwei diametral einander entgegengesetzte Positionen, zwischen denen aber vermittelnde Auffassungen liegen. Die erste Ansicht, die des strengen Relativismus, ist uns schon in der Gestalt von Hans Kelsen begegnet. Für ihn kann die Beziehung zwischen Religion und Demokratie nur negativ sein. Das Christentum im Besonderen lehrt absolute Wahrheiten und Werte und steht damit im strikten Gegensatz zur notwendigen Skepsis der relativistischen Demokratie. Religion bedeutet für ihn Heteronomie der Person, während umgekehrt Demokratie ihre Autonomie beinhaltet. Das bedeutet auch, dass der Kernpunkt der Demokratie die Freiheit ist und nicht das Gute, das schon wieder als freiheitsgefährdend erscheint1. Heute ist wohl der amerikanische Rechtsphilosoph R. Rorty der bekannteste Vertreter dieser Sicht von Demokratie. Seine Fassung des Zusammenhangs von Demokratie und Relativismus drückt weitgehend das gegenwärtige Durchschnittsbewusstsein auch von Christen aus und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Für Rorty ist der einzige Maßstab, nach dem Recht geschaffen werden kann, das, was als Mehrheitsüberzeugung unter den Bürgern verbreitet ist: Eine andere Philosophie, eine andere Quelle des Rechts stehe der Demokratie nicht zur Verfügung. Freilich ist Rorty sich doch irgendwie des letzten Ungenügens eines bloßen Mehrheitsprinzips als Wahrheitsquelle bewusst; denn er meint, die pragmatische, an der Mehrheit orientierte Vernunft schließe immer einige intuitive Ideen mit ein, wie etwa die Ablehnung der Sklaverei2. Hier freilich täuscht er sich: Jahrhundertelang oder sogar jahrtausendelang hat das Mehrheitsempfinden diese Intuition nicht eingeschlossen, und niemand weiß, wie lange sie ihm erhalten bleiben wird. Hier waltet ein leerer Begriff von Freiheit, der sogar dahin geht, die Auflösung des Ich zu einem Phänomen ohne Zentrum und ohne Wesen sei notwendig, um unsere Intuition über den Vorrang der Freiheit konkret gestalten zu können. Wie aber, wenn einmal diese Intuition abhanden kommt? Wie aber, wenn sich eine Mehrheit gegen die Freiheit bildet und uns sagt, der Mensch sei der Freiheit nicht gewachsen, sondern wolle und solle geführt werden?

57a Der Gedanke, in der Demokratie könne nur die Mehrheit entscheiden und Rechtsquelle könnten nur die mehrheitsfähigen Überzeugungen der Bürger sein, hat zweifellos etwas Bestechendes an sich. Denn wann immer man etwas nicht von der Mehrheit Gewolltes und Entschiedenes für die Mehrheit verbindlich macht, scheint eben der Mehrheit ihre Freiheit abgesprochen und damit das Wesen der Demokratie verneint zu sein. Jede andere Theorie scheint einen Dogmatismus zu unterstellen, der die Selbstbestimmung unterläuft und damit Entmündigung der Bürger, Herrschaft von Unfreiheit wird. (Fs)

57b Aber andererseits kann auch die Irrtumsfähigkeit der Mehrheit nicht bestritten werden, und ihre Irrtümer können sich nicht nur auf Peripheres beziehen, sondern auch grundlegende Güter in Frage stellen, sodass die Menschenwürde und die Menschenrechte nicht mehr gewährleistet sind, also das Wozu der Freiheit zu Fall kommt. Denn was Menschenrechte sind und worin Menschenwürde besteht, liegt keineswegs immer für die Mehrheit offen zutage. Dass sie verführbar und manipulierbar ist und dass Freiheit gerade im Namen der Freiheit zerstört werden kann, hat die Geschichte unseres Jahrhunderts dramatisch bewiesen. Bei Kelsen haben wir überdies gesehen, dass der Relativismus seinen eigenen Dogmatismus in sich trägt: Er ist sich seiner selbst so gewiss, dass er auch denen auferlegt werden muss, die ihn nicht teilen. Im Letzten ist hier der Zynismus unausweichlich, den man bei Kelsen wie bei Rorty mit Händen greifen kann: Wenn die Mehrheit - wie etwa im Fall des Pilatus - immer Recht hat, dann muss das Recht mit Füßen getreten werden. Dann zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich einzunehmen weiß. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Demokratie, Grundlagen - metaphysische und christliche These; Plato: Politik, Macht, Wahrheit, Mehrheit als Gottheit; D.: 2 Traditionen: angelsächsische T. - Rousseau; Maritain

Kurzinhalt: ...geht Plato auf den biblischen Grundgedanken zu, dass Wahrheit nicht von der Politik produziert wird: Wenn die Relativisten dies meinen, rücken sie trotz des von ihnen gesuchten Primats der Freiheit in die Nähe der Totalitären.

Textausschnitt: b) Die metaphysische und christliche These

58a So gibt es eine strenge Gegenposition zu dem bisher betrachteten skeptischen Relativismus. Der Vater dieser anderen Sicht des Politischen ist Plato, der davon ausgeht, nur derjenige könne gut regieren, der selbst das Gute kennt und erfahren habe. Alle Herrschaft müsse Dienst sein, das heißt ein bewusstes Verzichten auf die gewonnene eigene kontemplative Höhe und ihre Freiheit. Sie müsse ein freiwilliges Zurückkehren in die "Höhle" sein, in deren Dunkel die Menschen leben. Nur dann entstehe wirkliche Regierung und nicht jenes Sich-Herumschlagen im Schein und mit dem Scheinhaften, das in der Mehrheit der Fälle die Politik charakterisiere: Die Blindheit der durchschnittlichen Politik sieht Plato darin, dass ihre Vertreter um Macht kämpfen, "als wäre sie ein großes Gut"1. Mit solchen Überlegungen geht Plato auf den biblischen Grundgedanken zu, dass Wahrheit nicht von der Politik produziert wird: Wenn die Relativisten dies meinen, rücken sie trotz des von ihnen gesuchten Primats der Freiheit in die Nähe der Totalitären. Die Mehrheit wird dann zu einer Art von Gottheit, gegen die es keine Appellation mehr geben kann. (Fs) (notabene)

58b Von solchen Einsichten her hat J. Maritain eine Philosophie des Politischen entwickelt, die die großen Intuitionen der Bibel für die Theorie des Politischen fruchtbar zu machen versucht. Wir brauchen hier auf die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Philosophie nicht einzugehen, so lohnend es auch wäre. Man kann wohl in Kürze und damit natürlich auch sehr vereinfachend sagen, dass sich in der Neuzeit der Begriff der Demokratie auf zwei Wegen und damit auch auf zwei unterschiedlichen Grundlagen gebildet hat. Im angelsächsischen Bereich ist Demokratie wenigstens zum Teil auf der Basis naturrechtlicher Traditionen und eines freilich ganz pragmatisch gefassten christlichen Grundkonsenses gedacht und verwirklicht worden2. Bei Rousseau hingegen ist sie gegen die christliche Überlieferung gewandt. Von ihm aus bildet sich dann der Strom einer im Gegensatz zum Christentum gedachten Konzeption des Demokratischen3. (Fs)

59a Maritain hat versucht, den Begriff der Demokratie wieder von Rousseau abzukoppeln sie - wie er sagt - von den freimaurerischen Dogmen des notwendigen Fortschritts, des anthropologischen Optimismus, der Vergöttlichung des Individuums und des Vergessens auf die Person zu lösen4. Für ihn kann das originäre Recht des Volkes auf Selbstregierung niemals das Recht sein, über alles zu entscheiden: "Regierung des Volks" und "Regierung für das Volk" gehören zusammen; es geht um das Gleichgewicht zwischen Volkswillen und Zielwerten des politischen Handelns. In diesem Sinn hat Maritain einen dreifachen Personalismus - den ontologischen, axiologischen und sozialen - entfaltet, worauf wir in diesem Zusammenhang nicht eingehen können5. (Fs)

59b Es ist klar, dass hier das Christentum als Quelle von Erkenntnis angesehen wird, die der politischen Aktion vorausgeht und sie erleuchtet. Um jeden Verdacht eines politischen Absolutismus des Christlichen auszuschließen, antwortet V. Possenti auf der Linie von Maritain, dass als Wahrheitsquelle für die Politik nicht etwa das Christentum als Offenbarungsreligion, sondern als Sauerteig und als geschichtlich bewährte Lebensform gemeint ist: Die Wahrheit über das Gute, die aus der christlichen Überlieferung kommt, wird auch für die Vernunft zur Einsicht und so zu einem vernünftigen Prinzip; nicht ist sie eine Vergewaltigung der Vernunft und der Politik durch irgendeinen Dogmatismus6. Natürlich ist dabei ein gewisser Optimismus hinsichtlich der Evidenz des Moralischen und des Christlichen vorausgesetzt, der von den Relativisten bestritten wird. Hier sind wir noch einmal am kritischen Punkt der Theorie des Demokratischen wie seiner christlichen Auslegung angelangt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Demokratie, Grundlagen - mittlere Positionen (K. Popper, J. Schumpeter; P. Bayle); moralische Grundgewissheit; eigentl. Problem: Blindheit der Vernunft für die nicht-materielle Dimension der Wirklichkeit

Kurzinhalt: Bayle ... Es gebe nur eine einzige, universale und notwendige Moral, die ein wahres und klares Licht sei, das alle Menschen wahrnehmen, sobald sie nur die Augen öffnen. Diese eine moralische Wahrheit kommt von Gott und muss der Bezugspunkt ...

Textausschnitt: c) Evidenz des Moralischen? Mittlere Positionen

60a Es ist hilfreich, vor einem Antwortversuch einen Blick auf die mittleren Positionen zu werfen, die weder dem einen noch dem anderen Lager ganz zuzuordnen sind. V. Possenti nennt als Vertreter eines solchen mittleren Weges N. Bobbio, R. K. Popper und J. Schumpeter; als einen früheren Vorläufer eines solchen Weges könnte man den Cartesianer P. Bayle (1647-1706) ansehen. Bayle geht nämlich bereits von einer strikten Trennung der metaphysischen und der moralischen Wahrheit aus. Das politische Leben bedarf nach ihm der Metaphysik nicht. Ihre Fragen können strittig bleiben und erscheinen so als der Raum des von der Politik nicht berührten Pluralismus. Als Existenzgrundlage genügt für die staatliche Gemeinschaft die praktische Wahrheit. Was ihre Erkennbarkeit angeht, hängt allerdings Bayle einen Optimismus an, der uns im Lauf der weiteren Geschichte längst abhanden gekommen ist. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts konnte Bayle noch denken, dass die moralische Wahrheit allen Menschen offen steht. Es gebe nur eine einzige, universale und notwendige Moral, die ein wahres und klares Licht sei, das alle Menschen wahrnehmen, sobald sie nur die Augen öffnen. Diese eine moralische Wahrheit kommt von Gott und muss der Bezugspunkt aller einzelnen Gesetze und Normen sein1. Bayle beschreibt damit einfach das Allgemeinbewusstsein seines Jahrhunderts: Die vom Christentum eröffneten moralischen Grundeinsichten standen so offenkundig und so unwidersprechlich vor aller Augen, dass man sie mitten im Streit der Konfessionen als die selbstverständliche Einsicht eines jeden vernünftigen Menschen ansehen konnte, als eine Evidenz der Vernunft, die von den Glaubensauseinandersetzungen der getrennten Christenheit nicht berührt wurde. (Fs) (notabene)

61a Aber was damals als zwingende Einsicht der von Gott geschenkten Vernunft erschien, behielt seine Evidenz doch nur, solange die ganze Kultur, der ganze Lebenszusammenhang von der christlichen Überlieferung geprägt war. In dem Maß, in dem sich der christliche Grundkonsens zersetzte und eine nackte Vernunft übrig blieb, die sich von keiner geschichtlichen Realität belehren lassen, sondern nur auf sich selber hören will, zerfiel auch die Evidenz des Moralischen. Die Vernunft, die ihre Wurzeln im Glauben einer geschichtlichen, religiösen Kultur abschnitt und nur noch empirische Vernunft sein wollte, wurde blind. Wo bloß noch das experimentell Verifizierbare als gemeinsame Gewissheit anerkannt wird, bleibt für die Wahrheiten, die über das rein Materielle hinausgehen, lediglich das Funktionieren, das heißt das Spiel von Mehrheit und Minderheit, als Maßstab übrig, das aber - wie wir gesehen haben - in seiner Isolierung notwendig zum Zynismus und zur Auflösung des Menschen wird. Das eigentliche Problem, vor dem wir heute stehen, ist die Blindheit der Vernunft für die ganze nicht-materielle Dimension der Wirklichkeit. (Fs) (notabene)

Begnügen wir uns damit, noch einen Blick auf die Sozialphilosophie K. Poppers zu werfen, von dem man vielleicht sagen darf, dass er die Grundvision Bayles in eine relativistische Zeit zu retten versucht. Zu Poppers Vision der offenen Gesellschaft gehört freie Diskussion und darüber hinaus Institutionen zum Schutz der Freiheit und zum Schutz der Benachteiligten. Die Werte, auf denen die Demokratie als beste Verwirklichungsform der offenen Gesellschaft beruht, werden durch einen moralischen Glauben erkannt: Sie sind nicht rational zu begründen, aber ein dem Voranschreiten der Wissenschaft ähnlicher Prozess von Kritik und Einsicht führt doch zu einer Annäherung an die Wahrheit. Die Prinzipien der Gesellschaft können demnach nicht begründet, nur diskutiert werden. Am Ende muss man darüber entscheiden2. (Fs)

61b Wie man sieht, mischen sich in dieser Vision viele Elemente. Einerseits sieht Popper, dass es im Prozess der freien Diskussion keine Evidenz der moralischen Wahrheit gibt, andererseits aber wird sie für ihn doch in einer Art von vernünftigem Glauben fassbar. Für Popper ist klar, dass das Mehrheitsprinzip nicht unbegrenzt gelten kann. Bayles große Idee der gemeinsamen Vernunftgewissheit in Sachen Moral ist hier zusammengeschrumpft zu einem durch Diskussion sich vorantastenden Glauben, der immerhin, wenn auch auf unsicherem Boden, Grundelemente moralischer Wahrheit öffnet und sie dem reinen Funktionalismus entzieht. Das Ganze abwägend dürfen wir wohl sagen, dass auch dieser schmale verbliebene Rest vernünftiger moralischer Grundgewissheit nicht aus der puren Vernunft hervorgeht, sondern auf einem immer noch vorhandenen Rest von Einsichten aus christlich-jüdischer Herkunft beruht. Längst ist auch dieser Rest nicht mehr unbestrittene Gewissheit, aber ein Minimum Morale ist in der sich auflösenden christlichen Kultur noch irgendwie zugänglich geblieben. (Fs)

62a Bevor wir uns an den Versuch einer Antwort wagen, blicken wir zurück. Abzulehnen ist der absolute Staat, der sich als Quelle von Wahrheit und Recht setzt. Abzulehnen ist aber auch der strikte Relativismus und Funktionalismus, weil die Erhebung der Wahrheit zur einzigen Quelle des Rechts die moralische Würde des Menschen bedroht und tendenziell zum Totalitären hinneigt. Die Spannweite annehmbarer Theorien würde demgemäß von Maritain bis Popper reichen, wobei Maritain ein Maximum von Vertrauen zur vernünftigen Evidenz der moralischen Wahrheit des Christlichen und seines Menschenbildes vertritt, während wir bei Popper vor dem wohl gerade noch ausreichenden Minimum stehen, um den Sturz in den Positivismus abzufangen. (Fs)

62b Ich möchte nun nicht neben oder zwischen diesen Autoren eine neue Theorie über das Verhältnis von Staat und moralischer Wahrheit darbieten, sondern nur versuchen, die Erkenntnisse zusammenzufassen, die uns auf dem bisherigen Weg begegnet sind. Sie könnten eine Art Plattform sein, auf der sich politische Philosophien treffen, die m irgendeiner Form das Christentum und seine moralische Botschaft als Bezugspunkt politischen Handelns ansehen, ohne dabei die Grenzen zwischen Politik und Glauben zu verwischen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Zusammenfassung: Staat - Kirche; Vernunftevidenz, Vernunft - Geschichte; Ungenügen einer "reinen" Vernunft - Christentum als am meist rationale religiöse Kultur

Kurzinhalt: Demgemäß kommt dem Staat ... das, was ihn wesentlich trägt, von außen zu, nicht aus einer bloßen Vernunft, die im moralischen Bereich nicht ausreicht, sondern aus einer in historischer Glaubensgestalt gereiften Vernunft.

Textausschnitt: 4. Zusammenfassung und Ergebnisse

63a Mir scheint, das Ergebnis unseres Rundgangs durch die moderne Debatte lasse sich in folgenden sieben Aussagen zusammenfassen:
1. Der Staat ist nicht selbst Quelle von Wahrheit und Moral: Nicht aus einer ihm etwa eigenen, auf Volk oder Rasse oder Klasse oder sonst eine Größe gegründeten Ideologie, und auch nicht auf dem Weg über die Mehrheit kann er Wahrheit selbst aus sich hervorbringen. Der Staat ist nicht absolut. (Fs)

2. Das Ziel des Staates kann aber nicht in einer bloßen inhaltslosen Freiheit liegen; um eine sinnvolle und lebbare Ordnung des Miteinander zu begründen, braucht er ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar ist. Andernfalls wird er, wie Augustinus sagt, auf die Stufe einer gut funktionierenden Räuberbande herabsinken, weil er wie diese nur vom Funktionalen her bestimmt wäre und nicht von der Gerechtigkeit, die gut ist für alle. (Fs)

3. Der Staat muss demgemäß das für ihn unerlässliche Maß an Erkenntnis und Wahrheit über das Gute von außerhalb seiner selbst nehmen. (Fs)

4. Dieses "Außerhalb" könnte günstigstenfalls die reine Einsicht der Vernunft sein, die etwa von einer unabhängigen Philosophie zu pflegen und zu hüten wäre. Praktisch aber gibt es eine solche reine, von der Geschichte unabhängige Vernunftevidenz nicht. Metaphysische und moralische Vernunft wird nur in historischem Zusammenhang wirksam, hängt von ihm ab und überschreitet ihn zugleich. Faktisch haben alle Staaten aus ihnen vorausliegenden religiösen Überlieferungen, die zugleich moralische Erziehung waren, die moralische Vernunft erkannt und angewandt. Die Vernunftoffenheit und das Maß an Erkenntnis des Guten ist freilich in den historischen Religionen sehr verschieden, wie auch die Art des Miteinander von Staat und Religion verschieden ist. Die Versuchung zur Identifizierung und damit zur religiösen Verabsolutierung des Staats, die zugleich die Religion korrumpiert, ist in der ganzen Geschichte anwesend. Aber es gibt durchaus auch positive Modelle einer Beziehung zwischen religiös gegründeter moralischer Erkenntnis und staatlicher Ordnung. Man darf sogar sagen, dass sich in den großen religiösen und staatlichen Bildungen ein Grundkonsens über wichtige Elemente des moralisch Guten zeigt, der auf eine gemeinsame Vernünftigkeit verweist. (Fs)

5. Als am meisten universale und rationale religiöse Kultur hat sich der christliche Glaube erwiesen, der auch heute der Vernunft jenes Grundgefüge an moralischer Einsicht darbietet, das entweder zu einer gewissen Evidenz führt oder wenigstens einen vernünftigen moralischen Glauben begründet, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen kann. (Fs)

6. Demgemäß kommt dem Staat - wie wir schon sagten - das, was ihn wesentlich trägt, von außen zu, nicht aus einer bloßen Vernunft, die im moralischen Bereich nicht ausreicht, sondern aus einer in historischer Glaubensgestalt gereiften Vernunft. Es ist wesentlich, dass dieser Unterschied nicht aufgehoben wird: Die Kirche darf sich nicht selbst zum Staat erheben oder als Machtorgan in ihm oder über ihn wirken wollen. Dann macht sie sich selbst zum Staat und bildet so den absoluten Staat, den sie gerade ausschließen soll. Sie würde durch die Verschmelzung mit dem Staat das Wesen des Staates und ihr eigenes Wesen zerstören. (Fs) (notabene)

7. Die Kirche bleibt für den Staat ein "Außen". Nur dann sind beide, was sie sein sollen. Sie muss ebenso an ihrem Ort und an ihrer Grenze bleiben wie der Staat. Sie muss sein Eigenwesen und seine eigene Freiheit respektieren, gerade damit sie ihm den Dienst tun kann, dessen er bedarf. Sie muss aber auch alle Kraft aufbieten, damit in ihr jene moralische Wahrheit leuchtet, die sie dem Staat anbietet und die für die Bürger des Staates einsichtig werden soll. Nur wenn in ihr selbst diese Wahrheit Kraft hat und die Menschen formt, kann sie auch andere überzeugen und eine Kraft für das Ganze werden1. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa: Entstehung; Eu.: kein geographischer (Herodot), sondern kultureller u. historischer Begriff; Islam, oströmisches Reich, Sacrum Imperium Romanum, Karl der Große (translatio imperii); Byzanz; Dualität der Gewalten (Gelasius), Gewaltentrennung

Kurzinhalt: Gelasius ... wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, dass die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter ...

Textausschnitt: I Europas Identität
Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen

68a Europa - was ist das eigentlich? Diese Frage wurde in einem der Sprachzirkel der römischen Bischofssynode über Europa von Kardinal Glemp immer wieder nachdrücklich gestellt: Wo beginnt, wo endet Europa? Warum gehört zum Beispiel Sibirien nicht zu Europa, obwohl es doch weitgehend von Europäern bewohnt wird, die auch auf durchaus europäische Weise denken und leben? Und wo verliert sich Europa im Süden der russischen Staatengemeinschaft? Wo läuft im Atlantik seine Grenze? Welche Inseln sind Europa, welche nicht und warum nicht? In diesen Gesprächen wurde völlig klar, dass "Europa" nur ganz sekundär ein geographischer Begriff ist: Europa ist kein geographisch deutlich fassbarer Kontinent, sondern ein kultureller und historischer Begriff. (Fs)

1. Die Entstehung Europas

68b Das zeigt sich ganz evident, wenn wir auf die Ursprünge Europas zurückzugehen versuchen. Wer vom Ursprung Europas redet, verweist gewöhnlich auf Herodot (ca. 484-425 vor Christus), der wohl als erster Europa als geographischen Begriff kennt und es so definiert: "Die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als ihr Land an. Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb ihrer Grenzen."1 Die Grenzen Europas selbst werden nicht angegeben, aber es ist klar, dass Kernlande des heutigen Europa völlig außerhalb des Blickfelds des antiken Historikers lagen. In der Tat hatte sich mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des Römischen Reiches ein "Kontinent" gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies: Es waren die Länder rund um das Mittelmeer, die durch ihre kulturelle Verbundenheit, durch Verkehr und Handel, durch ein gemeinsames politisches System miteinander einen wirklichen "Kontinent" bildeten. Erst der Siegeszug des Islam hat im 7. und im beginnenden 8. Jahrhundert eine Grenze durch das Mittelmeer gezogen, es sozusagen in der Mitte durchgeschnitten, so dass, was bisher ein Kontinent gewesen war, sich nunmehr in drei Kontinente teilte: Asien, Afrika, Europa. (Fs)

69a Im Osten vollzog sich die Umbildung der alten Welt langsamer als im Westen: Das Römische Reich mit Konstantinopel als Mittelpunkt hielt dort - wenn auch immer weiter zurückgedrängt - bis ins 15. Jahrhundert hinein stand.2 Während die Südseite des Mittelmeers um das Jahr 700 endgültig aus dem bisherigen Kulturkontinent herausgefallen ist, vollzieht sich zur selben Zeit eine immer stärkere Ausdehnung nach Norden. Der Limes, der bisher eine kontinentale Grenze gewesen war, verschwindet und öffnet sich in einen neuen Geschichtsraum hinein, der nun Gallien, Germanien, Britannien als eigentliche Kernlande umgreift und sich zusehends nach Skandinavien ausstreckt. In diesem Prozess der Verschiebung der Grenzen wurde die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, geographisch anders bemessenen mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion gewahrt: Im Anschluss an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde als das bleibende Sacrum Imperium Romanum. (Fs)

70a Dieser Prozess einer neuen geschichtlichen und kulturellen Identifizierung ist unter Karl dem Großen ganz bewusst vollzogen worden, und hier taucht nun auch wieder das alte Wort Europa in verwandelter Bedeutung auf: Diese Vokabel wurde nun geradezu als Bezeichnung für das Reich Karls des Großen gebraucht und drückte zugleich das Bewusstsein der Kontinuität und der Neuheit aus, mit dem sich das neue Staatengefüge als die eigentlich zukunftstragende Kraft auswies - zukunftstragend, gerade weil es sich in der Kontinuität der bisherigen Geschichte und letztlich im Immerwährenden verankert begriff.3 In dem so sich bildenden Selbstverständnis ist ebenso das Bewusstsein der Endgültigkeit wie das Bewusstsein einer Sendung ausgedrückt. Der Begriff Europa ist zwar nach dem Ende des Karolingischen Reiches wieder weitgehend verschwunden und nur in der Gelehrtensprache erhalten geblieben; in die Populärsprache geht er erst zu Beginn der Neuzeit - wohl im Zusammenhang mit der Türkengefahr als Weise der Selbstidentifizierung - über, um sich allgemein im 18. Jahrhundert durchzusetzen. Unabhängig von dieser Wortgeschichte bedeutet die Konstituierung des Frankenreiches als des nie untergegangenen und nun neu geborenen Römischen Reiches in der Tat den entscheidenden Schritt auf das zu, was wir heute meinen, wenn wir von Europa sprechen.4

70b Freilich dürfen wir nicht vergessen, dass es auch noch eine zweite Wurzel Europas, eines nicht westlichen, nicht abendländischen Europa gibt: Das Römische Reich hatte ja, wie schon gesagt, in Byzanz über die Stürme der Völkerwanderung und der Islamischen Invasion hin standgehalten. Byzanz verstand sich als das wirkliche Rom; hier war das Reich in der Tat nicht untergegangen, weshalb man auch weiterhin Anspruch auf die westliche Reichshälfte erhob. Auch dieses östliche Römische Reich hat sich weit nach Norden, in die slawische Welt hinein ausgedehnt und eine eigene, griechisch-römische Welt geschaffen, die sich von dem lateinischen Europa des Westens durch die andere Liturgie, die andere Kirchenverfassung, durch die andere Schrift und durch den Verzicht auf das Latein als gemeinsame Bildungssprache unterscheidet. (Fs)

71a Freilich gibt es auch genug verbindende Elemente, die die zwei Welten doch zu einem gemeinsamen Kontinent machen können: An erster Stelle das gemeinsame Erbe der Bibel und der alten Kirche, das übrigens in beiden Welten über sich hinausweist auf einen Ursprung, der nun außerhalb Europas, in Palästina liegt; dazu die gemeinsame Reichsidee, das gemeinsame Grundverständnis der Kirche und damit auch die Gemeinsamkeit grundlegender Rechtsvorstellungen und rechtlicher Instrumente; schließlich würde ich auch das Mönchtum erwähnen, das in den großen Erschütterungen der Geschichte der wesentliche Träger nicht nur der kulturellen Kontinuität, sondern vor allem der grundlegenden religiösen und sittlichen Werte, der letzten Orientierungen des Menschen geblieben ist und als vorpolitische und überpolitische Kraft zum Träger der immer wieder nötigen Wiedergeburten wurde.5

71b Zwischen den beiden Europen gibt es mitten in der Gemeinsamkeit des wesentlichen kirchlichen Erbes allerdings doch noch einen tiefreichenden Unterschied, auf dessen Bedeutung besonders Endre von Ivánka hingewiesen hat: In Byzanz erscheinen Reich und Kirche nahezu miteinander identifiziert; der Kaiser ist das Haupt auch der Kirche. Er versteht sich als Stellvertreter Christi, und im Anschluss an die Gestalt des Melchisedek, der König und Priester zugleich war (Gen 14,18), führt er seit dem 6. Jahrhundert den offiziellen Titel "König und Priester".6 Dadurch dass das Kaisertum seit Konstantin aus Rom abgewandert war, konnte sich in der alten Reichshauptstadt die selbständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln; hier wird schon seit Beginn der konstantinischen Ära eine Dualität der Gewalten gelehrt: Kaiser und Papst haben je getrennte Vollmachten, keiner verfügt über das Ganze. Papst Gelasius I. (492-496) hat die Sicht des Westens in seinem berühmten Brief an Kaiser Anastasius und noch deutlicher in seinem vierten Traktat formuliert, wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, dass die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter getrennt, damit sich niemand überhebe (c. 11)." Für die Dinge des ewigen Lebens bedürfen die christlichen Kaiser der Priester (pontifices), und diese wiederum halten sich für den zeitlichen Lauf der Dinge an die kaiserlichen Verfügungen. Die Priester müssen in weltlichen Dingen den Gesetzen des durch göttliche Ordnung eingesetzten Kaisers folgen, während dieser sich in göttlichen Dingen dem Priester zu unterwerfen habe.7

72a Damit ist eine Gewaltentrennung und -Unterscheidung eingeführt, die für die folgende Entwicklung Europas von höchster Bedeutung wurde und sozusagen das eigentlich Abendländische grundgelegt hat. Weil auf beiden Seiten entgegen solchen Abgrenzungen immer der Totalitätsdrang, das Verlangen nach der Überordnung der eigenen Macht über die andere lebendig blieb, ist dieses Trennungsprinzip auch zum Quell unendlicher Leiden geworden. Wie es recht zu leben und politisch wie religiös zu gestalten ist, bleibt ein grundlegendes Problem auch für das Europa von heute und von morgen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa: Umbruch in die Neuzeit hinein; Eroberung Konstantinopels, Moskau (translatio imperii); Entdeckung Amerikas; Trennung d. Christen; Französische Revolution; Ablösung der alten Reichsidee, Nationen als Träger d. Geschichte

Kurzinhalt: Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat ... Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung ...

Textausschnitt: 2. Der Umbruch in die Neuzeit hinein

73a Wenn wir nach dem bisher Gesagten die Entstehung des Karolingischen Reiches einerseits, das Fortbestehen des Römischen Reiches in Byzanz und seine Slawenmission andererseits als die eigentliche Geburt des "Kontinents" Europa ansehen dürfen, so bedeutet für die beiden Europen der Beginn der Neuzeit einen Umbruch, der sowohl das Wesen dieses Kontinents wie seine geographischen Umrisse betrifft. 1453 wurde Konstantinopel von den Türken erobert. O. Hiltbrunner kommentiert dazu lakonisch: "Die letzten ... Gelehrten wanderten ... nach Italien aus und vermittelten den Humanisten der Renaissance die Kenntnis der griechischen Originale; der Osten aber versank in Kulturlosigkeit."1 Das mag etwas schroff formuliert sein, weil ja auch das Osmanische Reich seine Kultur hatte; richtig ist, dass die christlich-griechische, "europäische" Kultur von Byzanz damit ein Ende fand. (Fs)

73b So drohte damit der eine Flügel Europas zu verschwinden, aber das byzantinische Erbe war nicht tot: Moskau erklärt sich zum dritten Rom, bildet nun selbst ein eigenes Patriarchat auf der Basis der Idee einer zweiten translatio imperii und stellt sich damit als eine neue Metamorphose des Sacrum Imperium dar - als eine eigene Form von Europa, das doch dem Westen verbunden blieb und sich immer mehr an ihm orientierte, bis schließlich Peter der Große es zu einem westlichen Land zu machen versuchte. Diese Nordverschiebung des byzantinischen Europa brachte es mit sich, dass nun auch die Grenzen des Kontinents weit nach Osten in Bewegung kamen. Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas, weder Asien noch Europa, vom Subjekt Europa wesentlich geformt, ohne selbst an seinem Subjektcharakter teilzunehmen: Objekt und nicht selber Träger seiner Geschichte. Vielleicht ist damit überhaupt das Wesen eines Kolonialstatus definiert. (Fs)

74a Wir können also bezüglich des byzantinischen, nicht abendländischen Europa zu Beginn der Neuzeit von einem doppelten Vorgang sprechen: Auf der einen Seite steht das Erlöschen des alten Byzanz mit seiner historischen Kontinuität zum Römischen Reich; auf der anderen Seite erhält dieses zweite Europa mit Moskau eine neue Mitte und weitet seine Grenze nach Osten hin aus, um schließlich in Sibirien eine Art kolonialen Vorbau einzurichten. Gleichzeitig können wir im Westen ebenfalls einen doppelten Vorgang mit weitreichender historischer Bedeutung konstatieren. Ein großer Teil der germanischen Welt reißt sich los von Rom; eine neue, aufgeklärte Art des Christentums entsteht, so dass durch das "Abendland" von nun an eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet. Freilich gibt es auch innerhalb der protestantischen Welt Risse, zum einen zwischen Lutheranern und Reformierten, denen sich Methodisten und Presbyterianer zugesellen, während die Anglikanische Kirche einen Mittelweg zwischen katholisch und evangelisch auszubilden versucht; dazu kommt dann auch die Differenz zwischen staatskirchlich geformtem Christentum, das für Europa kennzeichnend wird und Freikirchen, die ihren Zufluchtsraum in Nordamerika finden, worüber noch zu sprechen sein wird. (Fs)

74b Achten wir zunächst noch auf den zweiten Vorgang, der die neuzeitliche Situation des ehemals lateinischen Europa wesentlich umprägt: die Entdeckung Amerikas. Der Osterweiterung Europas durch die fortschreitende Ausdehnung von Russland nach Asien entspricht der radikale Ausbruch Europas aus seinen geographischen Grenzen in die Welt jenseits des Ozean, die nun den Namen Amerika empfängt; die Teilung Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte überträgt sich auf diesen von Europa mit Beschlag belegten Erdteil. Auch Amerika wird zunächst zu einem erweiterten Europa, zur "Kolonie", schafft sich aber gleichzeitig mit der Erschütterung Europas durch die Französische Revolution seinen eigenen Subjektcharakter: Vom 19. Jahrhundert an steht es, wenngleich tief von seiner europäischen Geburt geprägt, Europa doch als eigenes Subjekt gegenüber. (Fs) (notabene)

75a Bei dem Versuch, durch den Blick auf die Geschichte die innere Identität Europas zu erkennen, haben wir jetzt zwei grundlegende geschichtliche Umbrüche anvisiert: als erstes die Ablösung des alten mediterranen Kontinents durch den weiter nördlich angesetzten Kontinent des Sacrum Imperium, in dem sich seit der Karolingischen Epoche "Europa" als westlich-lateinische Welt bildet; daneben das Fortbestehen des alten Rom in Byzanz mit seinem Ausgriff in die slawische Welt. Wir hatten als zweiten Schritt den Fall von Byzanz und die damit erfolgende Nord- und Ost-Verschiebung des christlichen Reichsgedankens auf der einen Seite Europas beobachtet, auf der anderen Seite die innere Teilung Europas in germanisch-protestantische und lateinisch-katholische Welt, dazu den Ausgriff nach Amerika, auf das sich diese Teilung überträgt und das sich schließlich als eigenes, Europa gegenüberstehendes geschichtliches Subjekt konstituiert. (Fs)

75b Nun müssen wir einen dritten Umbruch ins Auge fassen, dessen weithin sichtbares Fanal die Französische Revolution bildete. Zwar war das Sacrum Imperium schon seit dem späten Mittelalter als politische Realität in Auflösung begriffen und auch als tragende Geschichtsdeutung immer brüchiger geworden, aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen, ohne den sich Europa nicht hätte bilden können. Dies ist sowohl in realpolitischer wie in ideeller Hinsicht ein Vorgang von erheblicher Tragweite. In ideeller Hinsicht bedeutet dies, dass die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz abgeworfen wird: Die Geschichte misst sich nicht mehr an einer ihr vorausliegenden und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular betrachtet, auf Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normierung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. Die wird nun allein als Sache der Vernunft angesehen, für die Gott nicht eindeutig erkennbar erscheint: Religion und Glaube an Gott gehören dem Bereich des Fühlens, nicht der Vernunft zu. Gott und sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein. (Fs) (notabene)
76a Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung, deren Ernst wir zusehends zu fühlen bekommen. Sie hat im Deutschen keinen Namen, weil sie hier sich langsamer ausgewirkt hat. In den lateinischen Sprachen wird sie als Spaltung zwischen "Christen" und "Laien" bezeichnet. Diese Spannung ist in den letzten zwei Jahrhunderten als ein tiefer Riss durch die lateinischen Nationen gegangen, während das protestantische Christentum es zunächst leichter hatte, liberalen und aufgeklärten Ideen in seinem Inneren Raum zu geben, ohne dass der Rahmen eines weitläufigen christlichen Grundkonsenses dabei hätte gesprengt werden müssen. (Fs) (notabene)

76b Die realpolitische Seite der Ablösung der alten Reichsidee besteht darin, dass nun definitiv die Nationen, die durch die Ausbildung einheitlicher Sprachräume als solche identifizierbar geworden waren, als die eigentlichen und einzigen Träger der Geschichte erscheinen, also einen Rang erhalten, der ihnen vorher so nicht zugekommen war. Die explosive Dramatik dieses nun pluralen Geschichtssubjekts zeigt sich darin, dass sich doch die großen europäischen Nationen mit einer universalen Sendung betraut wussten, die notwendig zum Konflikt zwischen ihnen führen musste, dessen tödliche Wucht wir in dem nun verflossenen Jahrhundert leidvoll erfahren haben. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa: Universalisierung und ihre Krise; Spengler - Toynbee; laizistisches - staatskirchlines Modell - Nordamerika;

Kurzinhalt: Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem ...

Textausschnitt: 3. Die Universalisierung der europäischen Kultur und ihre Krise

77a Schließlich ist da aber noch ein weiterer Vorgang zu bemerken, mit dem sich die Geschichte der letzten Jahrhunderte deutlich in ein neues hinein überschreitet. Hatte das alte vorneuzeitliche Europa in seinen beiden Hälften wesentlich nur ein Gegenüber gekannt, mit dem es sich auf Leben und Tod auseinanderzusetzen hatte, nämlich die islamische Welt; hatte die neuzeitliche Wende die Ausweitung nach Amerika und in Teile Asiens ohne eigene große Kultursubjekte gebracht, so erfolgt nun der Ausgriff auf die beiden bisher nur marginal berührten Kontinente: Afrika und Asien, die man jetzt ebenfalls zu Ablegern Europas, zu "Kolonien" umzugestalten versuchte. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch gelungen, insofern jetzt auch Asien und Afrika dem Ideal der technisch geprägten Welt und ihres Wohlstands nacheifern, so dass auch dort die alten religiösen Überlieferungen in eine Situation der Krise eintreten und rein säkular denkende Schichten immer mehr das öffentliche Leben beherrschen. (Fs)

77b Aber es gibt auch eine Gegenwirkung: Die Renaissance des Islam ist nicht nur mit dem neuen materiellen Reichtum islamischer Länder verbunden, sondern auch von dem Bewusstsein gespeist, dass der Islam eine tragfähige geistige Grundlage für das Leben der Völker zu bieten vermöge, die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint, das so trotz seiner noch währenden politischen und wirtschaftlichen Macht immer mehr zum Abstieg und zum Untergang verurteilt angesehen wird. Auch die großen religiösen Traditionen Asiens, vor allem seine im Buddhismus ausgedrückte mystische Komponente erheben sich als geistige Kräfte gegen ein Europa, das seine religiösen und sittlichen Grundlagen verneint. Der Optimismus über den Sieg des Europäischen, den Arnold Toynbee noch zu Beginn der sechziger Jahre vertreten konnte, erscheint heute seltsam überholt: "Von 28 Kulturen, die wir identifiziert haben ... sind 18 tot und neun von den verbliebenen zehn - alle in der Tat außer unserer - zeigen,dass sie bereits niedergebrochen sind."1 Wer würde das heute so noch sagen mögen? Und überhaupt - was ist das, "unsere" Kultur, die noch geblieben ist? Ist die siegreich über die Welt ausgebreitete Zivilisation der Technik und des Kommerzes die europäische Kultur? Oder ist sie nicht eher posteuropäisch aus dem Ende der alten europäischen Kulturen geboren? Ich sehe da eine paradoxe Synchronie: Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, dass die Wertewelt Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und eigentlich schon abgetreten sei; dass nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten, des präkolumbianischen Amerika, des Islam, der asiatischen Mystik gekommen sei. Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, dass auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen erscheint. (Fs) (notabene)

78a Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft. Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem Leben weg, so meint man. Sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze der Gegenwart empfunden. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schön von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr hatte. (Fs)

79a Damit sind wir bei den Problemen der Gegenwart angelangt. Über die mögliche Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der einen Seite die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturgestalten eine Art von naturgesetzlichem Verlauf glaubte feststellen zu können: Es gibt den Augenblick der Geburt, den allmählichen Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden, Altern und Tod. Spengler belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der Kulturen, in der man dieses Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, dass das Abendland in seiner Spätphase angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz unausweichlich auf den Tod dieses kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann er seine Gaben an eine neu aufsteigende Kultur weiterreichen, wie es in früheren Untergängen geschehen ist, aber als dieses Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter sich. (Fs)

79b Diese als biologistisch gebrandmarkte These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche Bestreiter gefunden; eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten, freilich mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden.2 Toynbee stellt die Differenz zwischen materiellem-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, dass sich das Abendland - die "westliche Welt" - in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht. Die Krise heißt für ihn letztlich: Säkularismus. Wenn man die Ursache der Krise kennt, kann man auch den Weg der Heilung angeben: Das religiöse Moment muss neu eingeführt werden, wozu für ihn das religiöse Erbe aller Kulturen gehört, besonders aber das, "was vom abendländischen Christentum übriggeblieben ist."3 Der biologistischen tritt hier eine voluntaristische Sicht entgegen, die auf die Kraft schöpferischer Minderheiten und herausragender Einzelpersönlichkeiten setzt. (Fs)

80a Es stellt sich die Frage: Ist die Diagnose richtig? Und wenn - liegt es in unserer Macht, das religiöse Moment neu einzuführen, in einer Synthese aus Restchristentum und religiösem Menschheitserbe? Letztlich bleibt die Frage zwischen Spengler und Toynbee offen, weil wir nicht in die Zukunft schauen können. Aber unabhängig davon stellt sich die Aufgabe, nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag. Oder noch einfacher: was auch heute und morgen die Menschenwürde und ein ihr gemäßes Dasein zu schenken verspricht. (Fs)
80b Um darauf Antwort zu finden, müssen wir noch einmal in unsere Gegenwart hineinblicken und zugleich ihre geschichtlichen Wurzeln gegenwärtig halten. (Fs)

Wir waren vorhin bei der Französischen Revolution und dem 19. Jahrhundert stehen geblieben. In dieser Zeit haben sich vor allem zwei neue "europäische" Modelle entwickelt. Da steht bei den lateinischen Nationen das laizistische Modell: Der Staat ist streng geschieden von den religiösen Körperschaften, die in den privaten Bereich verwiesen sind. Er selber lehnt ein religiöses Fundament ab und weiß sich allein auf die Vernunft und ihre Einsichten gegründet. Angesichts der Fragilität der Vernunft haben sich diese Systeme als brüchig und diktaturanfällig erwiesen; sie überleben eigentlich nur, weil Teile des alten moralischen Bewusstseins auch ohne die vorigen Grundlagen weiterbestehen und einen moralischen Basiskonsens ermöglichen. (Fs)

80c Auf der anderen Seite stehen im germanischen Raum in unterschiedlicher Weise die staatskirchlichen Modelle des liberalen Protestantismus, in denen eine aufgeklärte, wesentlich als Moral gefasste christliche Religion - auch mit staatlich verbürgten Kultformen - den moralischen Konsens und eine weit gespannte religiöse Grundlage verbürgt, der sich die einzelnen nicht staatlichen Religionen anzupassen haben. Dieses Modell hat in Groß-Britannien, in den skandinavischen Staaten und zunächst auch im preußisch dominierten Deutschland staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt über lange Zeit hin verbürgt. In Deutschland allerdings hat der Zusammenbruch des preußischen Staatskirchentums ein Vakuum geschaffen, das sich dann ebenfalls als Leerraum für eine Diktatur anbot. Heute sind die Staatskirchen überall von der Auszehrung befallen: Von religiösen Körpern, die Derivate des Staates sind, geht keine moralische Kraft aus, und der Staat selbst kann moralische Kraft nicht schaffen, sondern muss sie voraussetzen und auf ihr aufbauen. (Fs) (notabene)

81a Zwischen den beiden Modellen stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die einerseits - auf freikirchlicher Grundlage geformt -von einem strikten Trennungsdogma ausgehen, andererseits über die einzelnen Denominationen hinweg doch tief von einem nicht konfessionell geprägten protestantisch-christlichen Grundkonsens geprägt wurden, der sich mit einem besonderen Sendungsbewusstsein religiöser Art der übrigen Welt gegenüber verband und so dem religiösen Moment ein bedeutendes öffentliches Gewicht gab, das als vorpolitische und überpolitische Kraft für das politische Leben bestimmend sein konnte. Freilich darf man sich nicht verbergen, dass auch in den Vereinigten Staaten die Auflösung des christlichen Erbes unablässig voranschreitet, während gleichzeitig die schnelle Zunahme des spanischen Elements und die Anwesenheit religiöser Traditionen aus aller Welt das Bild verändert. Vielleicht muss man hier doch auch anmerken, dass die Vereinigten Staaten die Protestantisierung Lateinamerikas, also die Ablösung der katholischen Kirche durch freikirchliche Formen unübersehbar fördern, aus der Überzeugung heraus, dass die katholische Kirche keine stabilen Wirtschafts- und politischen Systeme gewährleisten könne, insofern also als Erzieherin der Nationen versage, während man erwartet, dass das freikirchliche Modell einen ähnlichen moralischen Konsens und demokratische Willensbildung ermöglichen werde, wie sie für die Vereinigten Staaten charakteristisch sind. Um das Bild weiter zu komplizieren, muss man hinzunehmen, dass heute die katholische Kirche die größte Religionsgemeinschaft in den Vereinigten Staaten bildet, dass sie in ihrem Glaubensleben ganz entschieden zur katholischen Identität steht, dass aber die Katholiken hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Politik die freikirchlichen Traditionen in dem Sinn aufgenommen haben, dass gerade eine nicht dem Staat verschmolzene Kirche die moralischen Grundlagen des Ganzen besser gewährleistet, so dass die Förderung des demokratischen Ideals als eine tief dem Glauben gemäße moralische Verpflichtung erscheint. Man kann in einer solchen Position mit gutem Recht eine zeitgemäße Fortführung des Modells von Papst Gelasius sehen, von dem ich oben gesprochen hatte. (Fs) (notabene)

82a Kehren wir nach Europa zurück. Zu den zwei Modellen, von denen wir vorher sprachen, hat sich noch im 19. Jahrhundert ein drittes gesellt, nämlich der Sozialismus, der sich alsbald in zwei unterschiedliche Wege aufteilte, den totalitären und den demokratischen. Der demokratische Sozialismus hat sich von seinem Ausgangspunkt her als ein heilsames Gegengewicht gegenüber den radikal liberalen Positionen in die beiden bestehenden Modelle einzufügen vermocht, sie bereichert und auch korrigiert. Er erwies sich dabei auch als die Konfessionen übergreifend: In England war er die Partei der Katholiken, die sich weder im protestantisch-konservativen noch im liberalen Lager zu Hause fühlen konnten. Auch im wilhelminischen Deutschland konnte sich das katholische Zentrum weithin dem demokratischen Sozialismus näher fühlen als den streng preußisch protestantischen konservativen Kräften. In vielem stand und steht der demokratische Sozialismus der katholischen Soziallehre nahe, jedenfalls hat er zur sozialen Bewusstseinsbildung erheblich beigetragen. (Fs)

82b Das totalitäre Modell hingegen verband sich mit einer streng materialistischen und atheistischen Geschichtsphilosophie: Die Geschichte wird deterministisch als ein Prozess des Fortschritts über die religiöse und die liberale Phase hin zur absoluten und endgültigen Gesellschaft verstanden, in der Religion als Relikt der Vergangenheit überwunden sein und das Funktionieren der materiellen Bedingungen das Glück aller gewährleisten wird. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit verbirgt einen intoleranten Dogmatismus: Der Geist ist Produkt der Materie; die Moral ist Produkt der Umstände und muss je nach den Zwecken der Gesellschaft definiert und praktiziert werden; alles, was der Herbeiführung des glücklichen Endzustandes dient, ist moralisch. Hier ist die Umwertung der Werte, die Europa gebaut hatten, vollständig. Mehr, hier vollzieht sich ein Bruch mit der gesamten moralischen Tradition der Menschheit: Es gibt keine von den Zwecken des Fortschritts unabhängigen Werte mehr, alles kann im gegebenen Augenblick erlaubt oder sogar notwendig, im neuen Sinn moralisch sein. Auch der Mensch kann zum Mittel werden; nicht der einzelne zählt, sondern einzig die Zukunft wird zur grausamen Gottheit, die über alle und alles verfügt. (Fs)

83a Die kommunistischen Systeme sind inzwischen zunächst an ihrer falschen ökonomischen Dogmatik gescheitert. Aber man übersieht allzu gern, dass sie tieferhin an ihrer Menschenverachtung, an ihrer Unterordnung der Moral unter die Bedürfnisse des Systems und seine Zukunftsverheißungen zugrunde gegangen sind. Die eigentliche Katastrophe, die sie hinterlassen haben, ist nicht wirtschaftlicher Natur; sie besteht in der Verwüstung der Seelen, in der Zerstörung des moralischen Bewusstseins. Ich sehe ein wesentliches Problem unserer Stunde für Europa und für die Welt darin, dass zwar nirgends das wirtschaftliche Scheitern bestritten wird und daher Altkommunisten ohne Zögern zu Wirtschaftsliberalen geworden sind; hingegen wird die moralische und religiöse Problematik, um die es eigentlich ging, fast völlig verdrängt. Insofern besteht die vom Marxismus hinterlassene Problematik auch heute fort: Die Auflösung der Urgewissheiten des Menschen über Gott, über sich selbst und über das Universum - die Auflösung des Bewusstseins moralischer Werte, die nie zur Disposition stehen, ist noch immer und gerade jetzt wieder unser Problem und kann zur Selbstzerstörung des europäischen Bewusstseins führen, die wir - unabhängig von Spenglers Untergangsvision -als eine reale Gefahr ins Auge fassen müssen.4

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa heute; Ungenügen einer bloß wirtschaftlichen Gemeinschaft; Unbedingtheit der Menschenwürde u. Menschenrechte; Ehe und Familie - homosexuelle Lebensgemeinschaften; Multikulturalität - Absage an das Eigene

Kurzinhalt: Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiss kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene ...

Textausschnitt: 4. Wo stehen wir heute?

84a So stehen wir vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Gibt es in den gewaltigen Umbrüchen unserer Zeit eine Identität Europas, die Zukunft hat und zu der wir von innen her stehen können? Für die Väter der europäischen Einigung nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs - Adenauer, Schumann, de Gasperi - war es klar, dass es eine solche Grundlage gibt und dass sie im christlichen Erbe unseres durch das Christentum gewordenen Kontinents besteht. Für sie war klar, dass die Zerstörungen, mit denen uns die Nazidiktatur und die Diktatur Stalins konfrontierten, gerade auf der Abstoßung dieser Grundlage beruhten - auf einer Hybris, die sich dem Schöpfer nicht mehr unterwarf, sondern beanspruchte, selbst den besseren, den neuen Menschen zu schaffen und die schlechte Welt des Schöpfers umzumontieren in die gute Welt, die aus dem Dogmatismus der eigenen Ideologie entstehen sollte. Für sie war klar, dass diese Diktaturen, die eine ganz neue Qualität des Bösen hervorbrachten, weit über alle Greuel des Krieges hinaus, auf der gewollten Abschaffung Europas beruhten und dass man wieder zu dem zurückkehren müsse, was diesem Kontinent in allen Leiden und Verfehlungen seine Würde gegeben hatte. (Fs)

Der anfängliche Enthusiasmus der neuen Zuwendung zu den großen Konstanten des christlichen Erbes ist schnell verflogen, und die europäische Einigung hat sich dann zunächst fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten vollzogen, unter weitgehender Ausklammerung der Frage nach den geistigen Grundlagen einer solchen Gemeinschaft. (Fs)

84b In den letzten Jahren ist das Bewusstsein dafür wieder gewachsen, dass die wirtschaftliche Gemeinschaft der europäischen Staaten auch einer Grundlage gemeinsamer Werte bedarf: Das Anwachsen der Gewalt, die Flucht in die Droge, das Zunehmen der Korruption lässt uns sehr fühlbar werden, dass der Werteverfall durchaus auch materielle Folgen hat und dass Gegensteuerung notwendig ist. Ich möchte hier nicht in eine Diskussion der inzwischen vorliegenden europäischen Verfassung eintreten, aber drei wesentliche Elemente benennen, die meiner Überzeugung nach dort nicht fehlen dürfen, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden will, der sich bildenden gemeinschaftlichen Gestalt Europas, seinem politischen und wirtschaftlichen Handeln, die moralische Grundlage zu geben, derer sie bedarf und die den großen Imperativen ihrer Geschichte entspricht. (Fs)

85a Das erste ist die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrechte als Werte erscheinen müssen, die jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen. Günter Hirsch hat mit Recht betont, dass diese Grundrechte nicht vom Gesetzgeber geschaffen noch den Bürgern verliehen werden, "vielmehr existieren sie aus eigenem Recht, sie sind seit je vom Gesetzgeber zu respektieren, ihm vorgegeben als übergeordnete Werte."1 Diese allem politischen Handeln und Entscheiden vorangehende Gültigkeit der Menschenwürde verweist letztlich auf den Schöpfer: Nur er kann Rechte setzen, die im Wesen des Menschen gründen und für niemanden zur Disposition stehen. Insofern ist hier wesentlich christliches Erbe in seiner besonderen Art von Gültigkeit kodifiziert. Dass es Werte gibt, die für niemanden manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit und menschlicher Größe; der Glaube sieht darin das Geheimnis des Schöpfers und der von ihm dem Menschen verliehenen Gottebenbildlichkeit. So schützt dieser Satz ein Wesenselement der christlichen Identität Europas in einer auch dem Ungläubigen verstehbaren Formulierung. (Fs)

85b Nun wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück. Aber im konkreten Bereich des sogenannten medizinischen Fortschritts gibt es sehr reale Bedrohungen dieser Werte: Ob wir an die Klonation, an die Vorratshaltung menschlicher Föten zum Zweck der Forschung und der Organspende, an den ganzen Bereich der genetischen Manipulation denken - die stille Auszehrung der Menschenwürde, die hier droht, kann niemand übersehen. Dazu kommen in wachsendem Maß der Menschenhandel, neue Formen der Sklaverei, das Geschäft mit menschlichen Organen zum Zweck der Transplantation. Immer werden natürlich "gute Zwecke" vorgebracht, um das zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist. (Fs)

86a Fassen wir zusammen: Die Festschreibung von Wert und Würde des Menschen, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit schließt ein Menschenbild, eine moralische Option und eine Idee des Rechts ein, die sich keineswegs von selbst verstehen, aber in der Tat grundlegende Identitätsfaktoren Europas sind, die auch in ihren konkreten Konsequenzen verbürgt werden müssten und freilich nur verteidigt werden können, wenn sich ein entsprechendes moralisches Bewusstsein immer neu bildet. (Fs)

Ich komme zu einem zweiten Punkt, der für die europäische Identität wesentlich ist: Ehe und Familie. Die monogame Ehe ist als grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisses von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung vom biblischen Glauben her geformt worden. Sie hat Europa, dem abendländischen wie dem östlichen, sein besonderes Gesicht und seine besondere Menschlichkeit gegeben, auch und gerade weil die damit vorgezeichnete Form von Treue und von Verzicht immer wieder neu leidvoll errungen werden musste. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Grundzelle seines sozialen Aufbaus verschwände oder wesentlich verändert würde. Wir alle wissen, wie sehr Ehe und Familie heute gefährdet sind - zum einen durch die Aushöhlung ihrer Unauflöslichkeit durch immer leichtere Formen der Scheidung, zum anderen durch ein sich immer mehr ausbreitendes neues Verhalten, das Zusammenleben von Mann und Frau ohne die rechtliche Form der Ehe. (Fs)

86b In krassem Gegensatz dazu steht das Verlangen homosexueller Lebensgemeinschaften, die nun paradoxerweise eine Rechtsform verlangen, die mehr oder weniger der Ehe gleichgestellt werden soll. Mit dieser Tendenz tritt man aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit heraus, die bei aller Verschiedenheit der Rechtsformen der Ehe doch immer wusste, dass diese ihrem Wesen nach das besondere Miteinander von Mann und Frau ist, das sich auf Kinder hin und so auf die Familie hin öffnet. Hier geht es nicht um Diskriminierung, sondern um die Frage, was der Mensch als Mann und Frau ist und wie das Miteinander von Mann und Frau recht geformt werden kann. Wenn einerseits ihr Miteinander sich immer mehr von rechtlichen Formen löst, wenn andererseits homosexuelle Gemeinschaft immer mehr der Ehe gleichrangig angesehen wird, stehen wir vor einer Auflösung des Menschenbildes, deren Folgen nur äußerst gravierend sein können. Dazu fehlt leider ein klares Wort in der Charta. (Fs)

87a Mein letzter Punkt betrifft den religiösen Bereich. Es würde den Rahmen der hier möglichen Ausführungen überschreiten, die großen Fragen zu diskutieren, um die in diesem Bereich gerungen wird. So beschränke ich mich auf einen Punkt, der für alle Kulturen grundlegend ist: die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist und die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, vor Gott, die sehr wohl auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu glauben bereit ist. Wo diese Ehrfurcht zerbrochen wird, geht in einer Gesellschaft Wesentliches zugrunde. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob jemand bestraft, der den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird auch jemand bestraft, der den Koran und die Grundüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde. Meinungsfreiheit findet aber ihre Grenze darin, dass sie Ehre und Würde des anderen nicht zerstören darf; sie ist nicht Freiheit zur Lüge oder zur Zerstörung von Menschenrechten. Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. (Fs)

88a Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiss kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen. Zu ihr gehört es, dem Heiligen des anderen ehrfürchtig zu begegnen, aber dies können wir nur, wenn uns das Heilige, Gott, selbst nicht fremd ist. (Fs)

Gewiss, wir können und sollen vom Heiligen der anderen lernen, aber es ist gerade vor den anderen und für die anderen unsere Pflicht, selbst in uns die Ehrfurcht vor dem Heiligen zu nähren und das Gesicht des Gottes zu zeigen, der uns erschienen ist - des Gottes, der sich der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen, des Fremden annimmt; des Gottes, der so menschlich ist, dass er selbst ein Mensch werden wollte, ein leidender Mensch, der mit uns mitleidend dem Leiden Würde und Hoffnung gibt. Wenn wir dies nicht tun, verleugnen wir nicht nur die Identität Europas, sondern versagen auch den anderen einen Dienst, auf den sie Anspruch haben. Den Kulturen der Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Sie sind überzeugt, dass eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Insofern ruft uns gerade die Multikulturalität wieder zu uns selber zurück. (Fs)

88b Wie es mit Europa weitergehen wird, wissen wir nicht. Die Charta der Grundrechte kann ein erster Schritt sein, dass es wieder bewusst seine Seele sucht. Toynbee ist darin Recht zu geben, dass das Schicksal einer Gesellschaft immer wieder von schöpferischen Minderheiten abhängt. Die gläubigen Christen sollten sich als eine solche schöpferische Minderheit verstehen und dazu beitragen, dass Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Chancen und Gefahren für Europa; gemeinsame Identität statt trennender Nationalismen

Kurzinhalt: Es ist kein Zweifel, dass bei den Gründervätern der europäischen Einigung das christliche Erbe als Kern dieser geschichtlichen Identität angesehen wurde, natürlich nicht in konfessionellen Formen ...

Textausschnitt: 1. Statt trennender Nationalismen, eine gemeinsame Identität

89b Europa war immer schon ein Kontinent der Kontraste gewesen, von vielfältigen Konflikten erschüttert. Das 19. Jahrhundert hatte dann die Ausbildung der Nationalstaaten mit sich gebracht, deren konkurrierende Interessen dem zerstörerischen Gegeneinander eine neue Dimension gegeben hatten. Das Werk des europäischen Zusammenschlusses war im Wesentlichen von zwei Motivationen bestimmt. Gegenüber den trennenden Nationalismen und gegenüber den hegemonistischen Ideologien, die im Zweiten Weltkrieg das Gegeneinander radikalisiert hatten, sollte das gemeinsame kulturelle, moralische und religiöse Erbe Europas das Bewusstsein seiner Nationen prägen und als die gemeinsame Identität aller seiner Völker den Weg des Friedens, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft eröffnen. Es ging um eine europäische Identität, die die nationalen Identitäten nicht auslöschen und nicht leugnen, aber sie doch in einer höheren Gemeinsamkeit zu einer einzigen Völkergemeinschaft verbinden sollte. Die gemeinsame Geschichte sollte als Frieden stiftende Kraft aktiviert werden. Es ist kein Zweifel, dass bei den Gründervätern der europäischen Einigung das christliche Erbe als Kern dieser geschichtlichen Identität angesehen wurde, natürlich nicht in konfessionellen Formen; das Gemeinchristliche schien über die konfessionellen Grenzen hinweg als verbindende Kraft weltlichen Handelns durchaus erkennbar. Es wurde auch nicht als unvereinbar mit den großen moralischen Impulsen der Aufklärung angesehen, die sozusagen die rationale Seite des Christlichen herausgestellt hatten und bei allen historischen Gegensätzen durchaus mit den wesentlichen Impulsen der christlichen Geschichte Europas vereinbar schien. Im einzelnen ist dieses das Drama der konfessionellen Spaltungen und das Ringen der Aufklärung umspannende Bewusstsein wohl nie ganz deutlich geklärt worden; insofern blieben hier Fragen stehen, die der Bearbeitung harren. Im Augenblick des Aufbruchs war aber die Überzeugung von der Vereinbarkeit der großen Bauelemente des europäischen Erbes stärker als die Fragen, die sich dabei ergaben. (Fs)

90a Mit diesem historischen und moralischen Element, das am Anfang des europäischen Zusammenschlusses stand, verband sich aber auch eine zweite Motivation. Die europäische Vorherrschaft über die Welt, die sich besonders im Kolonialsystem und den entsprechenden wirtschaftlichen wie politischen Verflechtungen ausgedrückt hatte, war mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs definitiv zerbrochen: In diesem Sinn hatte Europa als Ganzes den Krieg verloren. Amerika stand nun als beherrschende Macht auf der Bühne der Weltgeschichte, aber auch das geschlagene Japan wurde zu einer ebenbürtigen Wirtschaftsmacht, und schließlich bildete die Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten ein Imperium, auf das sich vor allem die Staaten der dritten Welt gegenüber Amerika und Westeuropa zu stützen versuchten. (Fs)

91a In dieser neuen Situation konnten die einzelnen europäischen Staaten nicht mehr als ebenbürtige Partner auftreten. Die Bündelung ihrer Interessen in einem gemeinsamen europäischen Gefüge war notwendig, wenn Europa überhaupt weltpolitisch Gewicht behalten wollte. Die nationalen Interessen mussten sich zusammenfügen in ein gemeinsames europäisches Interesse. Neben der Suche nach einer Frieden stiftenden gemeinsamen, aus der Geschichte kommenden Identität, stand die Selbstbehauptung gemeinsamer Interessen, stand also der Wille zu wirtschaftlicher Macht, die die Vorbedingung politischer Macht darstellt. Im Lauf der Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ist immer mehr dieser zweite Aspekt der europäischen Einigung dominant, ja, fast ausschließlich bestimmend geworden. Die gemeinsame europäische Währung ist der deutlichste Ausdruck für diese Sinngebung des europäischen EinigungsWerkes: Europa stellt sich als eine wirtschaftliche und monetäre Ganzheit dar, die als solche an der Gestaltung der Geschichte teilnimmt und ihren eigenen Platz behauptet. (Fs)

91b Karl Marx hat die These vertreten, dass Religionen und Philosophien nur ideologische Überbauten wirtschaftlicher Verhältnisse seien. Das stimmt in dieser Weise sicher nicht, eher müsste man von einer Wechselwirkung sprechen: Geistige Einstellungen bestimmen wirtschaftliches Verhalten, wirtschaftliche Situationen wirken dann wieder prägend auf die religiösen und moralischen Sichtweisen zurück. Im Aufbau der Wirtschaftsmacht Europa war - nach den mehr ethisch und religiös bestimmten Anfängen - immer ausschließlicher das ökonomische Interesse bestimmend. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa; Maßstäbe des Handeln; Konzilien des Weltgeistes (die großen Konferenzen); sexuelle Freiheit - numerus clausus der Menschheitsgröße; Ökonomie: ideologisches Kampffeld; Technik u. Wirtschaft: Mittel d. Freiheit - Diktatur

Kurzinhalt: Während einerseits Technik und Wirtschaft sich als Vehikel der radikalen Freiheit der Menschen verstehen, wird ihre Allgegenwart mit den ihr inhärenten Normen nun als globale Diktatur erfahren und mit einer anarchischen Wildheit bekämpft ...

Textausschnitt: 2. Gemeinsame Maßstäbe des Handelns

91c Aber nun zeigt sich doch immer deutlicher, dass mit dem Aufbau wirtschaftlicher Strukturen und ökonomischen Handelns auch geistige Entscheidungen Hand in Hand gehen, die zunächst fast unreflektiert walten, dann aber doch deutlich nach ausdrücklicher Klärung verlangen. Große internationale Konferenzen wie die von Kairo 1994 und Peking 1995 sind Ausdruck einer solchen Frage nach gemeinsamen Maßstäben des Handelns, sie sind mehr als Ausdruck von Fragen. Man könnte sie als eine Art Konzilien des Weltgeistes bezeichnen, auf denen gemeinsame Gewissheiten formuliert und zu Normen für die menschliche Existenz erhoben werden sollen. Die Politik der Verweigerung oder der Gewährung wirtschaftlicher Hilfen ist eine Weise, solche Normen durchzusetzen, bei denen es besonders um die Kontrolle des Wachstums der Weltbevölkerung und die allgemeine Verbindlichkeit der dafür vorgesehenen Mittel geht. (Fs)

92a Die alten ethischen Normen des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, wie sie in Afrika in Form von Stammesüberlieferungen galten, in den großen asiatischen Kulturen aus den Regeln kosmischer Ordnung abgeleitet waren und in den monotheistischen Religionen vom Maßstab der Zehn Gebote her galten, werden abgelöst durch ein Normensystem, das einerseits von der völligen sexuellen Freiheit ausgeht, andererseits aber den numerus clausus der Menschheitsgröße und die dafür angebotenen technischen Mittel zum hauptsächlichen Inhalt hat. Eine ähnliche Tendenz waltet auf den großen Klimakonferenzen. Hier wie dort ist die Furcht vor den Grenzen der Reserven des Alls das auslösende Element der Suche nach Normen. Hier wie dort geht es darum, einerseits die Freiheit des menschlichen Umgangs mit der Wirklichkeit zu verteidigen, aber andererseits die Folgen unbegrenzter Freiheit einzudämmen. (Fs) (notabene)

92b Der dritte Typus großer internationaler Konferenzen, die Begegnung der führenden Wirtschaftsmächte zur Regulierung der global gewordenen Ökonomie ist zum ideologischen Kampffeld der postkommunistischen Periode geworden. Während einerseits Technik und Wirtschaft sich als Vehikel der radikalen Freiheit der Menschen verstehen, wird ihre Allgegenwart mit den ihr inhärenten Normen nun als globale Diktatur erfahren und mit einer anarchischen Wildheit bekämpft, in der die Freiheit des Zerstörens als ein wesentlicher Teil menschlicher Freiheit überhaupt erscheint. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa - Aufgabe an un uns; zweite Aufklärung: neue Weltordnung (Zweifel an deren Rationalität); neue Zwänge, Herrschaftsklasse; Rückbindung an Natur u. Geschichte

Kurzinhalt: Die Rückbindung an die beiden großen Quellen der Erkenntnis - an Natur und Geschichte - ist notwendig ... Im Miteinander von Mann und Frau verbinden sich das naturale und das geistige Element zum spezifisch Menschlichen, das man nicht ungestraft ...

Textausschnitt: 3. Die vor uns stehende Aufgabe

93a Was heißt dies alles für die Frage nach Europa? Es bedeutet, dass die einseitig auf die Ausbildung ökonomischer Macht gerichtete Konstruktion nun doch aus sich selbst eine Art von neuem Wertesystem hervorbringt, das auf seine Tragfähigkeit und seine Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden muss. Die vor kurzem verabschiedete Europäische Charta könnte man als einen Versuch charakterisieren, zwischen diesem neuen Wertekanon und den klassischen Werten der europäischen Überlieferung einen Mittelweg zu finden. Als eine erste Richtungsangabe wird sie durchaus hilfreich sein. Zweideutigkeiten in wichtigen Punkten zeigen freilich unübersehbar die Problematik eines solchen Vermittlungsversuches an. An einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den anstehenden Fragen wird man nicht vorbeikommen. Sie zu führen, ist selbstverständlich im Rahmen dieses Referats nicht möglich. Ich möchte lediglich versuchen, die Frage etwas zu präzisieren, um die es dabei gehen wird. (Fs)

93b Die Väter der europäischen Einigung waren nach dem Zweiten Weltkrieg - wie wir sahen - von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit des moralischen Erbes des Christentums und des moralischen Erbes der europäischen Aufklärung ausgegangen. In der Aufklärung war der biblische Gottesbegriff in doppelter Richtung unter der Idee der autonomen Vernunft verändert worden: Gott der Schöpfer und Erhalter, der die Welt immerfort trägt und leitet, war zu einem bloßen Initiator des Alls geworden. Der Offenbarungsbegriff war ausgeschieden worden. Spinozas Formel Deus sive natura könnte man in vieler Hinsicht als charakteristisch für die Vision der Aufklärung ansehen. Das bedeutet aber doch, dass man an eine Art von göttlich geprägter Natur glaubte und an die Fähigkeit des Menschen, diese Natur zu verstehen und auch als rationalen Anspruch zu werten. (Fs) (notabene)

93c Demgegenüber hatte der Marxismus einen radikalen Bruch gebracht: Die bestehende Welt ist arationales Evolutionsprodukt; die vernünftige Welt muss erst der Mensch aus dem unvernünftigen Rohmaterial der Wirklichkeit hervorbringen. Dies - verbunden mit der Geschichtsphilosophie Hegels, mit dem liberalen Fortschrittsdogma und seiner sozio-ökonomischen Interpretation - führte zu der Erwartung der klassenlosen Gesellschaft, die im historischen Fortschritt als Endprodukt des Klassenkampfes erscheinen sollte und so zur letztlich einzigen normativen moralischen Idee wurde: Gut ist, was der Herbeiführung dieses Heilszustandes dient; schlecht ist, was sich ihm entgegenstellt. Heute stehen wir in einer zweiten Aufklärung, die nicht nur den Deus sive natura hinter sich gelassen, sondern auch die marxistische Hoffnungsideologie als irrational durchschaut hat und stattdessen ein rationales Zukunftsziel postuliert, das den Titel neue Weltordnung trägt und nun seinerseits zur wesentlichen ethischen Norm werden soll. Mit dem Marxismus gemeinsam bleibt die evolutionistische Idee einer durch den irrationalen Zufall und seine inneren Gesetzlichkeiten entstandenen Welt, die infolgedessen - anders als die alte Idee der Natur vorsah - keine ethische Weisung in sich tragen kann. Der Versuch, aus den Spielregeln der Evolution doch Spielregeln menschlicher Existenz, also eine Art von neuer Ethik abzuleiten, ist zwar weit verbreitet, aber wenig überzeugend. Es mehren sich die Stimmen von Philosophen wie Singer, Rorty, Sloterdijk, die uns sagen, der Mensch habe nun Recht und Pflicht, auf rationale Weise die Welt neu zu konstruieren. Die neue Weltordnung, an deren Notwendigkeit kaum jemand zweifelt, müsse eine Weltordnung der Rationalität sein. So weit so gut. Aber was ist rational? (Fs) (notabene)

94a Der Maßstab der Vernünftigkeit wird allein aus den Erfahrungen des wissenschaftlich fundierten technischen Machens genommen. Rationalität richtet sich auf Funktionalität, auf Effektivität, auf Steigerung der Lebensqualität für alle. Die Verfügung über die Natur, die damit vorgegeben ist, wird freilich durch die dramatisch werdenden Umweltfragen zum Problem. Viel ungenierter schreitet inzwischen die Verfügung des Menschen über sich selbst voran. Huxleys Visionen werden zusehends Realität: Der Mensch soll nicht mehr irrational gezeugt, sondern rational produziert werden. Über den Menschen als Produkt aber verfügt der Mensch. Die unvollkommenen Exemplare sind auszuscheiden, der vollkommene Mensch anzustreben, auf dem Weg über Planung und Produktion. Das Leid soll verschwinden, das Leben nur noch lustvoll sein. (Fs) (notabene)
95a Noch sind solche radikalen Visionen vereinzelt, meist vielfach abgemildert, aber die Handlungsmaxime, dass der Mensch alles darf, was er kann, setzt sich immer weiter durch. Das Können als solches wird zu einem sich selbst genügenden Maßstab. In einer evolutionär gedachten Welt ist auch von selbst einsichtig, dass es absolute Werte, das immer Schlechte und das immer Gute nicht geben kann, sondern die Güterabwägung den einzigen Weg moralischer Normenfindung darstellt. Das aber heißt dann, dass höhere Zwecke, erwartete Erfolge etwa für die Heilung von Krankheiten, auch den Missbrauch des Menschen rechtfertigen, wenn nur das erhoffte Gut groß genug erscheint. (Fs) (notabene)

95b So aber entstehen neue Zwänge, und es entsteht eine neue Herrschaftsklasse. Letztlich entscheiden diejenigen, die über das fachliche Können verfügen und diejenigen, die die Mittel verwalten, über das Geschick der übrigen Menschen. Nicht hinter der Forschung zurückzubleiben, wird zu einem unentrinnbaren Zwang, der seine Richtung selbst bestimmt. Welchen Rat kann man Europa und der Welt in dieser Situation geben? Als spezifisch europäisch erscheint in dieser Situation geradezu die Trennung von jeder ethischen Tradition und das Setzen allein auf die technische Rationalität und ihre Möglichkeiten. Aber wird eine so gegründete Weltordnung nicht doch zu einer Utopie des Schreckens? Braucht Europa, braucht die Welt nicht doch korrigierende Elemente aus seiner großen Tradition und aus den großen ethischen Traditionen der Menschheit? (Fs) (notabene)

95c Die Unantastbarkeit der Menschenwürde sollte der Pfeiler ethischer Ordnungen werden, an dem nicht gerüttelt wird. Nur wenn der Mensch sich selbst als Endzweck anerkennt und nur wenn der Mensch dem Menschen heilig und unantastbar ist, können wir einander vertrauen und miteinander im Frieden leben. Es gibt keine Güterabwägung, die es rechtfertigt, den Menschen als Experimentiermaterial für höhere Zwecke zu behandeln. Nur wenn wir hier ein Absolutum sehen, das über allen Güterabwägungen steht, handeln wir wirklich ethisch und nicht kalkulatorisch. Unantastbarkeit der Menschenwürde - das bedeutet dann auch, dass diese Würde für jeden Menschen gilt, dass diese Würde für jeden gilt, der Menschenantlitz trägt und der biologisch zur Spezies Mensch gehört. Funktionale Kriterien können hier keine Geltung haben. Auch der leidende, der behinderte, der ungeborene Mensch ist Mensch. Ich möchte hinzufügen, dass damit auch die Achtung vor dem Ursprung des Menschen aus der Gemeinschaft von Mann und Frau verbunden sein muss. Der Mensch darf nicht zum Produkt werden. Er darf nicht produziert, er kann nur gezeugt werden. Und daher muss der Schutz der besonderen Würde der Gemeinschaft von Mann und Frau, auf der die Zukunft der Menschheit ruht, zu den ethischen Konstanten einer jeden humanen Gesellschaft zählen. (Fs) (notabene)

96a All dies ist aber nur möglich, wenn wir auch einen neuen Sinn für die Würde des Leidens gewinnen. Leben lernen heißt auch leiden lernen. Deshalb ist auch Ehrfurcht vor dem Heiligen geboten. Der Glaube an den Schöpfergott ist die sicherste Gewähr der Menschenwürde. Er kann niemandem auferlegt werden, aber da er ein großes Gut für die Gemeinschaft ist, darf er Anspruch auf die Ehrfurcht von Seiten der Nichtglaubenden erheben. (Fs) (notabene)

96b Es ist richtig: Rationalität ist ein wesentliches Kennzeichen des europäischen Geistes. Mit ihr hat er in gewisser Hinsicht die Welt erobert, denn die zuerst in Europa gewachsene Form von Rationalität prägt heute das Leben aller Kontinente. Aber diese Rationalität kann zerstörerisch werden, wenn sie sich von ihren Wurzeln löst und das Machenkönnen zum einzigen Maßstab erhebt. Die Rückbindung an die beiden großen Quellen der Erkenntnis - an Natur und Geschichte - ist notwendig. Beide Bereiche sprechen nicht einfach aus sich selbst, aber von beiden kann Wegweisung ausgehen. Der Verbrauch der Natur, die sich unbegrenzter Verfügung widersetzt, hat neue Besinnungen in Gang gebracht über die Wegweisung, die von der Natur selbst ausgeht. Herrschaft über die Natur im Sinn des biblischen Schöpfungsberichtes bedeutet nicht gewalttätige Ausnutzung der Natur, sondern das Verstehen ihrer inneren Möglichkeiten und fordert so die sorgsame Form, in der der Mensch der Natur und die Natur dem Menschen dient. (Fs)

97a Die Herkunft des Menschen selbst ist ein zugleich naturaler und humaner Vorgang: Im Miteinander von Mann und Frau verbinden sich das naturale und das geistige Element zum spezifisch Menschlichen, das man nicht ungestraft verachten kann. So sind auch die geschichtlichen Erfahrungen des Menschen, die sich in den großen Religionen niedergeschlagen haben, bleibende Quellen von Erkenntnis, Wegweisungen für die Vernunft, die auch den treffen, der sich selbst mit keiner dieser Traditionen zu identifizieren vermag. An ihnen vorbei zu denken und vorbei zu leben, wäre ein Hochmut, der den Menschen zuletzt ratlos und leer hinterlässt. (Fs)
97b Mit alledem sind keine abschließenden Antworten auf die Frage nach den Grundlagen Europas gegeben. Es ging allein darum, die Aufgabe zu kennzeichnen, die vor uns steht. Es ist dringlich, an ihr zu arbeiten. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Im Anfang schuf Gott

Titel: Im Anfang schuf Gott

Stichwort: Schöpfung, Schöpfungslehre; Verschwinden der Schöpfungsbotschaft in Katechese, Predigt und auch Theologie; Beispiel

Kurzinhalt: Der Leser erfährt hier: »Begriffe wie Selektion und Mutation sind intellektuell viel redlicher als der Schöpfungsbegriff« (S. 433). »>Schöpfung< als kosmischer Plan ist ein zu Ende gekommener Gedanke« (ebd.). »Der Schöpfungsbegriff ist damit ein ...

Textausschnitt: 9a Die Bedrohung des Lebendigen durch das Werk des Menschen, von der heute allenthalben die Rede ist, hat dem Thema Schöpfung eine neue Dringlichkeit gegeben. Paradoxerweise ist aber gleichzeitig ein nahezu völliges Verschwinden der Schöpfungsbotschaft in Katechese, Predigt und auch Theologie festzustellen.1 Die Schöpfungsberichte werden versteckt; ihre Aussage gilt als nicht mehr zumutbar. Auf dem Hintergrund dieser Situation habe ich mich im Frühjahr 1981 entschlossen, in vier Fastenpredigten im Münchener Liebfrauendom eine Schöpfungskatechese für Erwachsene zu versuchen. Dem vielfach an mich herangetragenen Wunsch nach Veröffentlichung in Buchform konnte ich damals nicht entsprechen, weil die Zeit fehlte, die von verschiedenen Seiten freundlich erstellten Tonbandnachschriften durchzuarbeiten. In den folgenden Jahren ist mir von meiner neuen Aufgabe her der Notstand des Schöpfungsthemas in der heutigen Verkündigung noch deutlicher geworden, so daß ich mich nun doch gedrängt fühlte, die alten Manuskripte wieder hervorzuholen und sie für den Druck zu bearbeiten, wobei der Grundcharakter unverändert geblieben ist und die Grenzen in Kauf genommen wurden, die mit dem Typus der Predigt gegeben sind. Ich hoffe, daß das kleine Buch ein Anstoß dafür sein kann, daß andere es besser machen und daß so die Botschaft vom Schöpfergott wieder den ihr gebührenden Rang in unserer Verkündigung erhält. (Fs) (notabene Fußnote)

Fußnote:
* Für das praktische Aufgeben der Schöpfungslehre in einem einflußreichen Strang moderner Theologie möchte ich nur zwei bezeichnende Beispiele nennen. In dem bekannten, von J. Feiner und L. Vischer herausgegebenen »Neues Glaubensbuch. Der gemeinsame christliche Glaube« (Basel-Zürich 1973) versteckt sich das Schöpfungsthema in einem »Geschichte und Kosmos« überschriebenen Kapitel, das seinerseits dem mit »Glaube und Welt« überschriebenen vierten Teil des Buches zugehört, dem »Die Frage nach Gott« (1. Teil), »Gott in Jesus Christus« (2. "Eil), »Der Neue Mensch« (3. Teil) vorangehen. Wagt man schon nach dieser Plazierung nicht mehr viel Positives zu erhoffen, so übertrifft der von A. Dumas und O. H. Pesch verantwortete Text die schlimmsten Befürchtungen. Der Leser erfährt hier: »Begriffe wie Selektion und Mutation sind intellektuell viel redlicher als der Schöpfungsbegriff« (S. 433). »>Schöpfung< als kosmischer Plan ist ein zu Ende gekommener Gedanke« (ebd.). »Der Schöpfungsbegriff ist damit ein irrealer Begriff« (435). »Schöpfung bedeutet Berufung für den Menschen — was sonst dazu noch gesagt werden mag, auch in der Bibel, ist nicht die Botschaft von der Schöpfung selbst, sondern ihre teilweise mythologische, apokalyptische Formulierung« (435f.). Ist es zu hart geurteilt, wenn man sagt, das weitere Verwenden der Vokabel »Schöpfung« laufe unter diesen Voraussetzungen auf ein semantisches Betrugsmanöver hinaus?
Weniger kraß formuliert findet man dieselbe reduktionistische Position wieder in: La foi des catholiques. Catéchèse fondamentale (Le Centur ion, Paris 1984). Das 736 Seiten starke Werk widmet dem Schöpfungsthema ganze fünf Seiten. Sie finden sich hier im dritten Teil »Une humanité selon l'Evangile« (Teil 1: Une foi vivante; Teil 2: La révélation chrétienne). Schöpfung wird folgendermaßen definiert: »Ainsi, en parlant de Dieu comme créateur, on affirme que le sens premier et dernier de la vie se trouve en Dieu meme, present au plus intime de notre etre...« (356) Auch hier verliert die Vokabel »Schöpfung« vollständig ihren originären sprachlichen Sinn. Überdies werden in einer vom übrigen Text abgehobenen Drucktype, die sonst für ergänzende Zitate oder zusätzliche Texte verwendet wird, die »gängigen Einwände gegen Schöpfung« in vier Punkten dargeboten, worauf der normale Leser (wozu ich mich zähle) im Text keine Antwort findet - es sei denn die, daß er Schöpfung zu Daseinssinn uminterpretieren müsse. Mit solch »existentieller« Reduktion des Schöpfungsthemas tritt aber ein ungeheuerer (wenn nicht totaler) Wirklichkeitsverlust des Glaubens ein, dessen Gott jedenfalls mit der Materie nichts mehr zu schaffen hat.

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Im Anfang schuf Gott

Titel: Im Anfang schuf Gott

Stichwort: Schöpfung, Schöpfungsbericht: Differenz: Gestalt u. Gehalt (Inhalt u. Bild); Ausflucht oder Auslegung; krankes Christentum: keine Überzeugung, Verdecken d. Verlustes

Kurzinhalt: Damit verbindet sich auch noch ein weiteres Unbehagen. Man kann nämlich fragen: ... warum dann nicht auch anderswo, etwa bei den Wundern Jesu. Und wenn dort, warum dann nicht auch im Zentrum, beim Kreuz und bei der Auferstehung des Herrn.

Textausschnitt: 1. Die Differenz von Gestalt und Gehalt im Schöpfungsbericht

17a Nun, eine erste Weise von Antwort wurde schon vor langem erarbeitet, als das wissenschaftliche Weltbild sich allmählich kristallisierte; sie ist wahrscheinlich vielen von Ihnen im Religionsunterricht begegnet. Sie sagt so: Die Bibel ist kein Lehrbuch der Naturwissenschaft, sie will es auch nicht sein. Sie ist ein religiöses Buch, und deshalb kann man aus ihr keine naturwissenschaftlichen Auskünfte erhalten, nicht erfahren, wie die Weltentstehung naturgeschichtlich verlaufen ist, sondern nur religiöse Erkenntnis aus ihr gewinnen. Alles andere ist Bild, eine Weise, den Menschen das Tiefere, das Eigentliche faßbar zu machen. Man müsse unterscheiden zwischen Darstellungsform und dargestelltem Inhalt. Die Form sei aus dem Verstehbaren jener Zeit heraus gewählt, aus den Bildern, in denen die Menschen von damals lebten, in denen sie sprachen und dachten, in denen sie das Größere, das Eigentliche verstehen konnten. Und nur das Eigentliche, das durch die Bilder hindurchleuchtet, sei das wahrhaft Bleibende und Gemeinte. So wolle die Schrift uns nicht erzählen, wie die Pflanzenarten allmählich entstanden, wie Sonne und Mond und die Sterne sich herausbildeten, sondern letzten Endes nur eines sagen: Gott hat die Welt geschaffen. Die Welt ist nicht, wie die Menschen von damals weithin meinten, ein Gewirr einander widerstreitender Kräfte, sie ist nicht eine Behausung dämonischer Mächte, vor denen der Mensch sich schützen muß. Sonne und Mond sind nicht Gottheiten, die über ihm walten, und dieser Himmel über uns ist nicht von gegensätzlichen, geheimen Gottheiten durchlebt, sondern dies alles kommt nur aus einer Macht heraus, aus Gottes ewiger Vernunft, die im Wort Schöpfungskraft wurde. Dies alles kommt aus Gottes Wort, dem gleichen Wort, dem wir im Geschehen des Glaubens begegnen. Und so wurde den Menschen, indem sie erfuhren, daß die Welt aus dem Wort ist, nicht nur die Angst vor den Göttern und Dämonen weggenommen; die Welt wurde frei gemacht für die Vernunft, die sich zu Gott hin erhebt, und der Mensch wurde geöffnet, furchtlos diesem Gott zu begegnen. Er erfuhr in diesen Worten die wahre Aufklärung, die die Götter und die geheimen Mächte beiseite wischt und ihn erkennen läßt, daß nur eine Macht »an allen Enden ist und wir in ihren Händen«: der lebendige Gott, und daß dieselbe Macht, die diese Erde und die Sterne geschaffen hat, dieselbe Macht, die dieses ganze All trägt, es ist, der wir im Wort der Heiligen Schrift begegnen. In diesem Wort rühren wir an die eigentliche Urgewalt der Welt, an die eigentliche Macht über allen Mächten1. (Fs)

18a Ich glaube, daß diese Auskunft richtig ist. Aber sie genügt noch nicht. Denn wenn uns nun gesagt wird, daß wir unterscheiden müssen zwischen den Bildern und dem Gemeinten, dann kann man dagegen fragen: Warum hat man das eigentlich nicht früher schon gesagt? Denn offenbar muß man früher anders gelehrt haben, sonst hätte es ja den Prozeß um Galilei gar nicht geben können. So steigt der Verdacht auf, daß am Ende vielleicht doch diese Auskunft nur ein Trick der Kirche und der Theologen sei, die eigentlich am Ende sind mit ihrem Latein, aber es nicht zugeben wollen und daher eine Bemäntelung finden, hinter der sie sich verschanzen. Und insgesamt entsteht der Eindruck, daß die Geschichte des Christentums in den letzten vierhundert Jahren ein ständiges Rückzugsgefecht gewesen sei, in dem ein Stück nach dem anderen von den Behauptungen des Glaubens und der Theologie weggenommen worden ist. Freilich hat man immer irgendeinen Trick gefunden, um sich zurückziehen zu können. Aber die Angst ist fast unentrinnbar, daß wir allmählich doch ins Leere hinausgedrückt werden und daß der Augenblick kommen wird, wo nichts mehr zu verteidigen und zu bemänteln ist, wo das ganze Terrain der Schrift und des Glaubens durch eine Vernunft besetzt sein wird, die all dies nicht mehr im Ernst weiterbestehen läßt. Damit verbindet sich auch noch ein weiteres Unbehagen. Man kann nämlich fragen: Wenn die Theologen oder auch die Kirche die Grenzsteine zwischen Bild und Aussage, die Grenzsteine zwischen dem, was ins Vergangene versinkt, und dem, was gilt, so verschieben können, warum dann nicht auch anderswo, etwa bei den Wundern Jesu. Und wenn dort, warum dann nicht auch im Zentrum, beim Kreuz und bei der Auferstehung des Herrn. Eine Operation, die den Glauben verteidigen will, indem sie sagt: Hinter dem, was dasteht und was wir nicht mehr verteidigen können, ist etwas Eigentlicheres — eine solche Operation gerät oft erst recht zur Anfechtung des Glaubens, weil die Frage nach der Ehrlichkeit seiner Ausleger sich erhebt, weil die Frage sich erhebt, ob da überhaupt irgend etwas Festes ist. Bei nicht wenigen ist nach solcherlei theologischen Auskünften zuletzt der Eindruck zurückgeblieben, daß der Glaube der Kirche wie eine Qualle sei, wo man nirgends recht zugreifen, nirgends finden kann, wo der Kern ist, auf den man sich letztlich verlassen kann. Von den vielen halbherzigen Auslegungen des biblischen Worts her, die heute umlaufen und die mehr Ausflucht als Auslegung scheinen, rührt dieses Kranke eines Christentums, das nicht mehr wirklich zu sich selber steht und das daher nicht Ermutigung und Begeisterung ausstrahlen kann. Es vermittelt viel eher den Eindruck eines Vereins, der weiterredet, obwohl er eigentlich nichts mehr zu sagen hat, weil geschraubte Worte nicht mehr Überzeugung verkünden, sondern nur noch ihren Verlust zu verdecken suchen. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Im Anfang schuf Gott

Titel: Im Anfang schuf Gott

Stichwort: Einheit d. Bibel als Maßstab d. Auslegung; Bibel als Weg; Verständnis vom Ganzen her - Christus; Schöpfung - babylonisches Konzil, Propheten; Enuma Elisch, Marduk, Drache - B.: Schöpfung aus Wort u. Vernunft; entscheidende Aufklärung der Geschichte

Kurzinhalt: In der Verbannung, in der scheinbaren Niederlage Israels geschieht der Durchbruch zur Erkenntnis von dem Gott, der alle Völker und die ganze Geschichte in Händen hält; der alles trägt, weil er der Schöpfer von allem ist, bei dem alle Macht steht.

Textausschnitt: 2. Die Einheit der Bibel als Massstab der Auslegung

19a So müssen wir nun nochmals fragen: Ist die Untsscheidung von Bild und eigentlicher Aussage nur eine Ausflucht, weil wir zum Text nicht mehr stehen können, aber trotzdem weitermachen wollen, oder gibt es Maßstäbe aus der Bibel selbst, die uns solche Wege weisen, also in ihr selbst diese Unterscheidung beglaubigen? Gibt sie uns Markierungen dieser Art an die Hand, und hat der Glaube der Kirche um diese Markierungen auch früher gewußt und sie anerkannt?

Schlagen wir mit diesen Fragen neu die Heilige Schrift auf. Da können wir zunächst einmal feststellen, daß der Schöpfungsbericht Genesis 1, den wir gerade gehört haben, nicht wie ein erratischer Block von Anfang an fertig und geschlossen in sich dasteht. Ja, überhaupt die ganze Heilige Schrift ist nicht wie ein Roman oder wie ein Lehrbuch einfach von Anfang bis Ende durchgeschrieben worden; sie ist vielmehr der Widerhall der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Sie ist herausgewachsen aus dem Ringen und den Wegen dieser Geschichte; durch sie hindurch können wir die Aufstiege und Abstiege, die Leiden, die Hoffnungen, das Große und wieder das Versagende dieser Geschichte erkennen. Die Bibel ist so Ausdruck von Gottes Ringen mit dem Menschen, um sich allmählich ihnen verständlich zu machen; sie ist aber zugleich auch Ausdruck für das Ringen des Menschen, allmählich Gott zu begreifen. So ist das Schöpfungsthema nicht in einem hingestellt, sondern es geht mit Israel durch die Geschichte hindurch, ja, der ganze Alte Bund ist ein Unterwegssein mit dem Wort Gottes. Nur in solchem Unterwegssein hat sich die eigentliche Aussage der Bibel Schritt um Schritt geformt. Deswegen können auch wir nur im Ganzen dieses Weges seine wahre Richtung erkennen. In dieser Weise — als Weg — gehören Altes und Neues Testament zusammen. Altes Testament erscheint für den Christen insgesamt als Vorwärtsgehen auf Christus zu; erst wo es bei ihm anlangt, wird sichtbar, was es eigentlich meinte; was es Schritt für Schritt bedeutete. So empfängt alles einzelne seinen Sinn vom Ganzen und das Ganze seine Bedeutung von seinem Ziel — von Christus her. Wir legen also — so sahen es die Kirchenväter und der Glaube der Kirche zu allen Zeiten — den einzelnen Text theologisch nur richtig aus, wenn wir ihn als Stück eines vorwärtsdrängenden Weges begreifen; wenn wir in ihm das Gefälle, die innere Richtung dieses Weges erkennen1. (Fs) (notabene)

21a Was bedeutet nun diese Einsicht für das Verstehen der Schöpfungsgeschichte? Eine erste Feststellung muß lauten: Immer hat Israel an den Schöpfergott geglaubt, und in diesem Glauben kommunizierte es mit allen großen Kulturen der Alten Welt. Denn selbst durch die Verdunklungen des Monotheismus hindurch haben alle großen Kulturen immer um den Schöpfer Himmels und der Erde gewußt, in überraschenden Gemeinsamkeiten auch zwischen Zivilisationen, die sich äußerlich niemals berühren konnten. In dieser Gemeinsamkeit dürfen wir durchaus etwas von der tiefsten, nie ganz verlorenen Berührung der Menschheit mit Gottes Wahrheit erkennen. In Israel selbst hat das Schöpfungsthema mancherlei Geschicke durchschritten. Es war nie ganz abwesend, aber nicht immer gleich wichtig. Es gab Zeiten, in denen Israel so mit den Leiden oder den Hoffnungen seiner Geschichte beschäftigt war, so unmittelbar auf das Jetzige hingeheftet, daß es bis zur Schöpfung kaum durchzublicken brauchte, kaum durchblicken konnte. Die eigentlich große Stunde, in der Schöpfung zum beherrschenden Thema wurde, ist das babylonische Exil gewesen. In dieser Zeit hat auch der Bericht, den wir eben hörten, freilich aufgrund sehr alter Überlieferungen, seine eigentliche, jetzige Gestalt gefunden. Israel hatte sein Land verloren, es hatte seinen Tempel verloren. Für die damalige Mentalität war dies etwas Unbegreifliches; denn dies hieß ja, daß der Gott Israels besiegt war — der Gott, dem man sein Volk, sein Land, seine Anbeter hatte wegnehmen können. Ein Gott, der seine Anbeter und seine Anbetung nicht schützen konnte, war damals als ein schwacher, ja nichtiger Gott erwiesen; er war als Gott abgetreten. So war die Vertreibung aus dem Land, das Ausgelöschtwerden von der Landkarte der Völker, für Israel eine ungeheure Glaubensversuchung: Ist unser Gott nun besiegt, unser Glaube leer? (Fs) (notabene)

22a In dieser Stunde haben die Propheten ein neues Blatt aufgeschlagen und Israel gelehrt, daß sich jetzt erst das wahre Gesicht ihres Gottes zeigte, der nicht an jenen Flecken Land gebunden war. Er war es nie gewesen: Er hatte dies Stück Land Abraham verheißen, ehe der dort zu Hause war. Er hatte sein Volk aus Ägypten herausführen können: Beides konnte er, weil er nicht Gott eines Landes war, sondern über Himmel und Erde verfügte. Und deshalb konnte er nun sein ungetreues Volk vertreiben in ein anderes Land hinein, um sich dort zu bezeugen. Nun wurde begreiflich, daß dieser Gott Israels nicht ein Gott wie die Götter war, sondern der Gott, der über alle Länder und Völker verfügte. Das aber konnte er, weil er selbst alles, den Himmel und die Erde, geschaffen hatte. In der Verbannung, in der scheinbaren Niederlage Israels geschieht der Durchbruch zur Erkenntnis von dem Gott, der alle Völker und die ganze Geschichte in Händen hält; der alles trägt, weil er der Schöpfer von allem ist, bei dem alle Macht steht. (Fs)

22b Dieser Glaube mußte nun sein eigenes Gesicht finden, gerade gegenüber den Versuchungen der scheinbar siegreichen Religion Babylons, die sich in prunkvollen Liturgien darstellte, etwa in der Liturgie des Neujahrsfestes, in der die Neuschöpfung der Welt liturgisch begangen und vollzogen wurde. Er mußte sein Gesicht finden gegenüber dem großen babylonischen Schöpfungsbericht Enuma Elisch, der auf seine Weise die Herkunft der Welt schildert. Dort wird gesagt, daß die Welt aus einem Kampf gegensätzlicher Mächte entstand und daß sie ihre eigentliche Gestalt fand, als der Lichtgott Marduk auftrat und den Leib des Urdrachen zerspaltete. Aus diesem gespaltenen Leib seien Himmel und Erde geworden. Beides zusammen, das Firmament und die Erde, seien also der aufgerissene Leib des getöteten Drachen; aus seinem Blut aber habe Marduk die Menschen geschaffen. Es ist ein unheimliches Bild von Welt und Mensch, das uns hier begegnet: Eigentlich ist die Welt ein Drachenleib, der Mensch trägt Drachenblut in sich. Auf dem Grund der Welt lauert das Unheimliche, und im Tiefsten des Menschen steckt die Rebellion, das Dämonische und das Böse. Es ist eine Vorstellung, nach der nur der Vertreter Marduks, der Diktator, der König von Babylon, das Dämonische niederhalten und die Welt ins Lot bringen kann2. (Fs)

23a Solche Vorstellungen waren keine reinen Märchen: In ihnen drücken sich die unheimlichen Erfahrungen des Menschen mit der Welt und mit sich selber aus. Denn oft genug erscheint es wirklich so, als ob die Welt ein Drachenhaus und das Blut des Menschen Drachenblut wäre. Aber all diesen bedrängenden Erfahrungen gegenüber sagt der Bericht der Heiligen Schrift: So ist es nicht gewesen. Die ganze Geschichte von den unheimlichen Mächten schmilzt in einen halben Satz zusammen: »Die Erde war wüst und leer.« In den hier verwendeten hebräischen Wörtern stecken noch die Ausdrücke, die den Drachen, die dämonische Macht benannt hatten. Nun ist er nur noch das Nichts, gegenüber dem Gott als der allein Mächtige steht. Und gegenüber aller Furcht vor diesen dämonischen Mächten wird uns gesagt: Gott allein, die ewige Vernunft, die die ewige Liebe ist, hat die Welt geschaffen, und in seinen Händen steht sie. Auf diesem Hintergrund erst begreifen wir das Ringen, das hinter diesem biblischen Text steht, sein eigentliches Drama ist, daß er all diese verworrenen Mythen beiseite schiebt und daß er die Welt auf Gottes Vernunft und auf Gottes Wort zurückführt. Man könnte das Stück für Stück an diesem Text zeigen, etwa wenn nun Sonne und Mond als Lampen bezeichnet werden, die Gott aufhängt am Himmel, um die Zeiten zu messen. Für die Menschen von damals mußte es wie ein ungeheuerer Frevel erscheinen, die großen Gottheiten Sonne und Mond zu Lampen zwecks Zeitmessung zu erklären. Dies ist die Kühnheit, die Nüchternheit des Glaubens, der im Ringen mit den heidnischen Mythen das Licht der Wahrheit zum Vorschein bringt, indem er zeigt, daß die Welt nicht ein Streit der Dämonen ist, sondern daß sie aus Vernunft, aus Gottes Vernunft kommt und auf Gottes Wort steht. So erweist sich dieser Schöpfungsbericht als die entscheidende »Aufklärung« der Geschichte, als der Durchbruch aus den Ängsten, die den Menschen niedergehalten hatten. Er bedeutet die Freigabe der Welt an die Vernunft, die Erkenntnis ihrer Vernünftigkeit und Freiheit. Als die wahre Aufklärung erweist er sich aber auch darin, daß er die menschliche Vernunft festhält am Urgrund der schöpferischen Vernunft Gottes, um sie so festzuhalten in der Wahrheit und in der Liebe, ohne die Aufklärung maßlos und letzten Endes töricht wird. (Fs) (notabene)

24a Noch ein weiteres müssen wir hinzunehmen. Ich hatte eben gesagt, langsam, im Ringen mit der heidnischen Umwelt, im Ringen mit dem Herzen Israels erfährt dies Volk, was »Schöpfung« ist. Das schließt ein, daß der klassische Schöpfungsbericht nicht der einzige Schöpfungstext des heiligen Buches ist. Gleich nach ihm folgt ein weiterer, früher verfaßter, mit anderen Bildern. In den Psalmen stehen wieder andere, und nach ihnen geht das Ringen um die Klärung des Schöpfungsglaubens weiter: In der Begegnung mit dem Griechentum wird in der Weisheitsliteratur das Thema neu durchgeknetet, ohne daß man sich an die alten Bilder — wie die sieben Tage usw. — gebunden hielt. So können wir in der Bibel selbst sehen, wie sie die Bilder immer neu dem weitergehenden Denken anverwandelt; sie also immer neu umwandelt, um immer neu das eine zu bezeugen, das ihr wahrhaft aus Gottes Wort zugekommen ist: die Botschaft von seinem Schöpfertum. In der Bibel selbst sind die Bilder frei, korrigieren sich fortwährend und lassen so in diesem langsamen, ringenden Vorangehen durchscheinen, daß sie nur Bilder sind, die ein Tieferes und Größeres aufdecken. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Theologische Prinzipienlehre

Titel: Theologische Prinzipienlehre

Stichwort: Problem: wissenschatlich-technischer Fortschritt - Bedeutung von Tradition; Wende bei Hegel: Sein und Zeit ("schieben sich ineinander) -> 2 Folgen: Wahrheit als Funktion der Zeit -- als Ausdruck von Herrschaftsinteressen

Kurzinhalt: Das Sein selbst gilt nun als Zeit, der Logos wird in Geschichte zu sich selbst. Er kann also an keinem einzelnen Punkt der Geschichte angesiedelt, er kann nie übergeschichtlich als in sich selber Seiendes gesichtet werden; alle seine geschichtlichen ...

Textausschnitt: 1.1.1.1 Was ist für den christlichen Glauben heute konstitutiv?

Problemstellung

15a Die Frage, was für den christlichen Glaube heute konstitutiv sei, ist vom Verfasser nicht erfunden; sie wurde ihm vorgelegt, weil sie allenthalben und immer wieder begegnet.1 Dem näher Nachdenkenden freilich scheint sie falsch gestellt, denn konstitutiv kann nur sein, was nicht bloß heute ist. Richtiger und genauer müßte gefragt werden, was im Versinken des Gestrigen auch heute konstitutiv bleibt. Dennoch ist es nicht zufällig, daß sich die Frage rundum gerade in dieser Form erhebt, und insofern hat nun doch gerade diese Fragegestalt erhebliche heuristische Bedeutung. Dahinter wird ein Bewußtsein des unvergleichbar Neuen der gegenwärtigen Situation deutlich, einer Veränderung von Welt und Mensch, die nicht mit den gewöhnlichen Maßstäben geschichtlicher Veränderung gemessen werden kann, wie es sie immer schon gab, sondern einen epochalen Umschlag ohne Vergleichsmöglichkeiten bedeutet. Dieser Gedanke, daß sich mit dem Menschen und der Welt in der Situation einer immer totaler werdenden wissenschaftlichen und technischen Selbstverfügung etwas von Grund auf Neues abspiele, ist der Grund einer Traditionskrise, die allenfalls auf die wissenschaftlich bewiesenen Verhaltensmuster höherer Säugetiere zurückzugreifen bereit ist, aber in dem Eigenen menschlicher Geschichte keine Verbindlichkeit mehr erblicken kann und daher die Frage nach dem Geltenden selbst in solchen Traditionsträumen von Grund auf neu erhebt, die wie die katholische Kirche von klar umrissenen Maßstäben eindeutig geprägt schienen.2

16a Dieses Bewußtsein des Neuen das also die eigentliche Triebkraft unserer Frage darstellt, ist zum Teil einfach Reflex gegebener Erfahrungen, zum Teil aber auch durch philosophische Bewegungen bestimmt, die diese Erfahrungen aufgenommen und in Gesamtentwürfe des Wirklichen umgesetzt haben. Das alte Problem von Sein und Zeit, von den Eleaten, aber auch von Platon und Aristoteles fast ausschließlich zugunsten des Seins gelöst, taucht neu auf. Der entscheidende Einschnitt dürfte bei Hegel liegen, von dem an im philosophischen Denken Sein und Zeit immer mehr ineinander geschoben werden. Das Sein selbst gilt nun als Zeit, der Logos wird in Geschichte zu sich selbst. Er kann also an keinem einzelnen Punkt der Geschichte angesiedelt, er kann nie übergeschichtlich als in sich selber Seiendes gesichtet werden; alle seine geschichtlichen Objektivierungen sind nur Momente am Ganzen seiner selbst. Daraus ergeben sich zwei gegensätzliche Positionen. Auf der einen Seite erwächst die geistesgeschichtliche Philosophie, die eine allgemeine Versöhnung ermöglicht: Alles bisher Gedachte hat als Moment eines Ganzen seinen Sinn; es kann als Moment im Selbstaufbau des Logos verstanden und eingeordnet werden. Die katholische wie die reformatorische Auslegung des Christlichen haben in solcher Sicht je an ihrer Stelle ihre Bedeutung, sie sind wahr in ihrer geschichtlichen Stunde, aber sie bleiben doch nur wahr, indem man sie mit dem Enden ihrer Stunde verläßt und einordnet ins neu sich herausbildende Ganze. Wahrheit wird zur Funktion von Zeit; das Wahre ist nicht einfach wahr, weil auch die Wahrheit nicht einfach ist; es ist für eine Zeit wahr, weil es dem Werden der Wahrheit zugehört, die ist, indem sie wird. Das bedeutet naturgemäß, daß die Konturen zwischen wahr und unwahr unscharf werden; es bedeutet vor allem, daß die Grundeinstellung des Menschen zur Wirklichkeit und zu sich selbst anders werden muß: Treue zur gestrigen Wahrheit besteht in solcher Sicht gerade darin, sie zu verlassen, sie "aufzuheben" ins Heutige hinein; das Aufheben wird die Form des Bewahrens. Das gestern Konsumtive bleibt es heute nur als Aufgehobenes. Im Bereich des marxistischen Denkens wendet sich diese Ideologie der Versöhnung (wie man sie nennen könnte) in eine Ideologie der Revolution, das Aufheben ins Umwandeln. Der Gedanke der Kontinuität des Seins im Wandel der Zeit wird nun als interessenbedingter ideologischer Überbau derer durchschaut, die vom Bestehenden begünstigt werden. Er ist damit Reaktion, die der Logik der Geschichte entgegensteht, welche Fortschritte verlangt und das Verharren in den gegebenen Zuständen verbietet. Die Idee der Wahrheit wird als Ausdruck eines Herrschaftsinteresses desillusioniert; an ihre Stelle tritt die Idee des Fortschritts: Wahr ist, was dem Fortschritt, d. h. der Logik der Geschichte dient. Das Interesse einerseits, der Fortschritt andererseits treten die Erbschaft des Wahrheitsbegriffs an; das "Wahre", d. h. das der Logik der Geschichte Gemäße muß jeweils in jedem Schritt der Geschichte neu erfragt werden, weil das, was sich als bleibend wahr etabliert, gerade der Widerspruch zur Logik der Geschichte, ein stehenbleibendes Herrschaftsinteresse ist.3 (Fs) (notabene)

17a Auch wenn diese beiden Standpunkte selten in der eben skizzierten schematischen Reinheit auftreten, so hat sich doch die grundsätzliche Wende weitgehend durchgesetzt, die beide hinsichtlich des Verhältnisses von Sein und Zeit zum Ausdruck bringen. Die Grundentscheidung über unsere Frage fällt nicht im materialen Disput über einzelne christliche Inhalte, sondern hier, im Bereich ihrer philosophischen Voraussetzungen. Die inhaltlichen Diskussionen bleiben zusammenhanglose Rückzugsgefechte, wo diese Frage nicht angegangen wird: Gibt es im Wandel der geschichtlichen Zeiten eine erkennbare Identität des Menschen mit sich selbst? Gibt es eine menschliche "Natur"? Gibt es die Wahrheit, die unbeschadet ihrer geschichtlichen Vermittlung in aller Geschichte wahr bleibt, weil sie wahr ist? Die Frage der Hermeneutik ist letztlich die ontologische Frage als Frage nach der Einheit der Wahrheit in der Verschiedenheit ihrer geschichtlichen Offenbarungen.4 (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Theologische Prinzipienlehre

Titel: Theologische Prinzipienlehre

Stichwort: Das konstitutiv Christliche in der Urkirche; Aussagen: nominal (Jesus: Christus, Kyrios, Sohn Gottes), verbal (inhaltlich: was Gott durch Jesus getan hat); Lubac: trinitarische Struktur d. Credo ("ich glaube an ...)

Kurzinhalt: ... wenn das Mysterium sich verdichtet oder vertieft, so geschieht es immer im vollkommenen Kreis des Credo. Die charakteristische Form des Glaubens, "ich glaube an ..." ist einer der christlichen "Barbarismen" ...

Textausschnitt: Die Aussage des konstitutiv Christlichen in der Urkirche

17b Brechen wir vorläufig an dieser Stelle unsere Überlegung ab, die zunächst nur den Umfang des Problems und seinen eigentlichen Sitz kenntlich machen sollte, und fragen wir nun doch, naiv sozusagen, was in den christlichen Ursprüngen als das konstitutiv Christliche galt. Diese Mitte des Glaubens sagt die beginnende Kirche in bekenntnisartigen Formulierungen aus. H. Schlier hat darauf aufmerksam gemacht, daß von Anfang an zwei sprachlich unterschiedene, sachlich einander eng verbundene Bekenntnistypen begegnen: das nominale und das verbale Bekenntnis.1 Beides steht klassisch nebeneinander in Röm 10, 9f: "Wenn du mit deinem Mund bekennst, Jesus ist der Herr, und mit deinem Herzen glaubst, daß Gott ihn von den Toten erweckt hat, wirst du gerettet werden. Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber bekennt man zum Heil." Es stehen also nebeneinander das Bekenntnis: Jesus ist der Herr, und der Inhalt des Glaubens, der in den Satz gefaßt wird: Gott hat ihn von den Toten erweckt. Das Bekenntnis begegnet in der Form der Akklamation, die als pneumatisch inspirierter, rechtlich verbindlicher Zuruf eine Sprachgattung der Zeit darstellte:2 "Jesus ist der Herr." Die nominale Akklamation, die aussagt, wer und was Jesus ist, bildet zusammen mit der verbalen Glaubensaussage, die formuliert, was Gott in, an und durch Jesus getan hat, das "Wort des Glaubens", das Evangelium. (Fs)

18a In beiden Typen ist, bis zu ihrer Verschmelzung in die späteren Credo-Formeln hinein, eine bedeutsame Entwicklung zu beobachten. Im nominalen Typus begegnet zweierlei: Die Kyrios(Herr)-Formel als rechtsverbindlicher Zuruf an den Herrn im Heiligen Geist wird zugleich zur Entscheidungsformel gegenüber den "sogenannten Herren" (1 Kor 8, 5), den Mächten der Welt rundum, die sich "Herren" nennen und als Herren verehren lassen. Sie erweitert sich, wiederum einer schon bereitliegenden antiken Akklamationsformel gemäß, zu dem Bekenntnis: ??? ?????? ("Es ist nur ein Herr"), zur Aussage von der Einzigkeit des Herrentums Jesu. Damit aber rückt sie in die Nähe des Grundbekenntnisses Israels: E?? ???? ("Es ist nur ein Gott"), um sich alsbald mit diesem Bekenntnis zu einer einzigen Aussage zu verbinden: Es ist nur ein Gott und nur ein Herr (1 Kor 8,6). Die Einzigkeit Jesu steht nicht gegen die Einzigkeit Gottes, sondern versteht sich von ihr her, ist ihr Asudruck, ihre Form und ihr konkreter Vollzug. Das Kyrios-Bekenntnis bildet mit dem Bekenntnis Israels zum einzigen Gott ein Ganzes. Es wird Ausdruck für die Treue der Kirche zur zentralen Glaubensentscheidung des Alten Bundes.3 (Fs)

19a Daneben steht ein Weiteres: ein Prozeß der Sichtung und der Konzentration. Aus der Vielzahl von Prädikaten mit denen Jesus zunächst akklamatorisch benannt werden konnte, bleiben alsbald nur drei: Christus (Messias) - Herr - Sohn Gottes (??????? - ?????? - ???? ??? ????). Jeder dieser Titel hat seinen eigenen Bedeutungsgehalt. "Christus" wird durchweg in Sätzen verwendet, die vom Sterben Jesu handeln - es wird schließlich einfach zum Verweis auf das menschliche Geschick Jesu und damit immer mehr zum Eigennamen, hinter dem eben dieses Geschick steht.4 Das aber bedeutet, daß der Titel keine weitere theologische Entfaltungsmöglichkeit mehr besitzt und so als Titel, im Übergang zum Namen, abstirbt. "Kyrios" bezeichnet Jesus als den Herrscher über das All, als Herrn vor allem, der sich seine Kirche versammelt, und verweist so auch auf seine kultische und eschatologische Epiphanie. Es kann aber eine entscheidende Frage nicht beantworten: wie die beiden ???-Prädikationen ("ein Gott" - "ein Herr") miteinander zu verbinden sind. Damit wurde das Wort "Sohn Gottes" von selbst zur eigentlichen Achse der Bekenntnisbildung, hinter der schließlich auch die beiden vorigen Titel verschwinden. Hier verschmilzt diese zweite Bewegung mit der zuerst genannten: Die Verbindung zum Credo Israels, zu seinem Theozentrismus und damit die Klärung des umfassenden Anspruchs des Christenglaubens ergibt sich hier; zugleich aber erweist sich dieser Titel fähig, den Grundgehalt der verbalen Bekenntnisse in sich aufzunehmen: Jesus ist der Sohn Gottes, aber was dies heißt, zeigt sich gerade in dem, was er für uns ist, in seiner Geschichte. (Fs) (notabene)

19b Wenden wir uns vom nominalen Bekenntnis, welches aussagt, wer und was Jesus ist, zum verbalen - zum heilsgeschichtlichen, wie wir heute sagen würden. Es ist, wie wir sahen, Auferstehungsbekenntnis: Als Auferstandener ist Jesus der Herr, und er ist Herr, weil er auferstanden ist. Aber zum Auferstehungsbekenntnis gehört notwendig das Bekenntnis zum Kreuz. Von beiden Seiten her ergeben sich mit innerer Notwendigkeit Entfaltungen. Wenn die Auferstehung bekannt wird, so wird gewiß zunächst und ganz wesentlich ein geschehenes Ereignis bekannt. Aber dieses Ereignis ist doch eben deshalb bekennenswert, weil es eröffnet hat, was jetzt und hier gilt: Er ist der Auferstandene, die Gegenwart von Gottes Macht in einem Menschen, oder, wie Origenes schön formuliert hat: "Nun aber bleibt Versöhnungstag, bis die Welt ihr Ende nimmt".5 Das bedeutet also, daß die Welt fortan unter der Macht der Versöhnung steht, daß, wie wiederum Origenes sagt, nicht körperliches Blut, sondern "das Blut des Wortes" (???? ??? ?????), die versöhnende und einende Macht des Gottesgeistes, die aus dem Sterben Jesu kommt, auf uns hingewendet ist. Das Bekenntnis zur Auferstehung ist von innen her ein Bekenntnis zur Erhöhung und ein Bekenntnis zum Pneuma, zu der vom Herrn herkommenden vereinigenden Macht Gottes, die Gott selbst ist. (Fs)

20a Umgekehrt: Wo das Kreuz bekannt wird, da wird der irdische Jesus bekannt. Hier stoßen nun unmittelbar die Entwicklung des verbalen und des nominalen Bekenntnisses aufeinander. In dem Maß, in dem für das nominale Bekenntnis der Sohn-Gottes-Titel bestimmend wird, tritt auch das Wissen um die Präexistenz Jesu hervor, der als Sohn immer schon beim Vater ist. Im selben Maß wird Menschwerdung als Heilsereignis von Gott her erkannt, bis sie schließlich in Hebr 10, 5-10 förmlich als Wortgeschehen, als Gebetsgeschehen zwischen Vater und Sohn ausgelegt und so mit der Kreuzestheologie zusammengeschlossen wird: "Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, aber einen Leib mir bereitet" (Hebr 10, 5) - Inkarnation ist worthafte Annahme des Kreuzesleibes im pneumatischen Gespräch von Vater und Sohn. Die Ausweitung des verbalen, heilsgeschichtlichen Bekenntnisses hinter das Kreuz zurück ins Leben Jesu und die Ausweitung des nominalen, substantivischen Bekenntnisses in die Sohnschaftsaussage hinein treffen sich und verschmelzen ineinander. (Fs)

20b Damit ergibt sich auch die Antwort auf die Frage, die zwischen P. Benoit und O. Cullmann um die Grundstruktur des Symbols und um den Grundansatz des Christlichen überhaupt ausgetragen wurde.6 Cullmann sieht die entscheidende Weggabelung der Symbolgeschichte im Gegenüber von christologisch-heilsgeschichtlichem und trinitarischem Symbol; letzteres verkörpert für ihn einen metaphysischen Typus, der nicht mehr Glaube als Eintreten in die von Jesus Christus herkommende Geschichte, sondern als Zuwendung zum trinitarischen Gott in einem wesentlich ungeschichtlichen Vorgang vollziehe. Cullmann erblickt im Übergang zum trinitarischen Credo eine zentrale Verschiebung der christlichen Struktur, der gegenüber er die heilsgeschichtlich-christologischen Symbole als den einzig legitimen Ausdruck des Christlichen ansieht. Benoit (und nach ihm wieder H. de Lubac7) hat demgegenüber mit Nachdruck das trinitarische Symbol verteidigt, wie es sich aus Mt 28, 19 ergab, - es ist für beide der reife Abschluß der neutestamentlichen Entwicklung, in dem zugleich die Einheit der Testamente hergestellt ist: Das Bekenntnis der Christenheit bleibt wie dasjenige Israels ein Bekenntnis zu dem einen Gott, ist aber nun konkretisiert durch die Begegnung mit dem Menschgewordenen und mit dem von ihm gesandten Heiligen Geist; diese Begegnung aber ist zu ihrer vollen Tiefe geführt in der Erkenntnis, daß darin eben Begegnung mit Gott selbst geschieht. Lubac hebt noch dies heraus, daß die trinitarische Struktur dem Credo die einzigartige Konzentration eines einigen, einfachen Aktes des "credere in" (glauben an ...) gibt, der Übertragung der eigenen Existenz an den trinitarischen Gott; wo diese trinitarische Struktur vergessen wird, zerfällt das Credo in einen "Katalog" von Glaubensinhalten, wie man im Mittelalter formulieren wird.8 Wo aber Bekenntnis zur Aufzählung von glaubenspflichtigen Inhalten wird, Glaube quantitativ erscheint, entsteht die Frage nach der Reduktion mit Notwendigkeit. Bleibt hingegen die trinitarische Struktur im Blick, dann ist eine andere Aktgestalt gegeben: "Ob es sich nun um das Glaubensobjekt oder um die Gesamtheit der glaubenden Subjekte handelt - der Glaube ist demnach ein einziger, wie der Dreieinige Gott einer ist. Und wenn das Dogma sich entwickelt und sich aktualisiert, wenn das Mysterium sich verdichtet oder vertieft, so geschieht es immer im vollkommenen Kreis des Credo. Die charakteristische Form des Glaubens, "ich glaube an ..." ist einer der christlichen "Barbarismen", die notwendig waren und sich spontan, vor jeder reflektierten Erklärung einstellten, um das christlich Neue auszudrücken."9 Daß gerade dieses "glauben an", das die innere Einheit des Glaubens herstellt, die Heilsgeschichte nicht annulliert, sondern erst zu ihrer vollen Bedeutung bringt, dürfte nach dem vorhin Gesagten ersichtlich sein. (Fs)

22a Mir scheint, daß man von dem baptismalen und damit katechumenalen Kontext des trinitarischen Credo her noch eine weitere Behauptung hinzufügen darf: Das Bekenntnis Israels sprechen bedeutet "das Joch der Gottesherrschaft übernehmen".10 Es fällt auf, wie direkt im Alten Testament die Gottesprädikation "Ich bin der Herr" mit der ethischen Verpflichtung verbunden ist.11 Die Offenbarung des Gottesnamens ist eingebettet in den Zusammenhang, den das Wort aufreißt: "Ich kenne eure Leiden" (Ex 6,7). Sie ist untrennbar damit verbunden, daß Gott das Klagegeschrei des geknechteten Israel gehört hat, sie ist Ausdruck dieses Hörens. Das Bekenntnis zu dem einen Gott ist das Bekenntnis zu dem Gott, der das Recht der Witwen, der Waisen und der Fremdlinge verbürgt. Es ist Bekenntnis zu dem, der die Macht des Rechts auch und gerade da ist, wo irdisch Macht und Recht auseinanderfallen oder gegeneinander stehen. Die Loslösung des jüdischen Gottesglaubens vom nationalen Gesetz und den nationalen Überlieferungen Israels, die Paulus vollzogen hat, ist gerade nicht eine Loslösung dieses grundlegenden Gerechtigkeitsanspruchs von der Gottesidee, sondern die verschärfte Bestätigung dieses Zusammenhangs, der durch die Partikularisierung des jüdischen Gottesrechts verdunkelt war. Gewiß geht es nicht an, Christentum auf Orthopraxie zu reduzieren, aber noch weniger tragbar ist die Behauptung, das Christentum habe selbst keine moralische Aussage zu machen, sondern entlehne sie den jeweiligen Verhältnissen: Die Heiligkeit des Israels-Gottes, des Gottes Jesu Christi, schließt ein sehr präzises Ethos ein, das in den Zu- und Absagen der Taufspendung mit Recht eng mit dem Dialog des Glaubens verflochten, ja, zu dessen Vorbedingung gemacht wurde. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Theologische Prinzipienlehre

Titel: Theologische Prinzipienlehre

Stichwort: Problem: Sein - Zeit; Identität d. Kirche in d. Geschichte: communio (Lubac; Zirkel d. Credo): Einheit von Objekt u,. Subjekt; Augustinus: memoria (Vermittlung zw. Sein und Zeit), Gott Vater als Memoria (M.-Lehre); Antwort auf hermeneutische Frage

Kurzinhalt: Zugleich wird die Frage nach der Geschichte einigermaßen durchsichtig: Es gibt Verfallen oder Wachsen, Vergessen oder Vertiefen, aber keine Umschmelzung von Wahrheit in Zeit...

Textausschnitt: Die strukturelle Voraussetzung der Aussage: Communio

22b Kehren wir nach diesem Blick auf die inhaltliche Fragestellung zu dem philosophischen Problem zurück, von dem wir ausgegangen sind. In dem vorhin zitierten Satz von Lubac über die Einheit des trinitarischen Credo scheint mir ein wertvoller Fingerzeig für diese Frage zu liegen. Lubac spricht von dem vollkommenen Zirkel des Credo, dessen Glaube einer sei sowohl hinsichtlich seines Objekts wie hinsichtlich seines Subjekts. Was das »Objekt« angeht, so liegt die Einheit darin, daß alles getragen ist von dem Dreieinigen Gott, der als Dreieiniger und dreieinig Handelnder doch eben nur einer ist. Diesen Gedanken verdeutlicht Lubac dahingehend, daß nach solchem Glauben Gott nicht Einsamkeit, sondern Ekstase, vollständiges Weggehen aus sich darstellt. Das aber heißt: "Das Mysterium der Dreieinigkeit hat uns eine gänzlich neue Perspektive eröffnet: Der Grund des Seins ist communio."1 Von da aus läßt sich nun verstehen, wieso die Einheit des Objekts auch die des Subjekts einschließt: Trinitarischer Glaube ist communio, trinitarisch glauben heißt: communio werden. Historisch besagt dies, daß das Ich der Credo-Formeln ein kollektives Ich ist, das Ich der glaubenden Kirche, dem das einzelne Ich zugehört, soweit es glaubend ist. Das Ich des Credo schließt also den Übergang vom privaten Ich zum ekklesialen Ich ein. In der Subjektform ist demgemäß das Ich der Kirche vom Credo strukturell vorausgesetzt: Nur in der communio der Kirche spricht sich dieses Ich aus; die Einheit des bekennenden Subjekts ist die notwendige Entsprechung und Folge des bekannten "Objekts", des glaubend bekannten Gegenüber, das darin aufhört, bloßes Gegenüber zu sein.2 Wenn es dieses Ich des Credo, hervorgerufen und ermöglicht durch den trinitarischen Gott, wirklich gibt, dann ist damit die hermeneutische Frage grundsätzlich beantwortet. Denn dann ist dieses transtemporale Subjekt, die communio Ecclesiae, die Vermittlung zwischen Sein und Zeit. Augustin hat diese Einsicht unter Zuhilfenahme sowohl seines planatonischen wie des biblischen Erbes philosophisch zu reflektieren begonnen in seiner Philosophie des Gedächtnisses: Er hat das Gedächtnis als die Vermittlung zwischen Sein und Zeit erkannt; von da aus kann man wohl auch am ehesten einsehen, was es bedeutet, wenn er den Vater als Memoria, als "Gedächtnis" interpretiert. Gott ist Gedächtnis schlechthin, d. h. umgreifendes Sein, in dem aber das Sein als Zeit umgriffen ist. Christlicher Glaube umfaßt seinem Wesen nach den Akt des Gedenkens; darin stiftet er Einheit der Geschichte und Einheit der Menschen von Gott her oder vielmehr: Er kann Einheit der Geschichte stiften, weil Gott ihm Gedächtnis gegeben hat.3 (Fs) (notabene)

24a Ort allen Glaubens ist demgemäß die "memoria Ecclesiae", das Gedächtnis der Kirche, die Kirche als Gedächtnis. Sie besteht die Zeiten hindurch, wachsend oder auch verfallend, aber eben doch als der gemeinsame Raum des Glaubens. Dies beleuchtet noch einmal die Frage der Glaubensinhalte: Ohne dieses zusammenhaltende Subjekt des Ganzen sind sie nur ein mehr oder minder langer Katalog von Inhalten; im Inneren dieses Subjekts sind sie von diesem her eins. Das Subjekt ist der Einheitspunkt der Inhalte. Zugleich wird die Frage nach der Geschichte einigermaßen durchsichtig: Es gibt Verfallen oder Wachsen, Vergessen oder Vertiefen, aber keine Umschmelzung von Wahrheit in Zeit. Die Frage nach dem heute Konstitutiven ist in dieser Hinsicht eine Frage danach, ob dieses Subjekt Lebenskraft genug hat, um weiterzubestehen oder nicht. Wenn es nicht weiterleben kann, dann beginnt etwas Neues, in das vielleicht Elemente des Alten eingeschmolzen werden wie in die Gestalt des Christlichen Elemente griechischer Philosophie eingeschmolzen wurden, wie in das mittelalterliche Imperium Elemente der römischen Reichs und Elemente der alttestamentlichen Theokratie eingeschmolzen wurden, aber eben doch in einem neuen Subjekt der Geschichte. Von einer selbstgemachten Auswahl der Inhalte her gibt es kein Weiterleben. So lautet die Entscheidungsfrage heute, richtig gestellt, ob jenes Gedenken noch gelebt werden kann, durch welches die Kirche Kirche wird und ohne das sie ins Wesenlose zerfällt. (Fs) (notabene)

24b Damit ist die Frage nach der konkreten Form der Identität der Kirche in der Geschichte aufgeworfen. Vermutlich kann man diese Form nicht in einer Formel benennen; die Eucharistiefeier, der Vollzug der Sakramente, des Wortes sind Elemente dieser Identität. Man muß hinzufügen, daß seit der Auseinandersetzung mit der Gnosis als Grundgestalt dieser Identität die Succesio apostolica besteht - darauf beruht die spezifische Bedeutung dieses Themas für die katholische Theologie, eine Bedeutung, die es nicht zuläßt, diese Frage zu einem Einzelproblem unter vielen anderen zu reduzieren.4 Aber darüber soll und kann an dieser Stelle nicht gehandelt werden. Wichtig schiene mir noch etwas anderes: den biblischen Grund einer christlichen Memoria-Lehre neu zu erarbeiten. Ich denke, daß dafür besonders das Johannes-Evangelium wesentliche Hilfe leisten könnnte. Ich möchte nur zwei kleine Anmerkungen dazu beitragen. Der Abschluß der Tempelreinigungsperikope, der ersten deutlichen Ankündigung des Grundgeheimnisses von Tod und Auferstehung als Mitte christlichen Glaubens bietet so etwas wie eine erkenntnistheoretische Reflexion eben dieses Glaubens, wenn gesagt wird, nach der Auferstehung hätten sich die Jünger des Gesagten erinnert, "und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte" (Joh 2, 22). Christliches Glauben und Erkennen besteht demnach in dem Gefüge: der Schrift und dem Wort Jesu (Altes Testament + Neues Testament) in der pneumatischen Erinnerung der Jüngergemeinschaft glauben. Daß pneumatisches Erinnern der Ort für Wachstum und Identität des Glaubens ist, scheint mir geradezu die Grundformel der johanneischen Glaubensinterpretation im Gegenüber zur Gnosis zu sein. Diese Formel wird hinsichtlich ihres konkreten Anspruchs und ihres praktischen Vollzugs von Johannes in seiner Auslegung des Parakleten, des Trägers der Erinnerung, näher erläutert: Sein Wesen ist es, nicht aus dem Eigenen zu nehmen, nicht im eigenen Namen zu reden (so wie schon Jesus dadurch ausgewiesen war, daß er nicht für sich selber sprach). Das Kennzeichen pneumatischer Rede ist es demgemäß, nicht Rede im eigenen Namen, sondern Rede aus dem Erinnerten zu sein. Welch realistische Bedeutung diese Kriteriologie des Pneumatischen hatte, kann man vielleicht im 1. Johannesbrief deutlicher erkennen als im Evangelium; so ist es wohl doch auch kein Zufall, daß der Verfasser von 2 Joh (Vers 9) mit dem "Fortschrittler" (proágOn) in Konflikt gerät und ihm das "Bleiben bei der Lehre Christi" gegenüberstellt.5 (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Theologische Prinzipienlehre

Titel: Theologische Prinzipienlehre

Stichwort: Problem: Sein - Zeit; heutige Aufgabe (Kirche); "Kurzformeln" des Glaubens; Wiederherstellung des Lebenszusammenhangs der katechumenalen Einübung; Glaubensformeln leben vom Logos ("Zirkel" der communio); Schreibtischtheologie - Katechumenat

Kurzinhalt: [Es] dürfte einsichtig sein, daß auf dem Holzweg ist, wer Christentum von Formeln - vom Schreibtisch - her aufbauen will. Es gehört zu den Krankheiten der Kirche von heute, daß sie ihre Erneuerung weitgehend auf diese und ähnliche Weisen versucht.

Textausschnitt: Die heutige Aufgabe

25a Worauf aber läuft das Ganze hinaus? Zu welcher Antwort führt es? Vielleicht läßt sich das Positive am ehesten verdeutlichen im Gegenüber zu einem Versuch, den ich für aussichtslos halte. Die allenthalben gestellte Frage, was heute für den christlichen Glauben konstitutiv sei, hat einen hektischen Trieb zum Antworten ausgelöst, der rundum neue "Kurzformeln" des Glaubens aus dem Boden schließen ließ. Nun sind die Absichten, mit denen solche Texte verfertigt werden, in ihrem Anspruch sehr unterschiedlich; sie reichen von harmlosen katechetischen Hilfen über vielleicht noch anspruchslosere Versuche, Devotionsformen mit aktuellem Anstrich zu entwickeln, bis zu dem Anspruch, die alten Symbole abzulösen und das Christentum der Vergangenheit so in einem Christentum von heute und für heute "aufzuheben" - nach der Wahrheit von gestern Wahrheit für heute zu schaffen auf jenem geistigen Hintergrund, von dem eingangs die Rede war. Dazwischen steht das vermittelnde Bemühen, das zwar die alten Bekenntnisse nicht aufheben, aber in den neuen doch das Wesentliche des Glaubens werbewirksam zur Geltung bringen möchte. (Fs)

26a Nun wird niemand bestreiten, daß aus solchem Bemühen manches Nützliche abfallen kann; so wie aus der Raumfahrt nebenher sich Entdeckungen für den Menschen ergaben, die vielleicht weiterreichen als die unmittelbar gesetzten Ziele. Die Absicht als solche ist dennoch zum Scheitern verurteilt. Die anthropologischen, sprachphilosophischen und ekklesiologischen Fehleinschätzungen, die hier zugrunde liegen, habe ich anderwärts dargestellt; das soll hier nicht wiederholt werden.1 Auch ohne ausführliche Analysen dürfte einsichtig sein, daß auf dem Holzweg ist, wer Christentum von Formeln - vom Schreibtisch - her aufbauen will. Es gehört zu den Krankheiten der Kirche von heute, daß sie ihre Erneuerung weitgehend auf diese und ähnliche Weisen versucht. Nichts Lebendiges ist so entstanden, natürlich auch die Kirche selber nicht. Sie ist entstanden, weil jemand sein Wort gelebt und gelitten hat; durch seinen Tod hindurch ist sein Wort als das Wort überhaupt, als der Sinn allen Seins, der Logos begriffen worden. Auch die Formeln der alten Kirche sind nicht klüglich ausgedacht und dann verbreitet worden - sie wären dann so schnell in den Handschriften verstaubt, wie es die jetzigen meist in den bald veralteten Büchern tun. Das Symbol der Kirche ist (vor allem) aus dem Lebenszusammenhang des Katechumenats entwickelt worden und wurde in diesem Kontext vermittelt. Das Leben erschloß das Wort, und das Wort formte das Leben. In der Tat kann sich allein im Einleben in die Lebensgemeinschaft des Glaubens das Wort des Glaubens eröffnen. Was uns heute fehlt, sind primär nicht neue Formeln; eher muß man von einer Inflation ungedeckter Worte sprechen. Was wir vorab brauchen, ist eine Wiederherstellung des Lebenszusammenhangs der katechumenalen Einübung in den Glauben als Stätte gemeinsamer Erfahrung des Geistes, die so zur Basis auch einer wirklichkeitshaltigen Reflexion werden kann. Aus ihr werden gewiß auch neue Formulierungen hervorgehen, in denen zentrale Gegebenheiten des christlichen Glaubens einprägsam und überschaubar ausgesagt werden. Wichtiger noch als solche Kurzantworten, die jeder Katechismus kennt, wird eine zusammenhängende Logik des Glaubens sein, in der die Teilantworten ihren Platz haben. Die Formeln leben von der Logik, die sie trägt, die Logik aber lebt vom Logos, von dem Sinn, der sich ohne das Mitgehen des Lebens nicht erschließt - er ist an den "Zirkel" der communio gebunden, der nur im Ineinander von Denken und Leben betreten werden kann. (Fs)

27a Fassen wir zusammen! Was also ist "heute" für den christlichen Glauben konstitutiv? Nun, eben das, was ihn überhaupt konstituiert: das Bekenntnis zum Dreieinigen Gott in der Communio der Kirche, in deren feierndem Gedenken die Mitte der Heilsgeschichte - Tod und Auferstehung des Herrn - Gegenwart ist. Diese Mitte ist, wie man sieht, nicht einfach eine "zeitlose Wahrheit", die als eine ewige Idee beziehungslos über dem Raum der wechselnden Tatsachen schwebt. Diese Mitte, die an den Akt des "Glaubens an" gebunden ist, weist den Menschen in den dynamischen Kreis der trinitarischen Liebe ein, die nicht nur Subjekt und Objekt vereint, sondern auch die getrennten Subjekte zueinander bringt, ohne ihnen ihr Eigenes zu nehmen. Weil diese schöpferische Liebe nicht blinder Wille oder pures Gefühl, sondern als Liebe Sinn und als Sinn Logos, schöpferische Vernunft alles Wirklichen ist, darum ist ihr nicht ohne Logik, ohne Gedanke und Wort zu entsprechen. Aber weil die wahre Vernunft nicht in der Abstraktion des Gedankens, sondern in der Reinigung des Herzens zutage tritt, darum ist sie an einen Weg gebunden, an den Weg, den der vorgegangen ist, von dem gesagt werden darf: Er ist der Logos. Dieser Weg heißt Tod und Auferstehung; der trinitarischen communio entspricht die sakramental-reale communio des Lebens aus dem Glauben, für die der Mensch in Tod und Auferstehung seiner Bekehrung gereinigt wird. Sieht man dies, so werden Umfang und Art der heutigen Aufgabe deutlich: Schreibtischtheologie, so Nützliches sie zu schaffen vermag, reicht da gewiß nicht aus. Christliche Lehre ist ursprünglich im Zusammenhang des Katechumenats erwachsen; nur von dort her kann sie sich auch wieder erneuern. Insofern wird, wie schon vorhin angedeutet, die Ausbildung einer zeitgemäßen Form des Katechumenats zu den dringendsten Aufgaben zu zählen sein, vor denen heute Kirche und Theologie stehen. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Theologische Prinzipienlehre

Titel: Theologische Prinzipienlehre

Stichwort: Taufe, Glaube und Zugehörigkeit zur Kirche (die Einheit von Struktur und Gehalt); Zweieinheit von Wort und Materie (Christologie): Geschichte, Zeit (Glaube, Gemeinschaft) - Kosmos; Kritik an moderner Haltung (Descartes)

Kurzinhalt: Das Sakrament als Grundform des christlichen Gottesdienstes umspannt Materie und Wort, d. h., es gibt der Religion eine kosmische und eine geschichtliche Dimension, weist uns Kosmos und Geschichte als Ort unserer Gottesbegegnung zu.

Textausschnitt: 1.1.1.2 Taufe, Glaube und Zugehörigkeit zur Kirche - die Einheit von Struktur und Gehalt

1. Vorüberlegung zu Sinn und Struktur der Sakramente

28a Obgleich die Taufe das Eingangssakrament in die Gemeinschaft des Glaubens darstellt, ist sie bei der Erneuerung des liturgischen und theologischen Bewußtseins in den letzten Jahrzehnten trotz mancher bedeutender Arbeiten immer etwas am Rande geblieben1. Dabei kann man weder das Wesen der Kirche noch die Struktur des Glaubensaktes richtig begreifen, wenn man die Taufe außer acht läßt; umgekehrt kann man freilich auch von der Taufe kaum etwas verstehen, wenn man sie nur liturgisch oder nur im Kontext der Erbsündenlehre betrachtet. Im folgenden soll es weder um eine ausgeführte Theologie der Taufe noch um einen Traktat über den Glauben oder über die Kirchengliedschaft gehen, sondern um eine Besinnung, die sich an der Nahtstelle all dieser Themen bewegt und dadurch etwas über sie sichtbar zu machen versucht, was nur bei der Zusammenschau in Erscheinung tritt. (Fs)

28b Die Methode soll so angelegt werden, daß wir, um Umwege zu sparen und möglichst das Zentrum der Taufe wie ihre Bedeutungstiefe zu verstehen, einfach den Kernakt der Taufspendung, das Sakrament in seinem lebendigen Vollzug untersuchen; ganz allgemein dürfte es sich ja für die Sakramententheologie empfehlen, möglichst wenig abstrakt zu verfahren und möglichst nahe am gottesdienstlichen Geschehen zu bleiben. Freilich stellt sich uns nun doch zuerst ein Hindernis sehr grundsätzlicher Art in den Weg, das eine kurze Vorüberlegung verlangt - die innere Ferne zum Sakrament überhaupt, die sich aus der neuzeitlichen Lebenseinstellung ergibt2. Was sollen ein paar Tropfen Wasser mit dem Gottesverhältnis des Menschen, mit dem Sinn seines Lebens, mit seinem geistigen Weg zu tun haben — das ist doch die Frage, über die immer mehr Menschen einfach nicht hinwegkommen. Kürzlich ist unter Pastoraltheologen die Meinung geäußert worden, Taufe und Handauflegung seien seinerzeit in Gebrauch gekommen, weil die meisten Christen des Schreibens nicht fähig waren; hätte man schon damals in einer solchen Schriftkultur wie heute gelebt, so hätte man statt dessen Urkunden ausgefertigt - so wird gesagt. Schnell stellt sich dann der Vorschlag ein, das damals Unmögliche nun endlich nachzuholen und so die neue Phase der "Liturgiegeschichte" einzuleiten, zu der es hohe Zeit sei. Das Sakrament als archaische Vorstufe der Bürokratie? Solche Vorschläge lassen nur sichtbar werden, wie fremd heute auch Theologen das Gebilde "Sakrament" geworden ist. Die Frage nach Ersetzbarkeit oder Unaustauschbarkeit der Taufe werden wir während unseres ganzen Überlegungsganges vor Augen behalten müssen; einstweilen geht es um ein erstes Vortasten aufs Grundsätzliche. (Fs)

29a Die Taufspendung setzt sich zusammen aus dem sakramentalen Wort und dem Akt des Begießens mit Wasser bzw. des Ein- und Untertauchens im Wasser. Warum eigentlich, über das (gewiß zentrale) positivistische Argument hinaus, daß auch Jesus selbst schon mit Wasser getauft wurde? Wer näher zusieht, wird bemerken, daß diese Zweieinheit von Wort und Materie kennzeichnend ist für den christlichen Gottesdienst, für die Struktur des christlichen Gottesverhältnisses überhaupt. Dazu gehört einerseits die Einbeziehung des Kosmos, der Materie: Christlicher Glaube kennt keine absolute Scheidung zwischen Geist und Materie, zwischen Gott und Materie. Die durch Descartes tief ins Bewußtsein der Neuzeit eingeprägte Trennung von res extenso, und res cogitans gibt es in dieser Weise nicht, wo die ganze Welt als Schöpfung geglaubt wird. Das Hereinnehmen des Kosmos, der Materie in die Gottesbeziehung ist so ein Bekenntnis zum Schöpfergott und zur Welt als Schöpfung, zur Einheit aller Wirklichkeit vom Creator Spiritus her. Es knüpft auch die Verbindung zwischen dem christlichen Glauben und den Religionen der Völker, die als kosmische Religionen in den Elementen der Welt Gott suchen und ein Stück weit wahrhaft auf seiner Spur sind. Zugleich ist es Ausdruck der Hoffnung auf die Verwandlung des Kosmos. Dies alles sollte uns helfen, die grundsätzliche Bedeutung des Sakraments wieder verstehen zu lernen. Trotz aller Wiederentdeckung des Leibes, trotz aller Verherrlichung der Materie bleiben wir bis zur Stunde tiefgehend von der kartesischen Teilung der Wirklichkeit bestimmt: In das Gottesverhältnis wollen wir die Materie nicht hineinnehmen. Wir halten sie für unfähig, Ausdruck der Gottesbeziehung oder gar Medium zu werden, durch das Gott uns berührt. Wir sind nach wie vor versucht, Religion allein auf Geist und Gesinnung zu beschränken, und provozieren gerade dadurch, daß wir Gott nur die Hälfte der Wirklichkeit zusprechen, den krassen Materialismus, der seinerseits keine Verwandlungsfähigkeit in der Materie mehr entdeckt. (Fs) (notabene)

30a Im Sakrament hingegen gehören Materie und Wort zusammen, gerade das macht seine Eigentümlichkeit aus. Wenn das materielle Zeichen die Einheit der Schöpfung, die Einbeziehung des Kosmos in die Religion ausdrückt, so bedeutet andererseits das Wort die Hineinnahme des Kosmos in die Geschichte. Schon in Israel gibt es nie das bloße kosmische Zeichen, etwa den wortlosen kosmischen Tanz oder das bloße naturale Opfer wie in vielen sogenannten Naturreligionen. Immer tritt zum Zeichen die Weisung, das Wort, das die Zeichen in die Bundesgeschichte Israels mit seinem Gott einordnet3. Das Gottesverhältnis erhebt sich nicht einfach aus dem Kosmos und seinen immerwährenden Symbolen, sondern aus einer gemeinsamen Geschichte, in der Gott Menschen zusammengeführt hat und ihnen Weg wurde4. Das Wort im Sakrament drückt den geschichtlichen Charakter des Glaubens aus; Glaube kommt dem Menschen nicht als isoliertem Ich zu, sondern er empfängt ihn aus der Gemeinschaft derer, die vor ihm geglaubt haben und die ihm Gott als eine gegebene Realität ihrer Geschichte zutragen. Die Geschichtlichkeit des Glaubens bedeutet zugleich seine Gemeinschaftlichkeit und seine zeitüberspannende Kraft: das Gestern, das Heute und das Morgen im Vertrauen auf denselben Gott zu vereinigen. So kann man auch sagen, daß das Wort in unsere Gottesbeziehung den Faktor Zeit einträgt, wie das materielle Element den kosmischen Raum darin einbringt. Und mit der Zeit bringt es die anderen Menschen mit ein, die in diesem Wort gemeinsam ihren Glauben aussagen und ihren Glauben, die Nähe Gottes empfangen. Auch hier korrigiert die sakramentale Struktur eine typisch neuzeitliche Einstellung: Wie wir die Religion gerne ins bloß Geistige verweisen, so auch ins bloß Individuelle. Wir möchten Gott selbst gefunden haben, wir errichten einen Widerspruch zwischen Tradition und Vernunft, zwischen Tradition und Wahrheit, der schließlich tödlich ist. Der Mensch ohne Tradition, ohne den Zusammenhang lebendiger Geschichte ist wurzellos und versucht eine Autonomie, die zu seinem Wesen in Widerspruch steht5. (Fs)

31a Fassen wir zusammen: Das Sakrament als Grundform des christlichen Gottesdienstes umspannt Materie und Wort, d. h., es gibt der Religion eine kosmische und eine geschichtliche Dimension, weist uns Kosmos und Geschichte als Ort unserer Gottesbegegnung zu. In dieser Tatsache liegt die Einsicht mit einbeschlossen, daß der christliche Glaube die früheren Religionsformen und -stufen nicht einfach aufhebt, sondern gereinigt in sich aufnimmt und so erst voll zur Wirkung bringt. Ihre letzte Vertiefung und Begründung erfährt die vom Alten Testament, von seinem Schöpfungs- und Geschichtsglauben herkommende Doppelstruktur des Sakraments aus Wort und Element in der Christologie, in dem Wort, das Fleisch wurde, in dem Erlöser, der zugleich der Schöpfungsmittler ist. So ist die Materialität und die Geschichtlichkeit des sakramentalen Gottesdienstes immer zugleich ein christologisches Bekenntnis: ein Hinweis auf den Gott, der sich nicht gescheut hat, Fleisch anzunehmen und so in der geschichtlichen Mühsal eines irdischen Menschenlebens Last und Hoffnung der Geschichte wie Last und Hoffnung des Kosmos an sein Herz gezogen hat. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Krise; Kirchenverständnis (Ekklesiologie) - Ursache der Glaubenskrise; manche Theologen: Kirche nach d. Muster nordamerikanischer Freikirchen; Kirche eingesetzt von Christus - von Menschen gemacht; Volk Gottes - Leib Christi

Kurzinhalt: "Mein Eindruck ist, daß weithin die genuin katholische Bedeutung der Wirklichkeit 'Kirche' stillschweigend verschwindet, ohne daß man sie ausdrücklich verwirft... Für den Präfekten wird die schwierige Lage durch die Tatsache verschärft, daß es nicht ...

Textausschnitt: Das Kirchenverständnis - eine Ursache der Glaubenskrise
A12, E12

45a Krise also. Aber wo befindet sich Ihrer Meinung nach die entscheidende Bruchstelle, der Riß, der sich ständig vergrößert und so die Stabilität des gesamten Gebäudes des katholischen Glaubens bedroht?

45b Für Kardinal Ratzinger gibt es keinen Zweifel: Die Warnung gilt vor allem der Krise des Kirchenverständnisses, der Ekklesiologie: "Hierin liegt die Ursache für einen guten Teil der Mißverständnisse beziehungsweise der tatsächlichen und eigentlichen Irrtümer, die sowohl die Theologie als auch das allgemeine katholische Bewußtsein gefährden." Er führt dazu aus: "Mein Eindruck ist, daß weithin die genuin katholische Bedeutung der Wirklichkeit 'Kirche' stillschweigend verschwindet, ohne daß man sie ausdrücklich verwirft. Viele glauben nicht mehr, daß es sich um eine Wirklichkeit handelt, die vom Herrn selbst gewollt ist. Auch bei einigen Theologen erscheint die Kirche als ein menschliches Konstrukt, als ein Instrument, das von uns geschaffen ist und das somit wir selbst je nach den Erfordernissen des Augenblicks frei umorganisieren können. Das heißt, es macht sich vielfach im katholischen Denken und auch in der katholischen Theologie ein Kirchenverständnis breit, das man auch nicht protestantisch im 'klassischen' Sinn nennen kann. Manche heute gängigen ekklesiologischen Ideen muß man eher dem Muster nordamerikanischer Freikirchen zuordnen, in die damals die Gläubigen flüchteten, um der repressiven Form ihrer von der Reformation hervorgebrachten 'Staatskirche' zu entfliehen. Jene Flüchtlinge schufen, da sie nicht an eine von Christus gewollte institutionelle Kirche glaubten und zugleich der Staatskirche entgehen wollten, ihre Kirche, eine nach ihren Bedürfnissen strukturierte Organisation."

46a Wie sieht es dagegen für die Katholiken aus?

"Für einen Katholiken - erklärt er - setzt sich die Kirche zwar auch aus Menschen zusammen, die ihr äußeres Erscheinungsbild gestalten; aber hinter diesem sind die grundlegenden Strukturen von Gott selbst gewollt und somit unantastbar. Hinter dem menschlichen Äußeren steht das Mysterium einer übermenschlichen Wirklichkeit, in die einzugreifen Reformern, Soziologen und Organisatoren keinerlei Autorität zukommt. Wird die Kirche hingegen als ein menschliches Gebilde, als unser Machwerk angesehen, so werden letztlich auch die Inhalte des Glaubens beliebig: Dem Glauben fehlt dann in der Tat ein authentisches und verläßliches Ausdrucksmittel. Ohne eine auch übernatürliche und nicht bloß soziologische Sicht des Mysteriums der Kirche verliert auch gerade die Christologie ihren Bezug zum Göttlichen zugunsten einer rein menschlichen Struktur und kommt schließlich einem menschlichen Projekt gleich. Das Evangelium wird zum Jesus-Projekt, zum Projekt sozialer Befreiung oder zu anderen nur geschichtlichen, immanenten Projekten, die sich noch als religiös gebärden mögen, in der Substanz aber atheistisch sind."

46b Während des II. Vatikanums wurde - in den Wortmeldungen einiger Bischöfe, in den Reden ihrer theologischen Berater, aber auch in den verabschiedeten Dokumenten sehr der Begriff der Kirche als "Volk Gottes" betont, eine Auffassung, die dann in den nachkonziliaren Ekklesiologien dominierend wurde. (Fs)

47a "Das stimmt, es gab und es gibt diese Akzentsetzung, die sich jedoch in den Konzilstexten mit anderen, die sie ergänzen, die Waage hält; ein Gleichgewicht, das bei vielen Theologen verlorengegangen ist. Anders aber als diese denken, riskiert man auf diese Weise, daß man zurückgeht anstatt vorwärts. Es besteht hier sogar die Gefahr, daß man das Neue Testament verläßt, um ins Alte zurückzukehren. Die Bibel meint mit 'Volk Gottes' in der Tat das Volk Israel in seiner Gebetsbeziehung und Treue zum Herrn. Aber sich allein auf diesen Ausdruck zu beschränken, um die Kirche zu definieren, bedeutet, ihr neutestamentliches Verständnis nicht in seiner Ganzheit aufzuzeigen. Hier verweist 'Volk Gottes' in der Tat immer auf das alttestamentliche Element der Kirche, auf ihre Kontinuität zu Israel. Aber ihr neutestamentliches Merkmal erhält die Kirche deutlicher in dem Begriff 'Leib Christi'. Man ist nicht Kirche und man wird nicht ihr Mitglied durch die soziologische Zugehörigkeit, sondern eben durch die Eingliederung in diesen Leib des Herrn durch die Taufe und die Eucharistie. Hinter dem heute so ausschließlich in den Vordergrund gestellten Kirchenbegriff 'Volk Gottes' verbergen sich wiederum Einflüsse von Ekklesiologien, die de facto zum Alten Testament zurückkehren; und vielleicht auch politische, parteiliche und kollektivistische Einflüsse. In Wirklichkeit gibt es keinen wirklich neutestamentlichen, katholischen Kirchenbegriff ohne direkten und vitalen Bezug nicht nur zur Soziologie, sondern zuerst zur Christologie. Die Kirche erschöpft sich nicht im 'Kollektiv' der Gläubigen: Indem sie 'Leib Christi' ist, ist sie weitaus mehr als die Summe ihrer Glieder." (Fs) (notabene)

47b Für den Präfekten wird die schwierige Lage durch die Tatsache verschärft, daß es nicht möglich scheint, in einem so vitalen Punkt wie der Ekklesiologie über den Weg von Verlautbarungen eine Klärung herbeizuführen. Obwohl es auch an diesen nicht gefehlt hat, wäre seiner Ansicht nach eine Arbeit notwendig, die in die Tiefe geht: "Es ist nötig, wieder ein echt katholisches Klima zu schaffen, den Sinn der Kirche als Kirche des Herrn, als Raum der realen Gegenwart Gottes in der Welt wiederzufinden. Jenes Mysterium, von dem das II. Vatikanum spricht, wenn es jene in erschreckender Weise herausfordernden und doch der gesamten katholischen Tradition entsprechenden Worte schreibt: 'Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi' (Lumen gentium, Art. 3)."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Krise; die K. Jesu Christi, nicht der Menschen; communio sanctorum (auch Sakramente); Kirche: sakramental, hierarchisch - nicht: demokratisch

Kurzinhalt: Wenn die Kirche ... nur wir sind, wenn ihre Strukturen nicht die von Christus gewollten sind, dann versteht man auch nicht mehr die Existenz einer vom Herrn selbst eingesetzten Hierarchie als Dienst an den Gläubigen.

Textausschnitt: Die Kirche Jesu Christi, nicht der Menschen

48a Zur Bestätigung des "qualitativen" Unterschieds der Kirche gegenüber jeder menschlichen Organisation fügt er hinzu: "In dieser Welt überschreitet nur die Kirche die für den Menschen schlechthin unüberwindbare Grenze: die Grenze des Todes. Ob sie lebendig oder tot sind, die Glieder der Kirche leben in Verbindung mit jenem Leben, das aus dem Hineingenommensein aller in den Leib Christi herrührt."

Es handelt sich um die Wirklichkeit, bemerke ich, die die katholische Theologie immer communio sanctorum, die Gemeinschaft der "Heiligen", genannt hat; wobei die "Heiligen" alle Getauften sind. (Fs)

48b "Gewiß - sagt er -, aber man darf nicht vergessen, daß der lateinische Ausdruck nicht nur die Verbundenheit der - lebenden oder verstorbenen - Glieder der Kirche bedeutet. Communio sanctorum bedeutet auch, die 'heiligen Dinge' gemeinsam haben, das heißt die Gnade der Sakramente, die aus dem gestorbenen und auferstandenen Christus hervorgehen. Gerade dieses geheimnisvolle und doch reale Band, diese Verbundenheit im Leben, ist auch der Grund dafür, daß die Kirche nicht unsere Kirche ist, über die wir nach Belieben verfügen können; sie ist vielmehr Seine Kirche. All das, was nur unsere Kirche ist, ist nicht im tiefen Sinn Kirche, es gehört zu ihrem menschlichen und folglich nebensächlichen, vergänglichen Aspekt."

49a Hat das Vergessen oder das Verleugnen dieses katholischen Kirchenbegriffs, so frage ich, nicht auch Auswirkungen auf die Beziehungen zur kirchlichen Hierarchie?

"Gewiß, und sogar mit die gravierendsten. Hier liegt die Ursache für den Verfall des ursprünglichen Verständnisses von 'Gehorsam', der nach der Meinung einiger nicht einmal mehr eine christliche Tugend ist, sondern Erbe einer autoritären, dogmatischen und folglich zu überwindenden Vergangenheit. Wenn die Kirche in der Tat unsere Kirche ist, wenn die Kirche nur wir sind, wenn ihre Strukturen nicht die von Christus gewollten sind, dann versteht man auch nicht mehr die Existenz einer vom Herrn selbst eingesetzten Hierarchie als Dienst an den Gläubigen. Man lehnt die Vorstellung einer von Gott gewollten Autorität ab, einer Autorität also, die ihre Legitimierung in Gott hat und nicht - wie es in den politischen Strukturen geschieht - im Konsens der Mehrheit der Mitglieder einer Organisation. Aber die Kirche Christi ist keine Partei, keine Vereinigung, kein Club; ihre tiefe und unaufhebbare Struktur ist nicht demokratisch, sondern sakramental, folglich hierarchisch; denn die auf der apostolischen Sukzession gegründete Hierarchie ist unabdingbare Bedingung, um zur Kraft, zur Wirklichkeit des Sakramentes zu gelangen. Die Autorität hier gründet sich nicht auf Mehrheitsvoten; sie gründet sich auf die Autorität Christi selbst, der sie Menschen weitergeben wollte, die seine Repräsentanten sein sollten bis zu seiner endgültigen Wiederkunft. Nur wenn man diese Sicht wiedererlangt, wird es möglich sein, die Notwendigkeit und die Fruchtbarkeit des Gehorsams gegenüber der legitimen kirchlichen Hierarchie erneut zu entdecken."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Krise; Reform; Ecclesia semper reformanda; römische Liturgie: schaue nicht auf meine Sünden; Glaube: Antwort der Kirche auf Christus; Heilige als Wegweiser

Kurzinhalt: [Text des II. Vatikanums, Hinweis], indem er von der 'Treue der Braut Christi' spricht, die durch die Treulosigkeiten ihrer Glieder nicht in Frage gestellt ist... wahre 'Reform' ist dort, wo wir uns bemühen, das Unsere soweit wie möglich verschwinden ...

Textausschnitt: Für eine wahre Reform

50a Und doch gibt es, sage ich, neben dem traditionellen Ausdruck communio sanctorum (in jener umfassenden Bedeutung) auch einen anderen lateinischen Satz, der unter den Katholiken immer Gültigkeit hatte: Ecclesia semper reformanda, die Kirche bedarf immer der Reform. Das Konzil hat diesbezüglich klar geäußert: "Obwohl die Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes die treue Braut des Herrn geblieben ist und niemals aufgehört hat, das Zeichen des Heils in der Welt zu sein, so weiß sie doch klar, daß unter ihren Gliedern, ob Klerikern oder Laien, im Lauf so vieler Jahrhunderte immer auch Untreue gegen den Geist Gottes sich fand. Auch in unserer Zeit weiß die Kirche, wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist. Wie immer auch die Geschichte über all dies Versagen urteilen mag, wir selber dürfen dieses Versagen nicht vergessen, sondern müssen es unerbittlich bekämpfen, damit es der Verbreitung des Evangeliums nicht schade" (Gaudium et spes, Art. 43). Wenn wir das Mysterium anerkennen, so sind wir doch auch aufgerufen, uns zu bemühen, die Kirche zu verändern?

50b "Gewiß - erwidert er -, in ihren menschlichen Strukturen ist die Kirche semper reformanda. Man muß sich jedoch in der Frage klar werden, wie und bis zu welchem Punkt. Der zitierte Text des II. Vatikanums gibt uns bereits einen deutlichen Hinweis, indem er von der 'Treue der Braut Christi' spricht, die durch die Treulosigkeiten ihrer Glieder nicht in Frage gestellt ist. Um das noch deutlicher zu machen, greife ich die lateinische Formel auf, die die römische Liturgie in jeder Messe zum 'Friedensgruß' vor der Kommunion dem Zelebranten in den Mund legte. Jenes Gebet lautet: 'Domine Jesu Christe (...) ne respicias peccata mea, sed fidem Ecclesiae tuae'; das heißt: 'Herr Jesus Christus, schaue nicht auf meine Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche.' Bei der Neufassung des Missale ist - mit durchaus einsichtigen Gründen - diese Ich-Formel zu einer Wir-Formel verändert worden: 'Sieh nicht auf unsere Sünden.' Ich möchte hier nicht Wert oder Unwert einer solchen Veränderung diskutieren, wohl aber auf ein Problem hinweisen, das dabei zum Vorschein kommt."

51a Warum soll man dem Übergang vom Ich zum Wir ein so großes Gewicht beimessen?

"Weil es - so erklärt er - einen wohlbedachten Sinn hatte, daß die Bitte um Vergebung in der ersten Person ausgesprochen wurde: Darin liegt ein Hinweis auf jene Notwendigkeit des persönlichen Eingeständnisses der eigenen Schuld, auf jene Unerläßlichkeit der persönlichen Bekehrung, die heute hingegen oft hinter der anonymen Masse des 'Wir', der Gruppe, des 'Systems', der Menschheit verschwindet, wo alle sündigen und folglich am Ende keiner gesündigt zu haben scheint. Auf diese Weise löst sich der Sinn für die Verantwortlichkeit, für die Schuld jedes einzelnen auf. Natürlich kann man die Neufassung des Textes auch richtig verstehen, weil in der Sünde immer das Ich und das Wir ineinandergreifen. Wesentlich ist, daß bei der neuen Betonung des Wir das Ich nicht verschwindet."

51b Dieser Punkt, so bemerke ich, ist wichtig, und es wird sich lohnen, später darauf zurückzukommen; aber kehren wir für jetzt dorthin zurück, wo wir stehengeblieben waren: zum Zusammenhang zwischen dem Axiom Ecclesia semper reformanda und der Anrufung Christi um persönliche Vergebung. (Fs)

52a "Einverstanden, kehren wir zu jenem Gebet zurück, das die Weisheit der Liturgie in einem bedeutsamen Moment der Messe einfügte, im Augenblick des physischen, innerlichen Einswerdens mit dem Christus, der sich zu Brot und Wein gemacht hat. Die Kirche ging davon aus, daß jeder, der die Messe zelebrierte, es nötig hätte zu sagen: 'Ich habe gesündigt; Herr, schaue nicht auf meine Sünden.' Es war die obligatorische Anrufung jedes Priesters: Die Bischöfe, selbst der Papst mußten sie in ihrer täglichen Messe gleichermaßen aussprechen wie jeder Priester. Und auch die Laien, all die anderen Glieder der Kirche, waren aufgerufen, sich jener Anerkennung der Schuld anzuschließen. Folglich mußten sich ausnahmslos alle in der Kirche als Sünder bekennen, die Vergebung erbitten, sich also auf den Weg ihrer wahren Reform begeben. Aber dies bedeutete keineswegs, daß auch die Kirche als solche Sünderin wäre. Die Kirche - das haben wir gesehen - ist eine Wirklichkeit, die auf geheimnisvolle und zugleich unendliche Weise die Summe ihrer Glieder übersteigt. In der Tat stellte man, um die Vergebung Christi zu erlangen, meiner Sünde den Glauben seiner Kirche gegenüber."

52b Und heute?

"Heute scheint dies von vielen Theologen, Geistlichen und Laien vergessen. Es geht gar nicht so sehr um die Umkehrung vom Ich zum Wir, von der persönlichen Verantwortung zur Betonung des kollektiven Elements. Der Gegensatz wird von uns heute spontan eher umgekehrt verstanden; man möchte sagen: 'Schaue nicht auf die Sünden der Kirche, sondern auf meinen Glauben' ... Wenn dies wirklich geschieht, sind die Konsequenzen schwerwiegend: Aus den Sünden der einzelnen werden die Sünden der Kirche, und der Glaube ist auf ein persönliches Geschehen reduziert, auf meine Weise, Gott und seine Forderungen zu verstehen und zu bejahen. Ich fürchte wirklich, daß dies heute eine weitverbreitete Art zu fühlen und zu denken ist: Es ist ein weiteres Zeichen, wie sehr sich vielerorts das katholische Allgemeinbewußtsein von einem authentischen Kirchenverständnis entfernt hat."

53a Was also tun?

"Wir müssen - antwortet er - wieder zum Herrn sagen: 'Wir sündigen, aber nicht die Kirche sündigt, die Dein ist und die Trägerin von Glauben ist.' Der Glaube ist die Antwort der Kirche auf Christus; sie ist Kirche in dem Maß, in dem sie Akt des Glaubens ist. Dieser Glaube ist nicht ein individueller, einsamer Akt, eine Antwort des einzelnen. Glaube bedeutet, gemeinsam glauben, mit der ganzen Kirche."

Worauf können sich dann jene "Reformen" beziehen, die wir doch immer in unsere Gemeinschaft von Glaubenden, die in der Geschichte leben, einbringen sollen?

53b "Wir müssen dabei immer gegenwärtig haben, daß die Kirche nicht die unsere ist, sondern die Seine. Folglich können sich die 'Reformen', die Erneuerungen' - so nötig sie auch sind - nicht in unserem eifrigen Bemühen um neue, verfeinerte Strukturen erschöpfen. Alles, was bei einer solchen Mühe herauskommen kann, ist eine Kirche 'von uns', nach unserem Maß, die zwar interessant sein kann, aber deshalb nicht schon von sich aus die wahre Kirche ist, jene, die den Glauben trägt und uns das Leben im Sakrament gibt. Ich möchte sagen, daß das, was wir machen können, unendlich geringer ist als Der, um den allein es letztlich geht. Folglich bedeutet wahre 'Reform' nicht so sehr, uns abzumühen, um neue Fassaden zu errichten, sondern (im Gegensatz zu dem, was manche Ekklesiologen denken) wahre 'Reform' ist dort, wo wir uns bemühen, das Unsere soweit wie möglich verschwinden zu lassen, damit das Seine, das Christus Gehörende besser sichtbar wird. Da in der Kirche unvermeidlich immer wieder sehr viel Unsriges entsteht, folgen daraus für jede Generation große Aufgaben wahrer Reform. Wegweiser müssen dabei die Heiligen sein, die die Kirche reformierten, nicht indem sie Pläne für neue Strukturen erarbeiteten, sondern indem sie sich selbst reformierten. Was die Kirche braucht, um in jedem Zeitalter auf die Bedürfnisse des Menschen zu antworten, ist Heiligkeit und nicht Management."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Krise d. Kirche durch K. d. Priester u. Orden; Stand d. Prieser: fremd in der Gesellschaft; Versuchung: soziale Rolle anstatt sakraler; Dienst der Koordination des Konsenses anstatt Stellvertreter Christi

Kurzinhalt: ... Druck ausgesetzt, damit es von einer "sakralen" zu einer "sozialen" Rolle übergehe... vom Mysterium der auf Christus gegründeten hierarchischen Struktur in die Plausibilität der menschlichen Organisation zu entfliehen.

Textausschnitt: 55a Wenn das Kirchen Verständnis selbst in Krise ist, inwieweit und warum befinden sich die "Männer der Kirche" in einer Krise?

Wir werden dem Bischofsamt anschließend eine eigene Erörterung vorbehalten, die unmittelbar folgen wird -, wo sieht Ratzinger die Wurzeln für das Mißbehagen im Klerus, das innerhalb weniger Jahre die Seminare, Klöster und Presbyterien leer werden ließ? Kürzlich, in einer nicht offiziellen Wortmeldung, hat er die These eines berühmten Theologen zitiert, nach der "die Krise der Kirche von heute vor allem eine Krise der Priester und der religiösen Orden sei". (Fs)

55b "Es ist ein hartes Urteil - bestätigt er -, ein ziemlich herbes j'accuse, aber es kann sein, daß es etwas Wahres erfaßt. Unter dem Ansturm der Nachkonzilszeit haben die großen Orden (und das heißt gerade die traditionellen Säulen der ständig notwendigen kirchlichen Reform) gewankt, sie haben arge Blutverluste hinnehmen müssen, sie haben so wenige Neueintritte wie nie zuvor erlebt, und heute scheinen sie noch immer von einer Identitätskrise geschüttelt zu sein."

Für ihn sind es gerade "oft die traditionell gebildetsten' und intellektuell am besten ausgestatteten Orden gewesen, die die schwerste Krise erlitten haben". Und er sieht dafür einen Grund: "Wer eine bestimmte zeitgenössische Theologie ausgiebig praktiziert hat und praktiziert, lebt deren Auswirkungen bis ins letzte, wie etwa den fast vollständigen Verlust der gewohnten Sicherheiten für den Priester, für den Ordensangehörigen." (Fs) (notabene)

56a Daneben nennt der Präfekt noch einen weiteren Grund für die Krise: "Gerade der Stand des Priesters ist außergewöhnlich und für die heutige Gesellschaft fremd. Eine Funktion, eine Rolle, die nicht auf der Zustimmung der Mehrheit, sondern auf der Vergegenwärtigung eines Anderen gründet, der einen Menschen an seiner Autorität teilhaben läßt, erscheint als unverständlich. Unter diesen Bedingungen ist die Versuchung groß, von jener übernatürlichen 'Autorität der Vergegenwärtigung', die das katholische Priestertum kennzeichnet, zu einem viel natürlicheren 'Dienst der Koordination des Konsenses', das heißt zu einer verständlichen, weil nur menschlichen und obendrein der heutigen Kultur entsprechenden Kategorie überzugehen."

56b Folglich sei seiner Ansicht nach, wenn ich richtig verstanden habe, das Priestertum einem kulturellen Druck ausgesetzt, damit es von einer "sakralen" zu einer "sozialen" Rolle übergehe, in einer Linie mit den "demokratischen" Mechanismen der Konsensbildung von unten, die die "säkulare, demokratische, pluralistische" Gesellschaft prägen. "Es handelt sich sozusagen um eine Versuchung - antwortet er -, vom Mysterium der auf Christus gegründeten hierarchischen Struktur in die Plausibilität der menschlichen Organisation zu entfliehen." (Fs) (notabene)

56c Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, greift er ein ganz aktuelles Beispiel auf, das Sakrament der Versöhnung, die Beichte: "Es gibt Priester, die dazu neigen, es fast ganz in ein 'Gespräch' umzuwandeln, in eine Art therapeutische Selbstanalyse zwischen zwei auf der gleichen Ebene stehenden Personen. Dies erscheint viel menschlicher, persönlicher und dem heutigen Menschen angemessener. Aber diese Art der Beichte birgt die Gefahr in sich, nicht mehr viel mit der katholischen Auffassung des Sakramentes zu tun zu haben, wo nicht so sehr die Leistungen, die Geschicklichkeit dessen zählen, der mit dem Dienst betraut ist. Es ist vielmehr nötig, daß der Priester es annimmt, daß er in den Hintergrund tritt und so Christus Raum läßt, der allein die Sünde nachlassen kann. Auch hier ist es also notwendig, zum ursprünglichen Verständnis des Sakramentes zurückzukehren, wo Menschen dem Mysterium begegnen. Es ist nötig, wieder ganz neu den Sinn des Skandals zu entdecken, aufgrund dessen ein Mensch zu einem anderen Menschen sagen kann: 'Ich spreche dich von deinen Sünden los.' In jenem Augenblick - wie übrigens bei der Feier jedes anderen Sakramentes - bezieht der Priester seine Autorität gewiß nicht aus der Zustimmung der Menschen, sondern direkt von Christus. Das 'Ich', das sagt: 'Ich spreche dich los', ist nicht das einer Kreatur, sondern es ist direkt das 'Ich' des Herrn."

57a Und doch scheinen, sage ich, die vielfältigen Kritiken an der "alten" Beichtpraxis nicht ganz unbegründet zu sein. Er erwidert sofort: "Ich fühle immer mehr ein Unbehagen, wenn ich höre, wie leichtfertig man die früher verbreitete Art, sich dem Beichtstuhl zu nähern, als 'schematisch', 'äußerlich' und 'anonym' bezeichnet. Und für mich klingt das Selbstlob einiger Priester wegen ihrer 'Beichtgespräche', die selten geworden sind, aber, wie sie sagen, 'zum Ausgleich viel persönlicher', ein wenig bitter. Wenn man es richtig betrachtet, war hinter dem 'Schema' gewisser Beichten auch der Ernst der Begegnung zwischen zwei Personen, die sich bewußt waren, vor dem erschütternden Mysterium der Vergebung Christi zu stehen, das sich durch die Worte und den Gestus eines sündigen Menschen darbietet. Man darf nicht vergessen, daß sich in viele 'Beichtgespräche', die auch ziemlich analytisch geworden sind, menschlicherweise eine Selbstgefälligkeit, eine Selbstabsolution einschleicht, die - im Schwall der Erklärungen - kaum noch Raum läßt für das Empfinden der persönlichen Sünde, für die wir über alle mildernden Umstände hinaus immer verantwortlich sind. Mit alledem will ich nicht sagen, daß es nicht auch sinnvolle Reform der äußeren Gestalten der Beichte geben könnte. Die Geschichte zeigt hier eine solche Breite der Entwicklungen auf, daß es absurd wäre, von jetzt an für immer eine einzige Gestalt kanonisieren zu wollen. Manche Menschen finden heute keinen Zugang zum herkömmlichen Beichtstuhl mehr, während ihnen das Beichtgespräch wirklich eine Tür auftut. So möchte ich die Bedeutung dieser neuen Möglichkeiten und den Segen, den sie für viele sein können, keineswegs unterschätzen. Nur ist dies nicht die Hauptsache. Das Entscheidende liegt tiefer, und darauf wollte ich hinweisen."

58a Um auf das zurückzukommen, worin für ihn die Wurzeln der Krise des Priesters liegen, spricht er vom "Druck, der heute jeden Augenblick auf einem Priester lastet, der sehr oft genötigt ist, gegen den Strom zu schwimmen. Ein solcher Mensch kann schließlich müde werden, sich mit seinen Worten und noch mehr mit seinem Lebensstil den so vernünftig erscheinenden Selbstverständlichkeiten, die unsere Kultur kennzeichnen, entgegenzusetzen. Der Priester - das heißt derjenige, durch den die Kraft des Herrn hindurchgeht - ist immer versucht gewesen, sich an das Große zu gewöhnen und es zur Routine werden zu lassen. Heute könnte er die Größe des Heiligen als eine Last empfinden und sich (wenn auch unbewußt) nach einer Befreiung davon sehnen, indem er das Mysterium auf seine menschliche Gestalt herabsetzt, anstatt sich mit Demut und mit Vertrauen hinzugeben, um sich auf jene Höhe erheben zu lassen". (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Bischof; Konzil: Rolle der Bischöfe; Bischofskonferenz (nur praktische Funktion, keine theologische Grundlage);

Kurzinhalt: Es geschieht dann, daß die Suche nach Ausgleich zwischen den verschiedenen Tendenzen und das Bemühen um Vermittlung oft verflachten Dokumenten Raum geben, in denen entschiedene Positionen (wo sie notwendig wären) abgeschwächt sind...

Textausschnitt: Die Bischofskonferenzen

59a Kommen wir nun von den "einfachen" Priestern zu den Bischöfen, das heißt zu denen, die als "Nachfolger der Apostel" die "Fülle des Weihesakramentes" innehaben, die "authentische Lehrer" der christlichen Lehre sind, denen "in den ihnen anvertrauten Diözesen ordentliche, eigenständige und unmittelbare Gewalt" zusteht, deren "Prinzip und Fundament der Einheit" sie sind, und die, vereint im Bischofskollegium mit ihrem Haupt, dem Papst, "in der Person Christi handeln", um die universale Kirche zu leiten. Alle Definitionen, die wir gegeben haben, stammen aus der katholischen Lehre über den Episkopat und sind vom II. Vatikanum bekräftigt worden. (Fs)

Das Konzil, erinnert Ratzinger, "wollte eben die Rolle und die Verantwortung des Bischofs stärken, indem es das Werk des I. Vatikanums wieder aufnahm und vervollständigte, das durch die Eroberung Roms unterbrochen wurde, nachdem es sich nur mit dem Papst beschäftigen konnte. Diesem letzteren hatten die Konzilsväter die Unfehlbarkeit im Lehramt bestätigt, wenn er als oberster Hirte und Lehrer eine Glaubens- oder Sittenlehre für verbindlich erklärt". (Fs)

59b So war bei manchem Theologen ein gewisses Ungleichgewicht entstanden, sobald nicht genügend betont wurde, daß auch das Bischofskollegium dieselbe "Unfehlbarkeit im Lehramt" genießt, vorausgesetzt, daß die Bischöfe "das Band der Communio untereinander und mit dem Nachfolger Petri bewahren". Ist also mit dem II. Vatikanum alles wieder in Ordnung?

59c "In den Dokumenten ja, aber nicht in der Praxis, wo sich noch eine weitere jener paradoxen Folgen der Nachkonzilszeit gezeigt hat", antwortet er. "Die entschiedene Neubetonung der Rolle des Bischofs ist in Wirklichkeit verhallt, oder sie droht durch die Einbindung der Bischöfe in immer straffer durchorganisierte Bischofskonferenzen mit ihren oft schwerfälligen bürokratischen Strukturen geradezu erstickt zu werden. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Bischofskonferenzen keine theologische Grundlage haben, sie gehören nicht zur unaufgebbaren Struktur der Kirche, so wie sie von Christus gewollt ist: Sie haben nur eine praktische, konkrete Funktion."

60a Dies, so sagt er, bestätigt auch der neue Codex des kanonischen Rechtes, der den Umfang der Autorität der Konferenzen festlegt, die nicht "im Namen aller Bischöfe handeln (können), wenn nicht alle Bischöfe einzeln ihre Zustimmung gegeben haben", außer es handelt sich um Materien, "in denen das allgemeine Recht es vorschreibt oder eine besondere Anordnung dies bestimmt, die der Apostolische Stuhl (...) selbst erlassen hat" (CIC Can. 455). Das Kollektiv ersetzt folglich nicht die Person des Bischofs, der - so erinnert der Codex in Bestätigung des Konzils - "der authentische Künder und Lehrer des Glaubens für den seiner Sorge anvertrauten Gläubigen" ist (vgl. CIC Can. 753). Ratzinger bestätigt: "Keine Bischofskonferenz hat als solche eine lehramtliche Funktion. Entsprechende Dokumente verdanken ihr Gewicht allein der Zustimmung, die ihnen von den einzelnen Bischöfen gegeben wird."

60b Warum beharrt der Präfekt auf diesem Punkt? "Weil es darum geht - so antwortet er -, gerade das Wesen der katholischen Kirche, die auf einer episkopalen Struktur und nicht auf einer Art Föderation von Nationalkirchen basiert, zu bewahren. Die nationale Ebene ist keine kirchliche Größe. Es müßte von neuem klar werden, daß es in jeder Diözese nur einen Hirten und Lehrer des Glaubens gibt in Gemeinschaft mit den anderen Hirten und Lehrern und mit dem Stellvertreter Christi. Die katholische Kirche basiert auf dem Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und der Person, in diesem Fall zwischen der Gemeinschaft der einzelnen in der universalen Kirche vereinten Ortskirchen und der Person des Verantwortlichen der Diözese."

61a Es kommt vor, sagt er, daß "bei einigen Bischöfen ein gewisser Mangel an Sinn für die individuelle Verantwortung und die Delegierung ihrer unveräußerlichen Befugnisse als Hirten und Lehrer an die Strukturen der lokalen Konferenz dazu führt, das ins Anonymat abgleiten zu lassen, was hingegen sehr personal bleiben muß. Die Gruppe der in den Konferenzen vereinten Bischöfe sind in ihren Entscheidungen von anderen Gruppen, von eigens dazu eingerichteten Dienststellen abhängig, die Vorlagen erarbeiten. Es geschieht dann, daß die Suche nach Ausgleich zwischen den verschiedenen Tendenzen und das Bemühen um Vermittlung oft verflachten Dokumenten Raum geben, in denen entschiedene Positionen (wo sie notwendig wären) abgeschwächt sind". (Fs)

61b Er erinnert daran, daß es in seinem Land schon in den dreißiger Jahren eine Bischofskonferenz gegeben hat: "Soweit gut, aber die wirklich kraftvollen Dokumente gegen den Nationalsozialismus waren jene, die von einzelnen mutigen Bischöfen stammten. Die Schriftstücke von der Konferenz erschienen hingegen oft ziemlich blaß und zu schwach im Verhältnis zu dem, was die Tragödie verlangt hätte."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Bischof (Aufgabe), Bischofskonferenz;

Kurzinhalt: Er fährt fort: "Ich kenne Bischöfe, die unter vier Augen zugeben, daß sie anders entschieden hätten als in der Konferenz, wenn sie allein hätten entscheiden müssen.

Textausschnitt: Die Aufgabe des Bischofs

61c Es gibt ein klares soziologisches Gesetz, welches - ob man es will oder nicht - die Arbeitsweise der nur scheinbar 'demokratischen' Gruppen leitet. Gerade jenes Gesetz hat (wie jemand vermerkt hat) auch im Konzil gewirkt. Man hat einige Sitzungen während der zweiten Session 1963 untersucht: An den Versammlungen in der Aula nahmen durchschnittlich 2135 Bischöfe teil. Von diesen griffen nur etwas mehr als 200, also 10 Prozent aktiv durch Wortmeldungen in die Debatte ein; die anderen 90 Prozent sprachen nie und beschränkten sich darauf, zuzuhören und abzustimmen. (Fs)

62a Im übrigen versteht es sich doch eigentlich von selbst, daß Wahrheit nicht durch Abstimmungen geschaffen werden kann. Eine Aussage ist entweder wahr oder sie ist nicht wahr. Die Wahrheit kann man nur finden, nicht schaffen. Von dieser Grundregel weicht auch - entgegen einer verbreiteten Vorstellung - das klassische Verfahren Ökumenischer Konzilien nicht ab. Denn auf ihnen galt immer, daß nur verbindliche Aussage werden kann, was mit moralischer Einstimmigkeit angenommen ist. Das bedeutet nun nicht, daß man mit einstimmig erzielten Ergebnissen sozusagen Wahrheit produzieren könnte. Die Vorstellung, die sich darin ausdrückte, war vielmehr, daß Einstimmigkeit so vieler Bischöfe unterschiedlicher Herkünfte, unterschiedlicher Bildungsformen und unterschiedlicher Temperamente ein Zeichen dafür sei, daß sie hier von dem sprechen, was sie nicht selbst erfunden, sondern nur gefunden haben. Die moralische Einstimmigkeit hat nach der klassischen Konzilsidee nicht den Charakter einer Abstimmung, sondern den Charakter eines Zeugnisses. (Fs)

62b Wenn man sich dies klarmacht, braucht man nicht mehr zu begründen, warum eine Bischofskonferenz, die ja einen sehr viel beschränkteren Kreis vertritt als ein Konzil, nicht über Wahrheit abstimmen kann. Im übrigen möchte ich hier auch noch auf einen psychologischen Sachverhalt verweisen. Wir katholischen Priester meiner Generation sind daran gewöhnt, die Gegensätze zwischen Mitbrüdern zu vermeiden und immer das Einvernehmen zu suchen und uns nicht so sehr durch exzentrische Standpunkte hervorzutun. So bringt in vielen Bischofskonferenzen der Gruppengeist und vielleicht auch der Wunsch nach einem ruhigen Leben oder der Konformismus die Mehrheit dazu, die Positionen von aktiven, zu klaren Zielen entschlossenen Minderheiten zu akzeptieren."

63a Er fährt fort: "Ich kenne Bischöfe, die unter vier Augen zugeben, daß sie anders entschieden hätten als in der Konferenz, wenn sie allein hätten entscheiden müssen. Indem sie das Gruppengesetz akzeptierten, haben sie die Mühe gescheut als 'Spielverderber', als Rückständig' und 'wenig aufgeschlossen' angesehen zu werden. Es scheint recht angenehm, immer gemeinsam entscheiden zu können. Auf diese Weise besteht jedoch die Gefahr, daß das 'Skandalon' und die 'Torheit' des Evangeliums verlorengehen, jenes 'Salz' und jener 'Sauerteig', was heute angesichts der Schwere der Krise weniger denn je für einen Christen entbehrlich ist (vor allem wenn er Bischof und folglich mit klaren Verantwortungen für die Gläubigen betraut ist)." (Fs)

Die jüngste Zeit scheint jedoch auf eine Tendenzwende gegenüber der ersten Nachkonzilsphase hinzudeuten. Zum Beispiel hat sich die Vollversammlung des französischen Episkopats von 1984 (es ist bekannt, daß dieses Land oft interessante und für den übrigen Katholizismus repräsentative Tendenzen zum Vorschein bringt) auf das Thema der recentrage, der "Rückzentrierung" festgelegt. Rückkehr zu dem von Rom gebildeten Zentrum; aber auch Rückkehr zu jenem unaufgebbaren Zentrum, das die Diözese ist, die Teilkirche, ihr Bischof. (Fs)

63b Dies ist, wie wir gehört haben, eine Bestrebung, die von der Glaubenskongregation unterstützt wird, und zwar nicht nur theoretisch. Im März 1984 hat sich der Führungsstab der Kongregation nach Bogota zur Versammlung der Glaubenskommissionen des lateinamerikanischen Episkopats begeben. Von Rom aus hat man darauf bestanden, daß an dem Treffen die Bischöfe persönlich teilnehmen und nicht nur ihre Vertreter, "so daß die eigene Verantwortung jedes einzelnen Bischofs unterstrichen wurde, der, um die Worte des Codex zu gebrauchen, der 'Leiter des gesamten Dienstes am Wort Gottes' ist, dem es obliegt, das Evangelium in der ihm anvertrauten Teilkirche zu verkündigen (vgl. CIC Can. 756 § 2). Diese Lehrverantwortung kann nicht delegiert werden. Demgegenüber gibt es Stimmen, die bereits die Tatsache, daß der Bischof seine Hirtenbriefe persönlich schreibt, für unerträglich halten!"

64a In einem von ihm unterzeichneten Dokument erinnerte Kardinal Ratzinger die Brüder im Bischofsamt an die ernsthafte und leidenschaftliche Ermahnung des Apostels Paulus: "Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!" (2 Tim 4,1-5). (Fs) (notabene)

64b Ein beunruhigender Text, bemerke ich, der in jede Zeit paßt, der aber dem Präfekten vielleicht besonders auf diese unsere Jahre zuzutreffen scheint. Auf jeden Fall kommt darin die Identität des Bischofs nach der Schrift zum Ausdruck, so wie Ratzinger sie erneut vorschlägt. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Bischof, Bischöfe, Bischofskonferenz; Überorganisation der deutschen Kirche; Rom; B. nicht in Konkurrenz zu Theologen

Kurzinhalt: Die Heiligen, sie alle sind Menschen mit Phantasie gewesen, nicht Funktionäre von Apparaten. Sie waren nach außen hin vielleicht sonderbare' Persönlichkeiten, und doch waren sie zutiefst gehorsam und gleichzeitig Menschen von einer großen Originalität ...

Textausschnitt: "Lehrer des Glaubens"

65a Nach welchem Kriterium, frage ich ihn, hat man sich in den vergangenen Jahren gerichtet und richtet man sich in Rom heute bei der Bestimmung der Kandidaten für die Bischofsweihe? Verläßt man sich immer noch auf die Hinweise der Apostolischen Nuntien beziehungsweise der "Gesandten des Papstes" (wie sie offiziell heißen), die der Heilige Stuhl in jedem Land hat?

"Ja - sagt er -, diese Aufgabe ist vom neuen Codex bestätigt: 'Zur Aufgabe eines päpstlichen Gesandten gehört es (...), für die Ernennung von Bischöfen dem Apostolischen Stuhl Namen von Kandidaten zu übermitteln oder vorzuschlagen sowie den Informationsprozeß über die in Aussicht Genommenen (...) durchzuführen' (CIC Can. 364,4). Das ist ein System, das, wie alles Menschliche, auch einige Probleme aufwirft, aber ich wüßte nicht, wie es zu ersetzen wäre. Es gibt Länder, deren Größe es dem Legaten unmöglich macht, alle Kandidaten direkt zu kennen. Es können daher Bischofskollegien zustande kommen, die nicht homogen sind. Verstehen wir uns recht, es will sicher niemand eine monotone, folglich langweilige Harmonie; unterschiedliche Elemente sind nützlich, aber es ist notwendig, daß sich in den grundlegenden Dingen alle einig sind. Das Problem ist, daß in den Jahren unmittelbar nach dem Konzil für eine gewisse Zeit das Profil des idealen 'Kandidaten' nicht ganz klar erschien."
Was meinen Sie damit?

65b "In den ersten Jahren nach dem II. Vatikanum - erklärt er - galt vor allem ein 'weltoffener' Priester als Kandidat für das Bischofsamt; jedenfalls rückte dieser Maßstab ganz in den Vordergrund. Nach der Wende von 1968 und im Zuge der Verschärfung der Krise hat man dann verstanden, daß die damit umschriebenen Eigenschaften allein nicht ausreichten. Man hat nämlich auch durch bittere Erfahrungen bemerkt daß wohl 'aufgeschlossene' Bischöfe nötig waren, aber auch solche, die zugleich imstande waren, sich der Welt und ihren negativen Tendenzen entgegenzustellen, um sie zu bessern, ihnen Einhalt zu gebieten und die Gläubigen davor zu warnen. Das Auswahlkriterium ist folglich mit der Zeit realistischer geworden, während die 'Öffnung' als solche in den veränderten kulturellen Situationen nicht mehr als Antwort und Rezept zu genügen schien. Übrigens hat ein ähnlicher Reifungsprozeß auch bei vielen Bischöfen eingesetzt, die in ihrer Diözese bitter erfahren mußten, daß sich die Zeiten wirklich geändert haben gegenüber den Zeiten des etwas unkritischen Optimismus unmittelbar nach dem Konzil."

66a Der Generationswechsel ist im Gang: Ende 1984 hatte praktisch die Hälfte des katholischen Weltepiskopats (Ratzinger eingeschlossen) nicht direkt am II. Vatikanum teilgenommen. Also übernimmt gerade eine neue Generation die Führung der Kirche. (Fs)

66b Eine Generation, der der Präfekt nicht raten würde, in Konkurrenz zu den Theologieprofessoren zu treten: "Als Bischöfe - erklärte er vor einigen Jahren - haben sie nicht die Funktion, im Konzert der Spezialisten auch noch ein Instrument spielen zu wollen." Zeitgemäße Lehrer des Glaubens und eifrige Hirten der ihnen anvertrauten Herde, gewiß; aber ihre "Aufgabe ist es vielmehr, die Stimme des einfachen Glaubens und seiner einfachen Ureinsichten zu verkörpern, die der Wissenschaft vorausliegen und da zu verschwinden drohen, wo die Wissenschaft sich absolut setzt. In diesem Sinn nehmen sie in der Tat eine durchaus demokratische Funktion wahr, die freilich nicht auf der Statistik, sondern auf der gemeinsamen Gabe der Taufe beruht". (Fs)

Rom, trotz allem

67a Während einer der Pausen in unserer Unterredung habe ich ihm eine Frage gestellt, die ein wenig scherzhaft gemeint war. Sie sollte ein wenig die Spannung lockern, die durch sein Bemühen um Verständlichkeit und durch meinen Wunsch nach Verstehen entstanden war. Die Antwort, die er gegeben hat, könnte, glaube ich, tatsächlich helfen, seine Idee von Kirche besser zu verstehen, die nicht auf Managern, sondern auf Menschen des Glaubens, nicht auf Computern, sondern auf Liebe, Geduld und Weisheit gegründet ist. (Fs)

Ich hatte ihn also gefragt, ob er (da er als ehemaliger Erzbischof von München und jetzt als Kardinal in Rom ja vergleichen könnte) lieber eine Kirche mit ihrem Zentrum in Deutschland anstatt in Italien hätte. (Fs)

67b "Das wäre schlimm!" meinte er lachend. "Dann hätten wir eine überorganisierte Kirche. Bedenken Sie: Wir hatten allein im Münchener Ordinariat 400 Beamte und Angestellte, alle regulär bezahlt. Nun, man weiß, daß von Natur aus jede Behörde die eigene Existenz dadurch rechtfertigen muß, daß sie Dokumente verabschiedet, Begegnungen veranstaltet, neue Strukturen plant. Zweifellos haben alle das Beste gewollt. Aber oft genug konnte es geschehen, daß die Pfarrer sich durch die Vielzahl der 'Hilfen' eher belastet als unterstützt fühlten."

Also, trotz allem, lieber Rom als die starren Strukturen, die Hyper-Organisation, die die nördlichen Menschen faszinieren?

67c "Ja, besser der italienische Geist, der bei seiner geringeren Organisationslust den einzelnen Persönlichkeiten, Einzelinitiativen und den originellen Ideen Raum läßt, die - ich erwähnte es im Blick auf die Struktur mancher Bischofskonferenzen - für die Kirche unerläßlich sind. Die Heiligen, sie alle sind Menschen mit Phantasie gewesen, nicht Funktionäre von Apparaten. Sie waren nach außen hin vielleicht sonderbare' Persönlichkeiten, und doch waren sie zutiefst gehorsam und gleichzeitig Menschen von einer großen Originalität und persönlichen Unabhängigkeit. Und die Kirche - ich werde nicht müde, es zu wiederholen - braucht Heilige mehr als Funktionäre. Mir sagt auch jene lateinische Mentalität zu, die der einzelnen Person selbst im notwendigen Netzwerk von Gesetzen und Codices immer einen Spielraum läßt. Das Gesetz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Gesetz: Die Struktur hat ihre Berechtigung, aber sie darf nicht die Personen ersticken."

86a Der umstrittene Ruf, sage ich, der die römische Kurie seit jeher umgibt, angefangen vom frühen Mittelalter, über die Zeit Luthers bis heute ... (Fs)

Er unterbricht mich: "Auch ich schaute von Deutschland aus oft mit Skepsis, vielleicht sogar mit Argwohn und Ungeduld auf den römischen Apparat. In Rom habe ich dann die Erfahrung gemacht, daß diese Kurie weit über ihrem Ruf steht. In der großen Mehrzahl ist sie aus Personen zusammengesetzt, die hier im echten Geist des Dienstes wirken. Es kann auch nicht anders sein, in Anbetracht der bescheidenen Gehälter, die bei uns nahe an der Armutsgrenze liegen würden. Und wenn man auch sieht, daß die Arbeit der meisten sehr undankbar ist, weil sie sich anonym hinter den Kulissen abspielt und der Vorbereitung von Dokumenten oder von Stellungnahmen dient, die anderen, die an der Spitze der Strukturen stehen, zugeschrieben werden."
Der Vorwurf der Langsamkeit, der sprichwörtlichen Verspätungen in den Entscheidungen... (Fs)

69a Er sagt: "Dies geschieht auch, weil der Heilige Stuhl, dem oft nachgesagt wird, er würde im Gold schwimmen, in Wirklichkeit nicht imstande ist, die Kosten für das viele Personal aufzubringen. Viele, die glauben, das 'Ex-Heilige Offizium' sei eine gutausgestattete Behörde, können sich vielleicht nicht vorstellen, daß die Sektion für die Lehre (von den vier Abteilungen, aus denen sich die Kongregation zusammensetzt, die wichtigste und die von den Kritiken am meisten attackierte) nicht mehr als etwa zehn Personen zählt, den Präfekten eingeschlossen. In der ganzen Kongregation sind wir etwa dreißig. Folglich ein bißchen wenig, um jenen theologischen Putsch zu organisieren, dessen uns einige verdächtigen! Auf alle Fälle -Scherz beiseite - auch etwas wenige, um mit der notwendigen Pünktlichkeit all das zu verfolgen, was sich in der Kirche bewegt, geschweige denn, um jener Aufgabe der 'Förderung der heiligen Lehre' gerecht zu werden, die die Reform an die erste Stelle unserer Aufgaben setzt."

Wie verfahren Sie also weiter?

69b "Indem wir die Gründung von 'Glaubenskommissionen' in jeder Diözese oder Bischofskonferenz anregen. Gewiß behalten wir gemäß dem Statut das Recht, überall in der gesamten Kirche zu intervenieren. Aber wenn es Ereignisse oder Theorien gibt, die Unruhe hervorrufen, ermutigen wir vor allem die Bischöfe oder die Ordensoberen dazu, mit dem Autor in Dialog zu treten, wenn sie es nicht ohnehin schon getan haben. Nur wenn es nicht gelingt, die Dinge in dieser Weise zu klären (oder wenn das Problem die lokalen Grenzen überschreitet und internationale Ausmaße annimmt oder wenn die lokale Autorität selbst ein Einschreiten von Seiten Roms wünscht), nur dann treten wir in kritischen Dialog mit dem Autor. Zunächst teilen wir ihm unsere Stellungnahme mit, die aufgrund der Prüfung seiner Werke zusammen mit Gutachten von verschiedenen Experten erarbeitet ist. Er hat die Möglichkeit, uns zu korrigieren und uns zu sagen, wenn wir da oder dort sein Denken nicht richtig interpretiert haben. Nach einem Briefwechsel (und bisweilen einer Reihe von Gesprächen) antworten wir ihm, indem wir ihm eine definitive Einschätzung mitteilen und ihm vorschlagen, alle aus dem Dialog hervorgegangenen Klärungen in einem geeigneten Artikel darzulegen."
70a Ein Verfahren, das also bereits als solches viel Zeit in Anspruch nimmt. Wird es nicht zusätzlich noch durch Personalmangel und "romanische" Lebensrhythmen verlängert, wenn eine rechtzeitige Entscheidung notwendig wäre, oft gerade im Interesse des "Verdächtigten", der nicht zu lang im Ungewissen gehalten werden kann?

70b "Das ist wahr - räumt er ein -, aber ich möchte sagen, daß die sprichwörtliche vatikanische Langsamkeit nicht nur negative Seiten hat. Das ist eines der Dinge, die ich erst in Rom besser verstanden habe: die Kunst des soprassedere (Hinausschiebens), wie die Italiener sagen, kann sich als positiv erweisen, sie kann einer Situation die Gelegenheit geben, sich zu entkrampfen, zu reifen und sich folglich zu klären. Vielleicht liegt auch hierin eine alte lateinische Weisheit: Zu schnelle Reaktionen sind nicht immer wünschenswert; bisweilen respektiert eine nicht zu übertriebene Schnelligkeit in den Reaktionen besser die Personen."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Glaubenskrise - Dogma; Pluralismus d. Theologie als Subjektivismus; Dogmen als Fenster auf das Unendliche hin

Kurzinhalt: ... scheinen vergessen zu haben, daß das Subjekt, das Theologie betreibt, nicht der einzelne Gelehrte ist, sondern die katholische Gemeinschaft als Ganze, die gesamte Kirche... "In dieser subjektiven Sicht der Theologie wird das Dogma oft als ein ...

Textausschnitt: Gefährliche Symptome

71a Als logische Konsequenz der Krise des Glaubens an die Kirche als Mysterium, wo das Evangelium lebt und einer von Christus selbst gewollten Hierarchie anvertraut ist, sieht der Kardinal eine Krise des Vertrauens in das Dogma, das vom Lehramt verkündet wird: "Weite Kreise in der Theologie scheinen vergessen zu haben, daß das Subjekt, das Theologie betreibt, nicht der einzelne Gelehrte ist, sondern die katholische Gemeinschaft als Ganze, die gesamte Kirche. Von diesem Vergessen der theologischen Arbeit als einem kirchlichen Dienst rührt ein theologischer Pluralismus her, der in Wirklichkeit oft ein Subjektivismus, ein Individualismus ist, der mit den Grundlagen der gemeinsamen Tradition wenig zu tun hat. Jeder Theologe will jetzt offenbar 'kreativ' sein; aber seine eigentliche Aufgabe besteht in der Vertiefung des gemeinsamen Depositums des Glaubens sowie in der Hilfe, es zu verstehen und zu verkündigen, und nicht darin, es zu 'kreieren'. Andernfalls zerfällt der Glaube in eine Reihe von Schulen und vielfach gegensätzlichen Strömungen, sehr zum Schaden für das verunsicherte Volk Gottes. Die Theologie hat sich in diesen Jahren mit viel Energie damit beschäftigt, Glauben und Zeichen der Zeit in Einklang zu bringen, um neue Wege der Vermittlung des Christentums zu finden. Viele jedoch sind schließlich zur Einsicht gelangt, daß diese Bemühungen oft mehr zu einer Verschärfung als zu einer Lösung der Krise beigetragen haben. Es wäre ungerecht, dieses Urteil zu verallgemeinern, aber es wäre auch falsch, es schlicht und einfach zu verneinen."

72a In Fortführung seiner Diagnose sagt er: "In dieser subjektiven Sicht der Theologie wird das Dogma oft als ein unerträgliches Korsett angesehen, als ein Anschlag auf die Freiheit des einzelnen Gelehrten. Dabei hat man aber die Tatsache aus dem Blick verloren, daß die dogmatische Definition vielmehr ein Dienst an der Wahrheit ist, ein Geschenk, das den Gläubigen durch die von Gott gewollte Autorität dargereicht wird. Die Dogmen - so hat jemand gesagt - sind keine Mauern, die uns den Blick verstellen, sondern sie sind im Gegenteil offene Fenster auf das Unendliche hin."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Katechese; K. (traditionell) 4 Grundelemente: Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Dekalog, Sakramente;

Kurzinhalt: Der Christ findet hier das, was er zu glauben hat (Symbolum oder Credo), was zu hoffen (Vater unser), was zu tun (Dekalog), und es wird der Lebensraum umschrieben, in dem dies alles sich vollzieht (Sakramente).

Textausschnitt: "Eine zerstückelte Katechese"

72b Die von ihm konstatierte Verwirrung in der Theologie hat für den Präfekten gravierende Konsequenzen für die Katechese. (Fs)

Er sagt: "Da die Theologie nicht mehr eine gemeinsame Gestalt des Glaubens vermitteln kann, ist auch die Katechese der Zerstückelung und ständig wechselnden Experimenten ausgesetzt. Einige Katechismen und viele Katecheten lehren nicht mehr den katholischen Glauben in seiner harmonischen Ganzheit - wo jede Wahrheit die andere voraussetzt und zugleich erklärt-, sondern versuchen, einige Elemente des christlichen Erbes menschlich interessant zu machen (entsprechend den momentanen kulturellen Ausrichtungen). Einige biblische Abschnitte werden hervorgehoben, weil sie als 'dem heutigen Empfinden näher' angesehen werden; andere werden aus dem entgegengesetzten Grund übergangen. Also nicht mehr eine Katechese, die eine umfassende Glaubensbildung wäre, sondern Widerspiegelungen und Anstöße von partiellen, subjektiven anthropologischen Erfahrungen." (Fs) (notabene)

Anfang 1983 hielt Ratzinger in Frankreich bei einer Konferenz (die großes Aufsehen erregte) über die "neue Katechese" einen Vortrag. Bei dieser Gelegenheit sagte er mit gewohnter Klarheit unter anderem: "Ein erster schwerwiegender Fehler auf diesem Weg war es, den Katechismus abzuschaffen und ganz allgemein die Gattung 'Katechismus' für überholt zu erklären." Und er spricht von einem "eilfertig und mit großer Sicherheit international betriebene(n) Fehlentscheid". (Fs)

73a Mir gegenüber wiederholt er: "Es ist notwendig, sich daran zu erinnern, daß seit den ersten Zeiten des Christentums ein bleibender und unverzichtbarer 'Kern' der Katechese und somit der Glaubensbildung erscheint. Auch Luther hat diesen Kern für seinen Katechismus ebenso selbstverständlich angewandt wie der römische Katechismus, der in Trient beschlossen wurde. Alles Sprechen über den Glauben ist nämlich um vier grundlegende Elemente herum angeordnet: das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, der Dekalog, die Sakramente. Damit ist die Grundlage des christlichen Lebens, die Synthese der auf Schrift und Tradition gegründeten Lehre der Kirche umschrieben. Der Christ findet hier das, was er zu glauben hat (Symbolum oder Credo), was zu hoffen (Vater unser), was zu tun (Dekalog), und es wird der Lebensraum umschrieben, in dem dies alles sich vollzieht (Sakramente). Heute ist diese grundlegende Struktur in weiten Bereichen der aktuellen Katechese aufgegeben, mit den Ergebnissen, die wir feststellen an der Auflösung des sensus fidei in den neuen Generationen, die oft unfähig sind zu einer Gesamtsicht ihrer Religion."

73b In den französischen Konferenzen berichtete er, daß ihm einmal eine Mutter in Deutschland erzählt habe, "ihr Sohn werde in der Grundschule soeben mit der Christologie der Logienquelle vertraut gemacht; von den sieben Sakramenten oder von den Artikeln des Glaubensbekenntnisses habe er freilich noch nie etwas zu hören bekommen". (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Kluft: Kirche - Schrift; historisch-kritische Methode: Grenzen; neues "Lehramt": der Experte, Professor mit den je revidierbaren Thesen

Kurzinhalt: ... jeder Katholik muß den Mut haben zu glauben, daß sein Glaube (in Gemeinschaft mit dem der Kirche) jedes 'neue Lehramt' der Experten, der Intellektuellen überragt. Ihre Hypothesen können zu einem besseren Verständnis der Entstehung der biblischen ...

Textausschnitt: Die Kluft zwischen Kirche und Schrift

74a Zur Vertrauenskrise dem Dogma der Kirche gegenüber gesellt sich für Ratzinger die gegenwärtige Vertrauenskrise gegenüber der von der Kirche vertretenen Moral. Da es sich jedoch bei der Ethik seiner Ansicht nach um einen so wichtigen Bereich handelt, daß sie eine eingehende Erörterung verlangt, gehen wir später darauf ein. (Fs)

Hier soll es zunächst um seine Ausführungen zu einem anderen Problemkreis gehen: um die Krise des Vertrauens in die Schrift, so wie sie von der Kirche gelesen wird. (Fs)

74b Er sagt: "Das Band zwischen Bibel und Kirche ist zerrissen worden. Diese Trennung hat im protestantischen Bereich mit der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert angefangen und hat seit kurzem auch bei katholischen Gelehrten Eingang gefunden. Die historisch-kritische Interpretation hat zwar viele und großartige neue Möglichkeiten eröffnet, den biblischen Text besser zu verstehen, aber sie kann ihn ihrem Wesen nach nur in seiner historischen Dimension, nicht in seinem gegenwärtigen Anspruch erklären. Wo sie diese Grenze vergißt, wird sie nicht nur unlogisch und damit auch unwissenschaftlich; man vergißt dann auch, daß die Bibel als Gegenwart und Zukunft nur im Lebenszusammenhang der Kirche verstanden werden kann. Man liest sie dann nicht mehr von der Tradition der Kirche ausgehend und mit der Kirche, sondern, indem man von der neuesten Methode ausgeht, die sich als wissenschaftlich' darstellt. Aus dieser Unabhängigkeit ist bei einigen sogar ein Gegensatz geworden, der so weit reicht, daß für viele der überlieferte Glaube der Kirche von der kritischen Exegese her als nicht mehr vertretbar erscheint, sondern nur als ein Hindernis zum echten, 'modernen' Verständnis des Christentums empfunden wird." (Fs) (notabene)

75a Auf diese Situation wird er (indem er nach ihren Wurzeln fragt) noch zurückkommen, wenn es um die "Theologien der Befreiung" gehen wird. (Fs)

Hier nehmen wir sein Urteil vorweg, daß "die Trennung zwischen Kirche und Schrift dazu tendiert, beide von innen her auszuhöhlen. In der Tat: Eine Kirche ohne glaubhafte biblische Grundlage wird zu einem zufälligen geschichtlichen Produkt, zu einer Organisation neben anderen und zu jenem menschlichen, organisatorischen Rahmen, von dem wir sprachen. Aber auch die Bibel ist ohne die Kirche nicht mehr wirkmächtiges Wort Gottes, sondern eine Ansammlung vielfältiger geschichtlicher Quellen, eine Sammlung heterogener Bücher, aus denen man unter dem Gesichtspunkt der Aktualität das herauszuziehen versucht, was man für nützlich hält. Eine Exegese, in der die Bibel nicht mehr aus dem lebendigen Organismus der Kirche lebt und verstanden wird, wird zur Archäologie: Die Toten begraben ihre Toten. In jedem Fall liegt auf diese Weise das letzte Wort über das Wort Gottes als Wort Gottes nicht bei den legitimen Hirten, dem Lehramt, sondern beim Experten, dem Professor mit seinen immer vorläufigen und revidierbaren Ergebnissen". (Fs)

75b Für ihn wäre es folglich nötig, "daß man die Grenzen einer Methode zu sehen beginnt, die an sich wertvoll ist, aber unfruchtbar wird, wenn man sie absolut setzt. Je weiter man über die bloße Feststellung vergangener Daten hinausgeht und ein wirkliches Verstehen anstrebt, desto mehr fließen dann auch philosophische Ideen ein, die nur scheinbar ein Produkt wissenschaftlicher Untersuchung des Textes sind. Es kann dann bis zu so absurden Experimenten wie der 'materialistischen Auslegung' der Bibel kommen. Im übrigen ist heute gottlob unter den Exegeten selbst ein intensives Gespräch über die Grenzen der historisch-kritischen Methode und anderer moderner Auslegungsmethoden in Gang gekommen. (Fs)

76a Durch die historisch-kritische Forschung - fährt er fort - ist die Schrift wieder ein offenes Buch geworden, aber auch ein verschlossenes. Ein offenes Buch: Dank der Arbeit der Exegese nehmen wir das Wort der Bibel in neuer Weise in seiner historischen Ursprünglichkeit wahr, in der Vielfältigkeit des Werdens und des Wachsens einer Geschichte, voll von Spannungen und Kontrasten, die gleichzeitig seinen unerwarteten Reichtum ausmachen. Aber auf diese Weise ist die Heilige Schrift auch wieder zu einem verschlossenen Buch geworden: Sie ist zum Objekt der Experten geworden; ein Laie, aber auch der Fachtheologe, der nicht Exeget ist, kann es nicht mehr wagen, darüber zu sprechen. Sie scheint der Lektüre und der Reflexion des Gläubigen fast entzogen, denn das, was dabei herauskäme, würde als 'dilettantisch' gebrandmarkt werden. Die Fachwissenschaft errichtet einen Zaun um den Garten der Schrift, zu dem der Nicht-Experte mittlerweile keinen Zugang mehr hat". (Fs)

Ich frage: Kann folglich auch ein "moderner" Katholik wieder beginnen, seine Bibel zu lesen, ohne sich zu sehr um komplizierte exegetische Fragen zu kümmern?

76b "Gewiß - antwortet er -, jeder Katholik muß den Mut haben zu glauben, daß sein Glaube (in Gemeinschaft mit dem der Kirche) jedes 'neue Lehramt' der Experten, der Intellektuellen überragt. Ihre Hypothesen können zu einem besseren Verständnis der Entstehung der biblischen Bücher verhelfen, aber es ist ein Vorurteil evolutionisti-scher Herkunft, wenn behauptet wird, man würde den Text nur verstehen, wenn man seine Entstehung und Entwicklung studiert. Gestern wie heute gründet sich die Glaubensregel nicht auf die Entdeckungen der biblischen Quellen und Schichten (mögen sie wahr oder hypothetisch sein), sondern auf die Bibel, so wie sie ist, wie sie in der Kirche seit der Zeit der Väter bis jetzt gelesen worden ist. Gerade die Treue zu dieser Lektüre der Bibel hat uns die Heiligen hervorgebracht, die oft ungebildet waren, jedenfalls häufig nicht um exegetische Zusammenhänge wußten. Und doch sind sie diejenigen, die sie am besten verstanden haben."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Gott, der vergessene Vater, der unverstandene Sohn; Gnosis, Zweifel bezüglich der 'materiellen' Aspekte der Offenbarung: Gegenwart Christi in der Eucharistie, Jungfräulichkeit Mariens, konkrete und reale Auferstehung ...

Kurzinhalt: de facto scheint es so, als würde manche Theologie nicht mehr an einen Gott glauben, der in die Tiefe der Materie eintreten kann; es ist gleichsam eine Wiederkehr der Gleichgültigkeit, wenn nicht gar der Abscheu der Gnosis gegenüber der Materie.

Textausschnitt: Der unverstandene Sohn und der vergessene Vater

77a Für ihn ist es offensichtlich, daß aus diesem Spektrum von Krisen auch eine Krise herrührt, die die Grundlagen selbst betrifft: den Glauben an den Dreieinigen Gott in seinen Personen. Während das Thema "Heiliger Geist" gesondert abgehandelt werden wird, geben wir hier die Ausführungen in bezug auf Gott-Vater und auf den Sohn Jesus Christus wieder. (Fs)

77b Er sagt also: "Aus der - natürlich unbegründeten - Furcht, die Betonung des Vaters, des Schöpfers, könnte den Sohn in den Schatten stellen, tendiert manche Theologie heute dahin, sich ganz in Christologie aufzulösen. Aber es handelt sich hier um eine oft zweifelhafte Christologie, in der man auf einseitige Weise die menschliche Natur Jesu betont und die göttliche, die in derselben Person Christi vereint ist, verdunkelt oder verschweigt oder in ungenügender Weise zur Sprache bringt. Man könnte darin eine Rückkehr auf den Boden der alten arianischen Häresie sehen. Natürlich wird man kaum einen 'katholischen' Theologen finden, der sagt, er würde die alte Formel leugnen, die Jesus als 'Sohn Gottes' bekennt. Alle werden behaupten, sie zu akzeptieren, wobei sie jedoch sogleich hinzufügen, 'in welchem Sinn' jene Formel ihrer Meinung nach verstanden werden müßte. Und gerade hier operiert man mit Distinktionen, die oft zu Verkürzungen des Glaubens an Christus als Gott führen. Wie ich bereits sagte, tendiert die Christologie, wenn sie von einer übernatürlichen und nicht nur soziologischen Ekklesiologie losgelöst ist, gerade selbst dazu, die Dimension des Göttlichen zu verlieren; sie neigt dazu, sich in ein 'Projekt Jesus' hinein aufzulösen, in ein Projekt bloß geschichtlichen, menschlichen Heiles also. (Fs)

78a Was Gott, den Vater, die erste Person der Trinität anbelangt - fährt er fort -, so ist die 'Krise' um ihn aus einer gewissen Theologie zu erklären, aus einer Gesellschaft, die nach Freud jedem Vater und jeder Vaterschaft mißtraut. Man verschleiert die Idee von Gott dem Schöpfer auch deshalb, weil man die Vorstellung eines Gottes, an den man sich kniend wendet, nicht akzeptiert: Man spricht lieber nur von Partnerschaft, von Freundschaftsbeziehung unter beinahe Gleichen, von Mensch zu Mensch mit dem Menschen Jesus. Man neigt dann dazu, die Frage nach Gott, dem Schöpfer, beiseite zu schieben, auch weil man die Probleme fürchtet (und folglich gern vermeiden möchte), die das Verhältnis von Schöpfungsglauben zu Naturwissenschaften aufwirft, angefangen von den Perspektiven, die durch den Evolutionismus eröffnet sind. So gibt es neue Texte für die Katechese, die nicht bei Adam, beim Anfang des Buches der Genesis beginnen, sondern bei der Berufung Abrahams oder beim Exodus. Das Augenmerk ist ganz auf die Geschichte gerichtet und geht so der Konfrontation mit dem Sein aus dem Weg. Wenn auf diese Weise jedoch Gott nur noch auf Christus - womöglich nur noch auf den Menschen Jesus - reduziert wird, ist er nicht mehr Gott. Und de facto scheint es so, als würde manche Theologie nicht mehr an einen Gott glauben, der in die Tiefe der Materie eintreten kann; es ist gleichsam eine Wiederkehr der Gleichgültigkeit, wenn nicht gar der Abscheu der Gnosis gegenüber der Materie. Von daher rühren auch die Zweifel bezüglich der 'materiellen' Aspekte der Offenbarung, wie reale Gegenwart Christi in der Eucharistie, Jungfräulichkeit Mariens, konkrete und reale Auferstehung Jesu, Auferstehung des Leibes, die allen am Ende der Geschichte verheißen ist. Es ist gewiß nicht zufällig, daß das Apostolische Symbol mit dem Bekenntnis beginnt: 'Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde.' Dieser Urglaube an den Schöpfergott (ein Gott, der wirklich Gott ist) bildet gleichsam den Angelpunkt für alle anderen christlichen Wahrheiten. Wenn etwas ins Wanken gerät, fällt alles übrige."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Erbsünde - Christus; evolutionistisches Weltbild: das Böse als Mangel, Christus als Erlöser nur in der Zukunft

Kurzinhalt: In einer evolutionistischen Welthypothese ... gibt es offensichtlich keinerlei Platz für eine 'Erbsünde'... Eine klare, realistische Betrachtung des Menschen und der Geschichte wird einfach auf deren Entfremdung stoßen, sie wird einfach entdecken ...

Textausschnitt: "Die Erbsünde nicht unterbewerten"

79a Um noch einmal auf die Christologie zurückzukommen: Es gibt Leute, die sagen, sie sei auch deshalb in einer schwierigen Lage, weil jene Wirklichkeit, die die Theologie "Erbsünde" genannt hat, vergessen beziehungsweise geleugnet wird. Und man fügt noch hinzu, daß hierin einige Theologen sich geradezu das Schema einer Aufklärung à la Rousseau zu eigen gemacht hätten, das der modernen Kultur - kapitalistisch oder marxistisch - zugrunde liegt: der von Natur aus gute Mensch, der nur von der falschen Erziehung und von den zu reformierenden gesellschaftlichen Strukturen verdorben sei. Wenn man das "System" ändern würde, müßte alles in Ordnung kommen, und der Mensch könnte im Frieden mit sich selbst und mit den anderen leben. (Fs)

79b Seine Antwort: "Sollte mich eines Tages die Vorsehung von diesen meinen Verpflichtungen befreien, möchte ich mich gerade dem Thema der 'Erbsünde' beziehungsweise der Notwendigkeit einer Wiederentdeckung ihrer eigentlichen Wirklichkeit widmen. In der Tat, wenn man nicht mehr versteht, daß sich der Mensch in einem Zustand der (nicht nur ökonomischen und sozialen und folglich in einer mit seinen eigenen Anstrengungen allein nicht lösbaren) Entfremdung befindet, versteht man nicht mehr die Notwendigkeit des Erlösers Christus. Die ganze Struktur des Glaubens ist somit bedroht. Die Unfähigkeit, die 'Erbsünde' zu verstehen und verständlich zu machen, ist wirklich eines der schwerwiegendsten Probleme der gegenwärtigen Theologie und Pastoral."

80a Vielleicht wäre es aber nötig, sage ich, auch die sprachliche Ebene zu überdenken: Ist der alte, aus der Patristik stammende Ausdruck "Erbsünde" heute noch angemessen?

"Die religiöse Sprechweise zu verändern, ist immer sehr gefährlich. Kontinuität ist hier von großer Bedeutung. Ich halte die zentralen Begriffe des Glaubens, die von den großen Schriftworten stammen, für nicht veränderbar: wie zum Beispiel 'Sohn Gottes', 'Heiliger Geist', Jungfräulichkeit' und 'Mutterschaft'. Ich räume jedoch ein, daß Ausdrücke wie 'Erbsünde' veränderbar sein können, da sie ihrem Inhalt nach zwar auch unmittelbar biblischer Herkunft sind, aber im Ausdruck bereits das Stadium theologischer Reflexion manifestieren. In jedem Fall ist es nötig, mit großer Behutsamkeit vorzugehen: Die Worte sind nicht belanglos, sie sind vielmehr in enger Weise an die Bedeutung gebunden. Ich glaube jedenfalls, daß die theologischen und pastoralen Schwierigkeiten angesichts der 'Erbsünde' gewiß nicht nur semantischer, sondern grundsätzlicher Natur sind."

Und was heißt das im einzelnen?

80b "In einer evolutionistischen Welthypothese (der in der Theologie ein gewisser 'Teilhardismus' entspricht) gibt es offensichtlich keinerlei Platz für eine 'Erbsünde'. Diese ist bestenfalls ein bloß symbolisches, mythisches Ausdrucksmittel, um die natürlichen Mängel einer Kreatur wie des Menschen zu kennzeichnen, der von äußerst unvollkommenen Ursprüngen auf die Vollendung, auf seine endgültige Verwirklichung zugeht. Diese Sicht zu akzeptieren bedeutet jedoch, die Struktur des Christentums auf den Kopf zu stellen: Christus ist aus der Vergangenheit in die Zukunft versetzt; Erlösung würde einfachhin bedeuten, auf die Zukunft als der notwendigen Entwicklung zum Besseren hin zuzugehen. Der Mensch ist nur ein Produkt, das von der Zeit noch nicht vollständig perfektioniert ist; es hat nie eine 'Erlösung' gegeben, weil es keinerlei Sünde gegeben hat, von der man hätte geheilt werden müssen, sondern nur einen, ich wiederhole es, natürlichen Mangel. Und doch sind diese Schwierigkeiten - mehr oder weniger 'wissenschaftlicher' Herkunft -noch nicht die Wurzel der heutigen Krise der 'Erbsünde'. Diese Krise ist nur ein Symptom für unsere tiefgreifende Schwierigkeit, die Wirklichkeit von uns selbst, von der Welt und von Gott wahrzunehmen. Die Diskussionen mit den Naturwissenschaften, wie zum Beispiel der Paläontologie, reichen hier gewiß nicht aus, auch wenn diese Art von Auseinandersetzung notwendig ist. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir uns auch Vorverständnissen und Vorentscheidungen philosophischen Charakters gegenübersehen."
81a Auf alle Fälle verständliche Schwierigkeiten, bemerke ich in Anbetracht des wirklich "geheimnisvollen" Charakters der "Erbsünde", oder wie man sie nennen will. (Fs)

Er sagt: "Diese christliche Wahrheit ist auf der einen Seite ein Mysterium, zum anderen ist ihr aber auch eine gewisse Evidenz eigen. Die Evidenz: Eine klare, realistische Betrachtung des Menschen und der Geschichte wird einfach auf deren Entfremdung stoßen, sie wird einfach entdecken, daß es einen Bruch in den Beziehungen gibt: in den Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu den anderen, zu Gott. Nun, da der Mensch schlechthin Sein-inBeziehung ist, reicht ein derartiger Bruch bis in die Wurzeln und wirkt sich auf alles aus. Das Mysterium: Wenn wir nicht in der Lage sind, die Erbsünde bis in den Grund ihrer Wirklichkeit und ihrer Konsequenzen zu durchdringen, so gerade deshalb, weil sie existiert, weil die Zerrüttung ontologisch ist, weil sie in uns die Logik der Natur aus dem Gleichgewicht bringt und verwirrt, uns daran hindert zu verstehen, wie eine Schuld am Ursprung der Geschichte eine Situation der gemeinsamen Sünde nach sich ziehen kann."
82a Adam, Eva, Eden, der Apfel, die Schlange ... Was sollen wir davon halten?

"Die biblische Erzählung über die Ursprünge berichtet nicht im Sinne moderner Geschichtsschreibung, sondern sie spricht durch Bilder. Es handelt sich um eine Erzählung, die gleichzeitig offenbart und verhüllt. Aber die tragenden Elemente sind einsichtig, und die Wirklichkeit des Dogmas gehört in jedem Fall bewahrt. Der Christ würde seinen Brüdern und Schwestern etwas schuldig bleiben, wenn er ihnen nicht den Christus verkündigen würde, der in erster Linie die Erlösung von der Sünde bringt; wenn er nicht die Realität der Entfremdung (den 'Fall') und gleichzeitig die Wirklichkeit der Gnade verkündigen würde, die uns erlöst, uns befreit; wenn er nicht verkündigen würde, daß für die Wiederherstellung unseres ursprünglichen Wesens eine Hilfe von außerhalb nötig ist; wenn er nicht verkündigen würde, daß das Bestehen auf Selbstverwirklichung, auf Selbst-Erlösung nicht zum Heil führt, sondern zur Zerstörung. Schließlich, wenn er nicht verkündigen würde, daß es für die eigene Rettung nötig ist, sich der Liebe anzuvertrauen."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Moral, Trennung: Sexualität, Mutterschaft, Zeugung, lebenslange Treue -> Konsequenzen; Libido d. einzelnen - S. als Recht; Homosexualität

Kurzinhalt: In der Kultur der 'entwickelten' Welt ist vor allem das unlösliche Band zwischen Sexualität und Mutterschaft zerrissen worden. Abgetrennt von der Mutterschaft ist der Sexus ortlos geworden und hat seinen Bezugspunkt verloren: Er ist eine Art Treibmine ...

Textausschnitt: Die Krise der Moral
(A10, E10)

82a Es gibt also auch eine - ebenfalls gravierende - Krise der Moral, wie sie vom kirchlichen Lehramt vorgegeben ist; eine Krise, die, wie wir bereits sagten, mit jener des katholischen Dogmas eng verknüpft ist. (Fs)

Dabei handelt es sich um eine Krise, die bislang vor allem die sogenannte "entwickelte" Welt erfaßt hat, insbesondere Europa und die Vereinigten Staaten; aber wie man weiß, setzen sich die dort entwickelten Denkmodelle letztendlich auch in der übrigen Welt durch mit der Hilfe eines wohlbekannten kulturellen Imperialismus. (Fs)

Jedenfalls erscheint, um bei den Worten des Kardinals zu bleiben, "in einer Welt wie der westlichen, wo Geld und Reichtum das Maß aller Dinge sind und wo das Modell vom freien Markt jedem Lebensbereich seine erbarmungslosen Gesetze aufzwingt, die echte katholische Ethik bereits vielen als ein Fremdkörper aus längst vergangenen Zeiten, als eine Art Meteorit, der nicht nur im Gegensatz zu den konkreten Lebensgewohnheiten, sondern auch zu der ihnen zugrunde liegenden Denkweise steht. Der ökonomische Liberalismus schafft sich auf moralischer Ebene seine exakte Entsprechung: den Permissivismus". Und somit "wird es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Moral der Kirche einsichtig zu machen. Zu weit ist sie von dem entfernt, was für die Mehrheit derer als selbstverständlich, als normal gilt, die von der herrschenden Kultur geprägt sind, der sich zuletzt als einflußreiche Gefolgsleute auch nicht wenige 'katholische' Moraltheologen angeschlossen haben". (Fs)

84a In Bogotà hat der Kardinal auf der Versammlung der Bischöfe, die den Lehrkommissionen und Bischofskonferenzen von Lateinamerika Vorsitzen, eine - bisher unveröffentlichte - Rede gehalten, die versuchte, die tiefen Gründe dessen zu benennen, was in der zeitgenössischen Theologie vor sich geht, einschließlich der Moraltheologie, der in jenem Bericht ein ihrer Bedeutung entsprechender Raum gewidmet ist. Es wird deshalb notwendig sein, Ratzinger in seiner Analyse zu folgen, um seine Warnung angesichts gewisser Wege zu verstehen, die der Westen und in seiner Folge manche Theologien eingeschlagen haben. Vor allem auf die Fragen von Familie und Sexualität wollte er die Aufmerksamkeit lenken. (Fs)

Er sagte damals: "In der Kultur der 'entwickelten' Welt ist vor allem das unlösliche Band zwischen Sexualität und Mutterschaft zerrissen worden. Abgetrennt von der Mutterschaft ist der Sexus ortlos geworden und hat seinen Bezugspunkt verloren: Er ist eine Art Treibmine, ein Problem und zugleich eine allgegenwärtige Macht."
84b Diesem ersten Riß sieht er einen weiteren folgen: "Nachdem die Trennung von Sexualität und Mutterschaft vollzogen war, ist die Sexualität auch von der Zeugung abgetrennt worden. Diese Bewegung hat schließlich dazu geführt, daß sie auch in die entgegengesetzte Richtung gegangen ist: nämlich Zeugung ohne Sexualität. Von hier aus folgen die immer empörenderen medizinisch-technischen Experimente - von denen die Gegenwart voll ist -, wo die Zeugung eben geradezu von der Sexualität unabhängig ist. Die biologische Manipulation strebt darauf zu, daß der Mensch von der Natur abgekoppelt wird (über deren Verständnis selbst, wie wir sehen werden, diskutiert wird). Man versucht, den Menschen umzugestalten, zu manipulieren, wie man es mit jedem anderen 'Ding' tut: Er ist nichts anderes als ein nach Belieben geplantes Produkt."

84a Wenn ich mich nicht täusche, sind unsere Kulturen in der gesamten Geschichte die ersten, in denen sich derartige Brüche vollziehen. (Fs)

"Ja, und am Ende dieses Weges, um die grundlegenden, natürlichen (und nicht, wie man sagt, nur kulturellen) Bindungen zu zerbrechen, wird man zu unvorstellbaren Konsequenzen geführt, welche eben jener Logik entstammen, die einem derartigen Weg zu Grunde liegt." (Fs)

Mehrfach zerbrochen

84b Für ihn werden wir bereits heute zu büßen haben für "die Folgen einer Sexualität, die in keinerlei Verbindung zur Mutterschaft und zur Zeugung mehr steht. Logischerweise folgt daraus, daß jede Form von Sexualität gleichwertig und folglich in gleichem Maße würdig ist. Es geht gewiß nicht darum - präzisiert er -, einen rückständigen Moralismus zu etablieren, sondern die aus den Prämissen folgenden Konsequenzen klar zu sehen: Es ist in der Tat logisch, daß die Lust, die Libido des einzelnen, der einzig mögliche Bezugspunkt des Sexus wird. Da er keinen objektiven Rechtfertigungsgrund mehr hat, sucht er den subjektiven Grund in der Befriedigung des Verlangens, in der für den einzelnen möglichst 'befriedigenden' Antwort auf die Instinkte, denen man keine vernünftige Schranke mehr entgegensetzen kann. Jeder kann frei seiner persönlichen Libido seinen Inhalt geben, den er für gut hält". (Fs) (notabene)

84c Er fährt fort: "Folglich ist es natürlich, daß sich alle Formen sexueller Befriedigung in 'Rechte' des einzelnen verwandeln. So wird, um ein heute besonders aktuelles Beispiel zu nennen, die Homosexualität zu einem unveräußerlichen Recht (und wie sollte man es unter derartigen Voraussetzungen in Abrede stellen?); im Gegenteil, ihre volle Anerkennung erscheint als ein Aspekt der Befreiung des Menschen."
86a Es gibt noch andere Konsequenzen "dieser Entwurzelung der menschlichen Person in der Tiefe ihrer Natur". Damit meint er: "Wenn die Fruchtbarkeit abgetrennt wird von der auf lebenslange Treue gegründeten Ehe, kehrt sie sich vom Segen (wie sie jede Kultur verstanden hat) ins Gegenteil: Das heißt, sie wird zu einer Bedrohung für die freie Entfaltung des individuellen Rechtes auf Glück'. So kommt es, daß die kostenlose, gesellschaftlich garantierte Abtreibung zu einem weiteren 'Recht', zu einer weiteren Form von 'Befreiung' wird."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Moral, Lehramt, Moraltheologie; Spannung zw. Lehramt und Theologen; Humane Vitae; Personalismus - Naturalismus

Kurzinhalt: Wenn die Überlegungen des Konzils auf der Einheit von Person und Natur im Menschen basierten, so fing man jetzt an, 'Personalismus' als Gegensatz von 'Naturalismus' hinzustellen

Textausschnitt: Fern von der Gesellschaft und fern vom Lehramt?

86b So also stellt sich für ihn das dramatische ethische Szenarium der liberal-radikalen "Wohlstands"-Gesellschaft dar. Aber wie reagiert auf all dies die katholische Moral theologie?

86c "Die mittlerweile vorherrschende Denkweise greift gerade die Grundlagen der kirchlichen Moral an, die sich, das sagte ich schon, wenn sie sich selbst treu bleibt, der Gefahr aussetzt, als ein anachronistisches Gebilde, ein lästiger Fremdkörper zu erscheinen. Bei ihrem Bemühen, weiterhin in unserer Gesellschaft 'glaubhaft' zu bleiben, finden sich die Moraltheologen der westlichen Hemisphäre vor eine schwierige Alternative gestellt: Es scheint, daß sie sich zwischen dem Widerspruch gegenüber der heutigen Gesellschaft und dem Widerspruch gegenüber dem Lehramt entscheiden müssen. Je nach der Art der Fragen ist die Zahl derjenigen größer oder kleiner, die diesen letzten Typ von Widerspruch vorziehen und sich folglich auf die Suche nach Theorien und Systemen begeben, die Kompromisse zwischen dem Katholizismus und den gängigen Anschauungen erlauben. Aber dieser wachsende Unterschied zwischen Lehramt und 'neuen' Moraltheologien führt zu unabsehbaren Konsequenzen, gerade auch, weil die Kirche mit ihren Schulen und ihren Krankenhäusern noch wichtige gesellschaftliche Rollen (vor allem in Amerika) innehat. So stehen wir folglich vor der schwerwiegenden Alternative: Entweder die Kirche findet zu einer Verständigung, zu einem Kompromiß mit den Werten, die in der Gesellschaft gelten, der sie weiterhin dienen will, oder aber sie entscheidet sich, ihren eigenen Werten treu zu bleiben (und diese sind, ihrer Ansicht nach, jene, die den Menschen in seinen tiefen Bedürfnissen schützen), und dann findet sie sich gerade der Gesellschaft gegenüber im Abseits." (Fs) (notabene)

87a So glaubt der Kardinal feststellen zu können, daß "heute der Bereich der Moraltheologie das Hauptfeld der Spannungen zwischen Lehramt und Theologen geworden ist, zumal hier die Konsequenzen am unmittelbarsten fühlbar werden. Einige Tendenzen möchte ich nennen: Verschiedentlich werden voreheliche Beziehungen, zumindest unter gewissen Bedingungen, gerechtfertigt; die Masturbation wird als ein normales Phänomen in der Entwicklung des Jugendlichen dargestellt; die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten wird ständig neu gefordert; auch der radikale Feminismus kann - besonders in manchen Frauenorden - zusehends in der Kirche vordringen (aber darüber wird noch zu sprechen sein). Selbst in bezug auf die Frage der Homosexualität werden Rechtfertigungsversuche unternommen: Es ist sogar vorgekommen, daß Bischöfe - aufgrund ungenügender Information oder auch aus einem Schuldgefühl von Katholiken einer unterdrückten Minderheit' gegenüber - den gays Kirchen für ihre Veranstaltungen zur Verfügung gestellt haben. Dann gibt es noch den Fall Humanae Vitae, die Enzyklika von Paul VI., die das 'Nein' zu den Kontrazeptiva bekräftigt hat und die nicht verstanden worden ist; sie ist im Gegenteil in weiten kirchlichen Kreisen mehr oder weniger offen abgelehnt worden". (Fs)

88a Aber steht, so frage ich, nicht etwa gerade angesichts des Problems der Geburtenregelung die traditionelle katholische Moral ziemlich hilflos da? Hat man nicht den Eindruck, daß sich das Lehramt hier mangels wirklicher, entscheidender Argumente selbst bloßgestellt hat?

88b "Es ist richtig, daß zu Beginn der großen Diskussion beim Erscheinen der Enzyklika Humanae Vitae 1968 die Argumentationsbasis der dem Lehramt verpflichteten Theologie noch verhältnismäßig schmal war. Aber inzwischen hat sie sich mit neuen Erfahrungen und neuen Reflexionen so erweitert, daß sich die Situation eher umzukehren beginnt. Um das Ganze recht zu verstehen, müssen wir hier allerdings etwas zurückblenden. In den dreißiger oder vierziger Jahren hatten einige katholische Moraltheologen die Einseitigkeit der Ausrichtung der katholischen Sexualmoral auf die Zeugung vom Blick der personalistischen Philosophie her zu kritisieren begonnen. Sie haben vor allem darauf hingewiesen, daß die im kanonischen Recht klassische Betrachtungsweise der Ehe von ihren 'Zwecken' her nicht dem ganzen Wesen der Ehe gerecht werden kann. Die Kategorie 'Zweck' versagt vor den eigentlich menschlichen Phänomenen. Diese Theologen haben keineswegs die Bedeutung der Fruchtbarkeit im Wertgefüge der menschlichen Sexualität geleugnet. Aber sie haben ihr im Rahmen einer mehr personalistischen Betrachtungsweise der Ehe eine neue Stelle zugewiesen. Diese Diskussionen waren wichtig und haben eine bedeutende Vertiefung der katholischen Ehelehre erbracht. Das Konzil hat das Beste dieser Gedankengänge aufgenommen und bestätigt. Aber nun begann sich eine neue Entwicklungslinie abzuzeichnen. Wenn die Überlegungen des Konzils auf der Einheit von Person und Natur im Menschen basierten, so fing man jetzt an, 'Personalismus' als Gegensatz von 'Naturalismus' hinzustellen (so als ob die menschliche Person und ihre Bedürfnisse in Widerspruch zur Natur treten könnten). So hat ein übertriebener Personalismus einzelne Theologen dazu gebracht, die innere Ordnung, die Sprache der Natur abzulehnen (die hingegen nach der beständigen Lehre der katholischen Kirche von sich aus moralisch ist), indem sie der Sexualität, auch der ehelichen, den Willen der Person als alleinigen Bezugspunkt überließen. Hier liegt einer der Gründe dafür, daß Humanae Vitae abgelehnt wurde und daß es für manche Theologien unmöglich ist, die künstlichen Methoden der Empfängnisverhütung abzulehnen."

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Glaube, Moral: Umriss der Problemlage; Orthodoxie - Orthopraxie (politische Theologie; Wahrheit als Herrschaftsmittel); Behauptung: es gebe keine spezifisch christliche Moral (Hans Küng)

Kurzinhalt: ... ein Lehramt, das ... die Praxis an dieser Wahrheit messen würde, würde als Verhinderung schöpferischer, zukunftsweisender Praxis genau auf die Negativseite der Wirklichkeit versetzt: Es erschiene als Ausdruck der Interessen, die hinter dem Etikett ...

Textausschnitt: Kirchliches Lehramt - Glaube - Moral
Umriß der Problemlage

43a Die Krise des Glaubens, die in zunehmendem Maße die Christenheit bedrängt, zeigt sich immer deutlicher auch als eine Krise im Bewußtsein der Grundwerte menschlichen Lebens. Sie wird so einerseits durch die moralische Krise der Menschheit genährt und wirkt andererseits auch wieder verschärfend auf diese zurück. Wenn man das Panorama der gegenwärtigen Diskussionen zu dieser Frage in seinen großen Umrissen zu erfassen versucht, stößt man freilich auf merkwürdige Gegensätze, die indes doch auch wieder eng zusammenhängen. Auf der einen Seite wird vor allem seit der Versammlung des Weltkirchenrats in Uppsala immer deutlicher ein Trend sichtbar, Christentum primär nicht als «Orthodoxie», sondern als «Orthopraxie» zu definieren. In dieser Option fließen mancherlei Gründe zusammen. Da wäre etwa zu verweisen auf den Ernst, den die Rassenfrage für das Christentum in Amerika gewonnen hat, wo gleiches Bekenntnis dennoch nichts an der Schranke der Trennung zu ändern vermag und damit auch das Bekenntnis in seinem realen Wert in Frage gestellt erscheint, weil es die Wurzel des Evangeliums, die Liebe, nicht lebendig zu machen die Kraft besitzt. Eine praktische Frage wird damit zum Prüfstein für den Realitätsgehalt der Lehre, zum eigentlichen Probefall des Christlichen - wo die «Orthopraxie» so eklatant fehlt, erscheint die «Orthodoxie» als fragwürdig. (Fs)

43b Eine andere Wurzel für die Zuwendung zur «Praxis» liegt in den verschiedenen Strömungen der «politischen Theologie», die ihrerseits unterschiedlich motiviert sind. Gemeinsam ist wohl allen eine starke Betroffenheit von den Fragen, die der Marxismus stellt. Der Begriff der «Wahrheit» erscheint hier in sich als verdächtig, mindestens als wertlos. Insoweit trifft sich dieses Denken mit dem Grundgefühl, aus dem der Positivismus lebt. Wahrheit gilt als unerreichbar, ihre Behauptung als Alibi für Gruppeninteressen, die auf diese Weise verfestigt werden sollen. Allein die Praxis kann (immer nach dieser Ansicht) über Wert oder Unwert von Theorien entscheiden. Wenn also das Christentum etwas zum Aufbau einer besseren Welt beitragen wolle, so müsse es eine bessere Praxis schaffen - die Wahrheit nicht als Theorie suchen, sondern als Wirklichkeit herstellen. Die Forderung, Christentum müsse «Orthopraxie» gemeinsamen Handelns für eine menschlichere Zukunft werden und die Orthodoxie als unfruchtbar oder schädlich hinter sich lassen, erhält hier einen sehr viel grundsätzlicheren Charakter, als von den pragmatischen Ausgangspunkten her der Fall sein müßte, die vorhin geschildert wurden. Zugleich ist klar, daß beide Ansätze dazu tendieren werden, sich miteinander zu verbinden und sich gegenseitig zu bestätigen. Für ein Lehramt bleibt im einen wie im anderen Fall wenig Raum, obgleich es bei konsequenter Durchführung dieser Ansätze auf eine veränderte Form doch wieder auftauchen müßte. Freilich, ein Lehramt, das eine schon gegebene Wahrheit über die rechte Praxis des Menschen formulieren und die Praxis an dieser Wahrheit messen würde, würde als Verhinderung schöpferischer, zukunftsweisender Praxis genau auf die Negativseite der Wirklichkeit versetzt: Es erschiene als Ausdruck der Interessen, die hinter dem Etikett «Orthodoxie» verborgen sind und die sich dem vorwärtsschreitenden Gang der Freiheitsgeschichte entgegenstellen. Andererseits wird zugegeben, daß die Praxis der Reflexion und der reflektierten Taktik bedarf, weshalb die Bindung marxistischer Praxis an das «Lehramt» der Partei durchaus logisch ist. (Fs)

45a Der Denkströmung, die Christentum als Orthopraxie definieren und realisieren möchte, steht am anderen Ende (und freilich oft unvermittelt in sie übergehend) eine Position entgegen, welche sagt, eine spezifisch christliche Moral gebe es gar nicht; das Christentum müsse vielmehr seine Verhaltensnormen jeweils den anthropologischen Erkenntnissen seiner Zeit entnehmen. Der Glaube biete keine selbständige Quelle moralischer Normen an, sondern verweise in diesem Punkt streng auf die Vernunft, und alles, was nicht von ihr gedeckt werde, werde auch nicht vom Glauben getragen. Begründet wird diese Behauptung mit dem Hinweis, daß der Glaube auch in seinen historischen Quellen keine eigene Moral entwickelt, sondern sich jeweils der praktischen Vernunft der Zeitgenossen angeschlossen habe1. (Fs) (notabene)

Fußnote 1 (zu oben):
1 So zuletzt nach anderen H. Küng, Christ sein (München 1974) 5 52 ff: «Das Unterscheidende schon für das alttestamentliche Ethos sind nicht die einzelnen Gebote oder Verbote, sondern ist der Jahweglaube ... Die Weisungen der (zweiten Tafel) ... haben im Vorderen Orient zahlreiche Analogien ... Spezifisch israelisch sind also nicht diese fundamentalen Minimalforderungen ... Spezifisch israelisch ist es, daß diese Forderungen der Autorität des Bundesgottes unterstellt werden ...» (532). Gegenfrage: Ist etwa das Gottesbild Israels ohne Übernahmen und Parallelen aus der Umwelt geworden? Sind im übrigen Orient sittliche und rechtliche Forderungen nicht an die Autorität des jeweiligen Gottes geknüpft worden? Ähnliche Fragen drängen sich auf, wenn Küng in bezug auf das Neue Testament formuliert: «Auch die ethischen Forderungen des Neuen Testaments ... sind weder der Form noch dem Inhalt nach vom Himmel gefallen» (554). Ist das übrige NT vom Himmel gefallen? Es dürfte auf der Hand liegen, daß so nicht argumentiert werden kann.


46a Das lasse sich schon im Alten Testament zeigen, wo die Wertvorstellungen von der Patriarchenzeit bis zur Weisheitsliteratur in einem ständigen Wandel begriffen seien, bedingt durch die Begegnung mit den sich entwickelnden Moralvorstellungen der umliegenden Kulturen. Nirgendwo sei ein Moralsatz nachzuweisen, den es nur gerade im Alten Testament gebe, von dem man sagen müsse, daß er allein Frucht des Glaubens an Jahwe sei; in Sachen Moral sei alles von anderswo übernommen. Das gelte auch für das Neue Testament: Die Tugend- und Lasterkataloge der Apostelbriefe spiegelten stoisches Ethos wider und seien so Übernahme dessen, was damals als Weisung der Vernunft für das menschliche Verhalten gelten mußte. Sie seien daher nicht inhaltlich bedeutsam, sondern strukturell: als Verweis auf die Vernunft als die einzige Quelle moralischer Normen. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß auch von diesem Ausgangspunkt her ein kirchliches Lehramt in Sachen Moral keinen Platz behält. Denn inhaltliche Normierung auf Grund der Überlieferung des Glaubens würde dann ja dem Mißverständnis entspringen, das die Aussagen der Bibel als inhaltliche und bleibende Wegweisungen auffaßt, während sie -nach dieser These - doch nur Verweis auf den jeweilig gegebenen Stand der allein von der Vernunft zu gewinnenden Erkenntnis seien. (Fs) (notabene)

46b Es ist klar, daß im einen wie im anderen Fall grundlegende Probleme des Christlichen zur Debatte stehen, die nicht auf wenigen Seiten zulänglich abgehandelt werden können. Im ersten Fall - wo die Interpretation des Christlichen als «Orthopraxie» nicht nur pragmatisch, sondern grundsätzlich vollzogen wird - steht die Frage nach der Wahrheit und so überhaupt die Grundfrage danach, was die Wirklichkeit ist, zur Debatte. Letzten Endes geht es mit der Seinsfrage um den ersten Glaubensartikel, auch wenn dies im einzelnen keineswegs immer bewußt ist und die Positionen selten in ihrer letzten Radikalität durchgeführt werden. Im zweiten Fall scheint es sich zunächst um ein historisches Einzelproblem zu handeln: um die Frage der historischen Herkunft gewisser biblischer Aussagen. Sieht man näher zu, so stellt sich heraus, daß es dabei um ein grundsätzlicheres Problem geht, nämlich um die Frage, wie das christliche Proprium gegenüber den wechselnden historischen Gestaltungen des Christlichen zu bestimmen ist. Gleichzeitig ist das Problem im Spiel, wie die Kommunikation des Glaubens mit der Vernunft, mit dem Allgemein-Menschlichen zu verstehen ist; schließlich überhaupt die Frage nach Möglichkeit und Grenzen der Vernunft dem Glauben gegenüber2. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Kritik, christliche Moral; kein Widerspruch: Originalität des Christlichen - Annahme der Weisheit anderer Völker

Kurzinhalt: ... das christliche Proprium kann man nicht destillieren, indem man alles ausscheidet, was im Austausch mit anderen geworden ist. Die christliche Originalität besteht vielmehr in der neuen Gesamtgestalt, in die das menschliche Suchen und Ringen von ...

Textausschnitt: Erste Gegeninstanzen

48a Beginnen wir mit dem Vordergründigsten, dem Einfachsten, um von hier aus auf die Spur der Sache zu kommen, das heißt mit der Frage der historischen Abkünftigkeit der biblischen Aussagen in Sachen Moral. Hier ist zunächst eine allgemeine methodische Frage zu untersuchen. Die Unterstellung, daß Überkommenes nie zu Eigenem werden könne, ist ganz einfach falsch. Das wissen wir aus unserem eigenen Leben - der theologische Satz «Was hast Du, das Du nicht empfangen hättest» (1 Kor 4, 7) läßt sich auch rein menschlich bewahrheiten; das wissen wir aber auch aus der ganzen Kulturgeschichte: Die Größe einer Kultur erweist sich in ihrer Kommunikationsfähigkeit, in ihrer Fähigkeit zum Geben und Nehmen, aber gerade auch zum Nehmen, zum Empfangen und Assimilieren ins Eigene hinein. Die Originalität des Christlichen liegt nicht in der Summe der Sätze, für die man noch keine Parallelen anderswo gefunden hat (wenn sich überhaupt solche Sätze feststellen lassen, was sehr die Frage ist); das christliche Proprium kann man nicht destillieren, indem man alles ausscheidet, was im Austausch mit anderen geworden ist. Die christliche Originalität besteht vielmehr in der neuen Gesamtgestalt, in die das menschliche Suchen und Ringen von der orientierenden Mitte des Glaubens an den Gott Abrahams, an den Gott Jesu Christi eingeschmolzen worden ist. Die Verweisung der Moral an die bloße Vernunft ist also mit der Feststellung der Herkünftigkeit der moralischen Aussagen der Bibel aus anderen Kulturen oder aus philosophischem Denken noch in keiner Weise gegeben - solches zu behaupten stellt einen denkerischen Kurzschluß dar, den man nicht länger hingehen lassen darf. Entscheidend ist nicht, daß man solche Sätze auch anderswo nachweisen kann, entscheidend ist allein die Frage, welche Stellung sie in der geistigen Gestalt des Christlichen einnehmen oder nicht einnehmen. Danach muß also nun gefragt werden. (Fs)

49a Setzen wir auch hier mit einer ganz einfachen Beobachtung an. Es ist historisch betrachtet unrichtig, zu sagen, der biblische Glaube habe jeweils die Moral seiner Umwelt bzw. den je erreichten Stand moralischer Vernunfterkenntnis übernommen. Denn «die Umwelt» als solche gab es gar nicht und eine einheitliche Größe «Moral», die schlicht übernehmbar gewesen wäre, existierte nicht. Wir stellen vielmehr fest, daß unter dem Maßstab dessen, was der Gestalt Jahwes entsprach, in einem oft genug höchst dramatischen Ringen zwischen jenen Elementen rechtlicher und moralischer Überlieferung der Umwelt geschieden wurde, die von Israel assimiliert werden konnten bzw. die von Israel unter dem Richtmaß seines Gottesbildes abgestoßen werden mußten. Der Kampf der Propheten ist letzten Endes auf diese Frage bezogen. Ob man an Natan denkt, der es David verwehrt, die Form eines allverfügenden orientalischen Potentaten anzunehmen, der auch die Frau des Nachbarn holen kann, wenn es ihm gefällt; ob man an Elija denkt, der mit dem Recht Nabots das vom Gott Israels gewährleistete Recht gegen den königlichen Absolutismus schützt; ob man an Amos denkt, der in seinem Kampf für das Recht der Lohnarbeiter, der Abhängigen überhaupt das Gottesbild Israels verteidigt - immer zeigt sich das Gleiche; auch der ganze Komplex des Streits zwischen Jahwe und Baal läßt sich nicht auf eine bloß «dogmatische» Frage reduzieren, sondern bezieht sich auf die untrennbare Einheit von Glauben und Leben, die hier im Spiele ist: Der Entscheid zu dem einen Gott oder zu den Göttern ist jeweils ein Lebensentscheid. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Zueinander: Glaube - Ethos, Moral (Beispiel 1: Dekalog); Selbstoffenbarung Gottes (Exodus3) - Dekalog (d. zugleich Gott bestimmt); der Begriff d. Heiligen verschmilzt mit dem Sittlichen

Kurzinhalt: ... indem Jahwe sein Besonderes, sein Ganz-Anders gerade in den Zehn Worten darstellt, wird sichtbar ... , daß das Ganz-Anders Jahwes, seine Heiligkeit, eine sittliche Größe ist, deren Entsprechung im sittlichen Tun des Menschen gemäß dem Zehnerwort ...

Textausschnitt: Drei Beispiele für das Zueinander von Glaube und Ethos

a) Der Dekalog

50a Mit diesen Aussagen sind wir nun bereits in die sachliche Diskussion hineingeführt, die hier nur an drei charakteristischen Beispielen etwas verdeutlicht werden soll. Werfen wir als erstes einen Blick auf den Dekalog (Ex 20, 1-17; Dt 5, 6-21) als eine der zentralen Formulierungen des Willens Jahwes mit Israel, an der sich das Ethos in Israel und in der Kirche immer neu geformt hat. Zweifellos kann man zeigen, daß es dafür Vorbilder sowohl in den ägyptischen Verzeichnissen von Vergehen gibt, die nicht begangen werden dürfen wie in den Befragungskatalogen des babylonischen Exorzismus. Auch die einleitende Formel «Ich bin der Herr, dein Gott» ist nicht gänzlich neu. Und dennoch gibt sie den «Zehn Worten» ein neues Gesicht: Sie werden an den Gottesglauben Israels, an den Bundesgott und seinen Bundeswillen gebunden. Die «Zehn Worte» zeigen, was es inhaltlich heißt, an Jahwe zu glauben, den Bund mit Jahwe anzunehmen. Sie definieren damit zugleich die Gestalt Gottes selbst, deren Wesen sich in ihrem Willen zeigt. Das verbindet den Dekalog mit der grundlegenden Selbstoffenbarung Gottes in Exodus 3, denn auch dort ist die Selbstdarstellung Gottes konkretisiert in der Darstellung seines sittlichen Wollens: Er hat das Stöhnen der Bedrückten gehört und ist gekommen, sie zu befreien. Die Einleitung des Dekalogs knüpft sowohl in der Fassung von Exodus 20 wie in der Wiedergabe des Deuteronomiums an diesen Beginn an: Jahwe stellt sich vor als der Gott, der Israel aus Ägypten, dem Haus der Knechtschaft, herausgeführt hat. Das bedeutet: Der Dekalog ist in Israel Teil des Gottesbegriffes selbst. Er steht nicht neben dem Glauben, neben dem Bund, sondern in ihm zeigt sich, wer der Gott ist, mit dem Israel im Bunde steht1. (Fs) (notabene)

51a Die besondere Entwicklung des Begriffs des «Heiligen», wie sie sich in der biblischen Religion zugetragen hat, hängt damit zusammen. Das «Heilige» bezeichnet religionsgeschichtlich zunächst einfach das Ganz-anders Sein der Gottheit, ihre spezifische Atmosphäre, woraus sich die besonderen Regeln des Umgangs mit der Gottheit ergeben. Das ist auch in Israel zunächst durchaus nicht anders; eine Vielzahl von Stellen zeigt das. Aber indem Jahwe sein Besonderes, sein Ganz-Anders gerade in den Zehn Worten darstellt, wird sichtbar (und von den Propheten immer mehr ins Bewußtsein gebracht), daß das Ganz-Anders Jahwes, seine Heiligkeit, eine sittliche Größe ist, deren Entsprechung im sittlichen Tun des Menschen gemäß dem Zehnerwort besteht. Der Begriff des Heiligen als die spezifische Kategorie des Göttlichen verschmilzt schon von jenen uralten Überlieferungsschichten her, denen der Dekalog zugehört, mit dem Begriff des Sittlichen, und gerade darin liegt dann das Neue, Einzigartige dieses Gottes und seiner Heiligkeit; darin liegt aber auch der neue Rang, den das Sittliche erhält, und von daher bestimmt sich das Auswahlkriterium in der Auseinandersetzung mit dem Ethos der Völker bis hin zu jener höchsten Erhebung des Heiligkeitsbegriffs, die im Alten Testament das Gottesbild Jesu antizipiert: «Ich handle nicht nach der Glut meines Zorns ... denn Gott bin ich und nicht Mensch, in deiner Mitte der Heilige...» (Hosea 11, 9). «Und da kann nun kein Zweifel sein, daß sich mit der Ausrufung des Dekalogs über Israel die Erwählung Israels vollzieht», hat Gerhard v. Rad in seiner Theologie des Alten Testaments diesen Zusammenhang formuliert, den er auch in seinen Auswirkungen im liturgischen Leben Israels darstellt2. Dies alles bedeutet gewiß nicht, daß der Dekalog von vornherein in seiner ganzen Bedeutungstiefe begriffen wurde und daß das bloße Wort die zentrale sittliche Erkenntnis für sich allein schon abschließend freigibt; die Geschichte der Auslegung von den frühesten Traditionsschichten bis zur Relecture des Zehnerworts in der Bergpredigt Jesu zeigt vielmehr, wie gerade an diesem Wort sich immer tieferes Verstehen des Gotteswillens und darin Gottes und des Menschen selbst entzünden konnte und mußte. Wohl aber läßt das Gesagte deutlich werden, daß die Herkünftigkeit von Einzelstücken des Dekalogs aus dem außerisraelitischen Bereich nichts über seine Ablösbarkeit vom Zentrum des Bundesglaubens sagt; im Grunde kann man dies wohl auch nur behaupten, wenn man voraussetzt, daß Vernunft der Völker und Offenbarung Gottes analogielos als pures Paradox gegeneinanderstehen, d.h. von einer bestimmten Position über das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft her, die sich an den biblischen Texten gerade nicht verifiziert, sondern von ihnen eindeutig falsifiziert wird. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Zueinander: Glaube - Ethos, Moral (Beispiel 2: der Name "Christ"); Christentum (Apg 11, 26) -> Nomen Christianum (strafbar seit Hadrian) -> Ignatius von Antiochien; Wortspiel: christos - chrestos (gut); Martyriumstheologie (Nachfolge Jesu)

Kurzinhalt: Demgegenüber verwendet Ignatius ein Wortspiel, das in der christlichen Apologetik noch lange weiterwirkte ... - die theologische und die sittliche Qualität sind gerade im Namen und tiefer: im Grundbegriff des Christlichen selbst unlösbar verschmolzen

Textausschnitt: b) Der Name «Christ»

53a Wählen wir ein zweites Beispiel, diesmal aus dem frühchristlichen Bereich, in dem wieder, wie für Israel im Dekalog, das Zentrum zur Rede steht: die Bedeutung der Wörter «Christ» und «Christentum» in der Entstehungsphase der Kirche1. Aus Apg 11, 26 wissen wir, daß dieser Name zuerst in Antiochien der Gemeinschaft der Gläubigen beigelegt wurde. Obgleich der Ausgangspunkt und die anfängliche Sinngebung der Benennung umstritten sind und bei der bestehenden Quellenlage auch umstritten bleiben werden, ist doch deutlich, daß sich dieser Benennung alsbald ein ironischer Beiklang anheftete und daß sie darüber hinaus im römischen Recht Bezeichnung eines strafwürdigen Verbrechens wurde: die Christiani sind die Angehörigen der Verschwörergemeinschaft des Christus; seit Hadrian ist daher das Nomen Christianum ausdrücklich für strafbar erklärt. Peterson hat gezeigt, daß die Vorwürfe, wie sie sich etwa bei Sueton und bei Tacitus gegen die Christen finden, fester Bestandteil der politischen Propaganda sind, «die gegen wirkliche oder angebliche Verschwörer gemacht wurde»2. Dennoch zeigt sich schon bei Ignatius von Antiochien die Übernahme dieses gefährlichen Wortes als Selbstbezeichnung der Christen, ja, der Stolz, diesen Namen zu tragen und sich seiner würdig zu erweisen. Was geht hier vor, wenn der Schimpfname, der zugleich der Verurteilungstitel des Strafrechts ist, bewußt angenommen und getragen wird? (Fs)

54a Darauf läßt sich zweierlei antworten. Zunächst ist es bei Ignatius eine betonte Martyriumstheologie, die zur Übernahme des Wortes führt, das gleichsam selbst das Martyrium in sich trägt. Die Gemeinschaft mit Jesus Christus, die ihm der Glaube ist, bedeutet in den Augen der Welt Teilhabe an einer damals mit dem Tod geahndeten Verschwörung. Dies ist für den Bischof von Antiochien eine Sicht von außen, die in gewisser Weise durchaus das ahnt, worum es freilich auf ganz andere Weise von innen her geht: Die Gemeinschaft mit Jesus ist in der Tat Beteiligung an seinem Tod und nur so auch an seinem Leben3. Das aber heißt: An der Vorstellung von der gemeinsamen Verschwörung der Christen mit Christus ist dies richtig, daß die Christen nicht nur eine Theorie von Jesus übernehmen, sondern seinen Lebens- und Todesentscheid teilen und auf ihre Weise wiederholen. «Da wir seine Jünger geworden sind, gilt es zu lernen, dem Christentum gemäß zu leben»4. In diesem Sinn ist für den syrischen Martyrerbischof Christentum durchaus eine «Orthopraxie» - es bedeutet, die Lebensform Jesu Christi nachzuvollziehen. Aber wie sieht das aus? Diese Frage führt zu einem zweiten Schritt. Für den Heiden bedeutet das Wort Christianus den Verschwörer, den man sich im Schema der politischen Propaganda vorstellt als einen Menschen, der durch üble «flagitia» (Verbrechen), besonders durch «Haß gegenüber dem Menschengeschlecht» und «stuprum» (Unzucht) gekennzeichnet ist.5 Demgegenüber verwendet Ignatius ein Wortspiel, das in der christlichen Apologetik noch lange weiterwirkte. In der griechischen Phonetik wurde (und wird) das Wort chrestos (= gut) mit i als christos ausgesprochen. Diesen Zusammenhang greift Ignatius auf, wenn er dem Satz «lernen wir, dem Christentum (Christianismos) gemäß zu leben» die Worte voranstellt, « seien wir nicht fühllos gegen seine Güte (chrestotes, gesprochen christotes)»6. Die Verschwörung des Christos ist eine Verschwörung zum Chrestos-Sein, eine Verschwörung zum Guten. So wird noch hundert Jahre später Tertullian formulieren: «Das Wort Christ ist von dem Wort Gutsein hergenommen»7. Die Verknüpfung zwischen Gottesbegriff und sittlicher Idee, die wir im Dekalog gegeben fanden, ist hier auf eine höchst sublime und anspruchsvolle Art im Christlichen wiederholt: Der christliche Name besagt Christusgemeinschaft, aber eben damit die Bereitschaft, das Martyrium des Guten auf sich zu nehmen. Christentum ist eine Verschwörung zum Guten - die theologische und die sittliche Qualität sind gerade im Namen und tiefer: im Grundbegriff des Christlichen selbst unlösbar verschmolzen8. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Zueinander: Glaube - Ethos, Moral (Beispiel 3: apostolische Mahnung, Paulus); Zusammenhang: Glaube - apostolische Ermahnung; "Vernunft der Zeit" - Wirrwarr gegenläufiger Positionen; Versagen im Gottesbegriff -> sittliches Versagen (Römerbrief)

Kurzinhalt: Die wirkliche Sicht des Apostels Paulus kommt vielleicht am deutlichsten im ersten Kapitel des Römerbriefs zum Vorschein, wo genau jene Verknüpfung des Sittlichen mit dem Gottesbegriff wiederholt wird, die wir vorhin für das Alte Testament ...

Textausschnitt: c) Die apostolische Mahnung

56a Damit aber stehen Ignatius und die ihm folgende frühchristliche Theologie streng auf dem Boden der apostolischen Predigt, die nun noch als drittes Beispiel genannt werden soll. Der enge Zusammenhang zwischen Glaube und «Nachahmung» des Apostels, die in der «Nachahmung» Jesu Christi geschieht, ist gerade für die paulinische Verkündigung charakteristisch. Besonders präzis formuliert hier der erste Thessalonicherbrief: «... Wie ihr es überliefert erhalten habt, ... so wandelt auch ... ihr wißt, welche Gebote ich euch durch den Herrn Jesus gegeben habe» (1 Thess 4, iff.). Der «Wandel» gehört zur Überlieferung, seine Weisung stammt nicht von irgendwo, sondern vom Herrn Jesus; die folgenden Ausführungen sind locker an den Dekalog angelehnt und spezifizieren ihn christlich auf die besondere Situation der Thessalonicher hin. Nun könnte dagegen eingewandt werden, hier gehe es in der Hauptsache doch nur um die formale Intention auf das «Gute», die zweifellos für das Christentum charakteristisch sei. Aber die inhaltliche Frage, worin dieses Gute bestehe, die werde eben nicht aus innertheologischen Quellen, sondern jeweils von der Vernunft und von der Zeit entschieden. Und man kann dann scheinbar auf einen Text wie Phil 4, 8 verweisen, der dies zu bestätigen scheint: «Im übrigen, Brüder, was wahr ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was ansprechend, was es an Tugend und löblichen Dingen gibt, darauf richtet eure Gedanken.» Hier handle es sich um Begriffe der Popularphilosophie, in denen ganz deutlich eben die geltenden Maßstäbe des Guten auch den Christen als ihre Maßstäbe dargeboten würden. Nun könnte man dem sofort entgegenhalten, daß der Text fortfährt: «Und was ihr von mir gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt, das tut» (4, 9); man könnte darauf verweisen, daß hier letzten Endes 2,5 ausgelegt wird: «Seid so gesinnt wie Christus Jesus es war» - womit wieder die Verknüpfung von Gesinnung Jesu als inhaltlichem Maßstab und christlicher Existenz gegeben ist, auf die wir bei Ignatius gestoßen waren. (Fs)

58a Man muß aber historisch und sachlich doch wohl noch ein Stück tiefer vorstoßen. Es ist zweifellos richtig, daß Paulus hier wie auch sonst auf die sittliche Erkenntnis verweist, die das Gewissen unter Heiden geweckt hat und daß er diese Erkenntnis gemäß den in Röm 2,15 entwickelten Grundsätzen mit dem wahren Gesetz Gottes identifiziert. Aber das bedeutet nicht, daß hier das Kerygma zu einem inhaltlosen Verweis auf das jeweils von der Vernunft für gut Gehaltene zusammenschrumpft. Dagegen steht zweierlei: einmal dies, daß es diese «Vernunft der Zeit» historisch gar nicht gegeben hat und nie geben wird. Was Paulus vorfand, war ja nicht ein bestimmter «Forschungsstand» über das Gute, den er schlicht übernehmen konnte, sondern ein Wirrwarr gegenläufiger Positionen, in dem Epikur und Seneca nur zwei Beispiele für die Spannweite des Gegebenen sind. Hier war nicht durch Übernahme, sondern nur durch entschieden kritische Sonderung weiterzukommen, in der der christliche Glaube am Maßstab der alttestamentlichen Überlieferung und konkret von der «Gesinnung Jesu Christi» her seine neuen Entscheidungen formte, die von außen als «Verschwörung» verurteilt, von innen her nur um so entschiedener als das wahrhaft «Gute» durchgehalten wurden. Zum anderen steht gegen die erwähnte Vorstellung, daß für Paulus Gewissen und Vernunft nicht variable Größen sind, die heute so und morgen anders sagen; das Gewissen erweist sich als das, was es ist, gerade dadurch, daß es das Gleiche sagt, was Gott im Bundeswort den Juden gesagt hat; als Gewissen deckt es das Bleibende auf und führt so notwendig zur Gesinnung Jesu Christi hin. Die wirkliche Sicht des Apostels Paulus kommt vielleicht am deutlichsten im ersten Kapitel des Römerbriefs zum Vorschein, wo genau jene Verknüpfung des Sittlichen mit dem Gottesbegriff wiederholt wird, die wir vorhin für das Alte Testament charakteristisch fanden: Das Versagen im Gottesbegriff treibt das sittliche Versagen der Heidenwelt hervor; die Zukehr zu Gott in Jesus Christus ist mit der Zukehr zum Weg Jesu Christi identisch. Das gleiche hatte Paulus zuvor schon in 1 Thess ausgeführt: Die Unheiligkeit der Heiden hängt damit zusammen, daß sie Gott nicht kennen; der Wille Gottes ist «Heiligung», die gerade in der Botschaft der Gnade sittlich verstanden wird. Wer die paulinischen Briefe genau liest, wird unschwer sehen, daß die apostolische Paraklese nicht ein moralisierender Anhang ist, dessen Inhalte auch ausgetauscht werden könnten, sondern konkrete Benennung dessen, was Glauben heißt und daher mit dem Zentrum unlöslich verbunden. Der Apostel folgt darin in der Tat nur dem Muster Jesu, der in den Einlaß- und Ausschließungssprüchen zur Königsherrschaft Gottes dieses zentrale Thema seiner Predigt unlöslich mit den sittlichen Grundentscheidungen verknüpft hatte, die aus dem Gottesbild folgen und ihm zuinnerst zugehören1. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Glaube - Moral - Lehramt; Gnade - Sittlichkeit; apostolische Nachfolge: Wahrung des apost. Glaubens, Konkretisierung d. sittlichen Anspruch d. Gnade

Kurzinhalt: In seinem Mahnen mahnt die Gnade, mahnt Gott; es ist nicht variable Zutat zum Evangelium, sondern gedeckt von der Autorität des Herrn, auch wo es nicht in der Form des Befehls oder der Lehrentscheidung auftritt

Textausschnitt: Glaube - Moral - Lehramt

60a Mit dem Hinweis auf die apostolische Mahnung ist nun über den Zusammenhang von Glaube und Moral hinaus das Lehramt ins Spiel gekommen. Denn die apostolischen Briefe sind Ausübung der Vollmacht zu lehren. In ihnen entscheidet Paulus «lehramtlich» auch über die sittliche Form des Glaubens; das gleiche gilt von der übrigen neutestamentlichen Briefliteratur wie auch von den Evangelien, die voller sittlicher Weisung sind, und schließlich auch von der Apokalypse. Paulus stellt in seiner Paraklese nicht Theorien über das Menschlich-Vernünftige zur Diskussion, sondern er legt den inneren Anspruch der Gnade aus, wie H. Schlier in seinem schönen Artikel über die Eigenart der christlichen Mahnung eindringlich dargestellt hat1. Gewiß, der Apostel verwendet die Form des ausdrücklichen Befehls nicht allzu häufig (1 Thess 4, 10f.), obgleich er sich bewußt ist, daß er dazu Vollmacht hat (2 Kor 8, 8); er will den christlichen Gemeinden nicht in der Weise des Anfahrens und Antreibens gegenübertreten, wie es die Pädagogen der Antike gegenüber den Kindern übten - er zieht das väterliche Zureden in der christlichen Familie vor. Aber gerade darin läßt er deutlich werden, daß in seinem Wort das Erbarmen Gottes selbst ruft. In seinem Mahnen mahnt die Gnade, mahnt Gott; es ist nicht variable Zutat zum Evangelium, sondern gedeckt von der Autorität des Herrn, auch wo es nicht in der Form des Befehls oder der Lehrentscheidung auftritt2. Das gleiche zeigt sich, wenn man auf die zentralen Motive seiner Mahnung achtet: Das Heilsgeschehen in Christus selbst, die Taufe, die Gemeinschaft des Leibes Christi, der Blick aufs Letzte Gericht3. Die Scheidelinie, die von der Gnade her gegenüber der Lebensform derer gezogen wird, die Gott nicht kennen, ist völlig klar: Sie heißt Abkehr von Unzucht, Habgier, Götzendienst, von Neid und Unverträglichkeit; Hinkehr zu Gehorsam, Geduld, Wahrheit, Sorglosigkeit, Freude! In diese Haltungen faltet sich das Grundgebot der Liebe auseinander4. (Fs)

62a Was wir bei Paulus sehen, setzt sich in den Schriften der Apostelschüler fort, in denen die apostolische Mahnung als maßgebliche Tradition jeweils für die Situation entfaltet wird5. Das bedeutet: Für das Neue Testament endet das kirchliche Lehramt nicht mit der Zeit der Apostel; es ist eine bleibende Gabe der Kirche, die in der nachapostolischen Zeit dadurch apostolische Kirche bleibt, daß die rechtmäßigen Nachfolger der Apostel für das Verbleiben bei der Lehre der Apostel Sorge tragen. Das hat Lukas in der Krise des Übergangs nachdrücklich dargestellt, in der er als Maßform der Kirche aller Zeiten die Jerusalemer Urgemeinde mit ihrem «Bleiben bei der Lehre der Apostel» (Apg 2, 42) darstellt und die Presbyter als Sachwalter eben dieses Verbleibens schildert (Apg 20, 17-38)6. Es ist nicht notwendig, in diesem Zusammenhang eine ins einzelne gehende Theorie des kirchlichen Lehramtes und seiner Zentrierung im Lehramt des Petrusnachfolgers zu entwickeln, obgleich es nicht schwierig wäre, die Linien aufzuzeigen, die im Neuen Testament einerseits mit dem immer deutlicher hervortretenden Begriff der Überlieferung und der Nachfolge, andererseits mit der Petrustheologie in diese Richtung laufen. Klar ist, daß der grundlegende Gehalt der apostolischen Nachfolge gerade in der Vollmacht zur Wahrung des apostolischen Glaubens besteht und daß die damit gegebene Lehrvollmacht wesentlich auch den Auftrag umfaßt, den sittlichen Anspruch der Gnade zu konkretisieren und zu präzisieren auf die jeweiligen Zeiten hin7. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Glaube - Moral - Lehramt; Zusammenhang: Praxis d. Glaubens - Wahrheit d. G.; Glaube: Einschluss von sittlichen Grundentscheidungen; Glaube - Vernunft

Kurzinhalt: Glaube - Moral - Lehramt; Zusammenhang: Praxis d. Glaubens - Wahrheit d. G.; Glaube: Einschluss von sittlichen Grundentscheidungen

Textausschnitt: 63a Damit schließt sich der Ring unserer Überlegungen zum Anfang zurück. Zum christlichen Glauben gehört in der Tat die Praxis des Glaubens; Orthodoxie ohne Orthopraxie verliert das Zentrum des Christlichen: die aus der Gnade kommende Liebe. Damit ist aber zugleich auch gesagt, daß die christliche Praxis aus der Mitte des christlichen Glaubens gespeist wird: aus der in Christus erschienenen, im Sakrament der Kirche zugeeigneten Gnade. Die Praxis des Glaubens hängt an der Wahrheit des Glaubens, in der die Wahrheit des Menschen durch die Wahrheit Gottes sichtbar gemacht und auf eine neue Stufe gehoben wird. Sie widerspricht daher von Grund auf einer Praxis, die zuerst Tatsachen schaffen und dadurch Wahrheit herstellen will: Gegen diese totale Manipulierbarkeit des Wirklichen verteidigt sie die Schöpfung vom Schöpfer her. Die Grundwerte des Menschen, um die sie im Blick auf das Beispiel Jesu Christi weiß, sind für sie jeder Manipulation entzogen. Sie schützt den Menschen, indem sie die Schöpfung schützt - dieses Gegenwärtighalten apostolischer Lehre ist ein unumstößlicher Auftrag der Nachfolger der Apostel. Weil die Gnade auf die Schöpfung und auf den Schöpfer bezogen ist, darum hat die apostolische Mahnung (als Fortsetzung der alttestamentlichen Weisung) mit der Vernunft zu tun. Sowohl die Flucht in die pure Orthopraxie wie auch die Abdrängung der inhaltlichen Moral aus dem Bereich des Glaubens (und des dem Glauben zugehörigen Lehramtes) bedeutet in der Sache, dem ersten Anschein zum Trotz, eine Verketzerung der Vernunft: Im einen Fall wird ihr die Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis überhaupt bestritten und der Verzicht auf die Wahrheit zur Methode erhoben; im anderen Fall wird der Glaube aus dem Raum der Vernunft herausgezogen und das Vernünftige nicht als möglicher Inhalt auch der Welt des Glaubens zugelassen. Damit ist entweder der Glaube für unvernünftig oder die Vernunft für ungläubig erklärt oder beides zusammen. Zugleich wird einerseits der Vernunft je in ihrer Zeit eine Eindeutigkeit zugesprochen, die sie rein aus sich nicht hat und andererseits ihre Aussage mit dem Zeitgemäßen so verkoppelt, daß die Wahrheit hinter der Zeit verschwindet und für jede Zeit etwas anderes vernünftig ist, womit man im Grunde von der anderen Seite her bei den Optionen der puren Herrschaft der praktischen Vernunft endet. Der Glaube der Apostel, wie er etwa in Röm 1 und 2 hervortritt, denkt größer von der Vernunft. Er ist überzeugt, daß die Vernunft wahrheitsfähig ist und daß der Glaube daher sich nicht außerhalb der Überlieferung der Vernunft erbauen muß, sondern seine Sprache in Kommunikation mit der Vernunft der Völker, in Aufnahme und Widerspruch findet. Das bedeutet, daß sowohl der Prozeß der Assimilation wie der Prozeß der Negation und der Kritik von den Grundentscheiden des Glaubens her fortgehen muß und in den letzteren seine festen Bezugspunkte hat. Die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft bedeutet zugleich die inhaltliche Konstanz der Wahrheit, die mit der Konstanz des Glaubens übereinkommt. (Fs; tblStw: Glaube)

65a Aus dem Gesagten ergibt sich die Aufgabe des kirchlichen Lehramts in Sachen Moral von selbst. Der Glaube schließt, wie wir sahen, inhaltliche Grundentscheidungen in Sachen Moral mit ein. Aufgabe des Lehramtes ist es zunächst, die apostolische Ermahnung fortzuführen und gegen die Preisgabe der Vernunft an die Zeit wie gegen die Kapitulation der Vernunft vor der Allmacht der Praxis diese Grundentscheide zu verteidigen. Von ihnen gilt, daß sie Grunderkenntnissen menschlicher Vernunft entsprechen, die freilich in der Berührung mit dem Weg des Glaubens gereinigt, vertieft und erweitert wurden. Das positiv-kritische Gespräch mit der Vernunft muß, wie gesagt, für alle Zeiten weitergehen. Einerseits liegt nie reinlich zutage, was wahrhaft Vernunft und was nur scheinbar «vernünftig» ist; andererseits gibt es zu allen Zeiten beides, den Vernunft-Schein und das Erscheinen der Wahrheit durch die Vernunft. In den Prozeß der Assimilation des wahrhaft Vernünftigen und der Abstoßung des Scheinvernünftigen gehört die ganze Kirche hinein; er kann nicht von einem isolierten Lehramt und mit einer orakelhaften Unfehlbarkeit in jedem Detail vollzogen werden. Das Leben und Leiden der Christen, die ihren Glauben inmitten ihrer Zeit bestehen, gehört ebenso dazu wie das Denken und Fragen der Gelehrten, das freilich zum Leerlauf wird, wenn ihm die Deckung in der christlichen Existenz fehlt, die in der Passion des Alltags die Geister zu unterscheiden lernt. Glaubenserfahrung der Gesamtkirche, gläubiges Forschen und Fragen der Gelehrten sind zwei Faktoren; das wachsame Zusehen, Zuhören und Entscheiden des Lehramts ein dritter: Daß sich die rechte Lehre nicht automatisch einspielt, sondern das «Ermahnen und Zurechtweisen» der verantwortlichen Hirten der Kirche benötigt, hat schon die Kirche des ersten Jahrhunderts erfahren, und eben deshalb hat sie das Amt derer gebildet, die unter Gebet und Handauflegung in die Nachfolge der Apostel gerufen werden. Dieses Amt ist auch heute für die Kirche unverzichtbar, und wo ihm die Kompetenz zu inhaltlicher Entscheidung für oder gegen eine Auslegung der aus der Gnade folgenden Moral grundsätzlich abgesprochen wird, wird an der Grundform der apostolischen Überlieferung selbst gerüttelt. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Dilemma des Glaubens in der Welt von heute; Kluft: sichtbar - unsichtbar, damals - heute; Tradition als d. Gestrige; Skandal d. christlichen Positivismus; Auslegung Gottes durch Jesus

Kurzinhalt: Christlicher Glaube hat es gar nicht bloß ... mit dem Ewigen zu tun, das als das ganz Andere völlig außerhalb der menschlichen Welt und der Zeit verbliebe; er hat es vielmehr mit dem Gott in der Geschichte zu tun, mit Gott als Menschen...

Textausschnitt: 3. Das Dilemma des Glaubens in der Welt von heute

46a Hat man sich freilich einmal das Abenteuer klargemacht, das wesentlich in der Haltung des Glaubens liegt, dann ist eine zweite Überlegung nicht zu umgehen, in der die besondere Schärfe der Schwierigkeit zu glauben zum Vorschein kommt, wie sie uns heute betrifft. Zur Kluft von »Sichtbar« und »Unsichtbar« kommt für uns erschwerend diejenige von »Damals« und »Heute« dazu. Die Grundparadoxie, die im Glauben an sich schon liegt, ist noch dadurch vertieft, dass Glaube im Gewand des Damaligen auftritt, ja, geradezu das Damalige, die Lebens- und Existenzform von damals, zu sein scheint. Alle Verheutigungen, ob sie sich nun intellektuell-akademisch »Entmythologisierung« oder kirchlich-pragmatisch »Aggiornamento« nennen, ändern das nicht, im Gegenteil: diese Bemühungen verstärken den Verdacht, hier werde krampfhaft als heutig ausgegeben, was in Wirklichkeit doch eben das Damalige ist. Diese Verheutigungsversuche lassen erst vollends bewusst werden, wie sehr das, was uns da begegnet, »von gestern« ist, und der Glaube erscheint so gar nicht mehr eigentlich als der zwar verwegene, aber doch die Großmut des Menschen herausfordernde Sprung aus dem scheinbaren Alles unserer Sichtbarkeitswelt in das scheinbare Nichts des Unsichtbaren und Ungreifbaren; er erscheint uns viel eher als die Zumutung, im Heute sich auf das Gestrige zu verpflichten und es als das immerwährend Gültige zu beschwören. Aber wer will das schon in einer Zeit, in der an die Stelle des Gedankens der »Tradition« die Idee des »Fortschrittes« getreten ist? (Fs; tblStw: Glaube)

47a Wir stoßen hier im Vorbeigehen auf ein Spezifikum unserer heutigen Situation, das für unsere Frage einige Bedeutung hat. Für vergangene geistige Konstellationen umschrieb der Begriff »Tradition« ein prägendes Programm; sie erschien als das Bergende, worauf der Mensch sich verlassen kann; er durfte sich dann sicher und am rechten Orte glauben, wenn er sich auf Tradition berufen konnte. Heute waltet genau das entgegengesetzte Gefühl: Tradition erscheint als das Abgetane, das bloß Gestrige, der Fortschritt aber als die eigentliche Verheißung des Seins, so dass der Mensch sich nicht am Ort der Tradition, der Vergangenheit, sondern im Raum des Fortschritts und der Zukunft ansiedelt. Auch von da her muss ihm ein Glaube, der ihm unter dem Etikett der >Tradition< begegnet, als das Überwundene erscheinen, das ihm, der die Zukunft als seine eigentliche Verpflichtung und Möglichkeit erkannt hat, nicht den Ort seines Daseins öffnen kann. Das alles aber heißt, dass das primäre Scandalum des Glaubens, die Distanz von Sichtbar und Unsichtbar, von Gott und Nicht-Gott, verdeckt und versperrt ist durch das sekundäre Scandalum von Damals und Heute, durch die Antithese von Tradition und Fortschritt, durch die Verpflichtung auf die Gestrigkeit, die der Glaube einzuschließen scheint. (Fs)

47b Dass weder der tiefsinnige Intellektualismus der Entmythologisierung noch der Pragmatismus des Aggiornamento einfach zu überzeugen vermögen, macht freilich sichtbar, dass auch diese Verzerrung des Grundskandals christlichen Glaubens eine sehr tief reichende Sache ist, der man weder mit Theorien noch mit Aktionen ohne Weiteres beikommen kann. Ja, in gewissem Sinne wird hier erst die Eigenart des christlichen Skandals greifbar, nämlich das, was man den christlichen Positivismus, die unaufhebbare Positivität des Christlichen nennen könnte. Ich meine damit Folgendes: Christlicher Glaube hat es gar nicht bloß, wie man zunächst bei der Rede vom Glauben vermuten möchte, mit dem Ewigen zu tun, das als das ganz Andere völlig außerhalb der menschlichen Welt und der Zeit verbliebe; er hat es vielmehr mit dem Gott in der Geschichte zu tun, mit Gott als Menschen. Indem er so die Kluft von ewig und zeitlich, von sichtbar und unsichtbar zu überbrücken scheint, indem er uns Gott als einem Menschen begegnen lässt, dem Ewigen als dem Zeitlichen, als einem von uns, weiß er sich als Offenbarung. Sein Anspruch, Offenbarung zu sein, gründet ja darin, dass er gleichsam das Ewige hereingeholt hat in unsere Welt: »Was niemand je gesehen hat - der hat es uns ausgelegt, der an der Brust des Vaters ruht« (Jo 1,18) - er ist uns zur »Exegese« Gottes geworden, möchte man in Anlehnung an den griechischen Text beinahe sagen1. Aber bleiben wir beim deutschen Wort; das Original ermächtigt uns, es ganz buchstäblich zu nehmen: Jesus hat Gott wirklich aus-gelegt, ihn herausgeführt aus sich selbst, oder, wie es der 1. Johannesbrief noch drastischer sagt: ihn unserem Anschauen und unserem Betasten freigegeben, sodass der, den nie jemand gesehen hat, nun unserem geschichtlichen Berühren offen steht2. (Fs)

48a Im ersten Augenblick scheint das wirklich das Höchstmaß von Offenbarung, von Offenlegung Gottes zu sein. Der Sprung, der bisher ins Unendliche führte, scheint auf eine menschlich mögliche Größenordnung verkürzt, indem wir nur noch gleichsam die paar Schritte zu jenem Menschen in Palästina zu gehen brauchen, in dem uns Gott selber entgegentritt. Aber die Dinge haben eine seltsame Doppelseitigkeit: Was zunächst die radikalste Offenbarung zu sein scheint und in gewissem Maß in der Tat für immer Offenbarung, die Offenbarung, bleibt, das ist doch im selben Augenblick die äußerste Verdunklung und Verhüllung. Was Gott uns zunächst ganz nahe zu bringen scheint, sodass wir ihn als Mitmenschen anrühren können, seinen Fußspuren zu folgen, sie förmlich nachzumessen vermögen, eben das ist in einem sehr tiefen Sinne zur Voraussetzung für den >Tod Gottes< geworden, der fortan den Gang der Geschichte und das menschliche Gottesverhältnis unwiderruflich prägt. Gott ist uns so nahe geworden, dass wir ihn töten können und dass er darin, wie es scheint, aufhört, Gott für uns zu sein. So stehen wir heute ein wenig fassungslos vor dieser christlichen »Offenbarung« und fragen uns vor ihr, besonders wenn wir sie mit der Religiosität Asiens konfrontieren, ob es nicht doch viel einfacher gewesen wäre, an das Verborgen-Ewige zu glauben, sich sinnend und sehnend ihm anzuvertrauen. Ob uns Gott nicht gleichsam besser in der unendlichen Distanz gelassen hätte. Ob es nicht wirklich einfacher vollziehbar wäre, im Aufstieg aus allem Weltlichen in ruhiger Beschauung das ewig unfassbare Geheimnis zu vernehmen, als sich dem Positivismus des Glaubens an eine einzige Gestalt auszuliefern und gleichsam auf der Nadelspitze dieses einen Zufallspunktes das Heil des Menschen und der Welt anzusiedeln. Muss dieser auf einen Punkt hin verengte Gott nicht definitiv sterben in einem Weltbild, das den Menschen und seine Geschichte unnachsichtig relativiert zu einem winzigen Staubkorn im All, das nur in der Naivität seiner Kinderjahre sich als die Mitte des Universums ansehen konnte, aber nun, den Kinderjahren entwachsen, endlich den Mut haben sollte, vom Schlaf aufzuwachen, sich die Augen zu reiben und jenen törichten Traum, wie schön er auch war, abzuschütteln und sich fraglos dem gewaltigen Zusammenhang einzufügen, in den unser winziges Leben hineinverwiesen ist, das gerade so, im Annehmen seiner Winzigkeit, auf neue Weise Sinn finden sollte?

49a Erst indem wir die Frage solchermaßen zuspitzen und so in den Blick bekommen, dass hinter dem scheinbar sekundären Skandal von »damals« und »heute« das viel tiefere Ärgernisses christlichen »Positivismus« steht, die »Einengung« Gottes auf einen Punkt der Geschichte hin, erst damit sind wir bei der ganzen Tiefe der christlichen Glaubensfrage angelangt, wie sie heute bestanden werden muss. Können wir überhaupt noch glauben? Nein, wir müssen radikaler fragen: Dürfen wir es noch, oder gibt es nicht eine Pflicht, mit dem Traum zu brechen und sich der Wirklichkeit zu stellen? Der Christ von heute muss so fragen; er darf sich nicht damit begnügen, zu ermitteln, dass sich durch allerlei Drehungen und Wendungen schließlich auch noch eine Interpretation des Christentums finden lässt, die nirgends mehr anstößt. Wenn etwa irgendwo ein Theologe erklärt, »Auferstehung der Toten« bedeute nur, dass man täglich unverdrossen von neuem ans Werk der Zukunft zu gehen habe, so ist der Anstoß sicherlich beseitigt. Aber sind wir eigentlich ehrlich geblieben dabei? Liegt nicht doch eine bedenkliche Unredlichkeit darin, wenn Christentum mit solchen Interpretationskünsten als heute noch vertretbar aufrechterhalten wird? Oder haben wir, wenn wir zu solcher Zuflucht uns gedrängt fühlen, nicht vielmehr die Pflicht, zu gestehen, dass wir am Ende sind? Müssen wir uns dann nicht ohne Nebel schlicht der verbleibenden Wirklichkeit stellen? Sagen wir es scharf: ein in dieser Weise wirklichkeitsleer gewordenes Interpretationschristentum bedeutet einen Mangel an Aufrichtigkeit gegenüber den Fragen des Nichtchristen, dessen »Vielleicht nicht« uns doch so ernst bedrängen muss, wie wir wünschen, dass ihn das christliche »Vielleicht« bedränge. (Fs)

50a Wenn wir versuchen, in dieser Weise das Fragen des andern als die immer währende Befragtheit unseres eigenen Seins anzunehmen, das man nicht in einen Traktat einengen und hernach beiseite legen kann, dann werden wir umgekehrt das Recht haben, festzustellen, dass hier eine Gegenfrage aufsteht. Wir sind heute von vornherein geneigt, einfach das greifbar Vorhandene, das »Nachweisbare«, als das eigentlich Wirkliche zu unterstellen. Aber darf man das eigentlich? Müssen wir nicht doch sorgfältiger fragen, was das in Wahrheit ist, »das Wirkliche«? Ist es nur das Festgestellte und Feststellbare, oder ist vielleicht das Feststellen doch nur eine bestimmte Weise, sich zur Wirklichkeit zu verhalten, die keineswegs das Ganze erfassen kann und die sogar zur Verfälschung der Wahrheit und des Menschseins führt, wenn wir sie als das allein Bestimmende annehmen? Indem wir so fragen, sind wir noch einmal auf das Dilemma von »damals« und »heute« zurückgeführt und nun allerdings der spezifischen Problematik unseres Heute gegenübergestellt. Versuchen wir, ihre wesentlichen Elemente etwas deutlicher zu erkennen!

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Glaube, Grenze d. Wirklichkeitsverständnisses 1; Historismus (G. Vico); verum est ens - verum quia factum; Wahrheit: das Sichtbare u. Machbare; Antike, Mittelalter: das Sein selbst ist wahr (Dinge als Gedachtsein; techne); Mensch als Faktum; Descartes

Kurzinhalt: Beschränkung auf die »Phainomena« ... Wir haben es aufgegeben, das verborgene An-sich der Dinge zu suchen, in das Wesen des Seins selbst hinabzuloten ... Damit hat sich im neuzeitlichen Denken und Existieren allmählich ein neuer Begriff von Wahrheit ...

Textausschnitt: 4. Die Grenze des modernen Wirklichkeitsverständnisses und der Ort des Glaubens

51a Wenn wir vermöge der uns heute gegebenen historischen Erkenntnis den Weg des menschlichen Geistes überblicken, soweit er sich unserem Auge darbietet, werden wir feststellen, dass es in den verschiedenen Perioden der Entfaltung dieses Geistes verschiedene Formen des Stehens zur Wirklichkeit gibt, etwa die magische Grundorientierung oder die metaphysische oder schließlich heute die wissenschaftliche (wobei hier »wissenschaftlich« vom Modell der Naturwissenschaften her gedacht ist). Jede dieser menschlichen Grundorientierungen hat auf ihre Weise mit dem Glauben zu tun, und jede steht ihm auch auf ihre Weise im Weg. Keine deckt sich mit ihm, aber auch keine ist einfach neutral zu ihm; jede kann ihm dienen, und jede kann ihn hindern. Für unsere heutige wissenschaftsbestimmte Grundeinstellung, die unser aller Daseinsgefühl ungefragt prägt und uns den Ort im Wirklichen zuweist, ist die Beschränkung auf die »Phainomena«, auf das Erscheinende und in den Griff zu Nehmende, kennzeichnend. Wir haben es aufgegeben, das verborgene An-sich der Dinge zu suchen, in das Wesen des Seins selbst hinabzuloten; solches zu tun erscheint uns als fruchtloser Versuch, die Tiefe des Seins gilt uns als letztlich unerreichbar. Wir haben uns auf unsere Perspektive eingestellt, auf das Sehbare im weitesten Sinn, auf das, was unserem messenden Zugriff fassbar ist. Die Methodik der Naturwissenschaft beruht auf dieser Beschränkung auf das Erscheinende. Es genügt uns. Mit ihm können wir hantieren und so uns selbst jene Welt erschaffen, in der wir als Menschen zu leben vermögen. Damit hat sich im neuzeitlichen Denken und Existieren allmählich ein neuer Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit herausgebildet, der meistens unbewusst als die Voraussetzung unseres Denkens und Redens waltet, der aber nur bewältigt werden kann, wenn er auch seinerseits der Prüfung des Bewusstseins ausgesetzt wird. An dieser Stelle wird die Funktion des nicht-naturwissenschaftlichen Denkens sichtbar, das Unbedachte zu bedenken und die menschliche Problematik solcher Orientierung dem Bewusstsein vor den Blick zu bringen. (Fs) (notabene)

a) Das erste Stadium: Die Geburt des Historismus.

52a Wenn wir zu erkennen versuchen, wie es zu der eben geschilderten Einstellung kam, werden wir, wenn ich recht sehe, wohl zwei Stadien des geistigen Umbruchs feststellen können. Das erste, von Descartes vorbereitet, erhält seine Gestaltung bei Kant und vorher schon, in einem etwas anderen Denkansatz, bei dem italienischen Philosophen Giambattista Vico (1688-1744), der wohl als Erster eine völlig neue Idee von Wahrheit und Erkenntnis formuliert und in einem kühnen Vorgriff die typische Formel des neuzeitlichen Geistes hinsichtlich der Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage geprägt hat. Der scholastischen Gleichung »Verum est ens - das Sein ist die Wahrheit« - stellt er seine Formel entgegen: »Verum quia factum«. Das will sagen: Als wahr erkennbar ist für uns nur das, was wir selbst gemacht haben. Mir will scheinen, dass diese Formel das eigentliche Ende der alten Metaphysik und den Anfang des spezifisch neuzeitlichen Geistes darstellt. Die Revolution des modernen Denkens gegenüber allem Vorangegangenen ist hier mit einer geradezu unnachahmlichen Präzision gegenwärtig. Für Antike und Mittelalter ist das Sein selbst wahr, das heißt erkennbar, weil Gott, der Intellekt schlechthin, es gemacht hat; er hat es aber gemacht, indem er es gedacht hat. Denken und Machen sind dem schöpferischen Urgeist, dem Creator Spiritus, eins. Sein Denken ist ein Erschaffen. Die Dinge sind, weil sie gedacht sind. Für antike und mittelalterliche Sicht ist daher alles Sein Gedachtsein, Gedanke des absoluten Geistes. Das bedeutet umgekehrt: Da alles Sein Gedanke ist, ist alles Sein Sinn, »Logos«, Wahrheit1. Menschliches Denken ist von da aus Nach-Denken des Seins selbst, Nachdenken des Gedankens, der das Sein selber ist. Der Mensch aber kann dem Logos, dem Sinn des Seins, nachdenken, weil sein eigener Logos, seine eigene Vernunft, Logos des einen Logos, Gedanke des Urgedankens ist, des Schöpfergeistes, der das Sein durchwaltet. (Fs) (notabene)

53a Demgegenüber erscheint im Blickpunkt der Antike und des Mittelalters das Werk des Menschen als das Zufällige und Vorübergehende. Das Sein ist Gedanke, daher denkbar, Gegenstand des Denkens und der Wissenschaft, die nach Weisheit strebt. Das Werk des Menschen hingegen ist das aus Logos und Unlogik Vermischte, das überdies mit der Zeit in die Vergangenheit absinkt. Es lässt keine volle Verstehbarkeit zu, denn es fehlt ihm an Gegenwart, die Voraussetzung des Schauens ist, und es fehlt ihm an Logos, an durchgehender Sinnhaftigkeit. Aus diesem Grunde war der antike und mittelalterliche Wissenschaftsbetrieb der Ansicht, dass das Wissen von den menschlichen Dingen nur »Techne«, handwerkliches Können, aber nie wirkliches Erkennen und daher nie wirkliche Wissenschaft sein könne. Deshalb blieben in der mittelalterlichen Universität die artes, die Künste, nur die Vorstufe der eigentlichen Wissenschaft, die dem Sein selbst nachdenkt. Man kann diesen Standpunkt noch bei Descartes am Anfang der Neuzeit deutlich festgehalten finden, wenn er ausdrücklich den Wissenschaftscharakter der Historie bestreitet. Der Historiker, der die alte römische Geschichte zu kennen vorgebe, wisse schließlich weniger von ihr, als ein Koch in Rom wusste, und Latein zu verstehen bedeute, nicht mehr zu können, als was auch Ciceros Dienstmädchen konnte. Rund hundert Jahre später wird Vico den Wahrheitskanon des Mittelalters, der sich hier noch einmal ausdrückte, regelrecht auf den Kopf stellen und damit die grundlegende Wende des neuzeitlichen Geistes zu Worte bringen. Nun erst beginnt jene Einstellung, die das »wissenschaftliche« Zeitalter heraufführt, in dessen Entfaltung wir noch immer stehen1. (Fs) (notabene)

54a Versuchen wir das, weil es für unsere Frage grundlegend ist, noch etwas weiter zu bedenken. Für Descartes erscheint noch einzig die von den Unsicherheiten des Tatsächlichen gereinigte, rein formale Vernunftgewissheit als wirkliche Gewissheit. Die Wende zur Neuzeit kündigt sich immerhin an, wenn er diese Vernunftgewissheit wesentlich vom Modell der mathematischen Gewissheit her versteht, Mathematik zur Grundform alles vernünftigen Denkens erhebt2. Während aber hier die Tatsachen noch ausgeklammert werden müssen, wenn man Sicherheit will, stellt Vico die genau umgekehrte These auf. Formal im Anschluss an Aristoteles erklärt er, dass wirkliches Wissen ein Wissen der Ursachen sei. Ich kenne eine Sache, wenn ich ihre Ursache kenne; das Begründete verstehe ich, wenn ich den Grund weiß. Aber aus diesem alten Gedanken wird etwas durchaus Neues gefolgert und gesagt: Wenn zu wirklichem Wissen das Wissen der Ursachen gehört, dann können wir nur das wahrhaft wissen, was wir selbst gemacht haben, denn nur uns selbst kennen wir. Das bedeutet dann, dass an die Stelle der alten Gleichsetzung von Wahrheit und Sein die neue von Wahrheit und Tatsächlichkeit tritt, erkennbar ist nur das »Faktum«, das, was wir selbst gemacht haben. Nicht dem Sein nachzudenken ist die Aufgabe und Möglichkeit des menschlichen Geistes, sondern dem Faktum, dem Gemachten, der Eigenwelt des Menschen, denn nur sie vermögen wir wahrhaft zu verstehen. Der Mensch hat den Kosmos nicht hervorgebracht, und er bleibt ihm in seiner letzten Tiefe undurchsichtig. Vollkommenes, beweisbares Wissen ist ihm nur erreichbar innerhalb der mathematischen Fiktionen und bezüglich der Geschichte, die der Bereich des vom Menschen selbst Gewirkten und ihm deshalb Wissbaren ist. Inmitten des Ozeans des Zweifels, der nach dem Zusammenbruch der alten Metaphysik am Beginn der Neuzeit die Menschheit bedroht, wird hier im Faktum das feste Land wieder entdeckt, auf dem der Mensch versuchen kann, sich eine neue Existenz zu erbauen. Die Herrschaft des Faktums beginnt, das heißt die radikale Zuwendung des Menschen zu seinem eigenen Werk als dem allein ihm Gewissen. (Fs) (notabene)

55a Damit ist jene Umwertung aller Werte verbunden, die aus der folgenden Geschichte wirklich eine »neue« Zeit gegenüber der alten werden lässt. Was vordem verachtet und unwissenschaftlich gewesen war, die Historie, bleibt nun als einzig wahre Wissenschaft neben der Mathematik übrig. Was vorher allein des freien Geistes würdig schien, dem Sinn des Seins nachzudenken, erscheint jetzt als müßiges und auswegloses Bemühen, dem kein echtes Wissenkönnen entspricht. So werden nun Mathematik und Historie zu den beherrschenden Disziplinen, ja, die Historie verschlingt gleichsam den ganzen Kosmos der Wissenschaften in sich hinein und verwandelt sie alle grundlegend. Philosophie wird durch Hegel, auf andere Weise durch Comte zu einer Frage der Geschichte, in der das Sein selbst als geschichtlicher Prozess zu begreifen ist; Theologie wird bei F. Chr. Baur zur Historie, ihr Weg die streng historische Forschung, die dem damals Geschehenen nachfragt und dadurch der Sache auf den Grund zu kommen hofft; Nationalökonomie wird bei Marx geschichtlich umgedacht, ja, auch die Naturwissenschaften sind von dieser allgemeinen Tendenz zur Geschichte betroffen: Bei Darwin wird das System des Lebendigen als eine Geschichte des Lebens begriffen; an die Stelle der Konstanz dessen, was bleibt, wie es geschaffen ist, tritt eine Abstammungsreihe, in der alle Dinge voneinander kommen und aufeinander rückführbar sind12. So erscheint aber endlich die Welt nicht mehr als das feste Gehäuse des Seins, sondern als ein Prozess, dessen beständige Ausbreitung die Bewegung des Seins selber ist. Das bedeutet: Die Welt ist nur noch als vom Menschen gemachte wissbar. Über sich vermag der Mensch im Letzten nicht mehr hinauszuschauen, es sei denn wieder auf der Ebene des Faktums, wo er sich selber als Zufallsprodukt uralter Entwicklungen erkennen muss. Auf diese Weise entsteht nun eine höchst eigentümliche Situation. In dem Augenblick, in dem eine radikale Anthropozentrik einsetzt, der Mensch nur noch sein eigenes Werk erkennen kann, muss er doch zugleich lernen, sich selbst als ein bloß zufällig Gewordenes, auch nur als »Faktum«, hinzunehmen. Auch hier wird ihm gleichsam der Himmel eingerissen, aus dem er zu kommen schien, und nur die Erde der Fakten bleibt in seinen Händen zurück - die Erde, in der er jetzt mit dem Spaten die mühsame Geschichte seines Werdens zu entziffern sucht. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Glaube, Grenze d. Wirklichkeitsverständnisses 2; Verum quia faciendum; Wende zum technischen Denken; Primat des Machbaren vor dem Gemachten; das Faktum als Wiederholbares (techne); Kybernetik

Kurzinhalt: ... Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit ... Die Reduktion des Menschen auf ein »Faktum« ist die Voraussetzung für sein Verständnis als ein Faciendum ...

Textausschnitt: b) Das zweite Stadium: Die Wende zum technischen Denken.

56a »Verum quia factum«, dieses Programm, das den Menschen auf die Geschichte als Ort der Wahrheit weist, konnte für sich allein freilich nicht genügen. Zur vollen Wirkung kam es erst, als es sich mit einem zweiten Motiv verband, das, wiederum gut 100 Jahre später, Karl Marx formuliert hat in seinem klassischen Satz: »Die Philosophen haben bisher die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.« Die Aufgabe der Philosophie wird damit nochmal grundlegend neu bestimmt. In die Sprache der philosophischen Tradition übertragen hieße diese Maxime, dass an die Stelle des »Verum quia factum« - erkennbar, wahrheitsträchtig ist das, was der Mensch gemacht hat und was er nun betrachten kann - das neue Programm tritt »Verum quia faciendum« - die Wahrheit, um die es fortan geht, ist die Machbarkeit. Nochmal anders gewendet: Die Wahrheit, mit der der Mensch zu tun hat, ist weder die Wahrheit des Seins noch auch letztlich die seiner gewesenen Taten, sondern es ist die Wahrheit der Weltveränderung, der Weltgestaltung - eine auf Zukunft und Aktion bezogene Wahrheit. (Fs)

57a »Verum quia faciendum« - das will sagen, dass die Herrschaft des Faktum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße abgelöst wird durch die Herrschaft des Faciendum, des zu Machenden und Machbaren, und dass damit die Herrschaft der Historie verdrängt wird durch diejenige der Techne. Denn je mehr der Mensch den neuen Weg beschreitet, sich auf das Faktum zu konzentrieren und darin Gewissheit zu suchen, desto mehr muss er auch erkennen, dass sich selbst das Faktum, sein eigenes Werk, ihm weitgehend entzieht. Die Belegbarkeit, die der Historiker anstrebt und die zunächst im 19. Jahrhundert als der große Triumph der Historie gegenüber der Spekulation erscheint, behält immer etwas Fragwürdiges an sich, ein Moment der Rekonstruktion, der Deutung und der Zweideutigkeit, sodass schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die Historie in eine Krise geriet und der Historismus mit seinem stolzen Wissensanspruch fragwürdig wurde. Immer deutlicher zeigte sich, dass es das reine Faktum und seine unerschütterliche Sicherheit gar nicht gibt, dass auch im Faktum jedesmal noch das Deuten und seine Zweideutigkeit enthalten sind. Immer weniger konnte man sich verbergen, dass man abermals nicht jene Gewissheit in Händen hielt, die man sich zunächst, in der Abwendung von der Spekulation, von der Tatsachenforschung versprochen hatte. (Fs)

57b So musste sich mehr und mehr die Überzeugung durchsetzen, dass wirklich erkennbar dem Menschen zu guter Letzt nur das sei, was wiederholbar ist, was er sich im Experiment jederzeit neu vor Augen stellen kann. Alles, was er nur in sekundären Zeugnissen zu sehen vermag, bleibt Vergangenheit und ist trotz aller Belege nicht vollends erkennbar. Damit erscheint die naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Verbindung von Mathematik (Descartes!) und Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit. Aus der Verbindung von mathematischem Denken und Faktendenken resultiert der von der Naturwissenschaft bestimmte geistige Standort des modernen Menschen, der damit Zuwendung zur Wirklichkeit, insofern sie Machbarkeit ist, bedeutet1. Das Faktum hat das Faciendum, das Gemachte hat das Machbare und Wiederholbare, Nachprüfbare aus sich entlassen und ist nun um seinetwillen da. Es kommt zum Primat des Machbaren vor dem Gemachten, denn in der Tat: Was soll der Mensch schon mit dem bloß Gewesenen? Er kann seinen Sinn nicht darin finden, sich zum Museumswärter seiner eigenen Vergangenheit zu machen, wenn er seine Gegenwart bewältigen will. (Fs)

58a Damit hört, wie vorher die Historie, nun die Techne auf, eine untergeordnete Vorstufe der geistigen Entfaltung des Menschen zu sein, auch wenn sie in einem ausgesprochen geisteswissenschaftlich orientierten Bewusstsein noch immer einen gewissen Ruch von Barbarei behält. Von der geistigen Gesamtsituation her ist die Lage grundlegend geändert: Techne ist nicht länger ins Unterhaus der Wissenschaften verbannt oder richtiger: das Unterhaus ist auch hier das eigentlich Bestimmende geworden, vor dem das »Oberhaus« nur noch als ein Haus von adligen Pensionären erscheint. Techne wird zum eigentlichen Können und Sollen des Menschen. Was bis dahin zuunterst stand, steht jetzt zuoberst; zugleich verschiebt sich noch einmal die Perspektive: War der Mensch zuerst, in Antike und Mittelalter, dem Ewigen zugewandt gewesen, dann in der kurzen Herrschaft des Historismus dem Vergangenen, so verweist ihn nun das Faciendum, die Machbarkeit, auf die Zukunft dessen, was er selbst erschaffen kann. Wenn er vordem, etwa durch die Ergebnisse der Abstammungslehre, resigniert festgestellt haben mochte, dass er von seiner Vergangenheit her nur Erde, bloßer Zufall der Entwicklung ist, wenn er von solcher Wissenschaft desillusioniert war und sich degradiert erschien, so braucht ihn das jetzt nicht mehr zu stören, denn nun kann er, von wo auch immer er kommt, entschlossen seiner Zukunft entgegensehen, um sich selbst zu dem zu erschaffen, was er will; es braucht ihm nicht mehr als Unmöglichkeit zu erscheinen, sich selbst zum Gott zu erschaffen, der nun als Faciendum, als das Machbare, am Ende und nicht mehr als Logos, als Sinn, am Anfang steht. Das wirkt sich übrigens heute bereits ganz konkret in der Form der anthropologischen Fragestellung aus. Wichtiger als die Abstammungslehre, die praktisch schon wie etwas Selbstverständliches hinter uns liegt, erscheint heute bereits die Kybernetik, die Planbarkeit des neu zu erschaffenden Menschen, sodass auch theologisch die Manipulierbarkeit des Menschen durch sein eigenes Planen ein wichtigeres Problem darzustellen beginnt als die Frage der menschlichen Vergangenheit - obwohl beide Fragen nicht voneinander trennbar sind und in ihrer Richtung sich weithin gegenseitig bestimmen: Die Reduktion des Menschen auf ein »Faktum« ist die Voraussetzung für sein Verständnis als ein Faciendum, das aus Eigenem in eine neue Zukunft geführt werden soll. (Fs) (notabene)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Glaube als Stehen und Verstehen; Stehen - Verstand; Verstehen vs. Wissen, Machen; Sinn nicht machbar; 2 Grundformen menschlichen Verhaltens zur Wirklichkeit

Kurzinhalt: [Glaube] ist die nicht auf Wissen reduzierbare ... Form des Standfassens des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit, die Sinngebung, ohne die das Ganze des Menschen ortlos bliebe, die dem Rechnen und Handeln des Menschen vorausliegt und ohne die er ...

Textausschnitt: 5. Glaube als Stehen und Verstehen

62a Indem ich das Begriffspaar Stehen - Verstehen demjenigen von Wissen - Machen gegenüberstelle, spiele ich auf ein letztlich unübersetzbares biblisches Grundwort über den Glauben an, dessen tiefsinniges Wortspiel Luther einzufangen versuchte in der Formel: »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht«; wörtlicher könnte man übersetzen: »Wenn ihr nicht glaubt (wenn ihr euch nicht an Jahwe festhaltet), dann werdet ihr keinen Halt haben« (Jes 7,9). Die eine Wortwurzel 'mn (amen) umfasst eine Vielfalt von Bedeutungen, deren Ineinandergreifen und Differenziertheit die subtile Großartigkeit dieses Satzes ausmacht. Sie schließt die Bedeutungen Wahrheit, Festigkeit, fester Grund, Boden ein, des weiteren die Bedeutungen Treue, trauen, sich anvertrauen, sich auf etwas stellen, an etwas glauben; das Glauben an Gott erscheint so als ein Sicheinhalten bei Gott, durch das der Mensch einen festen Halt für sein Leben gewinnt. Glaube ist damit beschrieben als ein Standfassen, als ein vertrauendes Sichstellen auf den Boden des Wortes Gottes. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments (die so genannte Septuaginta) hat den vorhin genannten Satz nicht nur sprachlich, sondern auch gedanklich in den griechischen Bereich hineinübersetzt, indem sie formuliert: »Wenn ihr nicht glaubt, dann versteht ihr auch nicht«. Man hat vielfach gesagt, in dieser Übersetzung sei bereits der typische Hellenisierungsprozess, der Abfall vom ursprünglich Biblischen am Werk. Glaube würde intellektualisiert; anstatt das Stehen auf dem festen Grund des zuverlässigen Wortes Gottes auszudrücken, werde er nun mit Verstehen und Verstand in Verbindung gebracht und damit auf eine ganz andere, ihm durchaus unangemessene Ebene verlegt. Daran mag etwas Wahres sein. Dennoch meine ich, dass aufs Ganze gesehen unter veränderten Vorzeichen das Entscheidende gewahrt ist. Stehen, wie es im Hebräischen als Inhalt des Glaubens angegeben wird, hat durchaus auch mit Verstehen etwas zu tun. Darüber werden wir gleich anschließend noch weiter reflektieren müssen. Einstweilen können wir einfach den Faden des vorhin Bedachten wieder aufgreifen und sagen, dass Glaube eine völlig andere Ebene meint als jene des Machens und der Machbarkeit. Er ist wesentlich das Sichanvertrauen an das Nicht-Selbstgemachte und niemals Machbare, das gerade so all unser Machen trägt und ermöglicht. Das heißt aber dann weiterhin, dass er auf der Ebene des Machbarkeitswissens, auf der Ebene des »verum quia factum seu faciendum« weder vorkommt noch überhaupt vorkommen und darin gefunden werden kann und dass jeder Versuch, ihn dort »auf den Tisch zu legen«, ihn im Sinn des Machbarkeitswissens beweisen zu wollen, notwendig scheitern muss. Er ist im Gefüge dieser Art von Wissen nicht anzutreffen, und wer ihn dennoch dort auf den Tisch legt, der hat etwas Falsches auf den Tisch gelegt. Das bohrende Vielleicht, mit dem der Glaube den Menschen allerorten und jederzeit in Frage stellt, verweist nicht auf eine Unsicherheit innerhalb des Machbarkeitswissens, sondern es ist die Infragestellung der Absolutheit dieses Bereichs, seine Relativierung als eine Ebene des menschlichen Seins und des Seins überhaupt, die nur den Charakter von etwas Vorletztem haben kann. Anders ausgedrückt: Wir sind mit unseren Überlegungen nun an einer Stelle angelangt, an der sichtbar wird, dass es zwei Grundformen menschlichen Verhaltens zur Wirklichkeit gibt, von denen die eine nicht auf die andere zurückgeführt werden kann, weil sich beide je auf einer gänzlich anderen Ebene abspielen. (Fs)

63a Man darf hier vielleicht an eine Gegenüberstellung Martin Heideggers erinnern, der von der Dualität von rechnendem Denken und besinnlichem Denken spricht. Beide Denkweisen sind legitim und notwendig, aber eben deshalb kann keine von beiden in die andere hinein aufgelöst werden. Beides also muss es geben: das rechnende Denken, das der Machbarkeit zugeordnet ist, und das besinnliche Denken, das dem Sinn nachdenkt. Man wird dem Freiburger Philosophen wohl auch nicht ganz Unrecht geben können, wenn er die Befürchtung ausdrückt, dass in einer Zeit, in der das rechnende Denken die staunenswertesten Triumphe feiert, der Mensch dennoch, ja vielleicht mehr als zuvor, von der Gedankenlosigkeit bedroht ist, von der Flucht vor dem Denken. Indem er allein dem Machbaren nachdenkt, steht er in Gefahr zu vergessen, sich selbst, den Sinn seines Seins zu bedenken. Freilich gibt es diese Versuchung zu allen Zeiten. So glaubte im 13. Jahrhundert der große Franziskanertheologe Bonaventura seinen Kollegen von der philosophischen Fakultät in Paris vorwerfen zu müssen, sie hätten die Welt zwar zu messen gelernt, aber verlernt, sich selbst zu messen. Sagen wir das gleiche nochmals anders: Glauben in dem Sinn, wie ihn das Credo will, ist nicht eine unfertige Form des Wissens, ein Meinen, das man dann in Machbarkeitswissen umsetzen könnte oder sollte. Er ist vielmehr eine von Wesen andere Form geistigen Verhaltens, die als etwas Selbständiges und Eigenes neben diesem steht, nicht rückführbar darauf und unableitbar davon. Denn der Glaube ist nicht dem Bereich der Machbarkeit und des Gemachten zugeordnet, obwohl er mit beiden zu tun hat, sondern dem Bereich der Grundentscheidungen, deren Beantwortung dem Menschen unausweichlich ist und die von Wesen her nur in einer Form geschehen kann. Diese Form aber nennen wir Glaube. Es scheint mir unerlässlich, dies in voller Deutlichkeit zu sehen: Jeder Mensch muss in irgendeiner Form zum Bereich der Grundentscheidungen Stellung beziehen, und kein Mensch kann das anders als in der Weise eines Glaubens tun. Es gibt einen Bezirk, der keine andere Antwort als die eines Glaubens zulässt, und gerade ihn kann kein Mensch ganz umgehen. Jeder Mensch muss auf irgendeine Art »glauben«. (Fs)

64a Der bisher imponierendste Versuch, die Verhaltensweise »Glaube« dennoch der Verhaltensweise des Machbarkeitswissens einzuordnen, liegt im Marxismus vor. Denn hier stellt das Faciendum, die selbst zu erschaffende Zukunft, zugleich den Sinn des Menschen dar, sodass die Sinngebung, die an sich im Glauben vollzogen bzw. angenommen wird, auf die Ebene des zu Machenden transponiert erscheint. Damit ist ohne Zweifel die äußerste Konsequenz neuzeitlichen Denkens erreicht; es scheint geglückt, den Sinn des Menschen gänzlich ins Machbare einzubeziehen, ja, beides einander gleichzusetzen. Sieht man indes näher zu, so zeigt sich, dass auch dem Marxismus die Quadratur des Kreises nicht gelungen ist. Denn auch er kann das Machbare als Sinn nicht wissbar machen, sondern nur verheißen und damit dem Glauben zur Entscheidung anbieten. Was freilich diesen marxistischen Glauben heute so attraktiv und so unmittelbar zugänglich erscheinen lässt, ist der Eindruck der Harmonie mit dem Machbarkeitswissen, den er hervorruft. (Fs) (notabene)

65a Kehren wir nach dieser kleinen Abschweifung zurück, um noch einmal und zusammenfassend zu fragen: Was ist das eigentlich, das Glauben? Darauf können wir jetzt antworten: Es ist die nicht auf Wissen reduzierbare, dem Wissen inkommensurable Form des Standfassens des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit, die Sinngebung, ohne die das Ganze des Menschen ortlos bliebe, die dem Rechnen und Handeln des Menschen vorausliegt und ohne die er letztlich auch nicht rechnen und handeln könnte, weil er es nur kann im Ort eines Sinnes, der ihn trägt. Denn in der Tat: der Mensch lebt nicht vom Brot der Machbarkeit allein, er lebt als Mensch und gerade in dem Eigentlichen seines Menschseins vom Wort, von der Liebe, vom Sinn. Der Sinn ist das Brot, wovon der Mensch im Eigentlichen seines Menschseins besteht. Ohne das Wort, ohne den Sinn, ohne die Liebe kommt er in die Situation des Nicht-mehr-leben-Könnens, selbst wenn irdischer Komfort im Überfluss vorhanden ist. Wer wüsste nicht, wie sehr diese Situation des »Ich kann nicht mehr« inmitten des äußeren Überflusses auftauchen kann? Sinn aber ist nicht abkünftig von Wissen. Ihn auf diese Art, das heißt aus dem Beweiswissen der Machbarkeit, herstellen zu wollen entspräche dem absurden Versuch Münchhausens, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen zu wollen. Ich glaube, dass in der Absurdität jener Geschichte die Grundsituation des Menschen sehr genau zum Vorschein kommt. Aus dem Sumpf der Ungewissheit, des Nicht-leben-Könnens zieht sich niemand selbst empor, ziehen wir uns auch nicht, wie Descartes noch meinen konnte, durch ein »Cogito ergo sum«, durch eine Kette von Vernunftschlüssen, heraus. Sinn, der selbst gemacht ist, ist im Letzten kein Sinn. Sinn, das heißt der Boden, worauf unsere Existenz als ganze stehen und leben kann, kann nicht gemacht, sondern nur empfangen werden. (Fs) (notabene)

66a Damit sind wir, von einer ganz allgemeinen Analyse der Grundhaltung Glaube ausgehend, unmittelbar bei der christlichen Weise des Glaubens angelangt. Christlich glauben bedeutet ja, sich anvertrauen dem Sinn, der mich und die Welt trägt; ihn als den festen Grund nehmen, auf dem ich furchtlos stehen kann. Etwas mehr in der Sprache der Tradition redend könnten wir sagen: Christlich glauben bedeutet unsere Existenz als Antwort verstehen auf das Wort, den Logos, der alle Dinge trägt und hält. Er bedeutet das Jasagen dazu, dass der Sinn, den wir nicht machen, sondern nur empfangen können, uns schon geschenkt ist, sodass wir ihn nur zu nehmen und uns ihm anzuvertrauen brauchen. Dementsprechend ist christlicher Glaube die Option dafür, dass das Empfangen dem Machen vorangeht - womit das Machen nicht abgewertet oder gar für überflüssig erklärt wird. Nur weil wir empfangen haben, können wir auch »machen«. Und weiterhin: Christlicher Glaube - wir sagten es schon - bedeutet die Option dafür, dass das Nichtzusehende wirklicher ist als das zu Sehende. Er ist das Bekenntnis zum Primat des Unsichtbaren als des eigentlich Wirklichen, das uns trägt und daher ermächtigt, mit gelöster Gelassenheit uns dem Sichtbaren zu stellen - in der Verantwortung vor dem Unsichtbaren als dem wahren Grund aller Dinge. Insofern ist freilich - man kann es nicht leugnen - christlicher Glaube in doppelter Hinsicht ein Affront gegen die Einstellung, zu der uns die heutige Weltsituation zu drängen scheint. Als Positivismus und als Phänomenologismus lädt sie uns ein, uns auf das »Sichtbare«, das »Erscheinende« im weitesten Sinn des Wortes zu beschränken, die methodische Grundeinstellung, der die Naturwissenschaft ihre Erfolge verdankt, aufs Ganze unseres Wirklichkeitsbezugs auszudehnen. Als Techne hinwiederum fordert sie uns auf, uns auf das Machbare zu verlassen und davon den Boden zu erhoffen, der uns trägt. Der Primat des Unsichtbaren vor dem Sichtbaren und der des Empfangens vor dem Machen läuft stracks dieser Grundsituation zuwider. Darauf wohl beruht es, dass uns der Sprung des Sichanvertrauens an das Nichtzusehende heute so schwer wird. Und doch ist die Freiheit des Machens wie diejenige, das Sichtbare durch methodisches Forschen in Dienst zu nehmen, letztlich erst ermöglicht durch die Vorläufigkeit, in die christlicher Glaube beides verweist, und durch die Überlegenheit, die er so eröffnet hat. (Fs)

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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Glaube - Logos, Ratio; Credo - Amen; Antithese: Machbarkeitswissen G.; Verstehen: Erfassen d. Grundes als Sinn

Kurzinhalt: ... das Wissen der Funktionalisierbarkeit der Welt, wie es uns das heutige technisch-naturwissenschaftliche Denken großartig vermittelt, bringt noch kein Verstehen der Welt und des Seins. Verstehen wächst nur aus Glauben.

Textausschnitt: 6. Die Vernunft des Glaubens

67a Wenn man das alles bedenkt, wird man feststellen, wie eng das erste und das letzte Wort des Credo - das »Ich glaube« und das »Amen« - ineinanderklingen, das Gesamt der einzelnen Aussagen umgreifen und so den inneren Ort für alles, was dazwischen steht, angeben. Im Zweiklang von »Credo« und «Amen« wird der Sinn des Ganzen sichtbar, die geistige Bewegung, um die es geht. Wir hatten vorhin festgestellt, das Wort Amen gehöre im Hebräischen dem gleichen Wortstamm zu, dem auch das Wort »Glauben« entnommen ist. »Amen« sagt so auf seine Weise nur noch einmal, was Glauben heißt: das vertrauende Sichstellen auf einen Grund, der trägt, nicht weil ich ihn gemacht und nachgerechnet habe, sondern vielmehr eben darum, weil ich ihn nicht gemacht habe und nicht nachrechnen kann. Er drückt das Sichüberlassen an das aus, was wir weder machen können noch zu machen brauchen, an den Grund der Welt als Sinn, der mir die Freiheit des Machens allererst eröffnet. (Fs) (notabene)

68a Dennoch ist, was hier geschieht, nicht ein blindes Sichausliefern ins Irrationale hinein. Im Gegenteil - es ist Zugehen auf den »Logos«, auf die »Ratio«, auf den Sinn und so auf die Wahrheit selbst, denn am Ende kann und darf der Grund, worauf der Mensch sich stellt, kein anderer als die sich eröffnende Wahrheit selber sein. Damit stoßen wir an einer Stelle, an der wir es am wenigsten vermuten möchten, nochmal auf eine letzte Antithese zwischen Machbarkeitswissen und Glauben. Das Machbarkeitswissen muss - wir sahen es schon - von seinem eigensten Wollen her positivistisch sein, sich auf das Gegebene und Messbare begrenzen. Das aber hat zur Folge, dass es nicht mehr nach Wahrheit fragt. Es erzielt seine Erfolge gerade durch den Verzicht auf die Frage nach der Wahrheit selbst und durch die Bescheidung auf die »Richtigkeit«, auf die »Stimmigkeit« des Systems, dessen hypothetischer Entwurf sich im Funktionieren des Experiments bewähren muss. Das Machbarkeitswissen fragt, um es nochmal anders zu sagen, nicht nach den Dingen, wie sie an sich und in sich sind, sondern allein nach ihrer Funktionalisierbarkeit für uns. Die Wende zum Machbarkeitswissen ist genau dadurch erzielt worden, dass man das Sein nicht mehr in sich selbst betrachtet, sondern lediglich in Funktion zu unserem Werk. Das bedeutet, dass in der Ablösung der Wahrheitsfrage vom Sein und in ihrer Verlagerung auf das Faktum und Faciendum der Wahrheitsbegriff selbst wesentlich verändert worden ist. An die Stelle der Wahrheit des Seins in sich ist die Brauchbarkeit der Dinge für uns getreten, die sich in der Richtigkeit der Ergebnisse bestätigt. Daran ist zutreffend und unwiderruflich, dass nur diese Richtigkeit sich uns als Berechenbarkeit gewährt, während die Wahrheit des Seins selbst sich dem Wissen als Berechnung entzieht. (Fs) (notabene)

69a Dass die christliche Glaubenshaltung sich in dem Wörtchen »Amen« ausdrückt, in dem sich die Bedeutungen: Trauen, Anvertrauen, Treue, Festigkeit, fester Grund, Stehen, Wahrheit gegenseitig durchdringen, das will sagen, dass das, worauf der Mensch im Letzten stehen und was ihm Sinn sein kann, allein die Wahrheit selbst sein darf. Nur die Wahrheit ist der dem Menschen gemäße Grund seines Stehens. So schließt der Akt des christlichen Glaubens wesentlich die Überzeugung ein, dass der sinngebende Grund, der »Logos«, worauf wir uns stellen, gerade als Sinn auch die Wahrheit ist1. Sinn, der nicht die Wahrheit wäre, würde Un-Sinn sein. Die Untrennbarkeit von Sinn, Grund, Wahrheit, die sich ebenso im hebräischen Wort »Amen« wie im griechischen »Logos« ausdrückt, sagt zugleich ein ganzes Weltbild an. In der Untrennbarkeit von Sinn, Grund und Wahrheit, wie solche Wörter sie - für uns unnachahmlich umschließen, kommt das ganze Koordinatennetz zum Vorschein, in dem christlicher Glaube die Welt betrachtet und sich ihr stellt. Das bedeutet dann aber auch, dass Glaube von seinem ursprünglichen Wesen her keine blinde Häufung unverstehbarer Paradoxien ist. Es bedeutet weiterhin, dass es Unfug ist, das Mysterium, wie es freilich nicht allzu selten geschieht, als Ausflucht für das Versagen des Verstandes vorzuschützen. Wenn die Theologie zu allerlei Ungereimtheiten kommt und sie mit dem Verweis auf das Mysterium nicht nur entschuldigen, sondern womöglich kanonisieren will, liegt ein Missbrauch der wahren Idee des »Mysteriums« vor, dessen Sinn nicht die Zerstörung des Verstandes ist, sondern das vielmehr Glauben als Verstehen ermöglichen will. Anders ausgedrückt: Gewiss ist Glaube nicht Wissen im Sinn des Machbarkeitswissens und seiner Form der Berechenbarkeit. Das kann er nie werden, und er kann sich letztlich nur lächerlich machen, wenn er versucht, sich dennoch in dessen Formen zu etablieren. Aber umgekehrt gilt, dass das berechenbare Machbarkeitswissen vom Wesen her auf das Erscheinende und Funktionierende beschränkt ist und nicht den Weg darstellt, die Wahrheit selbst zu finden, auf die es von seiner Methode her Verzicht getan hat. Die Form, wie der Mensch mit der Wahrheit des Seins zu tun erhält, ist nicht Wissen, sondern Verstehen: Verstehen des Sinnes, dem er sich anvertraut hat. Und freilich werden wir hinzufügen müssen, dass nur im Stehen sich das Verstehen eröffnet, nicht außerhalb davon. Eines geschieht nicht ohne das andere, denn Verstehen bedeutet, den Sinn, den man als Grund empfangen hat, als Sinn zu ergreifen und zu begreifen. Ich denke, dies sei die genaue Bedeutung dessen, was wir mit Verstehen meinen: dass wir den Grund, worauf wir uns gestellt haben, als Sinn und als Wahrheit ergreifen lernen; dass wir erkennen lernen, dass der Grund Sinn darstellt. (Fs)

70a Wenn es aber so ist, dann bedeutet Verstehen nicht nur keinen Widerspruch zum Glauben, sondern stellt dessen eigenste Sache dar. Denn das Wissen der Funktionalisierbarkeit der Welt, wie es uns das heutige technisch-naturwissenschaftliche Denken großartig vermittelt, bringt noch kein Verstehen der Welt und des Seins. Verstehen wächst nur aus Glauben. Deshalb ist Theologie als verstehende, logoshafte (= rationale, vernünftig-verstehende) Rede von Gott eine Uraufgabe christlichen Glaubens. In diesem Sachverhalt gründet auch das durch nichts aufzuhebende Recht des Griechischen im Christlichen. Ich bin der Überzeugung, dass es im Tiefsten kein bloßer Zufall war, dass die christliche Botschaft bei ihrer Gestaltwerdung zuerst in die griechische Welt eintrat und sich hier mit der Frage nach dem Verstehen, nach der Wahrheit verschmolzen hat2. Glauben und Verstehen gehören nicht weniger zusammen als Glauben und Stehen, einfach weil Stehen und Verstehen untrennbar sind. Insofern enthüllt die griechische Übersetzung des jesajanischen Satzes von Glauben und Bleiben eine Dimension, die dem Biblischen selbst unabdingbar ist, wenn es nicht ins Schwärmerische, Sektiererische abgedrängt werden soll. (Fs)

71a Allerdings ist es dem Verstehen eigen, dass es unser Begreifen immer wieder überschreitet zu der Erkenntnis unseres Umgriffenseins. Wenn aber Verstehen Begreifen unseres Umgriffenseins ist, dann heißt dies, dass wir es nicht noch einmal umgreifen können; es gewährt uns Sinn eben dadurch, dass es uns umgreift. In diesem Sinn sprechen wir mit Recht vom Geheimnis als dem uns vorausgehenden und uns immerfort überschreitenden, von uns nie einzuholenden oder zu überholenden Grund. Aber gerade im Umgriffensein von dem nicht noch einmal Begriffenen vollzieht sich die Verantwortung des Verstehens, ohne die der Glaube würdelos würde und sich selbst zerstören müsste. (Fs)

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