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Autor: Lotz, Johannes B.

Buch: Transzendentale Erfahrung

Titel: Transzendentale Erfahrung

Stichwort: Enttäuschung, Ent-Täuschung; summum bonum

Kurzinhalt: Befreiung von der Täuschung durch die Ent-Täuschung; 3 Haltungen des Menschen als Antwort auf die Enttäuschung; summum bonum

Textausschnitt: Die Erfahrung der Ent-täuschung:

271/VI Nachdem wir so im Anschluß an Thomas die Fundamente für die Entfaltung der metaphysischen Erfahrung auf dem Weg des Guten gelegt haben, bleiben noch zwei wesentliche Fragen genauer zu beantworten, nämlich erstens ob unser Erstziel überhaupt die unendliche Fülle oder die subsistierende Gutheit ist und zweitens ob wir zu deren ausdrücklichem Erfassen durch das Erfahren oder nur durch das Schlußfolgern vordringen. Die beiden Fragen lassen sich nicht getrennt beantworten; daher werden unsere Überlegungen sie zusammen umfassen. (219f; Fs)

272/VI Hierbei greifen wir zwei Gesichtspunkte heraus, die uns im Durchstehen von mannigfachen Erfahrungen zum höchsten Guten hingeleiten, ja hintreiben. Die für uns aufschlußreichen Erfahrungen akzentuieren entweder die Enttäuschung oder die Freiheit; wir sprechen von 'akzentuieren', weil sich in der Enttäuschung die Freiheit meldet und im Verwirklichen der Freiheit die Enttäuschung mitspielt, also sich dieselbe Erfahrung in zweien ihrer Wesensmomente auslegt. (220; Fs)

273/VI Wörtlich verstanden, besagt das Wort 'Ent-täuschung' die Befreiung von einer Täuschung, in die der Mensch gefallen war und sich verstrickt hatte. Die Täuschung entsteht dadurch, daß ein endliches Gut den Menschen anzieht, mitreißt und überwältigt, weshalb er sich mit seinem Streben danach ausstreckt, es ergreift und sich zu eigen macht, wobei er von dem betreffenden Gut so erfüllt ist, daß er darin ruht, es genießt und meint, seine letzte Sehnsucht werde davon gestillt. Solches widerfährt ihm bei Sachgütern wie dem Besitz oder dem Lebensstandard, wie der Lust sexueller oder ästhetischer Art, wie dem Erfolg oder einer angesehenen und einflußreichen Stellung, aber auch bei Persongütern wie der Kameradschaft, der Freundschaft und der ehelichen Liebe. (220; Fs) (notabene)

274/VI Thomas von Aquin hat in seiner 'Summe wider die Heiden' viele der endlichen Güter besprochen, bei denen der Mensch sich täuscht und in denen er seine endgültige Befriedigung zu finden wähnt1. Ungezählte Menschen bleiben lange Zeit und sozusagen ihr ganzes Leben hindurch in derartigen Täuschungen auf diese oder jene Weise befangen. (220; Fs)

275/VI Von der Täuschung befreit den Menschen die Ent-täuschung. Sie fängt damit an, daß ein endliches Gut, das bisher für ihn alles war, nicht mehr so viel zu bedeuten beginnt, obwohl das der Mensch zunächst nicht wahrhaben will und vor dem aufkeimenden Erwachen gewaltsam in den Schlummer der Betäubung flieht. Im Laufe der Zeit ist das immer weniger möglich und vermag sich der Mensch nicht mehr der Unruhe, die sich in ihm regt, zu verschließen. Er spürt in steigendem Maße, wie das betreffende Gut ihm nicht die Erfüllung bietet, die er von ihm erwartete, wodurch er ihm gegenüber ernüchtert wird; so sieht er Grenzen und Mängel dort, wo ihn früher nur strahlende Vollendung blendete. (220; Fs)

276/VI Die zunehmende Ernüchterung rückt das in seiner wahren, aber geringeren Bedeutung gesehene Gut allmählich an die Stelle, die ihm gebührt; oft kommt es auch dazu, daß ein solches Gut nach dem Dahinschwinden seiner überhöhten Einschätzung als schal, ja nichtssagend empfunden und schließlich mit Überdruß beiseite geschoben wird; nicht selten wird ein früher über alles geliebter Freund oder Partner mit Haß aus dem eigenen Leben verbannt. Auf diese Weise gewinnt der Mensch seine Freiheit, die durch die Täuschung gebunden war, durch die Ent-täuschung wieder zurück; die Verschlossenheit, in die er geraten war, wird in eine neue Offenheit higein überwunden. (220f; Fs)
277/VI Über eine Schein-Erfüllung hinausgewachsen, greift der wieder offene Mensch nach der wahren Erfüllung aus. Dabei verirrt er sich meist in eine weitere Täuschung hinein; denn er hat zunächst nur erfahren, daß ihn dieses bestimmte endliche Gut nicht zu erfüllen vermochte, weshalb er sich einbildet, seine Enttäuschung habe in diesen oder jenen Eigenschaften des betreffenden Gutes ihren Grund, während ihm noch nicht aufgegangen ist, daß der Grund in der Endlichkeit zu suchen ist. Daher wendet er sich mit denselben oder wenigstens ähnlichen Illusionen wie vorher einem andem endlichen Gut zu, von dem er wieder alles erwartet, wenn er auch nüchterner und reifer als früher geworden ist. (221; Fs)

278/VI Naturgemäß stellt sich nach einer mehr oder weniger ausgedehnten Spanne der Täuschung von neuem die unvermeidliche Ent-täuschung ein, die alle Hoffnungen vereitelt und alles Aufgebaute zertrümmert. Dieser schmerzliche Vorgang kann sich viele Male im Leben wiederholen und wiederholt sich auch, tatsächlich, wodurch dieses zu einer Kette von Enttäuschungen wird, die eine harte und unerbittliche Schule darstellen. (221; Fs)
279/VI Wie wir ständig beobachten, bilden sich durch diese Erfahrungen drei grundsätzlich verschiedene Haltungen in den Menschen heraus. Die einen werden durch die Kette von Enttäuschungen in die Verzweifung gestürzt, die ihnen jede Hoffnung auf Erfüllung raubt; sie meinen, die Erfahrung habe sie eindringlich gelehrt, daß das Leben eine einzige große Enttäuschung und nichts außerdem sei. Solchen hegt die Versuchung nahe, das Leben, das ihnen scheinbar nichts zu bieten hat, wegzuwerfen und daher Selbstmord zu begehen. - (221; Fs)

280/VI Andere werden durch die Kette der Enttäuschungen veranlaßt, ihre Ansprüche an das Leben in einer müden oder auch bis zu einem gewissen Grade weisen Resignation zu beschränken, indem sie auf die scheinbar unmögliche Ganz-Erfüllung verzichten und aus den verbleibenden Teil-Erfüllungen das Beste zu machen versuchen. Dabei kann ein Fanatismus durchbrechen, der alles daransetzt, um die verfügbaren Teil-Erfüllungen so zu steigern, daß sie sich möglichst der Ganz-Erfüllung nähern. Hierher gehört das irdische Paradies der klassenlosen Gesellschaft, eine Utopie, die sich als Ganz-Erfüllung anbietet und jede darüber hinausgreifende Sehnsucht nach der wahren Ganz-Erfüllung gegenstandslos und zunichte zu machen oder als Illusion abzutun bestrebt ist. (221; Fs)
281/VI Wieder anderen leuchtet allmählich eine Einsicht auf, die auch in den anderen eben besprochenen Gruppen unterschwellig dämmert, sich aber nicht durchzusetzen vermag. Sie spüren nämlich, wie sie weder in der Verzweiflung noch in der Resignation zur Ruhe kommen oder ihr Innerstes sie zuletzt unwiderstehlich darüberhinausdrängt. Ihnen geht auf, daß die Kette der Enttäuschungen nicht aus der besonderen Eigenart dieses oder jenes endlichen Guten entspringt, sondern in der allen derartigen Gütern gemeinsamen Endlichkeit ihre Wurzel hat. (222; Fs)

282/VI Solange der Mensch in solchen Gütern seine letzte Erfüllung sucht, wird ihn das letzte, auf das er trifft, genauso enttäuschen wie das erste, das ihn faszinierte, wird er von den im irdischen Paradies gesammelten endlichen Gütern ebenso leer gelassen wie von wenigen oder nur einem. Die Bedingung der Möglichkeit für die Enttäuschung am Endlichen als solchem kann einzig darin liegen, daß das Streben des Menschen zuinnerst über alles Endliche hinausgreift und durch den Ausgriff auf das schlechthin unendliche Gut konstituiert ist; dieses heißt das höchste Gut (summum bonum), das alles Gute in sich vereinigt und über das hinaus weiteres Gute nicht zu finden ist, in dem alles Streben die letzte Erfüllung findet und über das hinaus nichts mehr zu erstreben bleibt, in dem das Streben völlig zur Ruhe kommt oder in die Seligkeit, das vollendete Glück eintritt (beatitudo, felicitas). (222; Fs)

283/VI Ohne das Ausgreifen nach dem unendlichen Gut wäre der Mensch von den endlichen Gütern nicht enttäuscht, weil er in ihnen ja seine Erfüllung fände. Im Laufe des Lebens tritt das Streben nach dem unendlichen Gut immer deutlicher hervor oder setzt es sich durch all die Enttäuschungen immer eindeutiger von sämtlichen endlichen Gütem ab. Dasselbe Streben erweist sich als die innerste bewegende Kraft des gesamten menschlichen Strebens, weshalb dieses sich um des unendlichen Gutes willen den endlichen Gütem zuwendet oder mittels der Teil-Erfüllungen als vorbereitenden Stufen sich der Gesamt-Erfüllung entgegenspannt. Indem so der Mensch seine letzte Erfüllung nicht mehr in den endlichen Gütem, sondern durch diese im unendlichen Gut sucht, werden jene auf dieses hin transparent und bieten sie eine Hilfe auf dem Weg zu diesem, wodurch sich zugleich ein reifes Verhältnis zu jenen herausbildet. (222; Fs)

284/VI Das Erfahren der Enttäuschungen hat sich zum Erfahren des Strebens nach dem unendlichen Gut entwickelt, worin wiederum das Erfahren des unendlichen Gutes selbst geschieht. Das Fortschreiten innerhalb dieses Erfahrens vollzieht sich nicht in theoretischen Darlegungen, sondern in den praktischen Erfahrungen, die der Mensch mit seinem Streben und dessen Einmünden in die Ruhe der Erfüllung macht, und ist deshalb selbst Erfahrung. Zu deren genauerer Bestimmung trägt das Besprechen einiger Einwände bei, die dagegen erhoben werden können und tatsächlich erhoben werden. (222f; Fs)

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Autor: Lotz, Johannes B.

Buch: Transzendentale Erfahrung

Titel: Transzendentale Erfahrung

Stichwort: Gutheit; Erkennen - Wollen; (voluntas et intellectus mutuo se includunt; Scheler: intentionales Fühlen

Kurzinhalt: ... vielmehr durchdringen sich Vernunft und Wille so sehr, daß sie in keinem Fall restlos voneinander getrennt sein können

Textausschnitt: 4. Der Weg der Gutheit

Erkennen und Wollen:

223/VI Nachdem wir die metaphysische Erfahrung auf dem Wege des Seins und auf dem der Wahrheit entwickelt haben, wenden wir uns nunmehr dem Weg der Gutheit zu; damit kommen wir vom Seelengrund über das Erkennen zum Wollen oder Lieben, das sich im endlichen und besonders im menschlichen Bereich als Streben, von Thomas 'appetitus' genannt, ausprägt. (207; Fs)

224/VI Der Schritt vom Wahren zum Guten wird dadurch vorbereitet, daß sich das Wahre als das Gute des Geistes oder des Erkennens (bonum intellectus) darstellt, das freilich nicht ohne weiteres das Gute des Strebens (bonum appetitivae virtutis) ist1; näherhin löst das Wahre als das Gute des Geistes, wie wir sahen, die Dynamik aus, die von unserer gebrochenen zu der reinen Identität hintreibt und erst in der ersten oder subsistierenden Wahrheit zur Ruhe kommt. (207; Fs)

225/VI Daraus also, daß das Wahre ein Gutes unter anderen (quoddam bonum) ist oder den Charakter des Guten hat2, folgt im erkennenden Geist ein Streben dazu hin (tendit intellectus)3; demgemäß gilt auch vom Wahren, was dem Guten eigen ist, daß es nämlich als Zielursache ins Spiel kommt (habet rationem finis)4. - (207; Fs)

226/VI Von hier aus zeichnet sich eine tiefere Bedeutung in dem Wort des Aquinaten ab, daß die Vernunft und der Wille sich gegenseitig einschließen (voluntas et intellectus mutuo se includunt); danach erkennt nicht allein die Vernunft den Willen und will umgekehrt der Wille nicht allein, daß die Vernunft erkenne5; vielmehr durchdringen sich Vernunft und Wille so sehr, daß sie in keinem Fall restlos voneinander getrennt sein können. (207f; Fs)

Quer: F1_016_q4

227/VI Folglich umschließt die Vernunft den ihrem eigenen Wesen entsprechenden Anteil von Wille und Streben, was durch das eben Gesagte bestätigt wird; ebenso umschließt der Wille den seinem eigenen Wesen entsprechenden Anteil von Vernunft und damit von Lichtung oder Gelichtetheit. (208; Fs)

228/VI Die zweite Aussage wird meist nicht vollzogen, obwohl sie durch die erste nahegelegt wird; wenn nämlich die Vernunft einen Anteil von Wille enthält, so liegt es nahe zu sagen, der Wille enthalte auch einen Anteil von Vemunft. Das verlangt ihre beiderseitige Eigenart, insofern sie als Teilausprägungen des einen menschlichen Wirkens aufeinander verwiesen und ineinander verflochten sind; das ist damit gleichbedeutend, daß jede der beiden Tätigkeiten die andere ansatzweise, freilich nur ansatzweise mit sich bringt, wodurch sie ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen, indem das in der einen Tätigkeit ansatzweise Enthaltene durch die andere zur Vollendung geführt wird. - (208; Fs)

229/VI Nun scheint dem Anteil von Vernunft im Willen die fast wie ein Grundsatz vertretene Behauptung zu widerstreiten, der Wille sei blind (voluntas est caeca). Der berechtigte Sinn dieses Satzes liegt darin, daß dem Willen nicht ein Erkennen zukommt, für das ja die Vernunft zuständig ist; im Hinblick darauf sprachen wir oben von Lichtung oder Gelichtetheit. Ein Beispiel für diese haben wir früher in der Selbsterschlossenheit des Wollens gefunden (Vgl. S. 63); es ist nicht nur durch ein darauf gerichtetes Erkennen der Vernunft bewußt, sondern sich selbst durch sich selbst bewußt, weshalb in diesem Fall Subjekt und Objekt als derselbe Akt miteinander identisch sind. In diesem Selbst-Bewußtsein, das von der begleitenden Reflexion vollzogen wird, geschieht die Lichtung des Wollens, nicht aber dessen Erkennen, das der nachfolgenden Reflexion, die von der Vernunft geleistet wird, vorbehalten ist. - (208; Fs)

230/VI Auf ähnliche Weise verhält sich das Wollen oder Streben, dessen Grundakt die Liebe ist, zum Guten. Zwar wird dem Wollen das Gute durch das Erkennen der Vernunft dargeboten; das dargebotene Gute aber wird vom Wollen selbst mit dem ihm eigenen Gespür umfaßt und erfühlt, wozu Scheler mit seinem der Emotionalität angehörenden 'intentionalen Fühlen' gelangt6. Diese das Wollen auszeichnende Lichtung oder Gelichtetheit kann, bei einem anfänglichen Erkennen ansetzend, diesem vorauseilen und es sogar übertreffen sowie ihm eine lebendige Tiefe und überwältigende Überzeugungskraft verleihen, die das Erkennen allein nicht erreicht. Ohne die eben beschriebene Gelichtetheit ist kaum zu verstehen, wie das Wollen wahrhaft ein Bewußtseinsgeschehen zu sein vermag7. (208f; Fs)

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Autor: Lotz, Johannes B.

Buch: Transzendentale Erfahrung

Titel: Transzendentale Erfahrung

Stichwort: Gutheit; Kreislauf von Erkennen und Wollen; bonum est in re - verum est in ipso intellectu


Kurzinhalt: Im Gegensatz dazu strebt unser Wollen zu etwas außer ihm als seinem Ziel, weshalb es als die Bewegung vom Menschen zu den Dingen geschieht ...

Textausschnitt: 231/VI Die Eigenart des Strebens und des Guten im Unterschied zum Wissen und dem Wahren zeigt sich noch klarer, wenn wir den Kreislauf (circulatio) betrachten, den das Wirken der Vernunft und des Willens durchläuft1. (209; Fs)

232/VI Im geistigen Bereich finden sich nur zwei Tätigkeiten (solum duae), nämlich das Erkennen und das Wollen2, deren endliche Ausprägung im Menschen für die metaphysische Erfahrung entscheidend ist. Unser geistiges Erfassen empfängt von den äußeren Dingen und entfaltet sich deshalb als die Bewegung, die sich von den Dingen zum Menschen spannt3; indem wir die empfangenen Eindrücke zu den entsprechenden Gegenständen verarbeiten, geschieht das Erkennen insofern, als das Erkannte im Erkennenden ist (cognitum est in cognoscente)4. (209; Fs)

233/VI Im Gegensatz dazu strebt unser Wollen zu etwas außer ihm als seinem Ziel, weshalb es als die Bewegung vom Menschen zu den Dingen geschieht1 und sich dem in sich selbst wirklichen Seienden zuneigt (inclinatur in ipsam rem appetitam)2. Damit kehrt der Wille zu dem zurück, von dem das Erkennen seinen Anfang nimnmt; näherhin schließt sich der Kreis, indem das äußere Seiende unsere Vernunft bewegt, diese aber den Willen antreibt, der seinerseits sich durch sein Streben und Lieben dem äußeren Seienden zuwendet3. (209; Fs)

234/VI Dementsprechend ist das vom Streben angezielte Gute unmittelbar das Seiende selbst oder der äußere Gegenstand (bonum est in re), während das der Vernunft zugeordnete Wahre zunächst der von ihr konstituierte innere Gegenstand ist (verum est in ipso intellectu), durch den erst mittelbar der äußere Gegenstand oder das Seiende selbst erreicht wird4. (210; Fs)

235/VI Als weitere Folge ergibt sich, daß der Charakter der Gutheit vom seienden Guten dem Streben mitgeteilt wird, weshalb dieses gut heißt, insoweit es sich auf Gutes richtet; zugleich ergibt sich, daß der Charakter der Wahrheit, da ja das Wahre seinen Sitz im Erkennen hat, von diesem auf das Seiende übertragen wird, weshalb dieses wahr genannt wird, insofern es auf den Geist hingeordnet ist1. (210; Fs) (notabene)


236/VI Die hier gemeinte Hinordnung prägt sich auf zwei Weisen aus, je nachdem der Geist das Seiende oder das Seiende den Geist bestimmt; ersteres trifft auf das schöpferische oder hervorbringende Erkennen, namentlich in der Kunst oder auch in der Technik, zu, letzteres hingegen auf das hinnehmende Erkennen, das sich dem vorgefundenen Seienden angleicht1 und wesentlich endlich ist. (210; Fs)

237/VI Die angedeutete Strukturverschiedenheit hat in der Geschichte des Denkens ihre unverkennbaren Auswirkungen. Jene Richtungen, die sich auf die Vernunft mit ihrem Wissen und ihrer Wahrheit einstellen, das Wollen aber und das Gute vernachlässigen, neigen zu einer idealistischen Grundhaltung. Sie verflüchtigen mehr oder weniger den äußeren Gegenstand in den inneren; demgemäß betonen sie das setzende Konstituieren oder das schöpferische Hervorbringen so sehr, daß sich der Gegen-stand in den Ent-stand verwandelt und für das hin-nehmende Erkennen des vorgefundenen Seienden kein Platz mehr bleibt. (210; Fs)

238/VI Wie diese Zusammenhänge das Philosophieren Hegels beeinflussen und auf eine einseitige Bahn drängen, hat W. Kern in einer eigenen Abhandlung gezeigt2. Solche Auffassungen sind dem Erfahren, das ja wesentlich Hin-nehmen des Vorgegebenen besagt, wenig günstig; sie setzen an dessen Stelle das apriorische Konstruieren und Deduzieren, das, ohne Verwurzelung im Erfahrenen, sich meist in einem leeren Begriffsspiel verliert. Vor derartigen Verirrungen wird das Erkennen durch das in ihm wirksame Streben und durch das mit ihm zusammenwirkende Wollen bewahrt, das dem Seienden, wie es in sich selbst west, zugewandt ist und so durch die ihm eigene Unmittelbarkeit über die Mittelbarkeit des Erkennens hinausgelangt. (210f; Fs)

239/VI Obwohl das Lieben durch das Wissen vermittelt wird, zielt es unmittelbar auf das ihm vermittelte Gute hin und umfaßt es dieses in seiner Wirklichkeit; kurz: die Liebe realisiert. Daher kommt ihr auf ausgezeichnete Weise das Erspüren des vorgegebenen Wirklichen oder Seienden zu, weshalb sie auch das Erkennen zum hin-nehmenden Erfahren befähigt, als dieses vollendet und zu einer letzten Tiefe oder Kraft führt. Daran ändert sich dadurch nichts, daß das Wollen oder Lieben dem Irrationalen verfallen und sich in Täuschungen verlieren kann; freilich ergibt sich daraus, daß es der Erhellung und der kritischen Prüfung durch das Erkennen bedarf, das den dem Lieben eigenen Wirklichkeits-Sinn ergänzt. (211; Fs)

240/VI Nach allem trägt das Wollen oder Leben auf eine einzigartig wirksame und unentbehrliche Art dazu bei, daß die Erfahrung wahrhaft Erfahrung sei und in ihr wahrhaft das vorgegebene Wirkliche begegne. Danach ist für die metaphysische Erfahrung von dem Weg des Guten ein neuer, den Weg des Wahren befestigender und vertiefender Akzent zu erwarten. (211; Fs)

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Autor: Lotz, Johannes B.

Buch: Transzendentale Erfahrung

Titel: Transzendentale Erfahrung

Stichwort: Gutheit; Wille, Innere Struktur des Wollens; Zusammenspiel: Streben, Wollen - Gefühle; complacentia, fruitio; Ruhe - Bewegung : intellectus - ratio : Erstreben des Zieles - Wahl der Mittel

Kurzinhalt: Damit zusammen wirkt die Grundeinsicht des Aquinaten, daß Ruhen und Sich-bewegen bezüglich desselben Gehaltes nicht auf verschiedene, sondern auf ein und dasselbe Vermögen zurückzuführen sind1. Das gilt beim Erkennen in Hinsicht ...

Textausschnitt: Innere Struktur des Wollens:

241/VI Zur eindeutigen Bestimmung des mit Wollen oder Streben bezeichneten Bereiches ist im Auge zu behalten, daß es nach dem Aquinaten nur zwei Tätigkeiten des geistigen Lebens gibt (solum duae)1, während man heute gewöhnlich drei Tätigkeiten annimmt, indem man neben dem Erkennen und dem Wollen das Fühlen als eigene Weise des Wirkens aufführt2. Im Gegensatz dazu vertritt Thomas eine umfassendere Sicht des Wollens (appetitus), derzufolge dieses auch das Fühlen umgreift oder das Streben zusammen mit dem Gefallen oder Ruhen demselben Wirkvermögen angehört3. Dessen Grundakt ist das Lieben, das der eine Ursprung und die gemeinsame Wurzel aller anderen hierher gehörenden Verhaltensweisen ist4. (211; Fs)

242/VI Was Lieben heißt, beschreibt der Aquinate als 'affici ad aliquid', dem ein 'afficiens' oder 'conveniens' als der zugeordnete Gehalt entspricht5; das, was einem zukömmlich ist, wird für ihn zu einem ihn Bewegenden oder Ergreifenden, manchmal Überwältigenden, dem er nicht kalt registrierend oder unbeteiligt gegenüberstehen kann, das vielmehr seine Beteiligung weckt, ihn bewegt und mitreißt, dem er sich hingibt und für das er sich einsetzt. Daraus aber, daß wir etwas auf diese Weise lieben, entspringen die anderen Akte des 'appetitus'; weil wir etwas lieben, verlangen wir danach, wenn es uns entzogen ist, freuen wir uns daran, sobald es uns gewährt wird, sind wir traurig, wenn Hindernisse dazwischentreten, hassen wir das, was uns vom Geliebten trennt, und entbrennen wir gegen solches in Zorn6. Demnach gehört die ganze Schwingungsbreite und Vielfältigkeit der Affekte oder des Fühlens von der Liebe her in den 'appetitus' hinein. (211f; Fs)

243/VI Das Zusammenspiel zwischen dem Streben oder Wollen und dem Fühlen oder den Affekten wird vom Aquinaten noch genauer bestimmt. Obwohl der Name 'appetitus' zunächst vom Erstreben des Nicht-Erreichten (petere ad) genommen wird, so umfaßt doch das damit bezeichnete Vermögen vieles andere7. Im einzelnen zeichnen sich drei Grundvollzüge ab, die sich als Entfaltungsstufen desselben zueinander verhalten. Zunächst erwacht im Liebenden ein gewisses Gefallen am Geliebten (complacentia) oder eine aufkeimende Liebe zu ihm (amor); daraus erwächst die Bewegung des Liebenden zum Geliebten hin, die durch das Verlangen (desiderium) zum wirklichen Ergreifen des Geliebten hinstrebt (appetibile realiter consequendum); schließlich ist die Frucht der Vereinigung des Liebenden mit dem Geliebten die ruhevolle Freude (quies, gaudium)8. (212; Fs)

244/VI Das hier mit wenigen Strichen Umrissene wird an anderen Stellen eingehender ausgelegt. Das anfängliche Gefallen oder Lieben wird als die erste Hinnneigung zum Erreichen des Guten bezeichnet9, die der Ursprung der gesamten Bewegung, die zum geliebten Gut hinstrebt, ist10; außerdem wird das (der) Geliebte für den Liebenden lustbetont (delectabile), weil die Liebe eine gewisse Einigung (unio) oder Wesensverwandtschaft (connaturalitas) des Liebenden zum Geliebten hin besagt11. (212; Fs)

245/VI Die aus dem anfänglichen Gefallen erwachsende Bewegung ist der Übergang, der zu dem Guten hinstrebt, während es noch nicht in Besitz genommen ist12, der es sucht13, um es zu erwerben14. Das Zur-Ruhe-kommen schließlich besteht darin, daß der Mensch das liebt, was er hat oder besitzt oder mit dem er geeinigt ist, und daß er sich daran freut (delectari)15. Dieser Endzustand heißt auch Genießen (fruitio), wozu jene Liebe und Freude gehört, die einer erfährt, wenn er beim Letzterwarteten oder beim Endziel angekommen ist und darin ruht16. (213; Fs)

246/VI Schlechthin ruht einer einzig im Letzten; solange nämlich das Letzte noch nicht erreicht ist und noch etwas erwartet wird, bleibt der Wille in der Schwebe (remanet in suspenso), wenn er auch schon zu einiger Erfüllung gelangt17; hier öffnet sich ein Ausblick auf das schlechthin Letzte, nämlich auf das höchste Gut oder die Seligkeit, die allein in Gott zu finden ist. (213; Fs)

247/VI Daß es im geistigen Bereich allein die zwei Tätigkeiten des Erkennens und des Wollens gibt (intelligere et velle), wird vom Aquinaten durch entsprechende Überlegungen eigens erhärtet. Die Begründung hierfür wird daraus entnommen, daß nicht mehr als zwei Bezogenheiten zwischen dem Subjekt und dem Objekt möglich sind. Entweder teilt sich das Objekt dem Subjekt mit, was im Erkennen des Wahren geschieht; oder das Subjekt teilt sich dem Objekt mit, was im Lieben des Guten vollzogen wird18; diese Zweiheit wurde oben schon genauer erläutert. (213; Fs) (notabene)

248/VI Damit zusammen wirkt die Grundeinsicht des Aquinaten, daß Ruhen und Sich-bewegen bezüglich desselben Gehaltes nicht auf verschiedene, sondern auf ein und dasselbe Vermögen zurückzuführen sind19. Das gilt beim Erkennen in Hinsicht auf den Unterschied von 'intellectus' und 'ratio'; denn dem 'intellectus' ist das Ruhen eigen, insofern er durch einfaches Einsehen die ersten Grundsätze erfaßt; die 'ratio' hingegen vollzieht die Bewegung, insofern sie von einem Erkannten zum andern eilt oder sich diskursiv entfaltet; dabei durchschreitet die 'ratio' einen Kreislauf, indem sie beim Finden der Wahrheit von den Grundsätzen des 'intellectus' ausgeht und bei deren Prüfen zu denselben zurückkehrt20. (213f; Fs) (notabene)

249/VI Auf ähnliche Weise sieht Thomas im Willensleben das Erstreben des Zieles und das Wählen der Mittel, wobei jenem das Ruhen, diesem aber die Bewegung zukommt; damit ist wiederum ein Kreislauf gegeben, weil die Mittel vom Ziel her gewählt und zum Ziel hin ergriffen oder angewendet werden21. Ebenso bemerkt der Aquinate bezüglich unserer Thematik, im Streben zu dem noch nicht erreichten Guten geschehe die Bewegung, während das liebende Sich-freuen am erreichten Guten dem Ruhen gleichkommt22; auch hier zeichnet sich ein Kreislauf ab, insofern das Streben aus dem anfänglichen Gefallen entspringt und in das vollendete Gefallen einmündet23. (214; Fs) (notabene)

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Autor: Lotz, Johannes B.

Buch: Transzendentale Erfahrung

Titel: Transzendentale Erfahrung

Stichwort: Gutheit; Wollen und Erfahrung; Streben - Gefallen;

Kurzinhalt: Damit bestätigt sich die Einheit von Gefallen und Streben innerhalb des Wollens als desselben Vermögens; denn das Verlegen des Gefallens oder Fühlens in eine dritte dem Erkennen und Wollen gleichgeordnete Intentionalität zerstört ...

Textausschnitt: Das Wollen und die Erfahrung:

250/VI Unsere zusammenfassenden Andeutungen über die innere Struktur oder die Viel-Einheit des Wollens tragen wesentlich zum Erhellen der metaphysischen Erfahrung bei. Die Einheit des Wollens ist mit dessen Grundakt, nämlich mit dem Lieben gegeben, als dessen Abschattungen alle die verschiedenen Vollzüge innerhalb dieses Bereiches zu verstehen sind. Was die Vielheit betrifft, so heben sich namentlich das Streben und das Gefallen voneinander ab, wobei sich aber beide wieder als Abwandlungen des einen Liebens durchdringen; im Streben geschieht das Lieben als Bewegung oder als Werden, im Gefallen hingegen als Ruhen oder als Sein; zugleich geschieht das Streben als fortschreitend sich entfaltendes Gefallen, das Gefallen aber als anfangendes oder in seine Vollendung eingetretenes Streben. (214; Fs)

251/VI In eins damit ist das Streben vorwiegend aktiv, indem es nach dem Guten ausgreift und es schließlich ergreift, während das Gefallen vorwiegend passiv ist, insofern es vom Guten angezogen, mitgerissen und überwältigt wird. Zugleich umschließt die Aktivität des Strebens stets Passivität, da es ja deshalb nach dem Guten ausgreift, weil es von ihm angezogen wird; ebenso ist die Passivität des Gefallens von Aktivität durchzogen, da es sich ja dem Guten öffnet und hingibt. (214; Fs)

252/VI Vermöge seiner Passivität nähert sich das Gefallen dem Erkennen, das Streben hingegen ist wegen seiner Aktivität im ausgesprochensten Sinne des Wortes Wollen, weshalb auch oft der 'appetitus' darauf eingeschränkt wird. Dementsprechend überwiegt beim Gefallen das Spüren oder Fühlen, beim Streben jedoch das Realisieren als tätige Hingabe an das Wirkliche oder Seiende. Zugleich ist im Realisieren notwendig das Spüren oder Fühlen am Werke, wodurch jenes ein ihm eigenes Teilnehmen am Erkennen nicht einbüßt; ebenso trägt das Spüren oder Fühlen immer das Realisieren in sich, weshalb ihm das Besondere des Wollens nicht abgeht und es nicht in das bloße Erkennen zurückfällt. (215; Fs) (notabene)

253/VI Welches Ergebnis dürfen wir für das metaphysische Erfahren buchen? Das realisierende Spüren des Fühlens und das spürende Realisieren des Wollens vollziehen je in ihrer Akzentuierung die Einigung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten, die an Tiefgang diejenige zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten übertrifft. Während nämlich der Erkennende an sich das Erkannte unbeteiligt registriert, wendet sich der Liebende dem Geliebten beteiligt zu, indem er dieses umfaßt und darauf eingeht und es damit so an-wesen läßt, daß seine Wirklichkeit voll aufleuchtet. Hierin liegt jenes intensive Hinnehmen des vorgegebenen Wirklichen, zu dem sich allein das Lieben zu erheben vermag und das ein Erfahren von besonderer Leuchtkraft darstellt. (215; Fs) (notabene)

254/VI In dem Maße, wie dieses liebende Erfahren auf das erkennende Erfahren zurückwirkt, wird auch dieses von der Beteiligung befruchtet, wodurch es aus der objektiven Wahrheit in die subjektive Wahrheit im Sinne Kierkegaards hineinwächst. Insofern übrigens das Erkennen nach dem oben Gesagten wesentlich einen Ansatz des Strebens enthält, ist das erkennende Erfahren immer schon von einem Ansatz des liebenden Erfahrens getragen, ohne den es, wie unsere Bemerkungen zur Denkgeschichte zeigen, leicht aus dem Erfahren herausfällt. (215; Fs)

255/VI Was die Zwei-Einheit von Fühlen und Wollen betrifft, so wird im Erfahren als dem Hinnehmen von Wirklichem durch das realisierende Spüren das Hinnehmen, durch das spürende Realisieren aber das Wirkliche akzentuiert; doch zeigen unsere Formulierungen zugleich, wie in jedem der beiden Pole der andere enthalten ist und wie die Trennung vom andern jeden der beiden Pole verflüchtigt und sogar vernichtet. Dabei muß die Spannung der beiden Pole gewahrt werden, weil sich in ihr die Dynamik unseres menschlich-endlichen Willenslebens ausprägt. (215; Fs)

256/VI Das anfängliche Gefallen allein führt nicht zu einem voll entfalteten Menschentum; das End-Gefallen allein besagt eine übermenschliche Vollendung; und das Streben allein wäre ohne auslösenden Anstoß und ohne anziehendes Ziel. Daher kommt die Dynamik des menschlichen Willenslebens einzig dadurch zustande, daß die eben genannten drei Stufen seiner Entfaltung ineinanderspielen. Diese Dynamik ist entscheidend für das Erfahren, insofern es seine metaphysische Dimension gewinnt, weil gerade die Dynamik das Erfahren über alle vorläufigen Erfüllungen hinaus- und zur letzten Erfüllung hintreibt. - (215f; Fs) (notabene)

257/VI Damit bestätigt sich die Einheit von Gefallen und Streben innerhalb des Wollens als desselben Vermögens; denn das Verlegen des Gefallens oder Fühlens in eine dritte dem Erkennen und Wollen gleichgeordnete Intentionalität zerstört die innere Dynamik des Wollens und folglich auch des Erkennens, das ja gerade vermöge des ihm eigenen Anteils an der Dynamik des Wollens sich zur reinen Identität hinbewegt. (216; Fs)

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