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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 1; fundementale Unterscheidung: Sein - Schein; virtuelle Realität (Eleaten; Hume); kybernetische Konstruktion

Kurzinhalt: Die Unterscheidung von Sein und Schein ist die erste und fundamentalste Unterscheidung, mit der die Philosophie beginnt... wenn Schein Sein ist, dann ist auch Sein nichts als Schein... Hume ... „We never advance one step beyond ourselves".

Textausschnitt: Wirklichkeit als Anthropomorphismus
Robert Spaemann

13a Als wir Kinder waren, gab es einen Augenblick, wo wir, wenn uns eine Geschichte erzählt wurde, die Frage stellten: „War das mal wirklich?" Wir erwarteten auf diese Frage eine schlichte Antwort, also nicht eine Antwort, die den Umfang des Begriffs „wirklich" so lange dehnte, bis auch Märchen und Träume darunter subsumiert werden konnten. Träume waren ja gerade das, was wir mit unserer kindlichen Frage ausschließen wollten. Wer nach Wirklichkeit fragt, will immer etwas ausschließen. „Wirklich" ist ein Begriff, der der Unterscheidung dient. Wirklichkeit ist ja nicht ein Merkmal, das zu dem, was es gibt, noch etwas hinzufügt. Existenz, so schreibt Immanuel Kant, „ist kein reales Prädikat". Das Wirkliche unterscheidet sich vom Unwirklichen, und wenn wir wissen wollen, was jemand meint, wenn er nach dem fragt, was wirklich ist, müssen wir wissen, was er als unwirklich ausschließen will. Das Ausgeschlossene kann viele Namen haben: Traum, Fiktion, Lüge, Schein, Einbildung, Konstrukt, virtuelle Realität usw. Die Unterscheidung von Sein und Schein ist die erste und fundamentalste Unterscheidung, mit der die Philosophie beginnt. Allerdings erhob sich auch schon in den Anfängen der Philosophie, bei den Eleaten, Widerspruch gegen diese Unterscheidung. Deren Argument war einfach: Das Nicht-Wirkliche, also das Nicht-Seiende ist nicht, per definitionem. Also kann Sein keinen Gegensatz haben. Es gibt nicht das, was es nicht gibt. Der Traum ist ebenso eine Wirklichkeit wie das Wachen, und das Geträumte ebenso wie das im Wachen Erlebte. Was immer die virtuelle Realität von der nichtvirtuellen unterscheiden mag, sie heißt schließlich ebenso wie diese „Realität". Ja, haben wir denn überhaupt etwas anderes als virtuelle Realität? Mit dieser Verblüffungsfrage werden wir heute immer häufiger konfrontiert. Mit fundamentalen Distinktionen verhält es sich aber so: Wenn die eine Seite verschwindet, verschwindet auch die andere. Wenn es keinen Schein gibt, wenn Schein Sein ist, dann ist auch Sein nichts als Schein. „Esse est percipi", sagte Berkeley. Und David Hume: „We never advance one step beyond ourselves". Wenn wir etwas erleben, dann ist es eben etwas von uns Erlebtes. Es spielt sich in uns ab, es ist unser Konstrukt. Falls es irgendwie von außen verursacht ist, können wir das nicht wissen. Ja sogar der Gedanke eines Außen ist wiederum nur ein Gedanke, der seine Metaphorik uns bekannten räumlichen Verhältnissen entleiht. Und auch der Gedanke eines anderen unserer selbst, der Gedanke von etwas, was jenseits unseres Denkens ist, bleibt doch unser Gedanke. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts hat diese Art von Reflexion bis zum Exzeß durchgespielt. (Fs)

14a Die Entwicklung der Technik am Ende des zweiten Jahrtausends vollzieht diese Reflexion nur in der Praxis nach. Die technische Simulation verdrängt nicht mehr nur die Wirklichkeit, sie gibt vor, deren Wesen zu enthüllen. Die kybernetischen Konstrukte ahmen nicht mehr nur das Lebendige nach, sie beanspruchen uns zu erklären, was Leben ist. Es ist nichts als diese Simulation. Onanie, Cybersex ist nicht mehr bloß Ersatzbefriedigung. Es tendiert dahin, sich als die Sache selbst zu präsentieren. „We never advance one step beyond ourselves". Zwar sind wir so konstruiert, daß wir den anderen zu unserem Glück brauchen. Aber wie für jede funktionale Interpretation, so gilt auch für diese: Sie eröffnet den Spielraum für funktionale Äquivalente. Eine Simulation des anderen tut es auch. Wenn sie perfekt ist, ist sie der andere. (Fs)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 2; Kriterium für das Wirkliche?; Wirklichkeit: keine Eigenschaft; W. - Traum

Kurzinhalt: Aber ein Kriterium? Nein, das gibt es nicht. Denn Wirklichkeit ist, wie gesagt, keine Eigenschaft.

Textausschnitt: I. Ein Kriterium für das Wirkliche?

14b Aber ist sie es wirklich? Gibt es kein Kriterium, um das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden? Gibt es keinen Unterschied? Doch, natürlich gibt es einen Unterschied, und es ist sogar der wichtigste aller Unterschiede. Aber ein Kriterium? Nein, das gibt es nicht. Denn Wirklichkeit ist, wie gesagt, keine Eigenschaft. Max Scheler meinte, das Wirkliche mache sich für uns durch Widerständigkeit bemerkbar. Wirklichkeitserfahrung sei Widerstandserfahrung. Aber das stimmt nicht. Auch im Traum erfahren wir Widerstand, Bedrohung, Überwältigung. Und es gibt Träume, in denen wir sogar das reflexe Bewußtsein haben, nicht zu träumen, ja wo wir uns durch empirische Experimente davon überzeugen, daß wir nicht träumen. Und darin wachen wir auf, und es war doch ein Traum. Manchmal ist sogar das Aufwachen geträumt. Wir träumen, daß wir geträumt haben und nun aufwachen. Kein Kriterium, sondern nur das nochmalige Aufwachen gibt uns die kriteriumslose Gewißheit, jetzt wirklich wach zu sein. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß wir im Traum die gleiche Gewißheit hatten. Der Zweifel, den wir daraus ableiten, bleibt rein theoretisch. Das heißt, er ist gar kein Zweifel, sondern nur die Feststellung, daß unsere Gewißheit sich nicht auf ein Kriterium stützt. (Fs)

15a Aber auch das Umgekehrte gibt es, nämlich den Zweifel an der Wirklichkeit des Geträumten im Traum selbst. Als Fünfjähriger wurde ich im Traum von einer Hexe verfolgt. Sie rannte auf einer Dorfstraße hinter mir her. Ich rannte um mein Leben. Der Abstand verringerte sich ständig. Plötzlich fiel mir ein: Meine Mutter hatte mir gesagt: „Es gibt keine Hexen." Meine Mutter sagte immer die Wahrheit. So glaubte ich ihr mehr als dem Augenschein, und meine Schlußfolgerung war: Die Hexe muß geträumt sein. Es kann sich nun nur darum handeln, aufzuwachen, ehe die Hexe, deren Atem ich schon spüre, mich packt. Im Vertrauen auf das Wort meiner Mutter warf ich mich auf die Straße, wälzte mich hin und her und wachte auf. Es war kein empirisches Kriterium, aufgrund dessen die Hexe unwirklich war, es war ein Glaubensakt, der mich das Risiko eingehen ließ, sie für unwirklich zu halten. - Das war für mich übrigens immer auch ein Bild des christlichen Glaubens: Gegen allen Augenschein habe ich einfach geglaubt, was meine Mutter sagte. (Fs)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 3; Wirklichkeit als gemeinsame Welt (Heraklit); Leibniz (Monade) - Thomas (Engel); cogito, sum (Subjektivität als objektive Wirklichkeit; Bsp.: Patient Schmerzen); interner - metaphysischer Realismus

Kurzinhalt: Die Situation, wo ein seiner selbst bewußtes Subjekt sich als Gegenstand des Wissens anderer weiß, ist kein ... Ausnahmefall, der nicht als Modell für unser Verhältnis zur Wirklichkeit dienen kann, sondern sie ist das Paradigma unseres Wirklichkeits...

Textausschnitt: II. Die wirkliche Welt ist die gemeinsame Welt

15b Aber was heißt hier: „wirklich"? Wann ist etwas nicht geträumt? Heraklit sagte: „Im Traum hat jeder seine eigene Welt. Im Wachen haben wir eine einzige und gemeinsame Welt". Wenn ich mit einem Freund eine Bergwanderung mache und unterwegs bei einem Hüttenwirt einkehre, und es stellt sich später im Gespräch mit dem Freund heraus, daß er mit mir eine solche Wanderung nicht gemacht hat, und im Gespräch mit dem Hüttenwirt, daß bei ihm niemand eingekehrt ist, der mir oder meinem Freund ähnlich sah, dann muß ich die Wanderung wohl geträumt haben. Diesem negativen Kriterium entspricht indessen kein positives. Denn die positive Auskunft der beiden könnte ja ihrerseits wieder Teil des Traumes sein. Noch unwahrscheinlicher ist es, daß Freund und Hüttenwirt mit mir das Entsprechende zu dem erlebt haben, was ich mit ihnen erlebte, aber daß sie dieses Erlebte ihrerseits geträumt haben. Diesen Fall schließen wir von vorneherein wegen Unwahrscheinlichkeit aus, es sei denn, wir seien Anhänger von Leibniz' Theorie der prästabilierten Harmonie, wonach alle wirklichen Wesen, alle Monaden, fensterlos sind und nur in der Immanenz ihrer privaten Vorstellungen leben, aber da Gott diese inneren Programme aller Monaden vollkommen aufeinander abgestimmt hat - denn er ist es, der die Programme gemacht hat -, macht es keinen Unterschied, ob wir in diesem Zusammenhang von Traum oder Wirklichkeit sprechen. Vollständig koordinierte Träume sind von einer Wirklichkeit füreinander transparenter Wesen nicht unterscheidbar. Übrigens hat Leibniz diese Theorie direkt abgeschrieben von der Engellehre des hl. Thomas von Aquin. Thomas fragt sich, wie Engel etwas wissen können, was außerhalb ihrer passiert, und er sagt genau dies: Sie haben ein von Gott eingestiftetes Programm, das entsprechend der Wirklichkeit abläuft. Es handelt sich also um eine Übertragung der klassischen Engellehre auf jedes bewußte Wesen. (Fs)

16a Die wirkliche Welt, so sagte ich, ist die gemeinsame Welt. Das kann mißverstanden werden. Es kann so verstanden werden, als sei nur dasjenige wirklich, was von allen als wirklich erlebt und anerkannt wird. Das kann nicht sein. Denn es gibt bekanntlich Menschen, die vor der Wirklichkeit ihre Augen verschließen. Und es gibt, zum Beispiel in der Astrophysik, kontroverse Auffassungen über das, was es gibt und nicht gibt. Irgendwann entsteht vielleicht aufgrund neuer Beweise ein Konsens. Aber wir würden doch nicht sagen, daß die Wirklichkeit erst mit dem Konsens über sie entsteht. Nicht faktischer Konsens, sondern universelle Konsensfähigkeit ist charakteristisch für wahre Aussagen über das Wirkliche. Und wir halten etwas auch nicht deshalb für wahr, weil wir es für konsensfähig halten, sondern wir halten es für konsensfähig weil es wahr ist, also weil zum Beispiel ein Satz einer Wirklichkeit entspricht. Von neuem entgleitet uns also, was wir mit „wirklich" meinen, bzw. was wir damit ausschließen wollen. (Fs)

16b Ausschließen wollen wir zunächst den Traum und die Einbildung, also jene Seinsweise einer Sache, die sich nur endogen, also als Idiosynkrasie dessen erklären läßt, der die Sache oder den Sachverhalt vorstellt, also dasjenige, dessen Sein in seinem Objektsein aufgeht. Bloße Objekte sind auch dann, wenn über sie Konsens besteht, nicht wirklich. (Fs)

16c Aber geht diese Behauptung nicht zu weit? Ich sagte, etwas sei wirklich, wenn es nicht für einige, sondern für alle objektiv ist. Und nun sage ich, es sei nicht wirklich, wenn es überhaupt nur objektiv ist, also wenn sein Sein nur besteht im Objektsein für Subjekte. Ich will erklären, was ich meine:

17a Stellen wir uns einen Menschen vor, der auf dem Sterbebett liegt. Er ist unfähig, noch irgendwelche Äußerungen von sich zu geben, die auf das schließen lassen, was in ihm vorgeht. Um ihn herum steht ein Ärztekonsortium. Aufgrund des Erscheinungsbildes und der medizinischen Meßdaten sind sich die Ärzte in der Überzeugung einig, daß der Patient keine Schmerzen hat und daß er nicht mehr hört, was um ihn herum gesprochen wird. Der Patient hat indessen wohl Schmerzen, und er hört auch, was die Ärzte über ihn sagen. Er weiß also, daß sie sich irren, aber er kann das nicht äußern, ehe er stirbt. Nehmen wir an, der Fall dieses Patienten beschäftige weiterhin die medizinische Wissenschaft. Die Daten werden mehrfach neu analysiert, aber am Ende kommt die scientific community zu dem Schluß, der Mensch sei tatsächlich nicht mehr imstande gewesen zu hören und Schmerzen zu empfinden zu dem Zeitpunkt, als das Konsortium sich mit ihm befaßte. Unter den lebenden Menschen und insbesondere den Wissenschaftlern herrscht also einstimmiger Konsens. Aber es ist ein Konsens über das Falsche. Denn was wirklich stattfand, wußte allein derjenige, der jetzt nicht mehr lebt. Es gibt also die Wahrheit, aber niemand weiß sie mehr. (Fs)

17b Man könnte einwenden: Fühlen und Hören sind etwas Subjektives, aber keine objektive Wirklichkeit. Aber ein solcher Einwand spielt mit dem Begriff des Subjektiven, so als sei das Subjektive nur relativ und irgendwie weniger wirklich. Schmerzen empfinden und Hören sind subjektive Ereignisse. Aber sie sind zugleich streng objektiv und absolut in dem Sinne, daß sie zwar nur von einem Menschen erlebt werden, daß die Tatsache dieses Erlebens aber eine Wirklichkeit ist, die für das Urteil aller Menschen verbindlich ist, die überhaupt darüber urteilen. Daß ich Schmerzen habe, kann zwar nur ich mit letzter Sicherheit wissen, aber das heißt nicht, daß es nur wahr für mich wäre. Wenn jemand sagen würde: „Ich erlebe dich anders, als du dich erlebst. F Was fügt denn dieses „sum", dieses „ich bin", dem „cogito", der Feststellung „ich denke", hinzu? Es fügt hinzu, daß mein „ich denke" nicht nur ein „ich denke, daß ich denke, daß ich denke" und also nur für mich wahr ist, sondern daß diese meine Subjektivität eine objektive Wirklichkeit ist ür mich hast du keine Schmerzen", so würde ich ihm antworten: „Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie du oder sonst jemand mich erlebt oder welche wissenschaftlichen Feststellungen jemand über mich trifft. Die Wahrheit über meine Schmerzen kann nur ich wissen. Aber diese Wahrheit ist deshalb nicht eine Wahrheit nur für mich, sondern für jeden". (Fs)

17c Das ist übrigens die Bedeutung des „sum" im cartesischen „cogito, sum". Was fügt denn dieses „sum", dieses „ich bin", dem „cogito", der Feststellung „ich denke", hinzu? Es fügt hinzu, daß mein „ich denke" nicht nur ein „ich denke, daß ich denke, daß ich denke" und also nur für mich wahr ist, sondern daß diese meine Subjektivität eine objektive Wirklichkeit ist - und das meinen wir mit Personen: Eine objektive Wirklichkeit, die für jedes wahre Urteil maßgebend ist. (Fs)S (notabene)

18a Diese Unterscheidung zwischen dem „ich denke" und dem „ich bin" hat allerdings nur Sinn, wenn der Raum der Wirklichkeit größer ist als der Raum meines Bewußtseins. Und das ist er nur, wenn es noch andere Wesen gibt, für die es wahr ist, daß ich Bewußtsein habe. Wenn es nur meine Welt gäbe, dann könnte man diesen Satz streichen. Dann hätte es auch keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn dann wäre alles so, wie es mir scheint, weil es gar nichts von außerhalb gibt. Dann ist nur das der Fall, von dem ich erlebe, daß es der Fall ist. Wenn es aber noch andere gibt, dann gilt nicht das gleiche. (Fs) (notabene)

18b Man könnte einwenden, daß ich hier einen Grenz- und Ausnahmefall einführe, einen Fall, in dem das Objekt, über das wir uns verständigen, selbst ein Bewußtseinssubjekt ist. Normalerweise sei Wirklichkeit gleichbedeutend mit Objektivität. Objekte würden als Objekte gewußt, erlebt, beobachtet. Natürlich seien sie nicht das, als was ein Einzelner sie erlebt. Sie sind gemeinsame Gegenstände, die jeder von einer anderen Seite sieht. Aber diese Perspektivität kann selbst wieder von uns reflektiert werden und in den Begriff der Sache eingehen. Die Wirklichkeit ist dann Gegenstand eines unendlichen Prozesses der Forschung. Aber es hat, so ist die Meinung, keinen Sinn von einer Wirklichkeit jenseits jeder möglichen Gegenständlichkeit zu sprechen. Man nennt diese Position gelegentlich „internen Realismus" im Gegensatz zum „metaphysischen Realismus". (Fs)

18c Im Bezug auf andere Personen, mit denen wir über die Wirklichkeit sprechen, sind wir allerdings unvermeidlich metaphysische Realisten - insbesondere dann, wenn wir uns klarmachen, daß wir selbst ja die anderen der anderen sind. Und wir selbst können nicht im Ernst denken, daß wir in der Gegenständlichkeit für andere aufgehen. Die Wirklichkeit meiner Freude oder meines Schmerzes ist zwar etwas, worüber andere wissen und sprechen können, aber sie bleibt immer meine Freude und mein Schmerz -jenseits alles dessen, was von anderen darüber jemals gewußt werden kann. Ich habe darüber einmal ein Gespräch mit Hilary Putnam gehabt, der, glaube ich, der Erfinder der Unterscheidung von „metaphysischem Realismus" und „internem Realismus" ist und habe ihm dieses Beispiel vor Augen gestellt, in dem ich das Objekt des Redens anderer bin. Und ich weiß ja in einem absoluten Sinne, ob das wahr ist oder nicht. Putnam sagte, dies sei ein Ausnahmefall, da gelte das nicht. Meine These ist nun: Dies ist kein Ausnahmefall, sondern der paradigmatische Fall, an dem wir überhaupt lernen, was Erkenntnis ist. Die Situation, wo ein seiner selbst bewußtes Subjekt sich als Gegenstand des Wissens anderer weiß, ist kein Grenz- oder Ausnahmefall, der nicht als Modell für unser Verhältnis zur Wirklichkeit dienen kann, sondern sie ist das Paradigma unseres Wirklichkeitsverhältnisses und unseres normalen Begriffs von Wahrheit. (Fs)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 4; Entgegensetzung von Objekt und Subjekt -> Verlust d. Wirklichkeit; Selbstbewußtsein (cogito) - Selbstvergegenständlichung (sum)

Kurzinhalt: Objekte, die nur Objekte sind, haben nur subjektives Sein... Die absolute Selbstgewißheit des Bewußtseins ist nur ein punktuelles, ausdehnungsloses „Ich denke jetzt"... Die Subjektivität wird sich objektiv als zeitliche - und zwar als Subjektivität.

Textausschnitt: III. Subjekte und Objekte

19a Die Rede von Subjekten und Objekten als zwei prinzipiell entgegengesetzten selbständigen Seinsbereichen geht an der Wirklichkeit vorbei. Genauer gesagt: Diese Sicht bringt so etwas wie Wirklichkeit überhaupt zum Verschwinden. Objekte, die nur Objekte sind, haben nur subjektives Sein. Sie sind nur wirklich als Gegenstände für ein Subjekt. Es macht keinen Unterschied, ob sie geträumt oder dem Wachbewußtsein gegeben sind, da sie ja nichts jenseits ihres Gegebenseins sind. (Fs) (notabene)

19b Aber können wir umgekehrt so etwas wie reine Subjektivität „wirklich" nennen? Das cartesische „Cogito" ist inhaltsleer, weil es nur instantan ist. Die absolute Selbstgewißheit des Bewußtseins ist nur ein punktuelles, ausdehnungsloses „Ich denke jetzt". Und schon dies kann nicht ausgesprochen werden, denn wenn es ausgesprochen wird, ist bereits Zeit vergangen. Ich müßte also sagen: „Ich habe gedacht". Aber diese Erinnerung ist nicht mehr unmittelbares Selbstbewußtsein, sondern bereits eine Selbstvergegenständlichung. Die Erinnerung an einen Schmerz ist nicht selbst dieser Schmerz. Der erinnerte Schmerz ist zum Objekt geworden. Aber er wird ja zugleich als der eigene Schmerz und nicht wie der Schmerz eines anderen erinnert. Die Subjektivität wird sich objektiv als zeitliche - und zwar als Subjektivität. Dies wiederum ist die Bedingung dafür, daß Subjekte einander objektiv werden. Wir können nur füreinander als Subjekte sichtbar werden, weil wir schon für uns selbst in unserem eigenen Lebensvollzug uns selbst objektiv werden. Die Subjektivität wird sich objektiv als zeitliche - und zwar als Subjektivität. Dies wiederum ist die Bedingung dafür, daß Subjekte einander objektiv werden können und zwar nicht so, daß ich für den anderen Objekt werde, sondern so, daß ich als Subjekt Objekt bin, das heißt Inhalt des Erlebens oder des Denkens und Wissens eines anderen. (Fs) (notabene)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 5; Person: zeitübergreifendes objektives Subjekt; Trinitätslehre, Schwierigkeit: Gott als singulär Person; Dreiergespräch (mehr als im Dialog): Personen als Subjekte objektiv

Kurzinhalt: Personen sind nur im Plural wirklich, nämlich als füreinander objektive Subjektivitäten... Aber erst die Dreierbeziehung bringt das Wesen von Personalität zum Vorschein - weshalb auch die Liebe zweier Menschen ihre volle Gestalt erst gewinnt in ihrer ...

Textausschnitt: 19c Nur weil Subjekte sich selbst in der Erinnerung objektiv werden, können sie einander objektiv werden, ohne als Subjekte zu verschwinden. Nicht das punktuelle, inhaltslose, instantane „Cogito" ist wirklich. Wirklich sind Subjekte nur als zeitübergreifende objektive Subjekte, das heißt als Personen, als Personen mit einer Biographie, die sich konstituiert sowohl aus der eigenen Erinnerung als auch aus der Erinnerung anderer. Personen sind nicht instantane Subjektivitätspunkte. Das instantane Selbstbewußtsein ist vielmehr erst das Resultat der Reflexion eines Subjektes, das Resultat einer Rückkehr aus den vielen erlebten Inhalten zu sich selbst. Primär ist, wie Leibniz bemerkte, nicht das „Cogito" des Descartes, sondern primär ist das Erlebnis: „Varia a me cogitantur" - nicht der abstrakte Punkt des „ich denke", sondern die Vielheit von Inhalten, die erlebt werden. (Fs; tblStw: Person) (notabene)

20a Vor allem aber: Personen sind nur im Plural wirklich, nämlich als füreinander objektive Subjektivitäten. Wir müssen bedenken, daß die Anwendung des Personbegriffs auf Gott - erstmals bei Tertullian - in der Trinitätslehre geschieht, also so, daß gesagt wird, Gott sei drei Personen. Gott als Person denken, führt in große spekulative Schwierigkeiten, wenn man ihn als singuläre Person denkt, weil es singuläre Personen gar nicht geben kann. (Fs) (notabene)

20b Dabei ist die Zahl drei von exemplarischer Bedeutung. Wir pflegen die Bedeutung des Dialogs zu überschätzen. Im Dialog sprechen zwei Personen miteinander, und sie sprechen über etwas. Das, worüber sie sprechen, nennen wir den Gegenstand, das Objekt. Im Dreiergespräch verhält es sich anders: hier kann immer einer den Dialog der beiden anderen objektiv beobachten und dann im nächsten Augenblick selbst wieder in ihn eintreten. Und umgekehrt: Zwei können sich über den dritten unterhalten. Sie können ihn als Subjekt objektivieren. Sie können sich fragen, was er gemeint hat und warum er etwas gesagt hat, aber er selbst kann jederzeit den Mund aufmachen und sich selbst interpretieren. Die Rollen des Womit und des Worüber des Gesprächs sind ständig austauschbar, weil Personen als Subjekte objektiv sind. Aber erst die Dreierbeziehung bringt das Wesen von Personalität zum Vorschein - weshalb auch die Liebe zweier Menschen ihre volle Gestalt erst gewinnt in ihrer Objektivierung als Institution, das heißt als Realität für alle, und im Kind. (Fs) (notabene)

Kommentar (06.09.2015), zu oben "Dreiergespräch"; s. dazu Bauman, xy; von Spaemann wird mir klar, was mir bei der Lektüre von Bauman, XY, unklar war.

20c Und ihr geht in der Regel die verbale Objektivierung in Liebeserklärungen und Treueschwüren voraus. Eine Liebe, die als bloßes Gefühl in der Innerlichkeit zweier Personen verschlossen bleibt, hat noch nicht eigentlich Wirklichkeit gewonnen. Unausgesprochene Gefühle sind noch in einem virtuellen Bereich, im Bereich der Potentialität. Erst als ausgesprochenes gewinnt das Gefühl objektive Realität. (Fs)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

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Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 6; Gegebenheitsweise anderer Personen als Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt; Kant: "Ding an sich" (Voraussetzung dafür: praktivische Vernunft: personale Freiheit); Aristoteles: Leben als Sein d. Lebewesen

Kurzinhalt: Wieso kommen wir dazu, dem, worüber wir sprechen, ein Sein zuzusprechen, eine Wirklichkeit jenseits dessen, was das Begegnende für uns ist und als was wir es erfahren? ... die Kommunikation von Personen. Personen geben einander zu verstehen ...

Textausschnitt: 21a Nachdem ich gezeigt habe, daß Personen füreinander wirklich sind, steht nun noch die Begründung der These aus, die Gegebenheitsweise anderer Personen sei das Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt. Wieso kommen wir dazu, dem, worüber wir sprechen, ein Sein zuzusprechen, eine Wirklichkeit jenseits dessen, was das Begegnende für uns ist und als was wir es erfahren? Gibt es dafür noch einmal eine Basis in der Erfahrung selbst? (Fs) (notabene)

21b Es gibt eine solche Basis, und das ist die Kommunikation von Personen. Personen geben einander zu verstehen, daß sie selbst noch etwas jenseits dessen sind, als was sie sich zeigen. Der Schmerz des anderen ist nicht mein Schmerz. Zu einer absoluten Gewißheit aber wird uns diese Differenz dort, wo wir selbst diejenigen sind, zu denen und über die gesprochen wird. Ich mag mir einbilden, der andere sei nur mein Traum. Ich kann von mir nicht denken, ich sei nur der Traum des anderen. (Fs)

21c Dieses Bewußtsein liegt jeder Anerkennung von Wirklichkeit jenseits der Gegenständlichkeit für uns zugrunde. Es lag auch dem kantischen Begriff eines „Dinges an sich" zugrunde, der in der Kritik der reinen Vernunft zwar leer bleibt, in der Kritik der praktischen Vernunft aber einen konkreten Inhalt gewinnt, und der kann kein anderer sein als: personale Freiheit. Aber es ist klar, daß dieser Inhalt bereits die Voraussetzung dafür war, daß der Gedanke eines „Dinges an sich" jenseits jeder möglichen Erfahrung überhaupt gefaßt werden konnte. (Fs) (notabene)

21d Dieser Schritt von unserer Selbsterfahrung zur Wirklichkeitserfahrung überhaupt ist uns am unmittelbarsten verständlich, wo es sich um höher entwickelte Tiere mit zentralem Nervensystem handelt. Wir billigen diesen Tieren Subjektivität zu. Darum reden Menschen zu Tieren, und darum gibt es Tierschutzgesetze, die der rücksichtslosen Objektivierung von Tieren Grenzen setzen. Wir betrachten sie als „wirklich", wir billigen ihnen „Sein" jenseits ihres Objektseins zu. Wir beanspruchen nicht, wissen zu können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Aber wir setzen voraus, daß es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, während es nicht irgendwie ist, ein Auto oder ein Computer zu sein. Das heißt, wir erkennen der Fledermaus „Sein" zu. Dieses Sein, das sie mit uns gemeinsam hat, heißt „Leben". „Leben", schreibt Aristoteles, „ist das Sein der Lebewesen". Leben, wie wir es selbst erfahren, ist nicht ein bestimmter komplexer Zustand von Materie. Ich erfahre mich nicht als Zustand von etwas, das nicht Mensch ist. Der Mensch ist, um mich wieder aristotelisch auszudrücken, lebendige Substanz, also eigentliche und primäre Wirklichkeit, von der vielerlei Zustände existieren können, die aber selbst nicht Zustand, sondern basaler Träger und Inbegriff von Zuständen ist. Und so auch, nehmen wir an, die Fledermaus. Wir billigen ihr Leben, also Selbstsein zu. (Fs)

22a Es ist nicht von ungefähr, daß ich in diesem Zusammenhang von „zubilligen", „anerkennen" usw. spreche. Wir sahen ja schon: Sein im Sinne von Wirklichkeit ist nicht ein empirisches Datum. Es zwingt sich nicht auf. Um es zu realisieren, bedarf es eines freien Aktes der Vernunft. Das muß nicht ein ausdrücklicher und reflektierter Akt sein, aber in diesem Erlebnis steckt schon Freiheit: die Möglichkeit, meine Zentralstellung aufzugeben und zu sehen, daß es außerhalb meiner ein Selbstsein gibt, das nicht durch Objektsein für mich definiert ist. Nur in einem Akt der Anerkennung ist die Person als Person gegeben. Aber das gilt für jede Wirklichkeitserfahrung in gewisser Weise. Ich muß eine Fledermaus nicht als wirklich betrachten, nicht als Lebewesen mit Subjektivität, das nicht nur von mir angesehen wird, sondern mich ansieht oder auf andere Art wahrnimmt. Ich kann es - wie die Cartesianer - als Maschine ansehen und die Schmerzäußerungen eines Tieres ebenso wie das Saufen des Pferdes oder den Freudentanz meines Hundes, wenn ich nach Hause komme, als Vorgänge, die sich von ihrer mechanischen Simulation nicht unterscheiden. Es gibt kein zwingendes Kriterium für die Wirklichkeit von Subjektivität. Aber es gibt gute Gründe dafür, solche anzunehmen, das heißt, nicht uns allein für lebendig zu halten, und es gibt deshalb eine moralische Mißbilligung derer, die die Anerkennung von Lebendigem als lebendig verweigern. Ontologie und Ethik sind nicht zu trennen. Liebe und Gerechtigkeit sind nicht möglich unter der Voraussetzung des Solipsismus, also unter der Annahme, daß die anderen Menschen und die anderen Lebewesen nur meine Träume sind. Menschlichkeit und Freude im Umgang mit Tieren sind nicht möglich, wenn Tiere nicht leben und erleben, das heißt wenn es nicht irgendwie ist, ein Tier dieser oder jener Art zu sein. (Fs) (notabene)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 7; A. - Anthropozentrismus (Hobbes); anthropomorpher Blickpunkt für außermenschliches Leben (auch unbelebte Materie: nicht bloß Objekt, sondern Mitsein); Teleologie (Buridan, Russel); Bewegung: Zukunft vs. Infinitesimalrechnung

Kurzinhalt: Die Wirklichkeit als sie selbst verstehen wollen, heißt, sie unter dem Aspekt größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit uns zu betrachten... Einen Körper zu einem Zeitpunkt t1 bewegt nennen, heißt, zu diesem Zeitpunkt bereits den Aufenthalt dieses ...

Textausschnitt: IV. Anthropomorphismus und Anthropozentrismus

22b Der bekannte Einwand lautet, man dürfe außermenschliches Leben nicht anthropomorph betrachten. Meine Antwort darauf lautet: Wir müssen es anthropomorph betrachten, wenn wir ihm gerecht werden wollen. Nur im Ausgang von bewußtem Leben, das wir selbst sind, können wir adäquat sprechen von nichtbewußtem Leben, von außermenschlichem Leben. Wir haben zu diesem Leben keinen direkten Zugang. Wir können es nur wie bewußtes Leben abzüglich des Bewußtseins betrachten. Descartes meinte: Abzüglich des Bewußtseins ist Leben nichts. Die Cartesianer quälten Tiere und hielten deren Schmerzäußerungen für mechanische Reaktionen. Aber das entspricht nicht unserer Erfahrung. Wenn wir uns dessen bewußt werden, daß wir in heiterer Stimmung sind, daß wir Hunger oder leichte Kopfschmerzen haben, erleben wir diese Stimmung, diesen Hunger oder diese Kopfschmerzen als etwas, das wir schon hatten, ehe es uns zu Bewußtsein kam. Gefragt, was denn der Hunger war, ehe er uns bewußt wurde, können wir natürlich nicht antworten. Denn nur der bewußte Hunger ist uns bewußt. Und doch ist es Teil dieses Bewußtseins, daß der Hunger schon vorher da war und daß er durch das Bewußtwerden erst in ein neues Stadium eintritt. Vorher war er etwas Ähnliches wie der bewußte Hunger, also der bewußte Hunger abzüglich des Bewußtseins. Das kann ich nur negativ ausdrücken, aber ich kann dafür keine positive Formulierung finden. Und so ist es richtig und die einzige Möglichkeit, über wirkliches, nicht menschliches, nicht bewußtes Leben anthropomorph zu sprechen und sich dieses Anthropomorphismus zugleich bewußt zu sein. (Fs)

23a Die Alternative zu dem so geschmähten Anthropomorphismus in der Biologie ist der Anthropozentrismus. Die moderne Welt ist wie keine zuvor anthropozentrisch. Auch das neue Umweltbewußtsein ändert nichts daran. Im Gegenteil: Indem alles außermenschliche Seiende als Umwelt definiert wird, wird es radikal auf den Menschen bezogen. Artenschutz hat mit Umweltbewußtsein etwas zu tun, weil die natürlichen Arten zum Reichtum unserer Welt gehören. Tierschutz hat damit im Grunde nichts zu tun, weil es in ihm um die Tiere selbst geht. Die moderne Wissenschaft ist anthropozentrisch. Sie fragt nicht nach dem, was wirklich ist und was deshalb den Charakter des Mitseins mit uns hat, sondern sie fragt danach, wie es uns als Objekt erscheint und wie es von uns manipulierbar ist. Eine Sache erkennen heißt, so schrieb schon einer der Väter des anthropozentrischen Denkens der neuzeitlichen Wissenschaft, Thomas Hobbes, „to know what we can do with it when we have it". Um zu wissen, was ich mit einer Sache machen kann, muß ich nicht wissen, was sie wirklich als sie selbst ist. Ich kann deshalb auf den Anthropomorphismus zugunsten der Anthropozentrik verzichten. Die Dinge, insofern sie pure Objekte sind, stehen dem Subjekt gegenüber, sie haben nichts mit ihm gemeinsam. Die Wirklichkeit als sie selbst verstehen wollen, heißt, sie unter dem Aspekt größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit uns zu betrachten. Die objektivierende Wissenschaft kennt am besten das uns Entfernteste, das Verhalten der einfachsten Elemente der unbelebten Materie. Und sie versucht, das uns Nächste und uns selbst als komplexe Kombination aus diesen Elementen zu verstehen. Je komplexer, desto schwieriger ist dieses Verstehen. Wie aus einer solchen Kombination sich ein Streichquartett von Beethoven oder die Formeln der Relativitätstheorie ergeben haben sollen, liegt noch in undurchdringlichem Dunkel. Wenn wir nicht objektive Bestände aufnehmen, sondern Wirklichkeit verstehen wollen, liegt die Sache genau umgekehrt: Wir verstehen das Streichquartett oder die Relativitätstheorie besser, als wie es ist, ein Bakterium zu sein, falls es überhaupt irgendwie ist. Wenn nicht, dann können wir hier gar nichts mehr verstehen, sondern nur noch objektive Daten registrieren. (Fs) (notabene)

24a Denn auch für die uns ferne, unbelebte materielle Welt gilt: Sie als wirklich betrachten, ihr so etwas wie Selbstsein zuerkennen heißt, sie unter dem Aspekt der Ähnlichkeit mit uns, also anthropomorph betrachten, nicht als Objekt, sondern als Mitsein. Der Versuch, darauf zu verzichten, hat eine lange Geschichte. Sie beginnt mit dem programmatischen Verzicht auf jede Teleologie in der Naturbetrachtung, also auf jeden Gedanken einer Zielgerichtetheit natürlicher Prozesse. Bacon erklärte, solche Betrachtungen seien unfruchtbar wie gottgeweihte Jungfrauen. Die Zeit, in der man gottgeweihte Jungfrauen schätzte, war für Bacon vorbei. Zielgerichtetheit setzt, so heißt es von Johannes Buridan bis zu Wolfgang Stegmüller, Bewußtsein voraus. Unbewußte Tendenzen soll es nicht geben können. Was übrig blieb, war ungerichtete Kausalität, Wirkursächlichkeit. Aber auch diese enthüllte sich als Anthropomorphismus, wie schon der späte Kant sah. Was eine Ursache ist, wissen wir nämlich primär nur aus der Erfahrung unseres eigenen Handelns. Daß eine Sache aus der anderen folgt, daß A die Ursache von B ist, das erleben wir, wenn wir selbst unseren Arm bewegen, und die Kugel rollt. Bertrand Russell forderte deshalb, auch den Begriff der Ursache fallen zu lassen. Auch der sei ein Anthropomorphismus. Was es gibt, seien Bewegungsgesetze der Natur, die sich in mathematischer Sprache ausdrücken lassen. (Fs)

24b Aber was ist Bewegung? „Die Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen", so sagt Aristoteles, oder auch „die Wirklichkeit des Könnens". Was Können heißt, wissen wir wiederum nur aus unserer Selbsterfahrung. Dasselbe gilt für den Begriff der Möglichkeit. Es gibt die Theorie der Megariker, die zuletzt von Nicolai Hartmann vertreten wurde, daß nur das Wirkliche möglich ist, weil nur dasjenige möglich ist, zu dessen Verwirklichung alle Bedingungen erfüllt sind, und wenn sie erfüllt sind, ist die Sache wirklich. Wenn wir etwas möglich nennen, was nicht wirklich ist, so haben wir es schon wieder mit einem Anthropomorphismus zu tun. Frei handelnd nennen wir den, der auf eine bestimmte Weise handelt, während es ihm möglich gewesen wäre, auch anders zu handeln. Wir können von Freiheit nur sprechen unter Verwendung des Begriffs der Möglichkeit. (Fs)

25a Und was nun die Bewegung betrifft: Einen Körper zu einem Zeitpunkt t1 bewegt nennen, heißt, zu diesem Zeitpunkt bereits den Aufenthalt dieses Körpers an einem anderen Punkt zu einem künftigen Zeitpunkt t2 antizipieren und dem Körper selbst diese Antizipation zuschreiben. Sonst können wir nicht sagen, was den bewegten Körper in einem bestimmten Augenblick vom unbewegten unterscheidet. Wir können es nur beschreiben, wenn wir eine Beschreibung des künftigen Status in die Definition des gegenwärtigen hineinnehmen und ihn dadurch als Bewegung charakterisieren. Es gibt keine instantane Bewegung. Das aber heißt: Wir sind schon wieder beim Anthropomorphismus, wenn wir von Bewegung sprechen. Wenn wir von Bewegung sprechen im Sinne der realen Möglichkeit eines Gegenstandes - der Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen, wie Aristoteles sagt -, dann gehen wir aus von unserer Erfahrung des realisierten Könnens eines Wesens, das auf etwas aus ist. (Fs)

25b Der neuzeitlichen Physik ist es gelungen, Bewegung mit Hilfe der Infinitesimalrechnung zu vergegenständlichen. Die neuzeitliche Infinitesimalrechnung erlaubte es zwar, auf diesen Anthropomorphismus zu verzichten, indem sie die Bewegung in eine unendliche Zahl eng beieinander liegender Ruhezustände zerlegt. Was Bewegung ist, ist damit nicht verstanden. Die Bewegung wird zwar berechenbar, sie wird zu einem Gegenstand mathematischer Naturwissenschaft, aber nur um den Preis, daß das Phänomen der Bewegung als solches eliminiert wird. Leibniz, einer der beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, hat das genau gewußt: Die physikalische Vergegenständlichung der Bewegung hat nur ein Konstrukt zum Gegenstand. Wirkliche Bewegung kann nur verstanden werden, wenn wir ihr einen „conatus", ein Streben zugrunde legen. Aber was Streben heißt, wissen wir wieder nur aus unserer Selbsterfahrung. Wenn wir diese nicht ins Spiel bringen, kommen wir nicht bis zur Wirklichkeit der Bewegung. (Fs) (notabene)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 8; Verschwinden der Person; Nietzsche: Identität als A.; Hume (Selbstsein - Empirismus, Euthanasie); Komplex v. Zuständen (R. Rorty) - jemand, der Z. hat; Platon: Analyse d. Dekadenz; Hedonismus - Verlust d. Wirklichkeit

Kurzinhalt: Der Mensch wird sich selbst zum Anthropomorphismus. Er ist das letzte Ding, das sich auflöst. Aber damit verschwindet auch der Anthropozentrismus ... Der Gedanke der Wirklichkeit verschwindet... kein Zufall, daß die Befürworter des Selbstmords, des ...

Textausschnitt: V. Das Verschwinden der Person

26a Und dasselbe gilt schließlich für das Bewegte. Bewegt sind Körper, Dinge als mit sich über eine gewisse Zeit hin identische Einheiten, von denen man sagen kann, daß sie sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten oder in verschiedenen Zuständen befinden. Nietzsche war wohl der erste, der darauf hinwies, daß auch die Idee solcher Einheiten, also die Idee von Dingen, ein Anthropomorphismus ist. Wir sind es, die sich als Einheiten erleben, als Einheiten, die über die Zeit hinweg ihre Identität bewahren. Wir erleben uns als Subjekte des Wollens und Handelns, die für ihre Handlungen Verantwortung tragen. Kinder schlagen den Tisch, wenn sie sich an ihm gestoßen haben. Aber wir tun dies in gewisser Weise alle, solange wir überhaupt von Dingen reden. Der Gedanke des Seins von Etwas ist unzertrennlich von dem Gedanken der Identität dessen, was ist. Und genau dieser Gedanke ist, wie Nietzsche meinte, ein fundamentaler Anthropomorphismus. (Fs) (notabene)

26b Wenn wir ihn allerdings einmal mit Bezug auf die Dinge verabschiedet haben, dann müssen wir ihn schließlich auch mit Bezug auf uns selbst verabschieden. Der Abschied vom Anthropomorphismus ist am Ende ein Abschied vom Menschen selbst, das heißt von der menschlichen Betrachtung des Menschen. Der Mensch wird sich selbst zum Anthropomorphismus. Er ist das letzte Ding, das sich auflöst. Aber damit verschwindet auch der Anthropozentrismus, der der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik zugrunde liegt. Das Resultat ist eine subjektlose, gleichgültige Welt von Gegenständen, die niemandes Gegenstände mehr sind. Der Gedanke der Wirklichkeit verschwindet. Nietzsche hat Humes Überzeugung zur Vollendung gebracht: „We never do one step beyond ourselves." Nur zeigt sich, daß der Gedanke des Selbst seinerseits schon einen Schritt über das Selbst hinaus voraussetzt, also Selbsttranszendenz. Das hat übrigens Hume auch schon gesehen. Er erklärt offen, daß er sich nicht zu den Menschen rechnen könne, die sich eines Ich erfreuen. Und zwar deshalb nicht, weil Selbstsein kein Zustand, keine empirische Eigenschaft, sondern dasjenige ist, oder besser derjenige bzw. diejenige, die sich in bestimmten empirischen Zuständen befinden. Für den Empirismus gibt es aber nur diese Zustände. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß die Befürworter des Selbstmords, des assistierten Selbstmords und der Euthanasie in der Regel aus dem Bereich des Empirismus kommen. Für sie gibt es nur Zustände, wünschenswerte und nicht wünschenswerte. Die nicht wünschenswerten, also Zustände des Leidens, sind zu beseitigen, und wenn das nicht anders möglich ist, dann durch die Beseitigung dessen, der leidet. Denn der Leidende hat nicht eigentlich eine Wirklichkeit, ein Sein, das etwas anderes wäre als die Gesamtheit der Zustände, in denen er sich befindet. Er ist nicht eigentlich jemand, der leidet, sondern er ist Leiden, das dahin tendiert, nicht zu sein. Und der Zustandskomplex tendiert kategorisch dahin, wenn das Leiden nicht aufgewogen wird durch Annehmlichkeiten. In diesem Fall ist es sinnvoll, den ganzen Zustandskomplex zu beseitigen. (Fs) (notabene)

27a Täuschen wir uns nicht. Die Konsequenzen dieser Auffassung mögen noch auf instinktive Abwehrreaktionen stoßen. Die Auffassung selbst findet inzwischen breite Akzeptanz. Was Heidegger „Seinsvergessenheit" nannte, ist so allgemein geworden, daß der pejorative Ausdruck kaum mehr verstanden wird. Aber wer sich selber nicht wirklich ist, dem ist nichts wirklich. Es gibt für ihn nur Zustände, nicht jemanden, dem diese Zustände angehören. Dem entspricht eine Gesellschaft, wie sie der amerikanische Neopragmatist Richard Rorty propagiert, eine Gesellschaft, in der „nichts wichtiger ist als Lust und Schmerz". (Fs)

Kommentar (11.09.2015) zu oben: Cf. Bauman, Sicherheit.odt, Kapitel: Utopia im Zeitalter der Ungewissheit

27b Tatsächlich sind Lust und Schmerz Erscheinungsweisen dessen, was die Alten Güter nannten, Erscheinungsweisen der Wirklichkeit des Lebens, das sich verwirklicht und steigert oder das bedroht und gefährdet ist. In diesen Erscheinungsweisen erlebt sich Leben. Platon hat ausführlich die Dekadenz einer Zivilisation analysiert, in der diese Erscheinungsweisen von dem abgekoppelt werden, was in ihnen zur Erscheinung kommt, also einer Erlebnisgesellschaft, in der es nur noch um die Herstellung von Erlebnissen geht und nicht um das, was erlebt wird, nicht um Wirklichkeit. Eine solche Zivilisation tendiert zur Selbstzerstörung. Sie bringt nämlich die Person zum Verschwinden und läßt nur abstrakte Erlebnissubjekte übrig, Subjekte ohne zeitliche Dimension, ohne biographische Identität. Der konsequente Hedonismus hebt sich, das hat Platon schon gewußt, selbst auf. Er kann so etwas wie dauerhaftes Wohlbefinden nicht sichern. Denn was will der Hedonist hören auf die Frage, ob ihm dieses oder jenes Vergnügen für die Zukunft schädlich sein wird oder nicht, also auf die Frage, was seinem langfristigen Wohlbefinden zuträglich oder abträglich ist? Will er eine wahre Antwort oder eine angenehme Antwort? (Fs) (notabene)

27c Angenehme Zustände partizipieren an der Wirklichkeit dessen, dessen Zustände sie sind. Sie sind ihrerseits wirklich, und insofern können Aussagen oder Annahmen über sie wahr oder falsch sein, sie können aber auch angenehm oder unangenehm sein. Wer das langfristig Angenehme wählt, muß seinem gegenwärtigen Luststreben Grenzen setzen. Epikur war ein Lehrer der Askese; der konsequente Hedonist aber verzichtet auf seine Identität mit dem, der er zukünftig sein wird. Er verzichtet auf seine Wirklichkeit als Person. Er will nichts sein, als sein gegenwärtiger angenehmer Zustand. Wir kennen das von Drogensüchtigen. (Fs) (notabene)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

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Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 9; Gefühle: intentionaler Charakter; Sokrates, Krätze; Spaß - Freude; Liebe: Öffnung für Wirklichkeit;

Kurzinhalt: In der Liebe realisieren wir, daß der andere ebenso wirklich ist wie wir selbst, und wir lernen uns selbst als Teil der Welt des anderen sehen ...

Textausschnitt: VI. Der intentionale Charakter der Gefühle

28a Die Fixierung auf den eigenen angenehmen Zustand, auf das eigene Gefühl verkennt nicht nur den funktionalen Sinn dieser Zustände, sie verkennt vor allem den intentionalen Charakter der Gefühle, also die Wirklichkeit, die sich im Gefühl offenbart. Das Wohlbehagen, die Lust dessen, dem es nur um das angenehme Gefühl geht und nicht um irgendetwas, an dem man seine Freude hat, illustriert Sokrates einmal mit dem Vergnügen dessen, der die Krätze hat und sich infolgedessen immer kratzen kann. Direkt intendieren können wir überhaupt nur körperliche Lustzustände, die insofern die niedrigsten sind als sie mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Depression durchaus zusammengehen. Auch mit dem was man „Spaß" nennt, kann man sich von Gefühlen innerer Leere ablenken. Es ist kein gutes Zeichen, daß das Wort „Spaß" derart im Vordringen ist, daß sogar Gottesdienste damit empfohlen werden, daß sie Spaß machen. Freude ist etwas anderes als Spaß. Freude hat nicht nur eine Ursache, sie hat einen Inhalt und variiert mit ihren Inhalten. Die Freude über einen Frühlingsmorgen ist nicht dieselbe wie die Freude an einer Bach-Partita und diese nicht dieselbe wie die Freude an einer anderen Bach-Partita, und die Freude an Martin Mosebachs Buch Die Türkin ist eine andere als die am Nebelfürsten. Das alles sind nicht Ursachen einer immer gleich bleibende Freude, sondern die Freude selbst ist eine andere. Freude ist immer Öffnung für Wirklichkeit. (Fs)

28b Diejenige Öffnung für Wirklichkeit, die der Wirklichkeit vollständig adäquat ist, nennen wir Liebe. Valentin Tomberg hat Liebe definiert als das Wirklichwerden des anderen für mich. In jener Liebe, die in der Sprache der Tradition amor benevolentiae hieß, hört der andere auf, Umwelt für mich zu sein, also ein vielleicht wichtiger Gegenstand, an dem ich hänge und der für mich große Bedeutung hat. In der Liebe realisieren wir, daß der andere ebenso wirklich ist wie wir selbst, und wir lernen uns selbst als Teil der Welt des anderen sehen, so wie er Teil unserer Welt ist. (Fs)

29a Auf einem Lastwagen sah ich einmal einen Aufkleber mit der Aufschrift „Denk an Deine Frau, fahr vorsichtig!" Das ist ein Ausdruck von Personalität. Die Sorge, vielleicht meine Frau zu verlieren, teile ich mit anderen Lebewesen. Aber die Aufforderung, mich selbst als Teil einer Welt des anderen zu betrachten und deshalb vorsichtig mit mir umzugehen - das ist eine typisch personale Sichtweise. (Fs)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

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Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 10; klassische Trichotomie: Sein, Leben, Denken; Heidegger: Zuhandene - Vorhandene; A.N. Whitehead

Kurzinhalt: ... Sein unterhalb des Lebens? Wir wissen nicht, was nicht bewußtes Leben ist, so wenig wir wissen, was nicht bewußter Hunger ist. Es ist bewußter Hunger abzüglich des Bewußtseins.

Textausschnitt: VII. Das Mitsein der materiellen Welt

29b In diesem letzten Sinne wirklich können uns nur Personen werden. Aber ich habe darauf hingewiesen, daß das Sein, die Wirklichkeit von Personen nicht Bewußtsein, sondern Leben ist und daß uns deshalb nicht nur alles Bewußte, sondern alles Lebendige als wirklich gelten muß. Die cartesische Zweiteilung der Welt in Bewußtsein und Materie, die durch Ausdehnung definiert ist, diese Zweiteilung hat zur Entwirklichung der Wirklichkeit geführt, weil in ihr das Zwischenglied verschwunden ist, das seit Platon das Reden über Wirklichkeit bestimmte: Leben. Sein, Leben, Denken war die klassische Trichotomie. Leben aber war das eigentliche Paradigma des Seins. Bewußtsein galt als Steigerung von Leben. „Wer nicht erkennt," schreibt Thomas von Aquin, „der lebt nicht vollkommen, sondern hat nur ein halbes Leben". Bewußtes Leben ist volles Leben, also volle Wirklichkeit. Unbewußtes Leben behält ein Moment von Unbestimmtheit, so wie unbewußte Gefühle, von denen es Sinn hat zu sagen, sie seien weniger wirklich als deutlich bewußte und sogar ausgesprochene. Es gibt Grade der Wirklichkeit. (Fs)

29c Wie aber verhält es sich mit dem Sein unterhalb des Lebens? Solches Sein kommt zunächst innerhalb des Lebenszusammenhangs vor, als Umwelt, als Nahrung, als Teil unserer Nahrung, als Material für die Herstellung einer Welt des „Zuhandenen", wie Heidegger es genannt hat. Und es kommt vor als Gegenstand der Physik und Chemie. Hat es Sinn, von einer Wirklichkeit dieser unbelebten Materie jenseits dessen zu sprechen, als was sie sich uns zeigt, also jenseits ihrer Gegenständlichkeit? Oder ist die physikalische Wirklichkeit nichts anderes als potentielle Realität, die ihre Wirklichkeit erst gewinnt, indem wir sie erkennen? Heideggers Sein und Zeit kennt dieses Jenseits nur als defiziente Form von Zuhandenheit. Was aus allen Lebensbezügen herausgefallen ist, ist das „nur noch Vorhandene". Die Kategorie des Mitseins scheidet hier aus. Aber ist das berechtigt? Das archaische Denken betrachtet die unbelebte Welt immer auch anthropomorph, also nach Analogie der belebten. Wasser und Feuer werden in den Psalmen zum Lob des Schöpfers aufgefordert, der hl. Franziskus spricht von Brüdern und Schwestern, wenn er die Elemente anspricht. Und in der Liturgie der katholischen Kirche wird in der Osternacht bei der Weihe des Taufwassers eine lange Rede gesungen, in der das Wasser angeredet wird. Ist das ein infantiles Relikt? Es ist ein solches Relikt, wenn wir uns entschließen, die unbelebte Materie für unwirklich zu halten, also für etwas, das darin aufgeht, für Lebewesen zuhanden oder aber Gegenstand der Wissenschaft zu sein. Wenn wir dem materiellen Sein Wirklichkeit in dem hier entfalteten Sinn zusprechen, dann sprechen wir ihm Mitsein zu und müssen auch ihm gegenüber neben der anthropozentrischen Rede die anthropomorphe als die wesentlichere zulassen, ja sogar verlangen. Übrigens geht es in dieser Rede immer um Elemente, um natürliche Dinge, nicht um Artefakte. Artefakte sind Objekte, nicht Mitgeschöpfe. Es ist nicht irgendwie ein Auto zu sein, darum kann das Auto Gott nicht loben. Der Mensch kann höchstens dafür danken. (Fs)

30a Der wohl bedeutendste Metaphysiker unseres zu Ende gegangenen Jahrhunderts, der englische Mathematiker und Physiker Alfred North Whitehead, hat auf höchstem Abstraktionsniveau eine solche anthropomorphe Redeweise entwickelt. Er begnügte sich nicht mit den unbewußten und unfreiwilligen Anthropomorphismen, die wir jederzeit anwenden, wenn wir von Dingen, von Identität, von Ursachen, von Möglichkeit, von Bewegung oder von Trägheit sprechen, das heißt also, wenn wir überhaupt sprechen. Er wußte, daß wir nur per analogiam sprechen können, wenn es sich um außermenschliche Entitäten handelt, sei es um Tiere, sei es um Moleküle, um Atome, um Elektronen oder um Quanten. Je weiter von uns weg, um so weniger können wir sagen, was das andere Glied der Analogie an sich selbst ist. Aber schon die Tatsache, daß wir von einem „an sich selbst" sprechen, ist ein Beispiel für analoges Reden. Wir wissen schon nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie es ist, ein Elementarteilchen zu sein, wissen wir noch weniger. Aber Whitehead geht davon aus, daß es irgendwie sein muß, falls wir berechtigt sind von Wirklichkeit zu sprechen. Denn Wirklichkeit ist nie nur Objektivität für Subjekte und nie bloß inhaltslose Subjektivität. Wirklich nennen wir etwas nur, wenn es eine, wenn auch noch so rudimentäre Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas „erlebt". Ausdrücke wie „Tendenz", „Erfüllung", ja sogar „Freude" mit Bezug auf die elementaren wirklichen Entitäten oder Ereignisse, die actual entities, wie Whitehead sagt, müssen natürlich so verstanden werden, daß alles im engeren Sinne Psychologische aus ihnen ferngehalten wird, alles, was wir mit bildhaften Vorstellungen füllen können. Wir wissen nicht, was nicht bewußtes Leben ist, so wenig wir wissen, was nicht bewußter Hunger ist. Es ist bewußter Hunger abzüglich des Bewußtseins. In einem ähnlichen abstrakten und formalisierten Sinne hatte aber schon Leibniz den Monaden der untersten Art „Perzeptionen" zugesprochen und diese unterschieden von bewußten „Apperzeptionen". Was heißt das? Apperzeptionen sind erlebte Einwirkungen. Aber was überhaupt Einwirkungen von etwas auf etwas sind, können wir nur denken, wenn wir von erlebten Eindrücken ausgehen und dann das Erleben abziehen. Wenn wir unbelebtem Seienden Wirklichkeit zusprechen wollen, dann können wir das nur, indem wir das Sein dieses Seienden als etwas dem Leben Ähnliches bestimmen, von dem wir bestimmte für Leben charakteristische Phänomene wie den Stoffwechsel abziehen, so wie wir Leben verstehen müssen als bewußtes Leben, von dem wir das Bewußtsein abziehen. Wirkliches Sein ist Mitsein oder es ist nicht wirklich. (Fs)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

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Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 11; Beziehung als eigentlich Wirkliches; Omne quod recipitur secundum modum recipientis recipitur; Wirklichkeit als Beziehung

Kurzinhalt: Jede Person ist für sich wirklich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerkennung.

Textausschnitt: VIII. Die Beziehung als eigentlich Wirkliches

31a Darin liegt nun ein Paradox. Bisher schien es so, daß das ontos on, wie die Griechen sagten, also das wirklich Seiende, dasjenige ist, was etwas als es selbst und für sich selbst ist, also jenseits seiner Gegenständlichkeit für anderes. Das Paradigma für solche Jenseitigkeit war unsere Selbsterfahrung, also die Erfahrung, daß wir selbst jemand sind jenseits alles dessen, als was wir anderen erscheinen. Nun hat es schon hiermit einen Haken. Es ist nämlich keineswegs so, daß wir selbst immer am besten wissen, wer wir sind. Andere können und müssen uns häufig über uns selbst aufklären, angefangen damit, daß sie uns von unserer Geburt erzählen, daß sie uns an Ereignisse erinnern, die wir selbst erlebt, aber vergessen haben, bis hin zu Deutungen unseres Verhaltens, in denen wir nicht umhin können, uns wieder zu erkennen, obwohl es uns vielleicht unangenehm ist. Vor allem aber: Jenes Selbstbewußtsein, das es uns erlaubt, uns von allem zu distanzieren, als was wir anderen erscheinen, ist selbst nicht denkbar ohne eben jene anderen. Erst durch andere Personen lernen wir, unser eigenes Personsein zu aktualisieren. Erst mit Hilfe der Sprache entsteht Selbstbewußtsein, und erst durch die Anerkennung als „jemand" durch andere „jemande" gewinnen wir elementare Selbstachtung bzw. jene natürliche und fundamentale Selbstliebe, ohne die es keine Liebe geben kann. Das heißt, nur durch den Blick anderer werden wir uns selbst sichtbar und wirklich. Das Wirkliche ist also nicht das Beziehungslose, es ist nicht das aus jeder Beziehung herausgelöste, isolierte Glied einer Beziehung. Das Wirkliche ist die Beziehung selbst. Und das Einzigartige von Personen liegt darin, daß sie nicht nur in Beziehung stehen, sondern die Beziehung realisieren und sich deshalb selbst relativieren und mit den Augen des anderen sehen können - wenigstens versuchsweise. Diese Selbstrelativierung und Selbsttranszendenz ist es, die jede Person zu etwas Absolutem macht. Jede Person ist für sich wirklich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerkennung. Die Beziehung selbst ist das Wirkliche. Ich erlebe etwas so und so, es ist möglich, daß ich mich irre, daß meine Perspektive die Realität verzerrt und anderen nicht gerecht wird. Das ändert nichts daran, daß das Erleben selbst, daß also die Verzerrung der Wirklichkeit ihrerseits wirklich ist. Nun verändert aber jede Rezeption das Rezipierte. „Omne quod recipitur secundum modum recipientis recipitur", sagt ein scholastisches Adagium, „Alles, was aufgefaßt wird, wird auf die Weise des Auffassenden aufgefaßt". Aber das Wort „verändert" ist eigentlich unangemessen. Denn es suggeriert, eine Sache sähe vor ihrem Wahrgenommenwerden anders aus als in der Auffassung des Wahrnehmenden. Das aber setzt voraus, die Sache sähe vor aller Wahrnehmung und unabhängig von ihr überhaupt irgendwie aus. Das Wort „aussehen" setzt schon den Blick von jemandem voraus, für den etwas so oder so aussieht. Es hat keinen Sinn zu sagen, unabhängig von der Betrachtung durch irgendwelche Subjekte sieht die Sache so oder anders aus. Aussehen ist wesentlich auf Sehen bezogen. So hätte es keinen Sinn, von Gestalten, von Körpern, von Mustern zu sprechen, wenn es nicht so etwas wie Gestaltwahrnehmung gäbe. Gestalten, aber auch die Muster auf der Oberfläche von Reptilien, Fischen und Vögeln, denen Adolf Portmann solche Aufmerksamkeit schenkte, sind daseinsrelativ auf mögliche Wahrnehmung. Es hat keinen Sinn zu sagen, es gäbe sie auch jenseits und unabhängig davon. Umgekehrt ist aber auch die Sinnesorganisation von Lebewesen darauf hingeordnet, etwas als Gestalt wahrzunehmen. So wenig wie ich das Gesehene ohne Sehen beschreiben kann, so wenig kann ich Sehen ohne Gesehenes beschreiben. (Fs) (notabene)

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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

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Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 12; Daseinsrelativität: nicht relativistisch; Wirklichkeit: polare Struktur (Gestalt - Wahrnehmung, Zahlen - Gedachtwerden; Werte - Fühlen); Reduktionismus; Liebe, Person: Beziehung - Selbstsein; Kunst (Verlust d. Wirklichkeit)

Kurzinhalt: Was es gibt, sind ... Farben und deren Wahrnehmung, Zahlen und deren Gedachtwerden, Werte und deren Gefühltwerden. Beide Seiten aber haben ihre Wirklichkeit jeweils nur in dieser Beziehung aufeinander... Aber der Preis für diesen Reduktionismus ist ...

Textausschnitt: IX. Das Eigentümliche des Menschen

33a Es wäre nun ganz falsch, diese Daseinsrelativität relativistisch zu interpretieren, also so, als ob Gestalten etwas, wie man sagt, „nur Subjektives" seien, etwas von Wahrnehmenden Konstruiertes. Was es gibt, sind Gestalten und deren Wahrnehmung, Farben und deren Wahrnehmung, Zahlen und deren Gedachtwerden, Werte und deren Gefühltwerden. Beide Seiten aber haben ihre Wirklichkeit jeweils nur in dieser Beziehung aufeinander. Es hat deshalb ebenso wenig Sinn zu sagen, die Gesetze der Mathematik und der Logik seien Produkte der menschlichen Psyche, wie es Sinn hat zu sagen, diese Gesetze würden auch dann existieren, wenn es überhaupt kein Denken gäbe. Wirklich ist jeweils das Ganze dieser polaren Struktur. Wirklich sind Farben und Töne, weil Sehen und Hören wirklich sind, aber Sehen und Hören sind nur wirklich, weil Farben und Töne wirklich sind. Wirklich ist jedes noch so ephemere Ereignis der oikeiosis, der Aneignung eines objektiven Gehaltes durch einen subjektiven Pol. (Fs) (notabene)

33b Das verkennt der Reduktionismus. Er reduziert die eine Seite der polaren Struktur auf die andere. Er ist monistisch. So glaubt er zum Beispiel, eine evolutionstheoretische Erklärung könne uns sagen, was Bewußtsein und Erkenntnis sind. Aber solche Erklärungen sind immer zirkulär. Sie setzen Gestalten voraus, zum Beispiel die des tierischen und des menschlichen Gehirns, sie setzen Kausalität voraus. Mutation und Selektion sind ja kausale Prozesse. Und dann nehmen sie diese Kategorien in Anspruch, um mit ihrer Hilfe Gestaltwahrnehmung und das Entstehen der Kategorie der Kausalität zu erklären. Das heißt, sie können das Entstehen der Kategorie gar nicht erklären, ohne diese Kategorien bereits in Anspruch zu nehmen. Aus der Wirklichkeit einer Beziehungsstruktur von Gestalt, von Bild und Wahrnehmung wird ein reduktionistisches Verfahren, in dem die eine Seite dieser Beziehung zum Epiphänomen und die andere allein als wirklich erklärt wird. Aber der Preis für diesen Reduktionismus ist die Zirkularität, die stillschweigende, unbewußte Voraussetzung dessen, was man beweisen wollte. Butlers Satz „Everything is what it is, and not another thing" kann nur befolgt werden, wenn als das eigentlich Wirkliche die Beziehung verstanden wird. Im Begriff der Person aber kommt dieser Gedanke erst zur Vollendung, weil in der gegenseitigen Anerkennung und in der Liebe von Personen die Beziehung von der Art ist, daß sie das in dieser Beziehung Stehende als jemanden, und das heißt als Selbstsein jenseits aller Beziehung konstituiert. (Fs; tblStw: xy) (notabene)

34a Die Glieder dieser Beziehung sind relativ aufeinander. Aber die Beziehung selbst ist das Wirkliche. Und sie als das Wirkliche, also Wirklichkeit als Wirklichkeit auffassen zu können, ist das Eigentümliche des Menschen. Es ist die höchste Form von geistiger Aktivität, Selbsttranszendenz. Es ist ein ganz falscher Gedanke, etwas werde um so adäquater erkannt, je passiver der Erkennende sich verhält. Wir wissen das doch aus dem gegenseitigen Verhältnis von Menschen. Ich kann nicht hoffen, dem Wesen eines anderen Menschen näherzukommen, wenn ich von mir selbst nichts investiere. Ich bleibe dann ganz an der Oberfläche. Wenn ich aber etwas investiere, wenn ich mich selbst in diese Beziehung einlasse, dann trägt die Erkenntnis natürlich die Spuren des Erkennenden, sie ist eine sehr persönliche. Aber anders ist Erkenntnis von Wirklichkeit nicht zu haben. (Fs)

34b Ich möchte schließen mit einem Ausblick auf die bildende Kunst und ihre Rolle in einer Epoche sich zurückziehender Wirklichkeit. Jahrhunderte lang, wenigstens seit dem 17. Jahrhundert, war die europäische Kunst Illusionskunst. Entscheidend war die Einführung der Zentralperspektive in der Malerei. Das gleiche gilt auch für die Architektur und die Bildhauerei. Die Säulen unserer Barockkirchen sind in der Regel nicht aus Marmor, sondern sie sollen so aussehen, als wären sie aus Marmor. Und die Skulpturen, die so lebendig wirken, sind oft hohl und haben keine Rückseite. Die Kunst war es, die den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat. Aber die Kunst ist es nun auch, die als erste auf diesem Weg Verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt. In einer immer virtueller werdenden Welt übernimmt sie es, die Kostbarkeit des Seins darzustellen. Was bedeutet es, wenn in der Zeit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, wo das Original von der Simulation immer weniger unterscheidbar ist, die Authentizität des Originals eine geradezu magische Bedeutung gewinnt, eine Bedeutung, die nur mit der der „Gültigkeit" von Sakramenten vergleichbar ist? Diese Gültigkeit beruht ja auf der sinnlichen Realität einer Berührung, die auf der lückenlosen Folge von Handauflegen bis hin zum Stifter beruht. Die Authentizität des Kunstwerks beruht auf der originalen Berührung dieses Stückes Leinwand durch diesen Künstler. Bei der zu einem Osterhasen umgeschmolzenen Kaiserkrone von Beuys hängt alles daran, daß sich diese Geschichte wirklich zugetragen hat. Denn ansehen kann man sie dem Hasen nicht. In einer immer mehr den Schein kultivierenden Welt übernimmt die Kunst in Umkehrung des traditionellen Verhältnisses die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins, das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat. (Fs; tblStw: Reduktionismus)

35a Beim verchromten Stab von ca. 1000 m Länge, den Walter de Maria anläßlich einer Kasseler Documenta in die Erde versenkt hat, sieht man die Schnittfläche des Stabes, eine kleine silberne Scheibe auf dem Boden. Das andere sieht man nicht, wie in dem Claudius-Gedicht: „Seht ihr den Mond dort stehen? -/ Er ist nur halb zu sehen/ und ist doch rund und schön./ So sind wohl manche Sachen,/ die wir getrost belachen,/ weil unsere Augen sie nicht sehn". Nicht was man sieht, ist das Wesentliche, sondern worauf es ankommt, ist, von der Wirklichkeit des versenkten Stabes zu wissen, die durch diese kleine Scheibe repräsentiert wird. Worauf es ankommt, ist, die Aktivität des Betrachters, der sich das, was er nicht sieht, ausdrücklich zu Bewußtsein bringt. Auch hier übernimmt die Kunst eine quasi sakramentale Funktion. Und es ist die große Frage, ob die Kunst sich damit nicht übernimmt und nicht auf einer Fährte ist, die nicht ihre eigene ist, weil ihr eigentliches Wesen das Sichtbarmachen ist. Aber um nachzuvollziehen, was sich hier vollzieht, ist es sinnvoll, diese Beispiele ins Auge zu fassen, weil sie wirklich das imitieren, was das Sakrament tatsächlich tut. Die Kunst macht etwas unsichtbar, damit es als wirklich erinnert wird. In einer virtuellen Welt, einer Fassadenwelt, übernimmt sie es, die verlorene Wirklichkeit als unsichtbare zu vergegenwärtigen. Denn nur als unsichtbare ist die Wirklichkeit unzerstörbar. (Fs) (notabene)

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