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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Johannes-Paul II.; Wojtyla; totalitäres System - Wahrheit

Kurzinhalt: Wojtyla hat in diesen Jahren nicht nur die Wahrheit gesagt, sondern in der Wahrheit gelebt: der Wahrheit, die das totalitäre Ökosystem jener Jahre regelmäßig in den Strukturen der Lüge zu ersticken suchte. Und dank dieser inneren Freiheit wurde er ...

Textausschnitt: 31b Wenn die grundlegenden Werte auf dem Spiel standen, gab es nichts mehr zu diskutieren: Dann galt es, die Wahrheit zu bezeugen. Wenn man nicht mehr frei atmen kann, so dachte Wojtyla, dann gibt es nur einen Weg, zu überleben: die Wahrheit nicht zu verraten, die man in seinem Inneren trägt, denn die Verteidigung und der Schutz dieser inneren Wahrheit ist die einzige Form der Freiheit, die für den Menschen wirklich wesentlich ist. Wojtyla hat in diesen Jahren nicht nur die Wahrheit gesagt, sondern in der Wahrheit gelebt: der Wahrheit, die das totalitäre Ökosystem jener Jahre regelmäßig in den Strukturen der Lüge zu ersticken suchte. Und dank dieser inneren Freiheit wurde er niemals Opfer irgendeiner Art von Sklaverei — auch nicht jener Formen der Sklaverei im Kleinen, denen so viele in seiner Umgebung sich unterwarfen, um, wie sie sagten, weitermachen zu können. Wer ihn aus jenen Jahren erzählen hörte, dem wurde bewusst, mit welch außergewöhnlicher Eleganz er die Last trug, die wir alle auf die eine oder andere Weise tragen müssen: die Last, Mensch zu sein. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Reagan, Johannes Paul II.; Kommunismus, Breschnew; Glasnost, Perestroika; Werte, Menschenrechte

Kurzinhalt: Der Kommunismus ist damals nicht untergegangen, weil die Vereinigten Staaten den Kalten Krieg gewonnen hätten ..., sondern weil ein Mann der Religion, ein Papst, ein Mann aus dem Osten das Gewissen von Ost und West auf dem allgültigen Altar der ...

Textausschnitt: Reagan, Johannes Paul II. (eü)

34d Für Reagan war der Kommunismus das Reich des Bösen, der materielle Feind Amerikas. Er war für ihn die militärische Konkretisierung all dessen, was dem amerikanischen Ideal widersprach. Deshalb benutzte er stets eine sehr leidenschaftliche, geradezu artilleristische Sprache — Ausdruck einer kriegerischen Feindseligkeit —, um das amerikanische Volk zum Kampf gegen jene Macht aufzurufen, die die personifizierte Verneinung aller demokratischen und freiheitlichen Ideale war: die Sowjetunion. Wie anders sollte man die Errichtung des Raketenabwehrschilds oder die Absicht erklären, Europa mit Kurzstreckenmis-siles zu militarisieren? (Fs)

34e Johannes Paul II. hingegen war seit seiner ersten Polenreise 1979 davon überzeugt, dass es in der sowjetischen Frage nicht primär um ein antiwestlich eingestelltes Volk, sondern um eine totalitäre und unterdrückende Diktatur ging, die die Slawen tyrannisierte. Andererseits sah er die Angelegenheit in erster Linie aus der Sicht eines Polen. Für ihn war der Kommunismus keine Frage von Ideen, sondern von Rechten, die mit Füßen getreten wurden. Für Reagan ging es darum, die freien Bürger gegen die unterdrückende Gewalt des großen ideologischen Feindes zu mobilisieren. Und für Johannes Paul II. darum, dass die Nationen des Ostens sich von der kommunistischen Diktatur befreien mussten. Reagans Politik war von der Vorstellung eines westlichen Sieges inspiriert, während Wojtyla das nationale Selbstbewusstsein der slawischen Völker am Herzen lag, denen der sowjetische Totalitarismus gleichsam die Luft abschnürte. (Fs)

35a Im Grunde war Reagans These nichts Absonderliches, sondern stieß damals in fast ganz Westeuropa auf Zustimmung. Die Idee von Wojtyla hingegen erschien unrealistisch, ja geradezu subversiv: Nur wenige verstanden und praktisch niemand teilte sie. In beunruhigend vielen Kanzlerämtern hörte man gebetsmühlenartig wieder und wieder denselben Satz: "Gewiss, die Teilung Europas, wie sie in Jalta zustande gekommen ist, ist ein Unrecht, aber sie hat den Frieden ermöglicht. Die Berliner Mauer ist der Preis, den man für dieses Ergebnis zahlen muss." (Fs)

Diese Betrachtungsweise war logisch, jedoch bei näherem Hinsehen unmenschlich. Ihre Unvereinbarkeit mit den Vorstellungen von der Menschenwürde, die Johannes Paul II. als Professor entwickelt hatte und die er nun bei jeder sich bietenden Gelegenheit mutig vertrat, hat sich mir geradezu ins Gedächtnis eingebrannt. Der Papst hatte seine ganze Strategie darauf ausgerichtet, seine Landsleute für die grundlegenden und scheinbar völlig unpolitischen Prinzipien der Anthropologie und Ethik zu sensibilisieren. Das ist der Schlüssel zum Verständnis seines unermüdlichen Eintretens für die Rechte der religiösen Ausdrucksfreiheit und jenes eindringlichen Appells, der mir noch heute in den Ohren klingt: "Mensch des Ostens, sei du selbst!" (Fs)

35b Mit den Jahren wuchs in Johannes Paul II. zum einen die Überzeugung, dass dieser menschliche, personale und kulturelle Feldzug der richtige Weg war, und damit zum anderen auch der Wunsch, seine ethische Einstellung in aller Klarheit und Ausführlichkeit so zu artikulieren, dass deutlich wurde, worin sie sich von der der anderen unterschied. Vor allem aber wollte er sich von Reagans politischem und ideologischem Feldzug abgrenzen und das nicht ideologische, sondern philosophische, anthropologische und religiöse Profil seiner Ostpolitik herausstellen. (Fs)

36a All dies zeigte sich auf der Reise, die uns 1987 in die Vereinigten Staaten führte und bei der er wieder einmal mit Präsident Reagan zusammentraf. Dieser empfing ihn am Flughafen von Miami, wo sie lange miteinander sprachen. Natürlich brachte Reagan Wojtyla große Bewunderung entgegen. Und ich erkannte, dass diese Bewunderung aufrichtig war. Doch im selben Moment erkannte ich auch — nicht zuletzt am Stil und an den Gesten der beiden Männer - die gewaltige Entfernung, die ihre Missionen voneinander trennte. (Fs)

36b Das, was ich damals gelernt habe, hilft mir noch heute, wenn ich mir ein Urteil über die öffentliche Meinung als solche bilden muss. Sowohl Johannes Paul II. als auch Ronald Reagan verfügten über außerordentliche kommunikative Fähigkeiten. Sie waren es gewohnt, im Rampenlicht zu stehen und konnten mit ihrem persönlichen Charisma die Massen mitreißen. Doch das Ziel, das Johannes Paul II. vor Augen hatte, war nicht Amerika oder der Antikommunismus und im Grunde auch nicht irgendeine idealisierte libertäre neokapitalistische Gesellschaft: Sein Ziel war die absolute und transzendente Würde der menschlichen Person. Wenn dieser höchste Wert zu einem politischen Ziel wird, kann man sich nicht mehr mit bilateralen Verträgen und Verhandlungen begnügen. Dann ist das einzig akzeptable Resultat die reale Anerkennung der Rechte und die konkrete Unterstützung des Gemeinwohls. (Fs) (notabene)

36c Für Reagan waren die Welt, die Personen und die Völker nichts weiter als ein großes Schachbrett voller Figuren, auf dem er seine eigene politische Partie ausfocht. Auch die Menschenrechte und die mit Füßen getretenen Freiheiten waren nichts anderes als Machtinteressen, die auf dem Spiel standen. Und über Werte konnte man verhandeln wie über alles andere auch - notfalls indem man humanitäre Hilfe zugestand oder verweigerte. (Fs)
37a Nichts von alledem hatte auch nur das Geringste mit dem Denken und Fühlen Johannes Pauls II. zu tun. Mit derselben Einfachheit, mit der er hinter einem Politiker immer auch die Zerbrechlichkeit und Größe einer wirklichen Person sah, war er auch imstande, in einem Volk eine Gesamtheit von Bürgern und Familien zu sehen, denen keine demokratische oder kommunistische Politik ihre Würde, Freiheit und Hoffnung nehmen durfte. Die Kapitalismuskritik, die sich kurze Zeit später in der 1991 promulgierten Enzyklika "Centesimus annus" Bahn brach, kristallisierte sich schon damals mit extremer Klarheit in ihm heraus und zeigte sich in seinem Verhalten, das heißt in der konkreten Praxis und authentischen Menschlichkeit seiner Beziehungen zu den anderen. (Fs)

37b Damals begann, ohne dass wir es bemerkten, der Boden unter unseren Füßen zu wanken. Es war, als ob ein unterirdischer Fluss die auf Gewalt fußende architektonische Statik der beiden gegnerischen Blöcke unterspülte. Tatsächlich hat die öffentliche Meinung erst 1989 begriffen, wie sich der Großeinsatz des Papstes auch auf all die anderen internationalen Begegnungen ausgewirkt hatte. Natürlich bereitete man große Reformen vor, auch wenn Perestroika und Glasnost zumindest für mich schon seit einem Jahr eine bekannte Realität waren — seit ich 1988 mit Casaroli nach Moskau gereist war und Gorbatschow uns im Kreml empfangen hatte. Aber es ging eindeutig um mehr. Hätten wir abwarten müssen, bis die Stunde der Diplomatie schlug, dann wäre vielleicht bis auf den heutigen Tag alles unverändert geblieben. Womöglich hätte sich dann sogar die Prophezeiung erfüllt, dass der Kommunismus niemals untergehen würde. Doch der Umschwung hatte bereits begonnen — und wie! Gorbatschow hatte die Botschaft Johannes Pauls II. wirklich verstanden. Er hatte gespürt, dass in seinem und in Wojtylas Herzen dieselben slawischen Saiten vibrierten und von demselben Bogen in Schwingung versetzt wurden: dem ethischen Gewissen. (Fs)

37c Ich erinnere mich noch daran, wie beeindruckt ich war, als ich im Jahr darauf während des Treffens zwischen Gorbatschow und dem Papst im Vatikan feststellte, dass der einst völlig idealistische und vielleicht sogar utopische Plan Johannes Pauls II. nun im Begriff war, über jede Strategie und jede Kanzlerbehörde zu siegen - und die Regierenden der Welt sahen mit offenen Mündern zu. Und auch als die ganze Welt zur Beerdigung Johannes Pauls II. auf dem Petersplatz zusammenströmte, musste ich an alle diese Dinge denken. (Fs)

38a Der Kommunismus ist damals nicht untergegangen, weil die Vereinigten Staaten den Kalten Krieg gewonnen hätten oder weil der Raketenschild die kriegerischen Träume des großen Russland hätte zerplatzen lassen, sondern weil ein Mann der Religion, ein Papst, ein Mann aus dem Osten das Gewissen von Ost und West auf dem allgültigen Altar der Menschenrechte vereint hatte. (Fs) (notabene)

38b Und am Ende des Jahrzehnts erwies sich Reagan, aus historischer Sicht der Sieger, als ebenso besiegt wie Breschnew, weil er zwar viele politische Ideale, ein unbestreitbar geniales Gefühl für die Stimmungen des amerikanischen Volkes und ein großes Yankee-Charisma, nicht aber die eigentlich mächtige Waffe besessen hatte, über die Johannes Paul II. in jener Zeit verfügte: die Macht der universalen anthropologischen Werte und den unerschütterlichen Glauben an die menschliche Person als solche. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Mutter Teresa, Johannes Paul II.; Spiritualität, emotionale Leere; Ölberg, Lebensweg, Entscheidung, Ungewissheit, Leiden

Kurzinhalt: Interessant ist jedoch vor allem die Erkenntnis, dass ein solches existentielles Engagement immer mit Ungewissheit einhergeht. Einer Ungewissheit, die so wesentlich ist, dass sie für jeden zum entscheidenden Prüfstein wird.

Textausschnitt: Mutter Teresa (eü)

54c Auch für Mutter Teresa war der Besuch Johannes Pauls II. von ungeheurer Bedeutung. Das war das Erste, worüber wir miteinander sprachen, als sie 1990 nach Rom kam und wir in meinem Büro erneut zusammentrafen: die Kalkutta-Reise des Papstes und das Wichtige, was wir dort erlebt hatten. Im Gedanken an die vielen Kranken, die seither dort in ihren Armen gestorben waren, deutete sie den Sinn der Begegnung mit Johannes Paul II. unvermittelt mit einem leisen Hauch von Ironie: Sie habe "im Lauf der Jahre über 20 000 Personen eine Fahrkarte zum heiligen Petrus ausstellen können". (Fs)

Danach zeigte ich ihr einige Fotos von ihr und dem Papst; sie blickte auf und lächelte mich an, und ich begriff, dass sie gerne eines davon haben wollte. Ihre Freude darüber, diese konkrete Erinnerung mitnehmen zu dürfen, hat mich tief beeindruckt. (Fs)

54d 1993 traf ich wieder mit Mutter Teresa zusammen: während des Albanienbesuchs, dem wenige Monate später ein weiteres Treffen in Rom folgte — unser letztes. Ich erinnere mich, dass ich ihr bei dieser Gelegenheit eine ziemlich direkte Frage gestellt habe; ich fragte sie, was sie einer Mitschwester sagen würde, die darüber nachdächte, den begonnenen Weg zu verlassen. Sie antwortete ohne Zögern: "Ich würde sagen: 'Hab keine Angst, jetzt bist du mit deinem leidenden Bräutigam zusammen am Ölberg... Geh weiter, gib nicht auf!'" Damals ahnte ich noch nicht, dass dies vielleicht genau der Satz war, mit dem sie sich selbst in den Phasen der inneren Trockenheit jahrelang Mut zugesprochen hatte. (Fs)

55a Vielleicht verbirgt sich hinter einer so tiefen und so feinsinnigen Antwort der letzte Sinn ihrer Drangsal, die eigentliche Bedeutung jener spirituellen Situation, jener bitteren inneren Dürre, unter der Mutter Teresa viele Lebensjahre lang gelitten hat. (Fs)

55b Dieses Phänomen ist den Mystikern aller Epochen wohlbekannt: Plötzlich bleibt der Inhalt jener Wahrheiten, an die man glaubt und die dem eigenen Dasein einen Sinn geben, in der Gefühlswelt ohne Widerhall. Diese trostlose emotionale Leere führt sogar dazu, dass man die einzige Wahrheit, für die man sein Leben geben würde, infrage stellt. Angelus Silesius nannte dies die "Finsternis der Seele", und Mutter Teresa benutzte hierfür die poetische Sprache, die wir bei Johannes vom Kreuz oder Therese von Lisieux bewundern können und die ihr zutiefst vertraut war. (Fs)

55c Natürlich war ihre religiöse Überzeugung nicht leicht zu verstehen, denn sie war gegen alle Banalität und Oberflächlichkeit gefeit. Mutter Teresa wusste sehr genau, dass die existentielle Erfahrung eines jeden Menschen schwierige Zeiten und Phasen großer Trockenheit und Trostlosigkeit durchmacht. All das ist jedoch kein Zeichen für einen Mangel an Glauben, sondern für das normale — oder, wie in ihrem Fall, vielleicht auch heroische - Opfer, das jeden erwartet, der versucht, seine eigenen Pflichten und Entscheidungen mit letzter Konsequenz zu leben. Und das betrifft nicht nur die besonderen Standespflichten einer Ordensberufung. (Fs)
55d Ob ein beliebiger Daseinsweg außergewöhnlich und reich wird, hängt immer davon ab, ob man sich für ein großes Lebensideal entscheidet und engagiert: ob man etwas im eigentlichen Sinne als ein "Muss" erkennt, dem man zu gegebener Zeit seine ganze Existenz unterordnet und viele andere, hier und da vielleicht sogar attraktivere und angenehmere Chancen opfert. (Fs; tblStw: Trostbuch) (notabene)

55e Was es mit diesem verlustgeprägten Existenzstatus auf sich hat, erfahren wir aus den Schriften zahlloser Menschen, die ihren Heroismus in mühseligem Kampf gelebt und in brillanter Weise geschildert haben - und die dadurch berühmt geworden sind. Interessant ist jedoch vor allem die Erkenntnis, dass ein solches existentielles Engagement immer mit Ungewissheit einhergeht. Einer Ungewissheit, die so wesentlich ist, dass sie für jeden zum entscheidenden Prüfstein wird. (Fs) (notabene)

56a Auch Leibniz hat erkannt, dass weniger das Übel und das Leid als vielmehr ihr Fehlen den Menschen in eine Krise stürzt. Jede Wertentscheidung setzt nämlich den Entschluss voraus, sich mit aller Konsequenz sein Leben lang für ein Ideal einzusetzen, das eben nicht von blasser Zufriedenheit, sondern vom Leiden inspiriert ist — einem Leiden, das in der Tiefe des eigenen Selbst erfahren wird und über die Gegenwart hinaus auf das hin ausgerichtet ist, das man letztlich sein will. (Fs)

56b Muss man also aus Mutter Teresas Briefen, die all das bezeugen, den Schluss ziehen, dass ihr Lächeln — jenes Lächeln, das ich immer auf ihrem Gesicht gesehen habe — unecht, dass ihre Lebensentscheidung nicht aufrichtig, dass ihre Lebensweise heuchlerisch war?
Ich glaube nicht. (Fs)

56c Ich glaube eher, dass Mutter Teresas inneres Klagen — ein Klagen an die Adresse ebenjenes Gottes, den zu "fühlen" ihre Gefühle sich weigerten — uns allen bewusst macht, wie unwegsam der Weg zur Vollendung der eigenen Authentizität bisweilen sein kann. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Komapatien, Koma, Bioethik; Freiheit, personale Würde

Kurzinhalt: Wird ein früherer Wille in der Gegenwart aktiviert — und das gilt beispielsweise auch für eine Patientenverfügung —, dann besteht die Gefahr, dass wir einem Subjekt, das frei war und es nun nicht mehr ist, Gewalt antun: Gewalt hinsichtlich der ...

Textausschnitt: Komapatient (eü)

82b Es scheint, dass die bioethischen Fragen in letzter Zeit im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nach dem traurigen Schicksal von Eluana Englaro haben wir es nun mit einer ganzen Reihe von Fällen zu tun, die elementare ethische Bezugssysteme und damit die Grundfesten unseres gemeinsamen Denkens und unserer Zivilisation erschüttern. Aktuell dreht sich die Debatte um den zugegeben ungewöhnlichen Fall einer Frau aus Vigevano: Sie wünscht sich ein Kind von ihrem Mann, der einen schweren Gehirntumor hat und im Koma liegt. Nach einigen eher skeptischen Reaktionen — nicht, was die technische Durchführbarkeit, sondern was die ethische Rechtmäßigkeit ihres Ansinnens betrifft — meldete sich Professor Severino Antinori zu Wort und erklärte sich bereit, den Eingriff kostenlos durchzuführen. Wie wir gehört haben, handelt es sich darum, "die Gameten des Mannes, der im Koma liegt, zu entnehmen und in die Oozyten der Frau zu injizieren." (Fs)

82d Von den im engeren Sinne operativen Fragen und den möglichen Folgen einmal abgesehen, scheint auf dem Gebiet der Bioethik eine plötzliche Beschleunigung eingetreten zu sein, die allerdings meist nicht mit der nötigen Klugheit, das heißt mit einer korrekten und rationalen Abwägung der Konsequenzen einhergeht. Während man nämlich noch bis vor einigen Jahren anlässlich des Fortpflanzungsgesetzes darüber diskutierte, ob die Reagenzglaszeugung ratsam sei oder nicht, geht es derzeit immer häufiger um Menschen, die nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind, ihre eigene Freiheit auszuüben. (Fs)

83a Wenn uns die Erfahrung eines lehrt, dann, dass man den Ereignissen solange Zeit geben muss, bis sie in einer angemessenen Sprache und mit den geeigneten Worten ausgedrückt werden können. Bei näherem Hinsehen stellen wir nämlich fest, dass wir es hier gar nicht mehr mit einer bioethischen Frage im klassischen Sinne, sondern mit einer technischen Bewertung aus dem Labor zu tun haben. Wir alle sind aufgerufen, uns mit Aspekten der persönlichen Freiheit und des Lebens auseinanderzusetzen, die noch gar nicht gründlich durchdacht worden sind. Nicht einmal dazu reicht die Zeit. (Fs)

83b Es scheint zuweilen, dass alles mit einer gewissen Hast erledigt werden soll und man nicht abwarten kann, bis man mehr über das weiß, was man da tun will. Im vorliegenden Fall wird die persönliche Freiheit eines Menschen gleichsam aus der Vergangenheit in den Zeugenstand gerufen, um etwas darüber auszusagen, was dieser Mensch gewollt hätte — auch wenn er dem heute nicht mehr zustimmen, geschweige denn es aus eigener Kraft tun kann. Abgesehen von den Interessen einiger Ärzte, die solche Fälle menschlichen Leidens nutzen, um wichtige medizinische Resultate zu erzielen, ist und bleibt es sehr schwierig einzusehen, was an einem solchen Gebrauch der Hoffnung und der Freiheit vernünftig sein sollte. Wie viele von uns waren schon einmal in der emotionalen Situation, beschwören zu können, dass sie etwas Bestimmtes niemals tun würden — und haben es dann doch getan? Wie viele von uns haben sich nicht nach einem üppigen Mittagessen schon einmal geschworen, nie wieder Süßes zu essen, und standen nur wenige Stunden später mit Köstlichkeiten beladen an der Kasse einer Konditorei? (Fs)
83c Es hängt davon ab! Und dieses Abhängen von der Zufälligkeit der Dinge ist das Wesen unserer Selbstbestimmtheit. Die Freiheit nämlich drückt sich nur dann wirklich aus, wenn jemand die Möglichkeit hat, seine Meinung zu ändern und das Gegenteil von dem zu tun, was zuvor vereinbart war. Alles andere ist Notwendigkeit, ist Verpflichtung. Ist weder Willkür noch Wahl. Die Freiheit einer Person außerhalb ihres eigenen Bewusstseins ausüben zu wollen, ist deswegen so paradox, weil wir damit diese Unbestimmtheit des Handelns in gewisser Weise unterdrücken und zu etwas machen, was zwangsläufig von anderen bestimmt wird. Auf die in diesem Fall vorgebrachte Behauptung, es sei der ursprüngliche Wunsch des heute komatösen Mannes gewesen, Kinder zu haben, muss man erwidern, dass dieses Argument nur dann gilt, wenn angenommen werden kann, dass der Patient von seinem Kinderwunsch derart überzeugt war, dass er ihn als eine für alle Zeiten unumstößliche Notwendigkeit und damit nicht mehr wirklich als eine Frage der Freiheit empfunden hat. (Fs)

84a Wenn man hingegen die Freiheit eines Menschen anerkennen will, muss man akzeptieren, dass diese Freiheit nur für die Gegenwart und nur dann geltend gemacht werden kann, wenn der Betreffende bei Bewusstsein und zurechnungsfähig ist, dass sie aber niemals zu einem anderen Zeitpunkt und in einer anderen Situation von einem anderen eingeräumt oder ausgedrückt wird. Deshalb ist ja beispielsweise auch ein Testament in dem Moment anfechtbar, wo bewiesen wird, dass der Verfasser nicht imstande war, etwas zu beabsichtigen oder zu wollen, dass er gefügig gemacht oder bedroht und mithin gezwungen worden ist, so über seine Besitztümer zu verfügen, wie dort niedergelegt. (Fs)

84b Wird ein früherer Wille in der Gegenwart aktiviert — und das gilt beispielsweise auch für eine Patientenverfügung —, dann besteht die Gefahr, dass wir einem Subjekt, das frei war und es nun nicht mehr ist, Gewalt antun: Gewalt hinsichtlich der Möglichkeit, jetzt etwas anderes zu wollen, als es zu einem früheren Zeitpunkt mündlich oder schriftlich geäußert hat. (Fs) (notabene)

84c Was hingegen die materiellen Güter betrifft, so liegt es auf der Hand, dass man auf ein Testament zurückgreifen muss. Und so schreibt es ja auch die Gesetzgebung aller Länder vor, damit diese Güter nicht verschwendet oder zerstört werden. Man akzeptiert dies unter Vorbehalt, weil man weiß, dass kraft eines nicht mehr überprüfbaren Willens das Erklärte gesetzlichen Verfahren unterzogen werden kann, die der Erklärung ihre Legitimität entziehen. (Fs)

85a Eine Patientenverfügung oder die mögliche Ausübung der Freiheit eines anderen bezieht sich allerdings nicht auf materielle Güter, sondern auf direkte, persönliche Aspekte des Lebens. An diesem Punkt wird das Ganze beunruhigend und paradox. Denn die materiellen Güter leben nicht und lassen sich, wenn sie nicht zerstört oder vergeudet werden, in jedem Fall an andere weitergeben. Doch wer soll bei der Geburt eines Kindes oder der Entscheidung, einen Patienten sterben zu lassen, die endgültige Verantwortung für die persönlichen Konsequenzen übernehmen, die sich daraus ergeben? (Fs)

85b Man muss vorsichtig sein. Selbst ein Philosoph wie Habermas ist unschlüssig, was die Last der Verantwortung betrifft, die ein freier Mensch in einem solchen Fall für einen nicht mehr freien Menschen auf sich nimmt: einen Menschen, der nichts mehr bestimmen und damit auch keine echte Verantwortung mehr für sein eigenes, geschweige denn ein fremdes oder gar ein ungeborenes Leben übernehmen kann. (Fs)

85c Statt hastig eine neue Möglichkeit nach der anderen auszuprobieren, wäre es für den Menschen derzeit eher ratsam, diese neuen Möglichkeiten erst einmal zu bewerten und gründlich nachzudenken: über das, was in den vergangenen Monaten geschehen ist, und über die Chancen, die wir haben, besser und vernünftiger mit den sich abzeichnenden allerneuesten Entwicklungen umzugehen. Als Leitlinie könnte das "rechte Maß" des Aristoteles dienen, das uns lehrt, einem Komapatienten weder seine personale Würde abzusprechen noch ihm eine Freiheit zuzubilligen, die er gar nicht mehr ausüben kann. Vielmehr sollten wir uns eingestehen, dass wir es mit Personen zu tun haben, die trotz ihres komatösen Zustands in jeder Hinsicht Menschen bleiben: Menschen mit einer uneingeschränkten Würde, die jedoch schlichtweg nicht in der Lage sind, ihre Freiheit auszuüben - auch dann nicht, wenn sie diese Freiheit vor Jahren auf ihre Frau hätten übertragen wollen, um ein Kind mit ihr zu zeugen. (Fs) (notabene)
86a Es sieht tatsächlich so aus, als wäre die Anthropologie lehr viel nuancenreicher als vermutet. Und sehr viel riskanter. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Zölibat; Kirchenrecht: Ivo von Chartres, Gratian; Konzil von Granada-Elvira; gregorianische Reform; Grundproblem: Angst vor Endgültigkeit

Kurzinhalt: Wo ein wirklicher Anlass zur Endgültigkeit fehlt, liegt es auf der Hand, dass sich in den Ergebnissen einer freien Entscheidung — selbst der für die Ehe oder für einen Beruf— nur wenig ändern kann.

Textausschnitt: Zölibat (eü)

104d Die jüngsten Äußerungen des Präfekten der Kongregation für den Klerus Claudio Kardinal Hummes über den Zölibat haben für Aufsehen gesorgt. Dabei ist es keineswegs skandalös, wenn jemand darauf hinweist, dass der Zölibat kein Dogma, sondern eine institutionelle Entscheidung ist. Und die Aussage, die Kirche sei "nicht unbeweglich, sondern ändert sich dort, wo sie sich ändern muss", ist erst recht nicht skandalös. (Fs)
104e Schließlich hat der französische Kirchenrechtler Ivo von Chartres schon Anfang des zwölften Jahrhunderts im Prolog zu seinem berühmten Werk "Panormia" dieselbe These vertreten, und Gratian hat sie in seinem "Decretum", also jenem Opus, auf dem das gesamte Kirchenrecht aufbaut, wiederaufgegriffen. (Fs)

105a Es gibt nicht viele unabänderliche Gesetze der Kirche, tatsächlich sind es vielleicht sogar nur ganz wenige, und zu ihnen gehört das Gebot der Liebe, aber nicht das Gesetz des Zölibats. Der Bedeutung dieser Institution tut dies jedoch keinen Abbruch, sondern steigert sie eher noch. Deshalb hat auch Benedikt XVI. die Leiter der Dikasterien der römischen Kurie noch einmal nachdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Sitte des priesterlichen Zölibats aufrechtzuerhalten, während sich Bischof Milingo zur gleichen Zeit automatisch die Exkommunikation latae sententiae einhandelte. Wie Ratzinger schon als Kardinal in seinem Interviewbuch "Salz der Erde" erklärt hatte, muss der Priester schon in diesem Leben für seine eigene Entscheidung Zeugnis geben und daher auf die Ehe und die natürliche Fortpflanzung verzichten. Mit dieser Enthaltsamkeit wird die Ehe nicht abqualifiziert; vielmehr geht es um einen Verzicht "auf das, was das menschlich eigentlich nicht nur Normalste, sondern auch Wichtigste ist". Der religiöse Charakter des Priestertums, so fährt der Papst fort, führt dazu, das auszulassen, "was normalerweise eine menschliche Existenz erst erwachsen und zukunftsträchtig macht". (Fs)

105b Mit dem Zölibat geht der Priester mithin die Verpflichtung ein, ein neues Leben zu führen. (Fs)

Wenn wir die Geschichte der Institution des Zölibats nachzeichnen wollen, müssen wir zwar nicht gerade bis zu den Aposteln, aber doch sehr weit in die Vergangenheit zurückgehen. Die Apostel nämlich wurden aus dem Familienstand heraus, in dem sie sich bereits befanden, in die Nachfolge des Meisters gerufen. Ausdrückliche Stellungnahmen zu dieser Frage ließen bis ins vierte Jahrhundert auf sich warten. 306 legte das Konzil von Granada-Elvira den Priestern den Zölibat nahe, und 386 wurde diese Entscheidung von der Synode von Rom bekräftigt. (Fs)

105c Dass diese Empfehlung in den Jahrhunderten danach nicht bestätigt wurde, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, welche Auswirkungen es hatte, dass diese Gepflogenheit in der Folgezeit wieder aufgegeben wurde. Zu den tiefgreifendsten Ursachen für den Niedergang der Kirche in den zentralen Jahrhunderten des Mittelalters zählen ja bekanntlich die von den mächtigen Feudalherren begünstigten Verbindungen zwischen dem Klerus und den weltlichen Mächten. (Fs)

106a Namen wie Tuscolo und Crescenzio sagen uns Heutigen nicht mehr allzu viel, doch so hießen einige dieser einflussreichen Familien, die zwischen dem 10. und dem 11. Jahrhundert das Sagen hatten, einige Päpste in ihren Reihen hatten und größtenteils für die Korruption innerhalb der Institution Kirche verantwortlich waren. (Fs)

106b Bekanntlich haben die gregorianische Reform und die ersten großen Konzilien des Mittelalters den Zölibat nachdrücklich bestätigt, und zwar nicht als eine noch nicht dagewesene Neuerung, sondern als ein Wiederanknüpfen an die ursprüngliche Berufung zum christlichen Priestertum. Das Beispiel des von Dante hochverehrten und vielzitierten Mönchs Petrus Damiani, der kurz vor der gregorianischen Reform gelebt hat, beweist, dass die Gläubigen damals die Wiedereinführung dieser alten Gepflogenheit als wichtige Voraussetzung dafür betrachteten, nicht so sehr die christliche Identität, wohl aber die Bestimmung zum Priestertum und das Ende der moralischen Verderbtheit des Klerus zu besiegeln. (Fs) (notabene)

Seit der Absetzung der verheirateten Priester durch Gregor VII. im Jahr 1074 sind alle Zweifel bezüglich des Zölibats in der lateinischen Kirche ausgeräumt. Der Osten dagegen beschritt bekanntlich einen anderen Weg, als er von 692 an den Zölibat für die Bischöfe festlegte, den vor der Weihe bereits verheirateten Priestern jedoch Dispens erteilte. (Fs)

106c Seit den Ereignissen im Zusammenhang mit der Abspaltung der anglikanischen Kirche und der reformierten Kirchen, die ein anderes Bild des Priestertums vertreten, richtet sich die priesterliche Praxis in der katholischen Kirche nach dem, was das Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts über den Zölibat festgelegt hat. (Fs)

106d Man darf nicht vergessen, dass die Entscheidung zum Priestertum noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von sehr jungen Menschen getroffen wurde und die Seminare vor allem von Jugendlichen bevölkert waren. Heute hat sich die Situation natürlich verändert, denn zum einen sind die Kleriker in puncto Herkunft und Kultur deutlich heterogener und zum anderen ist das Berufungsalter höher. Was zugegebenermaßen auch positiv ist, weil es zu einem gesteigerten Bewusstsein der christlichen Identität führt. Und diese wiederum kann bei der Entscheidung für das Priestertum den Ausschlag geben. Ich glaube, der eigentliche Punkt ist folgender:
107a Das, was einen Mann wirklich dazu bewegt, sich für das Priestertum zu entscheiden, ist der späteren Zustimmung zum Zölibat grundlegend vorgeordnet, denn es geht um das Warum und das Wie einer so schwerwiegenden Entscheidung: eines Schritts, der sein ganzes Leben beeinflusst. (Fs)

107b Infolge der Säkularisierung leben wir heute womöglich in einer soziologischen und historischen Situation, in der sich das Band zwischen einer einmal getroffenen Entscheidung und der Dauerhaftigkeit oder zeitlichen Stabilität einer definitiv übernommenen Verantwortung gelockert hat. Dieses Problem betrifft jedoch weder den Zölibat noch die Ehe, sondern den Menschen selbst in seiner tiefsten existentiellen Struktur. Wo ein wirklicher Anlass zur Endgültigkeit fehlt, liegt es auf der Hand, dass sich in den Ergebnissen einer freien Entscheidung — selbst der für die Ehe oder für einen Beruf— nur wenig ändern kann. (Fs)

Aus ebendiesem Grund nimmt auch dort, wo das Priestertum vom Zölibat getrennt ist - zum Beispiel in den nichtkatholischen christlichen Konfessionen wie Anglikanern, Lutheranern usw. —, die Zahl der Berufungen nicht zu: Der Zölibat ist gar nicht das Problem. Die alles entscheidende Frage ist vielmehr die, ob ein Mensch vertrauensvoll und aufgeschlossen ist für ein Geschenk, eine Gnade und eine Kraft, die nicht aus ihm selbst stammen, sondern ihm ungeschuldet zuteilwerden - und die es ihm gerade deshalb ermöglichen, sein Leben lang weiterzumachen. (Fs)

107c Bei alledem ist das menschliche Versprechen von elementarer Bedeutung. Und wie sollte es auch anders sein? Fakt ist doch, dass es nicht dasselbe ist, ob man sich für einen Lebensweg entscheidet, weil man auf die Hilfe und Kraft eines anderen vertraut, oder ob man seine Entscheidung für sich alleine trifft. Jedes Kind verlässt sich darauf, dass es täglich wächst und lebt, weil es den Menschen vertraut, die für es sorgen, weil es seinen Eltern vertraut und denen, die es lieben, denn sonst müsste es verzweifeln — wie ja auch wir Erwachsene so oft verzweifeln, wenn wir uns einsam fühlen. (Fs)

108a Vielleicht also müsste man eher über die Säkularisierung und über die heutigen Lebenseinstellungen sprechen, die in der Instabilität und der Beliebigkeit der Entscheidungen wurzeln, als auf die Folgen zu schauen, die aus solchen Gegebenheiten erwachsen können. (Fs) (notabene)

108b Alle Entscheidungen des Menschen sind zwangsläufig schwach und provisorisch, solange er sich nicht frei auf eine Stabilität hin öffnet, die er nicht aus eigener Kraft besitzen und beanspruchen kann. So gesehen sind alle menschlichen Entscheidungen, die eine lebenslange Verpflichtung beinhalten, entweder völlig bedeutungslos und damit unmöglich, oder sie haben einen Sinn, der sich nur im Rahmen einer unbegrenzten Verbindlichkeit erfüllen kann. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Asymetrisches Ethos; Befürwortung v. Krieg - Forschung an embryonalen Stammzellen; partielle Charakter der Sichtweisen -> Zersetzungsprozess (Mangel an gemeinsamen

Kurzinhalt: Ein Ethos ist dann authentisch, wenn es Teil einer umfassenden Sicht auf das Leben ist. Andernfalls verliert es jegliche Glaubwürdigkeit... Sich für das Wohl aller und des Ganzen einzusetzen erweist sich letzten Endes immer .. als der einzig gangbare Weg.

Textausschnitt: Asymetrisches Ethos (eü)

134a Es ist bestürzend, dass ein Demokrat vermutlich kein Problem damit hätte, das ethische Scheitern im Irak einzugestehen, andererseits aber nicht bereit wäre, die ethische Dimension und die sozialen Auswirkungen anzuerkennen, die mit der Relativierung der Familie und der Forschung an embryonalen Stammzellen verbunden sein können. (Fs)
Und umgekehrt ist die Unterstützung des Krieges für einen "Theokonservativen" auf einer anderen ethischen Ebene angesiedelt als der Schutz der Umwelt oder der Bau von Schulen in der Dritten Welt. (Fs)

134b Ist das alles überhaupt noch rational?

Ein Ethos ist dann authentisch, wenn es Teil einer umfassenden Sicht auf das Leben ist. Andernfalls verliert es jegliche Glaubwürdigkeit. Einem asymmetrischen oder partiellen Ethos fehlt es an Rationalität. Eine ethische Teilansicht ähnelt einem Menschen, der nur ab und zu die Wahrheit sagt und dennoch verlangt, dass man ihm immer Glauben schenkt. Man darf ethische Werte nicht als Waffen gegeneinander einsetzen — ebenso wenig, wie man zum Schutz des Lebens Leben zerstören darf. (Fs) (notabene)

134c In seiner Nikomachischen Ethik hat Aristoteles uns gelehrt, dass die Kräfte - nicht die Grundsätze! -, die miteinander im Wettstreit liegen, um das Leben zu stärken und zu bewahren, dieselben sind, die es auch vernichten können. Alles hängt davon ab, welche Kriterien man anwendet und welche Handlungen daraus folgen. Diese Kriterien aber sind das Ethos eines Menschen. Und das ist entweder in allen Teilen stimmig, oder es steht auf tönernen Füßen. (Fs)

Kann man den Krieg moralisch verwerfen und aus derselben ethischen Einstellung heraus den Umweltschutz und die Forschung an embryonalen Stammzellen befürworten?
Ich glaube, genau hier liegt das eigentliche Problem, das es zu lösen gilt. (Fs)

134d Der Krieg gegen den Terrorismus und die Bemühungen um den Frieden müssen sich auf dasselbe Ethos gründen, und ebenso muss auch der Lebensschützer vom selben Ethos angetrieben sein wie der, der sich für das Recht auf Leben von unheilbar Kranken einsetzt. (Fs)

135a Nicht zufällig hat der österreichische Jurist Hans Kelsen erklärt, "der tiefere Sinn der Demokratie" bestehe darin, dass "jeder die Freiheit nicht nur für sich, sondern auch für die anderen will". Und das ist nur im Rahmen eines Ethos möglich, das allen Menschen und insbesondere allen Aspekten des Lebens ihren eigenen Platz zuweist. In einem stimmigen System. (Fs)

135b Im Grunde hatte Hobbes gar nicht so unrecht mit seiner Ansicht, dass die eigentliche Voraussetzung des Krieges der einseitige und partielle Charakter der Sichtweisen ist, denn genau dies führt dazu, das gemeinsame Ethos zu verkennen und Teilinteressen einander gegenüberzustellen. Mit dem Bezug auf die allen gemeinsamen Grundaspekte geht aber auch die ethische Gültigkeit der Einzelinteressen verloren. (Fs)

135c Und damit beginnt ein Zersetzungsprozess, der die Politik an sich bedroht. (Fs)

Zum einen sind die aktuellen Probleme untrennbar mit der Gesellschaft verbunden, und zum anderen ist es offenbar schwierig, sie ohne erbitterte Inkohärenzen in eine Gesamtsicht einzuordnen. Genau das aber ist es, was die politischen Entscheidungsprozesse nicht nur in Amerika lahmt. Auch Europa ist von ähnlichen Kohärenzfragen geplagt wie etwa der, ob ein Friede auch dann aufrechterhalten werden kann, wenn dies nach Maßgabe desselben Ethos zulasten grundlegender Menschenrechte geht. (Fs)

135d Sich für das Wohl aller und des Ganzen einzusetzen erweist sich letzten Endes immer als ein schwieriger, aber auch als der einzig gangbare Weg, und zwar gerade weil das Ganze, wie Josef Pieper gesagt hat, niemals nur die Summe seiner Teile ist. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Libanon: Spiegel der Welt; Ursache d. Konflikts: Angst vor Verlust d. Identität; Therapie: Aufbau einer Gesellschaft: Vertrauen in den universalen Wert des Menschseins

Kurzinhalt: ... dass die eigentliche Triebfeder eines Konflikts nicht so sehr der Wunsch ist, seine eigene Identität gegen eine feindliche Bedrohung zu verteidigen, als die Angst, besagte Identität zu verlieren.

Textausschnitt: 164c Der Libanon ist eine Art exemplarischer Mikrokosmos, in dem sich in verkleinertem Maßstab einige der wesentlichen Probleme und grundlegenden Herausforderungen unserer globalen Wirklichkeit wiederfinden lassen. Wie wir Ärzte bei einer Biopsie in einem winzigen Gewebestück alles über den Gesundheitszustand eines ganzen Organs erfahren, so lassen sich durch einen Blick auf die libanesische Gesellschaft einige wirklich besorgniserregende Symptome der ganzen Welt diagnostizieren. (Fs)

165a Die politischen Autoritäten des Westens haben dies genau verstanden. Nicolas Sarkozy ist erst vor kurzem in den Libanon gereist, um dem neuen Präsidenten Michel Suleiman und Premierminister Fouad Siniora einen Besuch abzustatten. Und Condoleezza Rice war vor Ort, um den neuen Spitzen der nationalen Politik, die in Beirut in ihre Ämter eingeführt wurden, die Unterstützung der Regierung Bush zuzusichern. (Fs)

Auffällig ist, dass beide Staatsbesuche angesichts der konfliktbeladenen Situation im besagten Land nach derselben rein diplomatischen Logik vonstattengegangen sind. So betonte Sarkozy die Wichtigkeit dieser auf breiter Zustimmung gründenden neuen Regierung, die in der Lage sei, die vielfältigen soziokulturellen Identitäten im Libanon zu repräsentieren; wahrend Rice der amerikanischen Hoffnung Ausdruck verlieh, dass man eine vorteilhafte Einigung zwischen den nun schon seit geraumer Zeit zerstrittenen Parteien erzielen werde. (Fs)

165b Offenkundig herrscht — von den legitimen und beiderseitigen Interessen Frankreichs und der Vereinigten Staaten einmal abgesehen — ein allgemeiner Optimismus, was eine politische Lösung des libanesischen Bürgerkriegs betrifft, die dank des neuen Präsidenten und der neuen Regierung in greifbare Nähe zu rücken scheint. Trotz aller Anstrengungen besteht jedoch eine interessante Diskrepanz zwischen diesen verheißungsvollen Anfängen und den Nachrichten, die uns in den letzten Stunden von dort erreichen. Die Zahl der zivilen Opfer steigt kontinuierlich und erreicht soeben im Norden, unweit der Stadt Tripoli, eine noch nicht näher bestimmte Höhe. (Fs)

165c Noch vor einigen Sonntagen wurde ich hellhörig, als der Papst beim Angelusgebet auf das Drama des Libanon zu sprechen kam. Mir fiel auf, dass Benedikt XVI. in seiner Analyse ganz andere Schwerpunkte setzte als die politischen Kommentatoren. Seine Worte galten vor allem den persönlichen Motiven, die die Menschen zum Selbstmord veranlassen. Denn die Logik der Auseinandersetzung im Libanon hat nichts mehr mit der Verteidigung bestimmter religiöser, wirtschaftlicher oder politischer Interessen zu tun. Es handelt sich um eine ganz andere, im konventionellen Sinn vielleicht gar nicht wirklich fassbare Logik, die der Papst jedoch mit sicherer Intuition erraten zu haben scheint. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die eigentliche Triebfeder eines Konflikts nicht so sehr der Wunsch ist, seine eigene Identität gegen eine feindliche Bedrohung zu verteidigen, als die Angst, besagte Identität zu verlieren. Das heißt, die Tatsache, dass eine Gruppe der Opposition und eine andere der Mehrheit angehört oder dass - wie im vorliegenden Fall - ein kultureller Unterschied zwischen einer sunnitischen und einer alawitischen Partei besteht, ist lediglich ein Alibi und ein Vorwand, nicht aber der Beweggrund und die Rechtfertigung der Gewalttaten. (Fs) (notabene)

166a Andererseits ist es nicht so sehr die Verteidigung einer Identität, die die Völker heute überall in der Welt in den Bürgerkrieg zu treiben scheint, sondern eher die Angst, gar keine Identität mehr zu besitzen. Und das Mittel, Konflikte zu lösen, kann nicht in der Stabilität einer neuen Exekutive bestehen, so wirkungsvoll diese auch sein mag, denn das Problem ist nicht das Zusammenleben heterogener sozialer Gruppen, sondern eine tiefsitzende Angst. Sie treibt ganze Gruppen von Menschen dazu, sich zu bewaffnen und sich auf radikale Weise — nämlich indem sie das Leben anderer Menschen vernichten — ihrer eigenen Identität zu vergewissern. Die Therapie muss auch in diesem Fall auf die Krankheit abgestimmt werden. Und die Krankheit ist die Angst und der wesentliche Identitätsverlust der Menschen — ein Identitätsverlust, der sie fürchten lässt, ihren Daseinsgrund zu verlieren, sobald sie sich nicht mehr gegen "die anderen" verteidigen müssen. (Fs) (notabene)

Vielleicht muss die Politik sich damit abfinden, dass die oberste Priorität im Aufbau einer Gesellschaft besteht, die die persönliche Teilhabe am Menschsein für jeden Einzelnen wieder zu einem echten kulturellen und ideellen Zugehörigkeitsgefühl werden lässt. Und zur Grundlage einer Ethik, die wie Pascal es ausgedrückt hat, auch darin besteht, alle Unterschiede der anderen vor dem gemeinsamen Hintergrund unseres Personseins zu akzeptieren und anzuerkennen. (Fs) (notabene)

166b Eine Gesellschaft aufzubauen, die das friedliche Miteinander der Menschen ermöglicht, heißt natürlich nicht, die Verschiedenheiten und die spezifischen kulturellen und wirtschaftlichen Interessen jedes Einzelnen einzuebnen, sondern die Unterschiede in ein weiter gefasstes und umfassenderes Menschenbild als das bisherige einzuordnen. Denn nur wenn uns wieder ins Bewusstsein rückt, dass jeder Einzelne an der universalen Identität des Menschen als solchen teilhat, kann innerhalb der engen Grenzen ein und desselben Territoriums ein friedliches Zusammenleben zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen entstehen. Jede soziale Identität ist letztlich nur dann positiv, wenn sie nicht aus der Angst, sondern aus dem Vertrauen in den universalen Wert des Menschseins erwächst — einem Wert, den jeder innerhalb seiner eigenen kulturellen Besonderheit leben kann und sogar leben muss. (Fs) (notabene)
167a Ansonsten bleibt nur die Alternative, sich auf eine politische Handhabe der Konflikte zu beschränken, die man jedoch niemals so wird lösen können, dass ein dauerhafter Friede entsteht. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Angst, Kriminalität; Soziologie (Fremdheitsgefühl: U-Bahn); Wechselwirkung: Gewalt - Misstrauen; Therapie: zivile Gewissenbisldung einer Gesellschaft (Würde d. Menschen; anspruchsvolle Ethik)

Kurzinhalt: Die Lebenspraxis einer freien und friedlichen Gesellschaft kann sich nur auf eine Ethik stützen, die die Schizophrenie widersprüchlicher Lebensweisen meidet und stattdessen ... ein in sich stimmiges Menschenbild vertritt.

Textausschnitt: Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Angst vor dem anderen

178c In den vergangenen Jahren ist angesichts des Phänomens der Kleinkriminalität die große Frage der Sicherheit wieder stärker in den Blickpunkt gerückt. Die Besorgnis richtet sich nicht auf eine zufällige Häufung oder einen Einzelfall und vermutlich auch nicht auf eine vorübergehende Mode oder Tendenz, sondern auf ein tiefer wurzelndes Problem, auf das wir durch einige konkrete und erschütternde Meldungen aufmerksam geworden sind. (Fs)

178d Die zyklische Wiederkehr kollektiver Ängste ist in unseren Gesellschaften eine greifbare Tatsache, die gut veranschaulicht, was Giambattista Vico mit "historischen Läufen und Rückläufen" meint oder was man früher einmal als das "kollektive Imaginäre" bezeichnet hat. Andererseits empfinden die Menschen ihre eigene physische Unversehrtheit auch deshalb als das kostbarste Gut, weil die Selbsterhaltung ein urtümlicher Trieb und allen politischen Zielsetzungen vorgeordnet ist. (Fs)

179a Wenn man die Ergebnisse einer Censis-Umfrage aus dem Jahr 2000 mit den Resultaten einer analogen Erhebung vergleicht, die drei Jahre früher durchgeführt wurde, wird deutlich, dass unter den Problemen, von denen die Italiener sich direkt betroffen fühlen, die Kleinkriminalität in diesen drei Jahren signifikant nach vorne gerückt ist: vom vierten (24,8 Prozent) auf den ersten Platz (37,1 Prozent). (Fs)

Diese Tendenz wird sich vermutlich angesichts der wachsenden Terrorismusbedrohung und dem Aufkommen neuer sozialer Phänomene in letzter Zeit eher noch verstärkt haben. (Fs)

Deshalb kann man sagen, dass es sich bei diesen neuen Ängsten und neuen Befürchtungen, die durch die Gefährlichkeit unserer Städte ausgelöst werden, nicht um einen bloß vorübergehenden Eindruck, sondern um etwas Tieferes und Dauerhafteres handelt. (Fs)

179b Bei dem Gedanken an die Orte, die uns als zunehmend "unsicher" erscheinen, kam mir eine Überlegung in den Sinn, die Marc Augé vor einiger Zeit zu dem Fremdheitsgefühl angestellt hat, das Reisende in einem U-Bahn-Waggon überkommt. Nach Ansicht des französischen Anthropologen leben wir in einer "Gemeinschaft von Fremden", in der es immer schwieriger wird, nicht nur zu begreifen, was mein Nebenmann denkt und welche Werte er mit mir gemeinsam hat, sondern auch, woher er kommt und wer er wirklich ist. (Fs)

Die Tatsache, dass die Debatte über die Sicherheit heute wieder im Mittelpunkt des Interesses steht, hat vielleicht auch damit zu tun, dass es uns schwerfällt, wirklich von Grund auf zu verstehen, was diese gefühlte Unsicherheit eigentlich ausmacht: das heißt, ob sie unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit betrifft oder ob sie in einer multikulturellen und multiethnischen Welt wie der unseren schlicht unvermeidbar ist. (Fs)

179c Denn wenn zutrifft, was der französische Soziologe Alain Touraine schreibt — und das tut es zweifelsohne —, dass nämlich "die durch die zunehmende Unsicherheit in den Metropolen bedingte Besorgnis im Kontext jener von uns vielleicht vorschnell, aber nicht ganz zu Unrecht sogenannten Massenzivilisation Beklemmungen, Ängste und sogar das Bewusstsein einer Bedrohung hervorgebracht hat", dann trifft auch zu, dass diese Wahrnehmung nicht nur von einem vagen Negativgefühl, sondern von einer echten Situation erlebten Unbehagens herrührt. (Fs)

180a Überdies gründet sich die politische Sichtweise des Westens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Angst vor einer bevorstehenden Katastrophe. Oder auf den weitaus greifbareren Argwohn der einen gegenüber den anderen. Und das ist eine Sichtweise, die durch das moderne Denken auch zu uns gelangt. (Fs)

Gemeinsam — und in den verschiedensten Situationen nachweisbar — ist dieser Unsicherheit immer ein gewisser angeborener Pessimismus im Hinblick auf den Menschen: ein katastrophales Misstrauen, das uns zumindest bis zum Erweis des Gegenteils schlecht von unserem Nebenmenschen denken lässt. Und von uns selbst. (Fs)

180b Bezeichnenderweise ist die Gewalt ebenfalls eine negative Reaktion auf die Gegenwart des anderen, die auf einer pessimistischen Sicht der menschlichen Beziehungen und einer daraus erwachsenden Resignation beruht. Dieselbe Denkweise, die uns mit einem übermäßigen Misstrauen gegenüber anderen erfüllt, ist also auch dafür verantwortlich, dass eine Gesellschaft die Gewalt zur systematischen Unterdrückung oder als Mittel legitimiert, jedermanns private Probleme zu lösen. (Fs) (notabene)

Deshalb finden beide, Gewalt und Angst, Heilung in einer optimistischen und anspruchsvollen Ethik, die dort entstehen und wachsen kann, wo alle sich leidenschaftlich und beharrlich an einer Erziehung zum Guten beteiligen. Letztlich liegt das Problem in der zivilen Gewissensbildung einer Gesellschaft und nicht in einer unmittelbaren Reaktion auf eine gerade aktuelle Notsituation. (Fs) (notabene)

180c Wenn eine Gesellschaft Tag für Tag stereotype Verhaltensweisen an den Tag legt, die die Gewalt sogar als gültige Form der zwischenmenschlichen Kommunikation und Beziehung legitimieren, kann sie nicht erwarten, dass solche illegalen Verhaltensweisen nicht von den Einzelnen übernommen werden. Und dass all das keine Furcht und Unsicherheit generiert. (Fs) (notabene)

181a Die Lebenspraxis einer freien und friedlichen Gesellschaft kann sich nur auf eine Ethik stützen, die die Schizophrenie widersprüchlicher Lebensweisen meidet und stattdessen - angefangen bei den allgemeinsten Grundannahmen bis hin zu den letzten Konsequenzen und den einzelnen Entscheidungen jeder Person - ein in sich stimmiges Menschenbild vertritt. (Fs) (notabene)

181b Es geht nicht darum, Rezepte für alle Lebenslagen bereitzuhalten, und es geht auch nicht darum, Patentlösungen anzubieten. Es geht lediglich darum, gründlich über die wesentlichen Werte unseres Menschseins nachzudenken, weil sonst ein Glaubwürdigkeitsverlust droht. Und uns nichts anderes bleibt, als mit Repressalien, Gewalttätigkeit und unkontrollierbaren Ängsten zu leben. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Religion - Terrorismus; Christentum: Befreiung der Politik von jeglichem totalitärem Anspruch

Kurzinhalt: ... dass eine Religion von Natur aus gar nicht zu einer politischen Ideologie werden kann, ohne gleichzeitig in eben denjenigen Eigenschaften verfälscht zu werden, die sie als Religion ausmachen.

Textausschnitt: Das religiöse Gewissen: eine Garantie gegen den Terrorismus

182a Was die Art betrifft, wie die kriminellen Gruppen in den vergangenen Jahren ihre Ziele verfolgt haben, ist der Terrorismus als solcher nämlich, wenn man das Selbstmordattentat einmal ausnimmt, im Grunde nichts anderes als eine Übertragung der Logik des Krieges auf neue Techniken, die zwar auf unterschiedliche Weise, aber leider immer professioneller und völlig wahllos gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden. (Fs)

182b Man darf jedoch nicht denken, dass diese neue Phase der Kriegsführung aus dem Nichts und ohne Vorgeschichte entstanden wäre. Vor einigen Jahren hat Stanley Karnow ein Buch über den Vietnamkrieg verfasst, in dem er die Entstehung der damals noch unter dem Namen "Guerillataktik" bekannten militärischen Technik sehr gut beschreibt. Wie der amerikanische Wissenschaftler erklärt, war diese auf rasche und plötzliche militärische Angriffe — sogenannte "Nadelstiche" — gestützte Vorgehensweise die eigentlich kriegsentscheidende Waffe, die der vietnamesische General Vo Nguyen Giap einsetzte, um mit seinen geringen Mitteln zunächst die Franzosen und später die Amerikaner zu bekämpfen. (Fs)

182c Wenn man an den Terrorismus der letzten Jahre denkt, kommt man nicht umhin, auch ihn, ähnlich wie die Guerilla, als ein anderes Mittel der Kriegsführung zu betrachten, das den Zweck verfolgt, unter den Zivilbevölkerungen militärisch überlegener Länder Schrecken, Tod und Panik zu verbreiten. Vielleicht sind wir im Grunde auch hier gar nicht so weit von dem entfernt — wenn wir es denn nicht mit etwas völlig anderem zu tun haben -, was Karl von Clausewitz als "die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln" bezeichnete und das sich immer im Rahmen einer Logik gewaltsam aufeinandertreffender Gegensätze ausdrückt, wie sie die Politologen des 20. Jahrhunderts so gut beschrieben haben. (Fs)

182d Die Tatsache, dass der terroristische Akt heute auch von einer religiösen Ideologie gerechtfertigt wird, vermag daran nichts zu ändern. So kommt etwa der deutsche Philosoph Carl Schmitt im vergangenen Jahrhundert auf dem Weg einer an Hobbes angelehnten Logik zu dem Schluss, dass die Religion immer dann zu einem politischen Faktor werden kann, wenn sie in der Lage ist, einen zu eliminierenden Feind eindeutig zu bezeichnen. Ich halte es für wichtig, sich etwas eingehender mit dieser grundlegenden Erwägung zu befassen, denn sie gibt uns eine exakte Beschreibung der Grenze, die die echte Religiosität von ihrem ideologisch geprägten Zerrbild trennt. (Fs)

183a Der eigentliche Punkt — ohne Schmitt zu nahe treten zu wollen — ist der, dass eine Religion von Natur aus gar nicht zu einer politischen Ideologie werden kann, ohne gleichzeitig in eben denjenigen Eigenschaften verfälscht zu werden, die sie als Religion ausmachen. Die klare Unterscheidung zwischen dem, was im Leben eines Menschen Teil seines innersten religiösen Gewissens ist, und dem, was dagegen der zeitlichen Dimension der Politik angehört, beruht darauf, dass der Bereich des Religiösen sich auch auf das persönliche Ethos erstreckt — und den Menschen gerade deshalb zwangsläufig auf eine Kontrolle und Relativierung der Politik ausrichtet. (Fs)

183b Historisch lässt sich dieser Sachverhalt beispielsweise an den schwierigen Beziehungen festmachen, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zwischen dem Christentum und dem römischen Reich bestanden. Die christliche Religion war zwar mit der laikalen Seite der römischen Administration durchaus vereinbar, nicht aber mit der Vergöttlichung des Staates und des Kaisers, wie sie für diese Epoche typisch war. Denn eine authentische Religiosität kann weder akzeptieren, dass die Politik zur Religion, noch dass die Religion zur Politik wird, und das aus einem ganz elementaren Grund: Die Sphäre des Religiösen impliziert immer eine Befreiung der Politik von jeglichem totalitärem Anspruch und ist deshalb eine gültige Garantie der Freiheit. (Fs) (notabene)

183c Übrigens ist der Mensch selbst immer der Erste, der sich in seinem natürlichen Glücksstreben gegen eine totale Politisierung des Menschen zur Wehr setzt. Auch wenn es der politischen Ideologie gelingt, die religiösen Werte zu Werkzeugen eines tief in den Völkern verwurzelten Hasses zu machen, und auch wenn die Völker der moralischen Frage gegenüber blind bleiben, ist es am Ende das Gewissen des Einzelnen selbst, das sich auflehnt und sich nicht damit abfinden kann, ganz und gar von der Macht unterworfen zu sein. (Fs)

184a Letztlich ist die Präsenz von Bürgern mit einem authentischen religiösen Gewissen in unserer Gesellschaft und in unserem Leben die beste ethische Garantie dafür, dass die Politik die Logik ihrer eigenen Möglichkeiten nicht in irrationale Mythen und terroristische Wahnvorstellungen ausarten lässt. In diesem Sinne wirkt die Religion Seite an Seite mit der Vernunft als ein Korrektiv der Politik. Auf diese Weise garantiert sie den Gesellschaften eine zielstrebige und sichere demokratische Entwicklung und macht die Bürger gegen jede Versuchung von Gewalt und Totalitarismus immun. Immer vorausgesetzt, dass fein säuberlich unterschieden wird zwischen dem, was Cäsar, und dem, was Gott gehört. (Fs) (notabene)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Laie - Priester; Konstantin, Theodosius; Christentum: Relativierung d. Politik; extremer Laizismus: Klerikalismus; Freiheit: Wille zum Gemeinwohl, Ausdruck gemeinsamer Werte (nicht bloß negative Freiheit)

Kurzinhalt: Mithin ist die Politik von der Religion unterschieden, kann sich aber keine nichtethischen Ziele setzen, weil solche Ziele nicht die Kirche als Institution, sondern den Menschen ... betreffen

Textausschnitt: Wer ist ein Laie?

193c Zurzeit wird viel über Laizität und Laizismus gesprochen, und das ist sicherlich kein Zufall. Ich wage die Prognose, dass dieses Thema noch über Jahre hinaus im Zentrum der öffentlichen Debatten stehen wird. (Fs)

Im Grunde ist es ein alter Streit, ja, vielleicht ist es sogar die politische Diskussion schlechthin, die uns mittlerweile seit Jahrtausenden und womöglich schon immer mit ihrer unvermeidlichen Ambivalenz begleitet. Andererseits lässt sich der Begriff Laie bekanntlich unterschiedlich oder sogar widersprüchlich interpretieren und deuten. (Fs)

193d Historisch gesehen war die Kategorie der Laien lange Zeit der der Priester gegenübergestellt. Ihr nicht immer ganz einfaches Verhältnis hat jedoch in der lateinischen Welt zumindest ein Gutes gehabt: Es hat eine klare und eindeutige Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Religiösen, zwischen Staat und Kirche ermöglicht. (Fs)

194a Nach den ersten beiden Jahrhunderten einer echten Feindseligkeit des Staates gegenüber der noch jungen Kirche wurde das Imperium zunehmend christlich — zunächst formell mit Konstantin und dann, mit Theodosius, auch ideell. Seit dem vierten Jahrhundert fanden die christlichen Lebensregeln überdies auf dem juristischen Weg Einlass in die Organisation des zivilen Lebens. (Fs)

Die Unterscheidung zwischen weltlich und geistlich hat sich schon in der Antike durchgesetzt, weil die Geschicke des Menschen, die sich auf dem persönlichen existentiellen und zeitlichen Lebensweg jedes Einzelnen verwirklichen, aus christlicher Sicht auf ein Schicksal ausgerichtet sind, das überhistorisch ist und sich in der Ewigkeit erfüllt. Deshalb unterschied man mit der Zeit immer deutlicher zwischen dem im eigentlichen Sinne religiösen und dem politischen Raum. (Fs)

194b Außerdem verband sich mit dem Christentum eine zunehmende Relativierung der Politik: Über allen öffentlichen Angelegenheiten stand nun die Würde der menschlichen Person, und damit hatte die Politik an sich nichts Sakrales oder Göttliches mehr in sich. Langsam, aber sicher wurden den Exzessen der Macht die Zügel angelegt und sie erhielten ein ethisches Korrektiv: Missbräuche und Ungerechtigkeiten wurden begrenzt und wirkungsvoll kontrolliert. (Fs) (notabene)

Trotz alledem kam es im Mittelalter zu einer immer stärkeren Vermischung des zeitlichen und des geistlichen Bereichs, und diese Verschmelzung hat die großen Ideale des Christentums spürbar geschwächt. (Fs)

194c In der Neuzeit wurde diese Zweiteilung in einen zeitlichen und einen weltlichen Bereich auf verschiedenen Etappen wiederhergestellt, wobei sich die Vergangenheit und das Misstrauen, mit dem die beiden "Gewalten" einander begegneten, jedoch als ein schwieriges Erbe erwiesen. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat die Situation endlich wieder zu ihrer ursprünglichen Klarheit zurückgefunden: Den Laien wurde die ausschließliche Rolle und ureigene Aufgabe zuerkannt, die irdische Stadt zu organisieren, ohne sich eine Einmischung vonseiten anderer gefallen lassen zu müssen. (Fs)

195a In der heutigen Zeit ist es jedoch nicht ganz einfach, einerseits eine unnötige Präsenz der Amtskirche in zeitlichen Dingen zu vermeiden und andererseits zu garantieren, dass der Normalbürger nach wie vor die Möglichkeit hat, im öffentlichen oder sogar politischen Bereich seinen eigenen Glaubensüberzeugungen treu zu bleiben. Vor allem stellt sich die Frage, welche ethischen Grenzen ein Volk hinsichtlich der zivilen Gesetzgebung des Staates beachten muss. All das ist nicht nur unter einem konstitutionellen, sondern auch unter einem im eigentlichen Sinne menschlichen Blickwinkel wichtig. (Fs)

Die Anerkennung der organisatorischen Unabhängigkeit des Staates und der uneingeschränkten Freiheit des Individuums hat neue Probleme aufgeworfen - an erster Stelle das Problem des umfassenden Verlusts von Kriterien und Werten, auf denen sich eine Gesellschaft aufbauen lässt. (Fs)

195b Denn es kann nicht genügen, einfach nur für den negativen Wert der absoluten Unabhängigkeit des politischen vom religiösen Bereich einzutreten. Ein derart extremer Ansatz lässt vergessen, dass die Politik selbst dem Religiösen gegenüber bei aller Entschlossenheit niemals völlig gleichgültig sein kann. Die Religion nämlich hat erst an zweiter Stelle mit der Kirche, an erster Stelle aber mit den Personen zu tun, die Bürger und Gläubige sind. Und eine radikale Neutralität des Staates gegenüber jeder religiösen Frage kann dazu führen, dass alle grundlegenden Kriterien und Werte nur mehr hohle Floskeln sind, während die wirkliche Macht allein in den Händen derer liegt, die ihre Meinung am nachdrücklichsten zu artikulieren verstehen. (Fs)

Es ist kein Zufall, dass ein Philosoph, der die Entwicklung der Moderne so aufmerksam verfolgt wie Jürgen Habermas, die Notwendigkeit verspürt hat, zu einer echten und eigentlichen "Diskursethik" zurückzukehren, um zu verhindern, dass die Kommunikation als Werkzeug ohne moralische Regeln benutzt wird. (Fs)

195c Ein extremer Laizismus stellt überdies nicht anders als der Klerikalismus eine ganz spezielle Form der Verschmelzung zwischen dem politischen und dem religiösen Bereich dar, die sich in einem apriorischen Ausschluss des religiösen Phänomens manifestiert und sogar zu einer ungerechtfertigten Einschränkung der persönlichen Freiheit führen kann. (Fs)

196a Auch hier gilt es, Missverständnisse zu vermeiden. (Fs)

Zwar kann die Politik des Staates von den religiösen Bekenntnissen der Bürger dieses Staates getrennt und unterschieden werden, doch ist es undenkbar, dass die Religionen im eigenen, ausschließlich zivilen Bereich zwangsläufig in die Sphäre des Gewissens verbannt und aus einem so authentisch menschlichen Raum wie dem der Politik herausgehalten werden sollen. (Fs)

196b Wenn die Politik die Lebensorganisation des Menschen in der Gesellschaft betrifft, dann ist sie ein Vorrecht der Laien und muss sich durch menschliche Werte artikulieren, die von den verschiedenen religiösen Konfessionen geteilt und für grundlegend erachtet werden. (Fs)

In diesem Sinne hat Ratzinger vor einigen Jahren Folgendes erklärt: "Während auf der einen Seite eine theokratische Konzeption abgelehnt und auf der Rationalität der Politik bestanden wird, schließen wir auf der anderen auch einen Positivismus aus, nach dem die Vernunft blind wäre für die moralischen Werte. Wir sind davon überzeugt, dass die Vernunft die Fähigkeit besitzt, die großen moralischen Imperative zu erkennen und auch die großen Werte, die bei allen konkreten Entscheidungen ausschlaggebend sein müssen." (Fs)

196c Mithin ist die Politik von der Religion unterschieden, kann sich aber keine nichtethischen Ziele setzen, weil solche Ziele nicht die Kirche als Institution, sondern den Menschen in seinen freien und verantwortungsbewussten zivilen Entscheidungen und in seiner freien und verantwortungsbewussten Lebensorganisation betreffen. (Fs)

196d Die Vorstellung von Werten, die der Politik von den Religionen aufgezwungen werden, lässt sich nicht mit einem wirklich demokratischen System vereinbaren, doch dasselbe gilt auch für eine Politik, die die Bürger — womöglich durch den Vorwurf des Klerikalismus — daran hindert, ethische Entscheidungen zu treffen und zu unterstützen, die mit ihrer eigenen Lebens- und Denkweise übereinstimmen. (Fs)

197a So verstanden kann Freiheit nur entstehen und wirken, wenn sie sich als politischer Wille zum Gemeinwohl artikuliert: als Ausdruck wirklich gemeinsamer Werte und nicht einfach nur als Verteidigung dessen, was man erlaubterweise tun darf, ohne eine Straftat zu begehen. (Fs) (notabene)

Während also die Politik darauf verzichten muss, in Vorgänge einzugreifen, die den explizit religiösen Bereich betreffen, und die Kirche ihrerseits nicht direkt in Form einer ungebührlichen Einmischung in explizit politische Vorgänge eingreifen darf, trifft es andererseits auch zu, dass die Politik nicht von der Religion getrennt werden kann, ohne an Konsistenz, Dichte und einer nicht nur menschlichen, ethischen Gültigkeit zu verlieren. (Fs)

197b Im Grunde gibt es einen wesentlich religiösen Raum innerhalb der Politik, und dieser Raum ist der Bereich der grundlegenden Werte und drückt sich in den Regeln aus, die ein Volk sich hin und wieder freiwillig gibt. (Fs)

Es versteht sich von selbst, dass ein gläubiger oder nichtgläubiger Normalbürger jedes Recht hat, konkret am zivilen Leben teilzunehmen und eine Politik anzustreben, die mit seinen eigenen ethischen Werten übereinstimmt, seien diese nun religiös oder nicht. (Fs)

197c Auch als gläubiger Katholik bleibt er ein Laie und kann von keiner Instanz dazu gezwungen werden, ein Amtskatholik zu werden, im Gegenteil: Wie alle anderen Bürger auch behält er das Recht, für diejenigen Werte einzutreten, die er für die richtigen hält, und mit denjenigen nicht übereinzustimmen, die er für ungerecht hält. Es muss ihm frei stehen, sich persönlich zu engagieren, um seine eigenen Vorstellungen auch politisch umzusetzen. (Fs)

197d Diese Sichtweise ist vor allem deshalb gültig, weil es für einen echten Laien nur eine einzige Alternative zu einer derartigen — nicht laikalen — Haltung gibt, und das ist die Heuchelei. Die Heuchelei aber ist weder eine religiöse noch eine politische Tugend. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Voraussetzung für Dialog: minimale gemeinsame Basis einer anthropologischen "Wahrheit"; Relativismus; Minimum an objektiven Gerechtigkeitskriterien

Kurzinhalt: ... wenn man diese gemeinsame Basis in der Anthropologie finden will, muss man sich letztlich dazu durchringen, eine "Wahrheit" über den Menschen auszusagen. Gerade damit aber scheint sich das moderne Denken heute schwerzutun. Gemeinsame Lösungen sind ...

Textausschnitt: Freiheit und Engagement für die Wahrheit

198a Die Äußerungen des Präsidenten der Republik über eine neue Blütezeit in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche haben in den vergangenen Monaten eine kulturelle Debatte angestoßen, die nicht nur in der italienischen Gesellschaft wieder sehr präsent ist. Natürlich will er seine Worte nicht nur auf die positive Fruchtbarkeit eines bereits bestehenden Dialogs zwischen den Institutionen, sondern auf etwas Entscheidenderes und Wichtigeres bezogen wissen: die Suche nach einer gemeinsamen Wertebasis. (Fs)
Andererseits muss man zugeben, dass die aktuelle Situation selbst mit ihren Problemen und Ambivalenzen geradezu nach solchen Bezugspunkten schreit. Und das heutige Klima scheint in vielerlei Hinsicht weniger ideologisch als in der Vergangenheit: Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass zahlreiche Optionen aufgrund ihrer anthropologischen Tragweite nicht überhastet und kurzfristig durch eine schlichte Übereinkunft zwischen den Protagonisten ausgeübt werden dürfen. (Fs)

198b Wir kennen die Probleme, die den Menschen mit der Notwendigkeit konfrontieren, über sich selbst und das Schicksal der Gemeinschaft zu entscheiden: Krieg, Konflikte zwischen verschiedenen Kulturen, die Zunahme der Gewalt in den Städten, die Umweltproblematik, die erschreckende Begrenztheit der derzeitigen finanziellen und wirtschaftlichen Weltordnung, die neuen und alten Armutsschichten und vor allem die Themen, die die Natur und Würde des Menschen und zwischenmenschliche Beziehungen wie etwa die Institution Familie betreffen. Bei all diesen Fragen handelt es sich keineswegs nur um Forschungsobjekte für spitzfindige Soziologen, sondern um wirkliche Probleme unseres Alltagslebens, mit denen man sich auf angemessene Weise auseinandersetzen muss. (Fs)

198c Wenn wir vermeiden wollen, das die Diskussion über so grundlegende Fragen in eine Art "Holzweg" einmündet, wie der Philosoph Martin Heidegger den Weg seines Denkens beschrieb, dann dürfen wir uns nicht damit begnügen, diese Probleme gründlich zu analysieren, sondern wir müssen Antworten finden, die in rationaler Hinsicht zufriedenstellend, eindeutig und möglichst beständig sind. (Fs)

199a Und genau hier stoßen wir bereits auf die erste große Schwierigkeit. (Fs)

Der Dialog setzt zumindest eine minimale gemeinsame Basis voraus; doch wenn man diese gemeinsame Basis in der Anthropologie finden will, muss man sich letztlich dazu durchringen, eine "Wahrheit" über den Menschen auszusagen. Gerade damit aber scheint sich das moderne Denken heute schwerzutun. Gemeinsame Lösungen sind offenbar nur dann akzeptabel, wenn sie auf befristeten Verträgen beruhen, die individuelle Entscheidungen für eine begrenzte Zeit festschreiben. Das Sprechen vom Gemeinwohl dagegen beschwört einen absolutistischen Wahrheitsbegriff herauf, den man mit dem Pluralismus unserer Gesellschaften für unvereinbar hält. (Fs) (notabene)

199b Wir sollten uns allerdings fragen, ob das wirklich so ist. Und ob wir unseren Dialog auf eine so unsichere Ausgangsbasis stellen können. (Fs)

Die erste Beobachtung, die wir machen müssen, ist anthropologischer Natur. Wenn wir nämlich vom Menschen sprechen, dann sprechen wir von uns, von dieser unserer existentiellen Seinsweise, die ein "Geheimnis" ist, wie der französische Philosoph Gabriel Marcel es gerne genannt hat. Und der Blick auf das klassische Denken lehrt uns, dass die großen Philosophen nie aufgehört haben, über dieses "Geheimnis des Menschen" nachzudenken — und dass sie es nie losgelöst von der "Wahrheit" betrachtet haben. (Fs)

199c Diese beiden Aspekte sind so eng miteinander verwoben, dass ein Philosoph wie Platon es der geheimnisvollen Sprache der Dichter überlassen hat, die großen menschlichen Leidenschaften zu beschreiben. Auf der anderen Seite nehmen "Geheimnis" und "Wahrheit" auch in der modernen Sichtweise, von der wir zu Beginn ausgegangen sind und die sich ganz auf die individuelle Freiheit konzentriert, eine zentrale anthropologische Stellung ein. (Fs)

199d Ich glaube, genau das ist der entscheidende Punkt, denn gerade der Relativismus verurteilt jede mögliche Suche nach einer gemeinsamen Wertebasis zum sicheren Scheitern. Und in dieser Hinsicht halten gerade die Überlegungen der Philosophen bei näherem Hinsehen einige unerwartete Überraschungen bereit. Zum Beispiel begnügt sich ein echter Vater der Moderne wie Tocqueville in seiner Beschreibung der liberalen amerikanischen Gesellschaft nicht damit, nur deren unverzichtbare individualistische Grundlage anzuerkennen, sondern würdigt auch die positiven Folgen und die ganz konkreten Verpflichtungen, die sich daraus ergeben. Die persönliche Freiheit nämlich ist eine ethische Voraussetzung, die den Einzelnen entschieden dazu verpflichtet und auffordert, sich für seine eigene Wahrheit zu engagieren — und besteht eben nicht nur in der Unabhängigkeit des Einzelnen von jedem Wert, jeder Bedingtheit oder jeder Verantwortung. (Fs)

200a Persönliche Freiheit ist also der erste, echte und eigentliche Pfeiler einer in sich stimmigen Sicht des Menschseins und der Gesellschaft — und kein isolierter und ausschließlicher Wert, der den Einzelnen davon entbinden könnte, sich effektiv zu engagieren. Freiheit setzt immer voraus, dass das Individuum sich aktiv auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet und Kurs auf den Hafen hält, den die gesamte Menschheit ansteuert. Dieses Ziel ist wie ein Kompass, der den verschiedenen Lebenswegen die Richtung weist. (Fs)

Natürlich werden die persönlichen Rechte mit Füßen getreten, wenn es an individueller Freiheit fehlt, doch auch ohne ein klares Ziel verliert der Einzelne die Richtung und letztlich sich selbst. Der Wert der Familie beispielsweise beruht genau auf dieser engen Verbindung zwischen menschlicher Freiheit und menschlicher Wahrheit. (Fs)

200b John Rawls, ebenfalls ein von der Tradition des amerikanischen Liberalismus geprägter Philosoph, scheint dies alles ganz ähnlich zu sehen, denn auch sein Entwurf einer lebenswerten und auf Gleichheit basierenden Gesellschaft kommt nicht ohne ein Minimum an objektiven Gerechtigkeitskriterien aus. (Fs)

200c Das liegt daran, dass der Mensch seine Freiheit nicht einfach "bewahren" kann, sondern sie immerzu und ständig "gebrauchen", ja, was die Vielzahl der nicht gewählten Möglichkeiten betrifft, geradezu "verschwenden" muss. Denn das ist die Eigenart des Menschen: Jedes Mal, wenn er zu etwas oder jemandem ja sagt, sagt er damit gleichzeitig nein zu der unendlichen Menge der ebenfalls bestehenden anderen Optionen. Eine menschliche Entscheidung beinhaltet immer die rationale und freie Auswahl dessen, wofür man sich entscheidet, und den Ausschluss alles Übrigen. Die Alternative sind Unverbindlichkeit und Selbstverschwendung, und diese beiden bringen nicht nur Unbeständigkeit, sondern auch Einsamkeit, Angst und Verzweiflung hervor. (Fs)

201a Fraglos sind wir in unserem Leben zu präzisen Entscheidungen aufgerufen, wenngleich die Momente, bei denen es um eine "dauerhafte" und "endgültige" Wahl geht, glücklicherweise nicht sehr zahlreich sind. Doch es ist gut, vorbereitet zu sein, denn auch solche Situationen kommen unweigerlich auf uns zu: eine berufliche Chance, eine familiäre Verpflichtung, ein Engagement, zu dem wir uns entschließen, oder sogar der Entschluss, uns eben nicht zu engagieren. (Fs)

In schwierigen Lebenslagen wird uns bewusst, dass wir einen nur geringen Beliebigkeitsspielraum haben, an dem sich die Zerbrechlichkeit unserer Freiheit, aber auch unsere persönliche Beziehung zur Wahrheit misst. Denn im Extremfall, das spüren wir, scheitern alle mit uns, wenn wir einen Fehler machen. Und genauso bleibt auch im Falle eines Erfolgs das persönliche Resultat einer "heroischen" Entscheidung niemals unsere Privatsache. (Fs)

201b Der Tod eines Freundes half Augustinus von Hippo, zu sich selbst zu finden. Und wir wissen, dass er durch die Erfahrung dieses furchtbaren Kummers letztlich über sich selbst hinaus zur transzendenten Wahrheit seines Lebens fand. (E)

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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Politikverdrossenheit; Konsenskrise - Vertrauensverlust; Politik - Macht als Willkür ohne übergeordnetes Ziel

Kurzinhalt: Entweder besitzt die Politik eine ihr eigene Würde und Glaubwürdigkeit, oder sie stellt sich auf eine Stufe mit den anderen individuellen Freiheiten und wird infolgedessen als unerträglicher Missbrauch wahrgenommen ...

Textausschnitt: Die immer aktuelle Frage der Politikverdrossenheit

205c Unter dem Titel "Building Trust in Government" hat sich ein internationaler Kongress in Wien sehr eloquent mit einem der spürbarsten Probleme unserer historischen Epoche befasst. Die zahlreichen Vorträge der Teilnehmer haben das fehlende Vertrauen als eigentlichen Kern der Konsenskrise ausgemacht, die derzeit beinahe alle europäischen Demokratien erschüttert. (Fs)

205d Und in der Tat sind die beiden Faktoren Autorität und Vertrauen aufs Engste miteinander verbunden. Die Bürger beteiligen sich am politischen Prozess, indem sie ihre Souveränität vertrauensvoll in die Hände von Institutionen legen, die ihre Legitimität wiederum dem effektiven Willen der von ihnen vertretenen Bürger verdanken. Diese sensible Beziehung ist das eigentliche Fundament der Demokratie. Und wenn diese Beziehung beschädigt wird, treten tiefe Krisen auf, die dem, was derzeit in Italien geschieht, in vieler Hinsicht ähneln. (Fs)

206a Ein derartiger Volksaufstand ist nicht neu und vielleicht nicht einmal unbedingt schlimm, auch wenn er Anlass zum Nachdenken gibt. Denn es handelt sich um ein psychologisches Phänomen der Ratlosigkeit, das in den Handlungen und Verhaltensweisen der Völker tief verwurzelt und immer präsent ist. (Fs)
Nicht selten hat die Politik sich diese sozialen Faktoren zunutze gemacht, um neue Konsense zu schaffen oder die bestehenden zu kritisieren. So haben die Sophisten im antiken Athen die Unzufriedenheit der Bürger mit der Aristokratie als stabile Grundlage benutzt, um nicht nur neue Anhänger zu gewinnen, sondern überdies auch ihre "Schulen" zu finanzieren. (Fs)

All das ist durchaus nachvollziehbar. (Fs)

206b Andererseits wird der Diskurs natürlich komplexer, wenn man nicht über die Gesellschaften des Altertums, sondern über die der Gegenwart spricht. Das hat damit zu tun, dass die Ordnung unseres Gemeinwesens sich auf demokratische Regierungsformen stützt und diese ihrerseits auf die Tragfähigkeit der Volkssouveränität angewiesen sind - die jedoch immer manipuliert werden kann. (Fs)

Gewiss wird es durch die Komplexität unseres Lebens äußerst schwierig, sowohl über die Tag für Tag erlebten Ereignisse als auch über das angemessen informiert zu sein, was in der politischen Debatte geschieht. Das führt zu einer häufig unüberbrückbaren Distanz zwischen der politischen Klasse und den Bürgern. Diese Entkupplung von politischem und realem Leben schafft ein Klima, in dem Demagogie und Hoffnungslosigkeit bestens gedeihen. (Fs)

206c Dass dies tatsächlich geschieht, ist unverkennbar, und es ist wichtig zu verstehen, welche Motive sich wirklich hinter diesem so breiten Vertrauensverlust unter den Bürgern und den daraus folgenden undifferenzierten Protesten verbergen. (Fs)

207a Das Problem wurzelt nahezu immer in einem Verlust der Hoffnung, der letztlich alles, auch die Politik, in einen Strudel des allgemeinen Pessimismus hineinreißt. (Fs) (notabene)

Denn die Politikverdrossenheit ist nicht nur der auffälligste politische Ausdruck eines fehlenden Optimismus bei den Wählern, sondern auch ein deutliches Signal für mangelnde Ideen und wenig überzeugende Projekte aufseiten der Politik selbst. (Fs)

207b Die Demokratie stützt sich, wie Stefano Rodotà bemerkt hat, ausschließlich auf die ständige Beteiligung der Bürger am Leben der Institutionen. Doch damit dies gelingen kann, müssen die Institutionen ihrerseits den Bürger dazu motivieren, eine aktive Rolle zu spielen. Und sie müssen diese Rolle interpretieren und durch die Ausübung ihrer repräsentativen Funktion Wirklichkeit werden lassen. Wenn diese Beteiligung fehlt, ist die Demokratie unvollständig, stürzt in eine Krise und funktioniert allenfalls teilweise. (Fs)

Auf der anderen Seite war das wechselseitige Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten, wie unter anderem der Historiker Walter Ullmann gezeigt hat, in allen Epochen untrennbar mit der Entwicklung der staatsbürgerlichen Identität verbunden. Denn die vertrauensvolle Reaktion der Bürger ist abhängig von der eigentlichen Zielsetzung und Botschaft der Politik. Und ohne eine solche werden die Menschen den Politikern nur schwerlich Glauben schenken. (Fs)

207c Max Weber hat diese Situation aus soziologischer Sicht und mit gewohnter Prägnanz erklärt, dass von der Politik zu leben etwas ganz anderes ist, als für die Politik zu leben. Nur im zweiten Fall nämlich ist die Politik von dem Bewusstsein angetrieben, "dem eigenen Dasein dadurch einen Sinn zu geben, dass man einer Sache dient". (Fs)

207d In der Tat ist es ein großer Unterschied, ob man ein Ziel verfolgt oder benutzt. Entscheidend ist, dass ein Konsens nur dann zustande kommen kann, wenn die Politiker den Eindruck erwecken, im Dienst des Gemeinwohls zu stehen. Dann wird ihre Funktion nicht nur von allen als wichtig wahrgenommen, sondern verdient wirklich Vertrauen und Respekt. (Fs)

208a Dieser Faktor zieht eine klare Trennlinie zwischen dem Besitz von Autorität und der Autorität des Amtsträgers. Denn die mit einem Amt verbundene Macht erscheint nur dann gerechtfertigt, wenn sie ein Werkzeug im Dienst einer realen, nützlichen und wichtigen Sache ist. (Fs)

208b Der Philosoph Carl Schmitt hat zu Recht erklärt, dass die Politik, wenn sie die ihr eigenen Ziele aus den Augen verliert, Gut und Böse unweigerlich mit dem Besitz oder Nichtbesitz von Macht identifiziert und damit einen Boden bereitet, auf dem Korruption und allgemeine Gleichgültigkeit gedeihen. (Fs) (notabene)

Und das ist verständlich: Entweder besitzt die Politik eine ihr eigene Würde und Glaubwürdigkeit, oder sie stellt sich auf eine Stufe mit den anderen individuellen Freiheiten und wird infolgedessen als unerträglicher Missbrauch wahrgenommen, den es um jeden Preis abzustellen gilt. (Fs) (notabene)

208c Die politikverdrossene Profanisierung, die wir heutzutage beobachten und die wir in der Vergangenheit als Begleiterscheinung zahlreicher Diktaturen kennengelernt haben, entsteht immer dort, wo die Politik jegliches idealistische und programmatische Projekt verrät und ausschließlich nach Machterwerb giert. Und ebendiese Macht will das Volk beseitigt sehen. Eine so drastische Maßnahme allerdings führt zur Entstehung einer noch größeren Macht — und bedeutet das Ende der Demokratie. (Fs) (notabene)

208d Denn wenn die Macht keinem übergeordneten Ziel mehr dient, macht sie sich selbst zur letzten Begründung allen Handelns. Und leider auch aller Zerstörung. (E)

Kommentar (25.07.11): zu oben, es könnte auch heißen: "Denn wenn die Pädagogik keinem ..."

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