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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Der Ausgangspunkt: Gott; Gottesfrage; Götzendienst; Atheist; Gleichnis: Arbeiter im Weinberg

Kurzinhalt: Der Gedanke an Gott scheint dem Menschen oft unangenehm zu sein... Wenn Gott da ist, dann entscheidet er und nicht wir, was recht und was unrecht ist, und wir müssen einzig und allein seinen Willen erforschen.

Textausschnitt: 15a "Ab Iove principium", um mit Vergil (Eclogae 111,60) zu sprechen, heißt: In wichtigen Dingen muß man immer von Gott ausgehen. Deshalb wollen wir auch hier über Gott nachdenken. Er ist ein Thema, bei dem ich zaudere und das mir auch ein wenig Angst macht. Ich war nämlich schon immer der Meinung, daß das zweite Gebot ("Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen") in erster Linie die Prediger und Theologen und erst danach die zumeist ahnungslosen und konformistischen Gotteslästerer zur Vorsicht mahnen will. Über Gott sprechen ist ein Risiko. Aber man muß das Risiko auf sich nehmen, denn es ist noch gefährlicher, ihn, der alles ist, systematisch auszugrenzen. Gerade diese Ausgrenzung gehört zu den Torheiten des modernen Zusammenlebens, das uns gewöhnlich zwingt, nur über unwichtige Dinge zu reden, und uns untersagt, über das zu sprechen, was wirklich zählt. (Fs)

***

15b Der Gedanke an Gott scheint dem Menschen oft unangenehm zu sein. Wenn wir seine Existenz anerkennen, füllt seine Unendlichkeit den ganzen Raum und scheint uns zu erdrücken, so daß wir meinen, es sei kein Platz mehr für uns, für unsere Freiheit, für unser Verlangen, von uns aus Gut und Böse festzulegen. Wenn wir aber seine Existenz leugnen und ein leeres Universum voraussetzen, dann öffnet diese angenommene Abwesenheit in der Wirklichkeit einen Abgrund, der alle Dinge und Werte unvermeidlich verschlingt; einen Abgrund, in den wir mit all unseren Leidenschaften, Guido CavalcantiGuido CavalcantiGuido CavalcantiHoffnungen, Errungenschaften und großartigen Bestrebungen unwiderruflich hineingezogen werden und vergehen. (Fs)

16a Wenn es Gott nicht gäbe, würde am Ende alles zunichte gemacht. Weder philosophische Spitzfindigkeit noch ästhetische Raffinesse oder wissenschaftlicher Fortschritt oder sozioökonomische Theorie können den Alptraum des alles verschlingenden Nichts von uns nehmen oder den menschlichen Geist vor der daraus folgenden unweigerlichen existentiellen Niederlage bewahren. Wenn Gott da ist, kann er von niemand und von nichts ausgeschlossen werden. Wenn Gott da ist, dann entscheidet er und nicht wir, was recht und was unrecht ist, und wir müssen einzig und allein seinen Willen erforschen. Wenn Gott da ist, dann wird unser Tun und Handeln von ihm gemessen und bewertet. Das irritiert den Menschen, denn es ist ihm immer unangenehm, anderen Rechenschaft über seine Entscheidungen geben zu müssen und das Kriterium der Wahrheit und die Handlungsnorm nicht aus sich selbst ableiten zu können. Deshalb bildet der Mensch sich manchmal ein, Atheist zu sein, und bemüht sich mit allen Mitteln seiner Vernunft, dies vernünftig zu begründen. Guido Cavalcantis Gestalt hat etwas Tragisches und zugleich Komisches an sich, wenn er - nach Boccaccios Schilderung - um die Gräber herumschleicht und sich bemüht, "möglichst zu beweisen, daß es Gott nicht gibt" (Decamerone V,4). (Fs) (notabene)

16b Gott nimmt dem Menschen gegenüber, der ihn ausgrenzen möchte, eine Haltung der Schwäche und zugleich der Stärke ein. Er macht sich so hilflos, daß er von jedem frechen, liederlichen Bürschchen oder jedem x-beliebigen Wissenschaftler verleugnet werden kann, der die verschiedenen Methoden nicht recht zu unterscheiden weiß. Aber Gott bleibt so stark, daß er trotz jahrzehntelanger, pausenloser atheistischer Propaganda und aggressiver Verfolgung der Gläubigen nie ganz aus dem Herzen und Sinn eines Volkes schwindet - wie man im Fall des kürzlich untergegangenen marxistischen Politsystems sehen konnte. (Fs)

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16c Die größte Gefahr für die Wahrhaftigkeit unseres religiösen Lebens ist aber nicht so sehr der Atheismus als vielmehr der Götzendienst. Der Mensch meint sehr oft, mit Gott verbunden zu sein, und bezieht sich in Wirklichkeit nur auf einen toten und todbringenden Götzen. (Fs)

17a Wie oft stoßen wir auf Leute, die stolz und zufrieden sagen, daß sie ihre eigene Religion und ihren eigenen "Gott" haben, einen Gott, der ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht; das heißt im Grunde: einen Gott, den der Mensch sich seinen Interessen und Neigungen entsprechend gemacht und geformt hat. Schon Jesajas Prophetien bespöttelten den Götzenanbeter (eine Figur, die es zu allen Zeiten und auch heute noch gibt): Mit dem einen Teil des Holzes röstet er das Fleisch, aber aus dem restlichen Holz macht er sich einen Gott, ein Götterbild, vor das er sich hinkniet, zu dem er betet und sagt: Rette mich, du bist doch mein Gott! (vgl. Jes 44,16-17). Wir alle neigen manchmal und in gewisser Hinsicht zum Götzendienst. Wir scheuen uns vor der umwälzenden Begegnung mit dem lebendigen und wahren Gott, der allein unserem Herzen Auftrieb und unserem Leben die rechte Form gibt. (Fs)

Die Versuchung zum Götzendienst kann darin bestehen, sich nach eigenem Geschmack und Bedarf ein Bild von Gott zu machen, der immer auf unserer Seite steht; der unseren Plänen und Erwartungen entspricht; der uns nur Erfolg im Leben bringt und den man dann gegebenenfalls für unsere Schwierigkeiten verantwortlich macht. Aber das ist nicht der Gott, bei dem man in den kleinen Dingen des Alltags und im großen Abenteuer des Lebens ansetzen darf. (Fs)

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17b Wenn wir uns in diesem Punkt prüfen wollen, hilft uns Jesus der Herr mit einem Wort aus dem Evangelium (Lk 17,7-9). Er tut es mit einer klaren Entschiedenheit, die sich von den heutigen, süßlichen Darstellungen des Christentums deutlich abhebt. Es handelt sich um eine Art Gleichnis, das den damaligen gesellschaftlichen Gepflogenheiten entlehnt ist. Ein Sklave, der den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet hat, darf sich am Abend bei seiner Heimkehr weder Dank noch Lob noch Stärkung erwarten - sagt Jesus -, sondern den Dienst am Tisch seines Herrn. Die Mühe eines langen Arbeitstages gibt ihm nicht das Recht auf Ruhe, sondern bereitet ihn auf eine weitere Mühe vor. Desgleichen werden die Apostel Christi ermahnt, Gott keine Verdienste vorzuhalten, sondern nach jeder Arbeit, die aus Liebe zum Evangelium getan wurde, zu sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan (vgl. Lk 17,10). (Fs)

18a Die Erzählung des Herrn beschreibt eine Situation, die auf zwischenmenschlicher Ebene offensichtlich ungerecht und unmenschlich ist, aber sehr genau zeigt, wie unsere Beziehung zu Gott sein soll. Er ist voll und ganz der Herr. Ihm gegenüber haben wir keine Rechte, sondern nur Pflichten. Ihm gegenüber können wir keine Ansprüche stellen, wir können ihn nur bitten. Wenn der Mensch diese seine vollständige Nichtigkeit erkennt und jeden Anspruch fallen läßt, dann wird er wirklich "arm" in dem Sinn, der dem Evangelium entspricht, wie die "Armen vor Gott", die "selig" gepriesen werden, denn ihnen gehört das Himmelreich (vgl. Mt 5,3). (Fs)

Dann kann Gott dem Menschen Erbarmen und Liebe erweisen, das heißt, er kann ihm sein Wohlwollen und seine ungeschuldete Hilfe schenken. (Fs)

18b Der in seiner Allmacht so überragende und in seiner Transzendenz so erhabene Gott zeigt sich dann als "die Gnade Gottes, die erschienen ist, um alle Menschen zu retten" (vgl. Tit 2,11); als Jesus der Herr, der "sich für uns hingegeben (hat), um uns von aller Schuld zu erlösen und sich ein reines Volk zu schaffen, das ihm als sein besonderes Eigentum gehört" (Tit 2,14). (Fs)

"Ab Iove principium": Wenn wir von Gott ausgehen - nicht von einem der vielen Götzen, sondern von dem lebendigen und wahren Gott, den wir immer als Bezugspunkt unseres Lebens und unseres Handelns nehmen müssen -, wird gewiß jeder neue Tag mit Wahrheit und Weisheit erfüllt. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gott; Gottesfrage; Dilemma, 3 existentiellen Dilemmata: Zufall oder Plan - Tod - Grenze d. Erkenntnis (Sichtbare); Scheinproblem: Urknall, Abstammung; Beweisnot (areligiöser Mensch): Gott gibt es nicht: unvernünftigste aller Sicherheiten

Kurzinhalt: Was war schon vor mir da? Was hat mein Dasein hervorgerufen? ... Der "areligiöse" Mensch ist derjenige mit der gewagtesten und unvernünftigesten aller Sicherheiten: der Gewißheit, daß es etwas nicht gibt.

Textausschnitt: B) Die Dilemmata des Daseins
23a
1. Was war schon vor mir da? Was hat mein Dasein hervorgerufen?

Diese grundlegende und vorrangige Frage stößt auf ein ebenso grundlegendes und vorrangiges Dilemma: Entweder ist mein Dasein einem Zufall zu verdanken, oder es liegt ihm ein Plan zugrunde. Daß ich bin, hat seinen Grund entweder im Zufall oder in einem vernünftigen Entschluß. Jede andere Hypothese würde sich sehr bald als vorläufig oder vordergründig erweisen. Weil man unter Zufall "Abwesenheit eines vernünftigen Plans" versteht, widersprechen sich die beiden Antworten und erlauben keine Zwischenlösungen: Das ist das "Dilemma". (Fs)

Seit einigen Jahrhunderten stehen wir alle unter dem Einfluß der verschiedenen Ideologien der Humanwissenschaften, die sich ständig wandeln. Man findet keinen Ausweg, und man begreift nicht, wie einfach das Dilemma zu lösen ist. (Fs)

23b Wenn wir danach forschen, ob der Mensch vom Affen abstammt oder nicht; ob das organische Leben spontan aus unorganischer Materie hervorgegangen ist; ob das Sonnensystem seinen Ursprung in einem Urnebel hatte; ob die Entwicklung des Kosmos durch den "big bang", d.h. eine uranfängliche Explosion, in Gang gesetzt wurde, hat das für uns persönlich kein großes Gewicht. Das sind wissenschaftliche Probleme und eine interessante Aufgabe für die Anhänger der Biologie, der Paläontologie, der Astrophysik und aller anderen wunderschönen Fachzweige. Das, was wirklich zählt, ist: zu wissen, ob die in meiner Vorgeschichte stattgefundenen Prozesse zufällig oder gewollt waren. Das ist die einzige Frage, die den Menschen unabhängig von seinem Bildungsniveau beschäftigen sollte. Die Entscheidung für eine der beiden möglichen Lösungen hat tiefgreifende Folgen für das ganze Dasein. (Fs) (notabene)

23c Wenn mein Dasein einem Zufall zu verdanken ist, wird der Zufall meine Lebensregel. Es ist nicht einzusehen, warum man sich von der Vernunft und vom Willen leiten lassen soll, wenn man zufällig geboren ist, d. h. ohne den Eingriff einer Vernunft und eines Willens. Wer nicht die Wahrheit eines Planes als Voraussetzung für sein Auf-die-Welt-Kommen anerkennt, dessen Leben hat als inneres Gesetz die Abwesenheit jeden Gesetzes und als Verhaltensprinzip die Verneinung jedes Prinzips. Seine Haltung und sein Tun werden von der absoluten Anarchie geleitet. Was zufällig begonnen hat, muß zufällig fortschreiten. (Fs) (notabene)

24a Aber der Mensch ist in dieser Hinsicht glücklicherweise inkonsequent. Auch die unduldsamsten und konsequentesten "Anarchisten" scheinen zum Glück bei näherem Betrachten ihrer Taten ausnahmslos tausenderlei inneren Gesetzen und eisernen Verhaltensregeln unterworfen. Ja, gewöhnlich sind sie bigotte Anbeter von "Idolen", das heißt von Grundsätzen, die ohne vernünftige Begründung in ihnen die lebendige Rolle der Wahrheit übernommen haben. (Fs) (notabene)

24b Wenn aber meinem Dasein ein Plan zugrunde liegt, dann ist es meine Aufgabe, mich um meine persönliche Übereinstimmung mit dem Plan, der mich gewollt hat, zu bemühen. Wenn ich aus einem vernünftigen Willensakt geboren bin, dann bin ich und muß ich ein bewußtes und freies Gegenüber sein. Wenn ich aus der Liebe hervorgegangen bin, dann bin ich berufen, durch mein Leben auf die Liebe zu antworten. Wenn mein Leben aus einem Plan hervorgegangen ist, dann ist der Sinn meines Lebens der Gehorsam gegenüber dem Plan, der mir vorausgegangen ist. (Fs)

2. Was kommt nach dem Tod? Auch das ist eine "menschliche" Frage, das heißt eine Frage, die den Menschen als solchen betrifft. Sie ist an keine bestimmte "Kultur" gebunden, und ist weder auf religiöse Schläue noch Machthunger zurückzuführen, auch wenn man uns das manchmal einreden will. Fragen zu stellen ist nie eine ideologische Überheblichkeit. Aber es ist ideologisch überheblich, durch tausenderlei Kunstmittel zu verhindern, daß jede beliebige Frage frei gestellt werden kann. (Fs)

24c Auch diese zweite Frage bringt uns in ein Dilemma. Nachdem in diesem Falle ohnedies alle Hypothesen vorläufig sind und einer "späteren Lösung" harren, gibt es zunächst einmal nur zwei denkbare Möglichkeiten: Entweder ist nachher der Untergang oder das ewige Leben. Untergang und ewiges Leben, beide beziehen sich auf den Menschen, der sich bewußt diese Frage stellt, und sie beziehen sich auf ihn, insofern er sich ihrer bewußt ist. Denn ein eventuelles Weiterleben, ohne daß mein Bewußtsein und meine einmalige Identität fortbestehen, ist für mich uninteressant. Es würde ja den Untergang des Menschen bedeuten, der sich selbst erforschen will. Keine noch so gute Rhetorik kann dies vor mir verbergen. (Fs)

25a Es ist merkwürdig, daß so viele Menschen, die sich für mächtig und fortschrittlich halten, sich zumindest nach außen hin mit romantischen und vagen Behauptungen zufriedengeben. Zum Beispiel, wenn man vom Fortbestehen des Einzelnen in einer erweiterten Wirklichkeit wie der Natur, dem Vaterland, der Arbeiterklasse oder der "leuchtenden Zukunft" der Menschheit spricht. Es gibt kein Weiterleben, wenn es nicht den Einzelnen, den bewußten Einzelnen betrifft. Alles andere ist einfach reiner Untergang, auch wenn man ihm angenehmere und weniger lästige Namen gibt. (Fs)

Ja, hier ist zu beachten, daß die kollektiven Wirklichkeiten wie Vaterland, Gesellschaftsklasse oder Menschheit nur dann als wahre Werte, die das Opfer des Einzelnen verdienen, betrachtet werden können, wenn der Einzelne das ewige Leben als Bestimmung hat und er selbst einen wahren Wert darstellt. Im andern Fall verliert alles an Bedeutung, denn die Summe unzähliger Nullen ergibt immer als Resultat Null. (Fs)

Auch wenn sich dieses Dilemma auf das "Nachher" bezieht, bestimmt es meinen jetzigen Standort und den Sinn meines Erdenlebens. (Fs)

25b Wenn das Ziel das Nichts ist, ist das Nichts schon jetzt, trotz des farbenprächtigen Anscheins, die einzige Wirklichkeit. Wenn das Leben auf das Nichts zugeht, lebt man schon jetzt im Nichts. Wenn ich hingegen auf das ewige Leben zugehe, ist die Ewigkeit schon jetzt in gewisser Weise in mir, denn die Bestimmung eines Menschen geht in den Menschen selbst ein. (Fs) (notabene)

3. Sind die Grenzen des "Sichtbaren" auch die Grenzen allen Daseins? Oder, was dasselbe ist: Besteht die Möglichkeit, daß es außer der "sichtbaren" Welt noch etwas anderes gibt? (Fs)

25c Wir beziehen uns hier, wohlgemerkt, nicht so sehr auf die "Tatsache", sondern auf die "Möglichkeit" der Existenz des "Unsichtbaren"; das heißt, auf etwas, das jenseits desjenigen Erkenntnisaktes liegt, der als einzige annehmbare Forschungsmethode die mathematische Beweisführung und empirische Prüfung anerkennt. (Fs)

26a Auch das ist ein Dilemma, dem der Mensch nicht ausweichen kann. Er muß sich für den einen oder den anderen Ausblick entscheiden. Und wenn er manchmal meint, nicht entscheiden zu müssen und seine unbefleckte Neutralität bewahren zu können, reiht er sich im konkreten Geistesleben doch irgendwo ein. So sehr er auch theoretisch und absichtlich jede Entscheidung verweigern will - in der konkreten Wirklichkeit nimmt er das mögliche Vorhandensein der un-sichbaren Welt ernst, oder er nimmt es nicht ernst. Die Entscheidung für eine dieser beiden Haltungen hat schon im sichtbaren Leben schwerwiegende und entscheidende Folgen. Wer von vornherein sich dem Unsichtbaren verschließt, findet sich auf einen Raum eingeengt, der schon auf den ersten Blick auch für die einfachsten menschlichen Grundinteressen zu eng erscheint. Zum Beispiel, wenn er völlig unkritisch und apriorisch die Frage nach einem möglichen Weiterleben seiner Lieben mit Nein beantwortet hat. Woraus sich dann viele andere "existentielle Fragen" ergeben, z. B.: Warum liebt der Mensch jemanden, der nicht mehr ist, der ja theoretisch auch nicht mehr existieren kann? Vor allem die Enge der sichtbaren Welt versetzt uns, wenn wir jeden Aufbruch zur Höhe ausgeschlossen haben, unweigerlich in einen Zustand der Bedeutungslosigkeit, der an das Absurde grenzt, denn - wie es so schön heißt - "der Sinn des Universums ist nicht das Universum". (Fs)

26b Wer sich hingegen der Möglichkeit des Unsichtbaren öffnet, betritt einen Raum, wo die Möglichkeiten praktisch unbegrenzt sind, so daß man alles erwarten und nichts vorhersehen kann. Vom Unsichtbaren ist jede mögliche Überraschung zu erwarten. Entweder ist das Universum leer und dann natürlich auch taub und stumm; oder es ist möglicherweise bevölkert. Dann hoffe ich auch, daß es dort viele Wesen gibt, die unsere Rufe hören können und ihre Stimmen zu uns gelangen lassen. (Fs)

Der von Natur aus "religiöse" Mensch schließt "a priori" nichts aus. Er weiß, daß es schwierig ist, die Existenz von etwas zu beweisen, aber noch viel schwieriger, die Nichtexistenz von etwas unwiderlegbar zu beweisen. (Fs)

26c Der "areligiöse" Mensch ist derjenige mit der gewagtesten und unvernünftigesten aller Sicherheiten: der Gewißheit, daß es etwas nicht gibt. Das ist außerdem eine Gewißheit, die nur Gott zusteht. Nur er ist allwissend und kann die Dinge nennen, die es nicht gibt. (Fs) (notabene)

27a Hier bricht ein Idol der vorherrschenden Kultur der vergangenen Jahrhunderte zusammen, nach dem nur das existiert, was menschlich erfaßbar ist. Wahr und vernünftig ist aber das Gegenteil: Ich kann nur sicher sein, daß etwas nicht existiert, solange es auf die sichtbare Welt begrenzt ist. Zum Beispiel kann ich, nachdem ich die Erde und das Meer komplett durchforscht habe, zu der vernünftigen Überzeugung gelangen, daß es irdische Geschöpfe wie den Hippogryphen, die Zentauren und die Sirenen nicht gibt. Aber ich darf keinesfalls, wenn ich nicht unvernünftig werden will, zu der Überzeugung gelangen, daß es keine Cherubim gibt. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Glaubensentscheidung; 3 existentiellen Dilemmata; Gegensatz von Denkalternativen: das Absurde - Geheimnis; "göttlich-menschliche" Natur des Glaubensaktes

Kurzinhalt: Diese Gedankenfolge soll beweisen, daß die einzige vernünftige Haltung des Geistes darin besteht, das Geheimnis anzunehmen... Gottes Eingreifen, die Offenbarung, die den "Glauben" weckt, scheint gleichsam die menschliche Entscheidung für das Geheimnis ...

Textausschnitt: C) Die Glaubensentscheidung

27b
1. Im Bereich der drei existentiellen Dilemmata gibt es für den Menschen zwei Möglichkeiten, sich zu entscheiden: Das heißt, daß die Verschiedenheit, ja der Gegensatz jeweils zweier in sich homogener Denkalternativen zu respektieren ist, will man nicht in eine Art gefährlicher und untragbarer Schizophrenie verfallen. Wenn mir ein Plan zugrunde liegt, dann wird er doch fortdauern und dem, was nach meinem Erdenleben geschieht, Sinn geben. Wenn es einen Plan gibt und jemanden, der ihn erdacht und gewollt hat, dann gibt es etwas und jemanden jenseits der sichtbaren Welt. Wenn mir hingegen der Zufall zugrunde liegt, dann wird auch der Untergang, mit dem mein Leben auf Erden endet, blind und zufällig sein, und es gibt keine Hoffnung. Wenn alles aus Zufall geschieht, dann haben sich die Dinge auf Grund ihrer gleichen, zufälligen Herkunft nur angehäuft, das heißt, sie sind nicht sinnvoll miteinander verbunden. (Fs)

Die erste Möglichkeit setzt eine existierende Wirklichkeit voraus, die mich allseits übersteigt: Sie zu erkennen bedeutet, die Existenz des Geheimnisses anzunehmen. (Fs)

Die zweite Alternative besagt, daß alles unwichtig ist: meine Herkunft, mein Schicksal und das Universum, das von sich aus keinen Grund zu existieren hat: Diesen Stand der Dinge anzuerkennen bedeutet, das Absurde als Sinngehalt der Wirklichkeit anzunehmen. Fs)

27c Der Mensch steht also vor der Wahl zwischen dem Absurden und dem Geheimnis. Das Dilemma ist im Grunde nur eins. Die grundlegende und unausweichliche Entscheidung, an die sich jedes Denken, jedes Handeln, jeder Augenblick konsequent zu halten hat, lautet: zu wählen zwischen dem augenscheinlich sinnlosen Ganzen und der verborgenen, transzendenten Sinngebung.

28a Oder anders gesagt: Diese Gedankenfolge soll beweisen, daß die einzige vernünftige Haltung des Geistes darin besteht, das Geheimnis anzunehmen. D.h., bereitwillig darauf zu warten, daß eine Offenbarung unsere völlige Unzulänglichkeit füllt, und zu wünschen, daß für uns unvorhergesehene Rettung von irgendwoher kommt. (Fs)

2. Gottes Eingreifen, die Offenbarung, die den "Glauben" weckt, scheint gleichsam die menschliche Entscheidung für das Geheimnis und gegen das Absurde zu bestätigen. (Fs)

Nur dieses Eingreifen vermag zumindest auf psychologischer Ebene eine Hypothese in eine existentielle Gewißheit zu verwandeln und den "Knaben" in uns ermutigen, von dem Cebete sprach: "Sokrates, es ist wirklich so: Wir haben irgendwie Angst, stärke uns du. Oder, noch besser, nicht wir haben Angst, aber in uns steckt vielleicht ein Knabe, der diese Ängste hat" (Platon, Phaidon, 24). (Fs)

3. Hier können wir nun die zu Beginn erwähnte Antinomie einordnen und gewissermaßen lösen. (Fs)

28c Das frei geschenkte und unerwartete Eingreifen Gottes, der in seinem Plan für uns auch sich selbst offenbart, ist gewiß ein Geschenk des Himmels. Aber dieses Eingreifen ist auch eine Antwort auf die Grundfragen, die im Innersten des Menschen eingeschrieben sind. Gottes Eingreifen übertrifft sicher alle unsere Erwartungen. Aber es gibt dieser Aussage des "Geheimnisses" zugleich Festigkeit, positiven Gehalt und Unzweifelhaftigkeit. Es offenbart eine Wirklichkeit, die uns übersteigt und dadurch imstande ist, uns zu erlösen. Der Mensch gelangt zaudernd und unmerklich zu dem "Geheimnis", wenn er sich davon überzeugt, daß es notwendig und vernünftig ist, dem Absurden nicht zuzustimmen. (Fs)

Nun wird allmählich die sogenannte "göttlich-menschliche" Natur des Glaubensaktes deutlich, der voll göttlichen Lichtes und zugleich ganz menschlich ist. (Fs)

28d Wenn wir uns nicht täuschen, haben wir nun den Glaubensakt im geistlichen Leben des Menschen wenigstens hypothetisch vorbereitet. Dieser Akt, ursprünglich himmlisch und göttlich, hat auch ganz menschliche und irdische Wirkungen. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Glaube, Glaubensakt (im Licht der Offenbarung); AT (Abraham, Dekalog); NT

Kurzinhalt: Sich Jesus öffnen und im Glauben "ihn sehen" ist die einzige Möglichkeit, "den Vater zu sehen" und seine Offenbarung aufzunehmen:

Textausschnitt: B) Im Licht der Offenbarung

29d
1. In der alttestamentlichen Offenbarung bedeutet "an Gott glauben" oder "in Gott glauben": im eigenen Lebensinneren den einzigen und konkreten Gott aufzunehmen, der sich zuerst als ein Gott des Familienstammes (Erzählungen der Patriarchenzeit) und dann als ein Gott des ganzen Volkes (Befreiungsepos) manifestiert hat. Dieser Glaube ist volle Zustimmung, aus der Treue, Vertrauen und Sicherheit erwächst. (Fs) (notabene)

30a Typisches Beispiel dieses Glaubens ist Abraham: Er "glaubte dem Herrn, und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an" (Gen 15,6). (Fs)

Dieses "Sich der göttlichen Initative Überlassen", was natürlich das Überzeugtsein von der Allmacht und Herrschaft Gottes über die Dinge voraussetzt, wurzelt also ursprünglich in einer moralischen Tugend, ja, es ist die hauptsächliche Quelle der Moralität und der Maßstab für die "Gerechtigkeit". (Fs)

30b Es wird also zunächst nicht der verstandesmäßige Aspekt hervorgehoben, obwohl er als Voraussetzung schon mitenthalten ist. Auch der biblische Ausdruck "den Herrn erkennen", was dasselbe bedeutet, ist im semitischen Sinn zu verstehen, und d. h., nicht nur "einen Gegenstand ideal darzustellen" (wie es in der griechischen Kultur der Fall ist), sondern meint auch dessen Besitz, Erfahrung und existentielle Gemeinschaft. (Fs)

Dasselbe gilt für das erste Gebot des Dekalogs, der gerade diese grundlegende Beziehung mit Gott zum Inhalt hat. Das Gebot: "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben" (Ex 20,3), will nicht so sehr einen theoretischen und gedanklichen Monotheismus als vielmehr einen "lebenspendenden Monotheismus" einsetzen. Aber die monotheistische Philosophie war natürlich inbegriffen und sollte in späterer Zeit offenbar werden (z. B. Dt 4,35 : "Jahwe ist der Gott, kein anderer ist außer ihm"). (Fs)

30c
2. Die christliche Urgemeinde scheint sich des kontinuierlichen göttlichen Eingreifens und der wesentlich einstimmigen Aussage bewußt gewesen zu sein, die sich aus der Berufung Abrahams bis zum Erscheinen Christi entwickelt hatte. Aber sie scheint sich ebenso des Qualitätssprungs bewußt gewesen zu sein, der durch die Botschaft des Evangeliums vollzogen wurde, sowie der Tatsache, daß die Offenbarung des Gottessohnes allumfassend ist: "Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn" (Hebr 1,1). "Wenn ihr das lest, könnt ihr sehen, welche Einsicht in das Geheimnis Christi mir gegeben ist. Den Menschen früherer Generationen war es nicht bekannt; jetzt aber ist es seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist offenbart worden" (Eph 3,4-5). (Fs)

31a Sich Jesus öffnen und im Glauben "ihn sehen" ist die einzige Möglichkeit, "den Vater zu sehen" und seine Offenbarung aufzunehmen: "Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht" (Joh 1,18). Analog zu dem von Abraham und seiner "Gerechtigkeit" Gesagten wird allerdings mit viel mehr Nachdruck und einem die alte Offenbarung weit übersteigenden Ausblick verkündet, daß allen, die das Wort aufnehmen, das in die Welt kommt, und an seinen Namen glauben, die Macht gegeben ist, Kinder Gottes zu werden (vgl. Joh 1,12). (Fs)

31b Wie das alte Israel (das damals auch unter dem Einfluß des griechischen Denkens stand; vgl. z. B. Weish 13,1-9 ), so weiß auch das "neue Israel", daß "es ohne Glauben unmöglich ist, Gott zu gefallen; denn wer zu Gott kommen will, muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn geben wird" (vgl. Hebr 11,6). Aber das neue Israel weiß auch (und das ist die eigentliche christliche Neuheit), daß in Jesus von Nazaret die ganze Offenbarung des Vaters und seines Heilsplans zusammengefaßt und zugänglich gemacht wurde: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen" (Joh 14,9). Und Israel weiß ebenfalls, daß die persönliche Kenntnis, die Jesus vom Vater hat, für uns der notwendige Anfang der übernatürlichen Kenntnis ist: "Niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will" (Mt 11,27). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Glaube, Glaubensakt, doppelte Ganzheit: objektiv - subjektiv; Säkularisierung - "profanierte" Wirklichkeit; Integralismus;

Kurzinhalt: Begegnung des ganzen Menschen mit dem "ganzen" Christus ... Es gibt keine "profanen" Wirklichkeiten. Es gibt "profanierte" Wirklichkeiten, das heißt vom Bösen versklavte und verunstaltete Wirklichkeiten ...

Textausschnitt: D) Eine doppelte Ganzheit

32c In seiner ursprünglichen Fülle betrachtet, erfordert der Glaubensakt für uns eine zweifache Ganzheit, die auch im theologischen Denken der vergangenen Jahrhunderte gewöhnlich wenig erfaßt wird: Er ist die Begegnung des ganzen Menschen mit dem "ganzen" Christus, d. h., mit Ihm, der alles ist. (Fs)

32d Es gibt also eine objektive Ganzheit: Das Objekt, die im Glaubensakt erlangte "res", ist die Gesamtheit des Wirklichen, insofern es in Christus zusammengefaßt ist. Und dann gibt es eine subjektive Ganzheit: Das Subjekt des Glaubensaktes ist der Mensch, der seine ganze Menschheit mit allen seinen Fähigkeiten und Eigenschaften in ihn einbringt. (Fs)
33a

1. Die objektive Ganzheit: Im Glaubensakt wird Christus, in dem "alles Bestand hat" (vgl. Kol 1,17), erkannt und anerkannt. Er ist sozusagen die Summe aller Werte, das ideelle Kompendium des ganzen Universums. (Fs)

Deshalb sagt man zu Recht, daß Jesus Christus die Wahrheit, die Schönheit, die Gerechtigkeit ist: In Ihm ist alle Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit des Universum, noch bevor sie in den Dingen ist. Alle positiven Eigenschaften, die in der Welt als ungereinigte Bruchstücke verstreut sind, sind in ihm. Alles, was existiert, hat, bevor es existiert, ein ideelles Leben im weiten, unermeßlichen Meer der Vollkommenheiten Christi, der seinerseits ein ideelles Leben in der ewigen Unendlichkeit Gottes hat. (Fs)

33b Wenn alle Dinge von ihrem Ursprung her gleichsam Widerschein und Echo Christi, freudvolles Licht und erschöpfendes Wort des Vaters sind, dann ist klar, daß es im Grund keine "Säkularisierung" gibt. Wenn Christus, wie der Brief an die Kolosser uns lehrt, nicht nur "Haupt" und "Ursprung" des erlösten Universums, sondern vor aller Schöpfung ist, dann sucht man vergeblich nach der vermeintlich existierenden "säkularisierten" Welt: es gibt sie nur im abstrakten Bereich des Möglichen. (Fs) (notabene)

33c Es gibt auch keine "säkularisierten" Menschen. Es gibt leider Menschen, die sich ihrer ursprünglichen Verbindung mit dem Erlöser nicht bewußt sind oder sich sogar gegen ihn auflehnen und damit im Widerspruch zu ihrer wahren Natur stehen. Es gibt keine "profanen" Wirklichkeiten. Es gibt "profanierte" Wirklichkeiten, das heißt vom Bösen versklavte und verunstaltete Wirklichkeiten, die mit allen Fasern ihres Seins (wenn auch nicht immer mit ihrem Bewußtsein) auf Befreiung und neue Heiligung warten. Diese objektive Ganzheit hat zur Folge, daß sich der Glaubensakt nicht nur auf einen mehr oder weniger breiten menschlichen Lebensbereich und nur auf einen Teilbereich unseres Tuns und Handelns beschränken darf. Deshalb sagt der Apostel Paulus, daß der geisterfüllte Mensch, der "pneumaticós", der Mensch, der im wahrsten Sinn des Wortes glaubt, "über alles urteilt", daß "ihn aber niemand zu beurteilen vermag" (1 Kor 2,15); das heißt keiner, der sich außerhalb des Wirkens des Geistes im Bereich des Unglaubens befindet. Nun könnte so mancher meinen, daß der Glaube, weil er ja schon der ideelle Besitz dessen ist, der alles ist, jedes andere Wissen zunichte macht. "Wenn Christus alles ist, warum müssen wir dann Mathematik lernen?" Aber das ist ein Irrtum. (Fs) (notabene)

34a Wie jedes Geschöpf, obwohl es organisch in die Gesamtheit des Planes Gottes eingefügt ist, eine eigene, unvergleichliche und unauslöschliche Natur besitzt, so wird jede Disziplin und jede Wissenschaft von ihren Prinzipien und Forschungsmethoden getragen, auch wenn sie letztlich objektiv mit jener umfassenden Gesamtsicht des Universums zusammenhängen, die der Kenntnis eigen ist, die Christus von den Dingen hat. (Fs)

Der Gläubige kann nicht auf einem kürzeren Weg zur Wissenschaft gelangen. Aber weil er den tiefsten Sinn und das höchste Ziel jedes Menschen kennt, wird er bei allem Studieren und Forschen immer vom Licht aus der Höhe geleitet, das ihm eine tiefe und wahre "Lektüre" der Dinge ermöglicht. (Fs)

34b Für den Menschen, der noch auf dem "Pilgerweg" ist und aus dem Glauben lebt, ist deshalb der Integralismus keine angemessene geistliche Haltung. Der Integralismus wird aber in der weiten Sicht des Himmels Wirklichkeit, wenn wir in der unmittelbaren Anschauung Gottes und Christi alle Dinge erkennen werden. Wird der Glaube jedoch "extrinsezistisch", d. h. äußerlich aufgefaßt, indem er ohne Bezug und Zusammenhang "neben" den "weltlichen" Bereich gestellt wird, dann ist er kein wahrer Glaube. Das gilt für die gegenwärtige und ebenso für die zukünftige Welt. (Fs)

2. Die subjektive Ganzheit: Im Glaubensakt wird der ganze Mensch mit seinem ganzen Sein und allen seinen Möglichkeiten gefordert. Der ganze Mensch ist in diese personale Begegnung mit Ihm, der alles ist, einbezogen: Keine Ausgrenzung ist zulässig, nichts darf ausgeschlossen werden. (Fs)

34c Diese Wahrheit gehörte schon zum Fundament der jüdischen Religion. Jesus hat sie herausgestellt in dem Gebot: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft" (Mk 12,30). Auch der Apostel Paulus meint, wenn er vom Glauben spricht, immer eine Zustimmung der ganzen Person und des ganzen Lebens zu Christus: "den Glauben ..., der in der Liebe wirksam ist" (Gal 5,6); in jener Liebe, die für ihn Gesamtheit und Vollkommenheit des Lebens als neue Menschen ist (vgl. z. B. J Kar 13,1-13). (Fs)

35a Um diese subjektive Ganzheit verständlicher zu machen, suchen wir die menschlichen Fähigkeiten aufzuzählen, die mitwirken, auch wenn wir wissen, daß jede Zergliederung der gesamten Tätigkeit des Geistes etwas Künstliches an sich hat und sofort eine Reihe von schwierigen Fragen aufwirft. (Fs)

a) Weil der Mensch ein denkendes Lebewesen ist, ist der Glaubensakt zunächst eine Erkenntnis und Frucht des Verstandes. (Fs)

Es handelt sich um den Verstand, wie er im Menschen konkret arbeitet, also Erkennen und Vernunft, Induktion und Deduktion, Gedächtnis und Kritikfähigkeit, natürliche Geistesverwandtschaft mit der Wahrheit und natürliche Abneigung gegen das Absurde vereint. (Fs)

b) Schon bei der natürlichen Erkenntnis ist der Einfluß des Willens viel größer, als man zunächst annimmt: Sehr oft arbeitet unser Verstand sozusagen im Auftrag und beweist das, was er beweisen soll. In besonders schwierigen Forschungen gelangt man ja auch nur mit großer Entschlossenheit zu einem annehmbaren Ergebnis. (Fs)

35b Der Beitrag des Willens zum Glaubensakt ist entscheidend. Wenn es wider allem Anschein wahr ist, daß nur derjenige versteht, der verstehen will, ist es um so wahrer, daß nur derjenige glaubt, der sich entschließt zu glauben. Es ist kein Zufall, daß im Neuen Testament in dieser Hinsicht ständig das Wort "Gehorsam" auftaucht. Der typische Akt des Glaubenden besteht hauptsächlich im "Gehorsam" zum Glauben, zu Christus, zum Evangelium, zur Wahrheit (Rom 1,5; 6,16-17; 10,16; 15,18; 16,19.26; 2 Kor 10,5-6; 2 Tess 1,8; Hebr 5,9; I Petr 1,22). (Fs)
c) Es handelt sich nicht nur um den Gehorsam als Fähigkeit der Selbstbestimmung, sondern auch als Liebe, Zuneigung des Herzens, natürliches Streben nach dem, was gut und edel ist. Es handelt sich um den ästhetischen Sinn und die Affektivität. All das festigt den Glaubensakt. (Fs)

35c Die theologische Tradition spricht von einem "pius credulitatis affectus" als unerläßliche Voraussetzung für den Glauben. (Fs)

d) Schließlich weist uns das Wort Gottes wiederholt daraufhin, daß für den Glaubensakt der Einfluß der göttlichen Gnade notwendig ist, die den Verstand erleuchtet, den Willen stärkt und im Innersten begeistert und überzeugt: "Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt" (Joh 6,44). Der Protagonist bei diesem Abenteuer des Glaubensaktes im Herzen des Menschen ist der Heilige Geist. (Fs)

36a Der Apostel Paulus nennt uns die Gründe für dieses notwendige Eingreifen des Heiligen Geistes in einem Abschnitt, den wir immer wieder lesen sollten: "Wer von den Menschen kennt den Menschen, wenn nicht der Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch keiner Gott - nur der Geist Gottes. Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir das erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist. Darum reden wir auch, nicht mit Worten, wie menschliche Weisheit sie lehrt, sondern wie der Geist sie lehrt, indem wir den Geisterfüllten das Wirken des Geistes deuten. Der irdisch gesinnte Mensch aber läßt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann. Der geisterfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen. Denn wer begreift den Geist des Herrn? Wer kann ihn belehren? Wir aber haben den Geist Christi" (1 Kor 2,11-16). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Glaube - Vernunft; Merkmal des Glaubenskates: wesentlich vernünftig; V.: Aufstieg zum Glauben - Selbstwiderspruch

Kurzinhalt: Die Wirklichkeiten befinden sich sozusagen in einem Zustand, der eigentlich "unter ihrem Sein" liegt, weil sie den Loskauf abgelehnt haben, oder in einem Zustand, der eigentlich "über ihrem Sein" liegt, weil sie die Erneuerung des Geistes ...

Textausschnitt: E) Die Vernunft im Glaubensakt

36b An dieser Stelle ist es nützlich, im Licht unserer bisherigen Überlegung festzuhalten, welche Rolle die Vernunft im Glaubensleben des Menschen spielt. (Fs)

1. Die Vernunft ist ein Erkenntnisprinzip, das seine innere Gültigkeit hat, unabhängig von den Lebensumständen des Menschen: Sie hat eigene, universale und ewige Gesetze, die niemand widerrufen kann. Die Vernunft ist imstande, den Menschen als solchen in allen seinen Implikationen (als ihr höchstes Objekt) zu erreichen. Niemand kann rechtmäßig voraussetzen, daß von ihm verlangt wird, auf das vernünftige Denken zu verzichten, um zu glauben. (Fs)

2. Die Vernunft gehört als unerläßliches Grundelement zum Glaubensakt und ist die Voraussetzung für die homogene Entwicklung des Glaubensaktes, die das theologische Denken ist. Unfehlbares Merkmal des Glaubensaktes ist, daß er wesentlich vernünftig ist. (Fs)

37a
3. Weil der Mensch tatsächlich in Christus, dem Erlöser, erdacht und gewollt wurde, und weil tatsächlich alles im Heilsplan existiert, deshalb lebt und wirkt die menschliche Vernunft in einer Welt, wo das Wort Gottes, das "wahre Licht", tatsächlich "jeden Menschen erleuchtet", wenn auch nicht jeder Mensch dieses Licht aufnimmt (vgl. Joh 1,9). Die Wirklichkeiten befinden sich sozusagen in einem Zustand, der eigentlich "unter ihrem Sein" liegt, weil sie den Loskauf abgelehnt haben, oder in einem Zustand, der eigentlich "über ihrem Sein" liegt, weil sie die Erneuerung des Geistes angenommen haben. (Fs)

4. Wenn sich die Vernunft dem Licht des Wortes verschließt, schrumpft sie in einen Zustand der Unfähigkeit und Unangemessenheit gegenüber der tatsächlich existierenden Wirklichkeit. Indem sie ihrem Wesen widerspricht, wird sie "Finsternis". "Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert" (Röm 1,21), schreibt der Apostel Paulus über die großen Denker der Antike, die sich der Anbetung des wahren Gottes entzogen hatten. (Fs) (notabene)

5. Deshalb steht die Vernunft effektiv und von ihrem Wesen her vor der Wahl, entweder ins höhere Licht des Glaubens aufzusteigen (wo sie fortlebt und sich entfaltet) oder der eigenen Natur als ausreichendem Erkenntnisprinzip des Wirklichen zu widersprechen. (Fs) (notabene)
6. Es besteht also kein tatsächlicher Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft. Ja, es besteht grundlegende Übereinstimmung. Der Glaube kann nicht ohne Vernunft bestehen. Genausowenig kann sich die Vernunft enfalten und angemessene Erkenntnis der jetzigen Wirklichkeiten werden, wenn sie sich nicht dem Licht der göttlichen Offenbarung und der inneren Erleuchtung durch die Gnade öffnet. (Fs)

7. Der einzige mögliche Gegensatz zur Vernunft ist sie selbst, wenn sie nicht über sich selbst hinauswachsen will und deshalb zur Selbstzerstörung wird. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Glaube: Anfang, negatives Moment, positives M., Einstieg in den G.; Wille - Gnade;

Kurzinhalt: Es fällt nicht schwer, jetzt im Glaubensakt das gleichzeitige Zusammenwirken und die wechselseitige Abhängigkeit des Willens, der Vernunft und der Gnade wahrzunehmen.

Textausschnitt: F) Wie der Mensch zum Glauben kommt

38a Das Gesagte hat uns zweifellos gezeigt, wie vielfältig und im Grunde rätselhaft dieser Akt unseres Geistes ist. Denn das psychologische Geheimnis des Menschen, der sich selbst bestimmt, verbindet sich mit dem metaphysischen Geheimnis, das die Beziehung der Freiheit des geistigen Geschöpfes zur Allmacht des Schöpfers ist. Im Laufe unserer Betrachtung sind viele Fragen in uns aufgestiegen, zum Beispiel: Ist der Glaubensakt vernünftig auch in dem Menschen, der zu keinem persönlichen Gedankengang fähig zu sein scheint? Und wie kann der Glaubensakt völlig vernünftig und zugleich völlig frei sein? Und wenn er frei und vernünftig ist, wie kann er als ein Geschenk erachtet werden? Und wenn er ein Geschenk ist, ist er dann noch unverkennbar und hauptsächlich unser eigener Akt, so daß er den Maßstab für unsere "Gerechtigkeit" bildet? Es leuchtet ein, daß hinter diesen Fragen ein anderer Sachverhalt steckt: der Wille und die Gnade in ihrem "zusammengesetzten Wesen". Wille und Gnade zugleich sind im Glaubensakt und in der Bewegung des Geistes gegenwärtig. (Fs) (notabene)

38b Die theologische Literatur, die diese Problematik aufgreift, ist unendlich, und die "Analyse des Glaubensaktes" ist seit Jahrhunderten eine Grundfrage der Glaubenslehre. Wir können hier keine formale Abhandlung oder Zusammenfassung über sie aufstellen. Wir begrenzen uns auf eine kurze Beschreibung des idealen Weges, auf dem der Mensch zum Glaubensakt kommt. Wir sind aber zugleich fest davon überzeugt, daß jeder von uns, wie er ein Gesicht hat, auch eine geistliche Physiognomie und persönliche Weise hat, Christus zu begegnen und sich von ihm verwandeln zu lassen. (Fs)

***

1. Wir unterscheiden vier Zeitpunkte auf dem Glaubensweg in der Logik und Psychologie des Menschen. (Fs)

1. Der Anfang

38b Der Mensch spürt, daß das Grundprinzip, von dem sein geistliches Abenteuer ausgehen muß, darin besteht, daß er nicht sich selbst für die gängige Wahrheit und das höchste Maß der Wirklichkeiten halten darf. Dann spürt er als moralischen Imperativ die Pflicht, das höchste Maß zu suchen und die Pflicht, der absoluten Wahrheit zu gehorchen, wo immer sie ist und wo immer sie ihm begegnet. (Fs)

39a Wir sagten, es sei ein moralischer Imperativ. Er ist unanfechtbar wie alle Imperative, die mit den Grundprinzipien vergleichbar sind, und braucht keine Begründung. Aber wie alle moralischen Normen kann er in der Praxis überwunden werden. Er ist theoretisch unverletzlich, kann aber im Verhalten leicht verletzt werden. (Fs)

Für den, der ihn verletzt, ist das Abenteuer zu Ende. Er gelangt nicht zum Glaubensakt. Aber wer ihn achtet, der schreitet fort. (Fs)

2. Der negative Moment

39b Jeder verstandesmäßig und moralisch mündige Mensch hat - so wie er notwendigerweise eine physische Haltung einnimmt - auch notwendigerweise eine denkerische und spirituelle Haltung gegenüber der Frage nach dem wahren Sinn seines Daseins. Diese Haltung, eine handlungsleitende Mixtur, fällt unterschiedlich aus, ist beispielsweise mehr oder weniger skeptizistisch, agnostisch, materialistisch usw. geprägt, aber eine innere Grundeinstellung gibt es immer. Zu diesem entscheidenden Zeitpunkt nun erkennt der Mensch, der weiter nachdenken will, seine unangemessene Haltung. Mit offenem Herzen und bereit, der Wahrheit zu dienen, sucht er also nach anderen existentiellen Lösungen. Aber es gelingt ihm nicht, eine Wirklichkeitssicht zu gewinnen, die seinem Leben wahren Sinn gibt, solange er nicht zum Glauben kommt. (Fs)

39c Wir wissen, daß diese wiederholten Enttäuschungen darin gründen, daß außerhalb der Glaubensperspektive keine befriedigende Übereinstimmung zwischen den auf natürlichem Wege erreichbaren Haltungen und der tatsächlich existierenden Wirklichkeit besteht, die von der Liebe des lebendigen Gottes geschaffen und auf Christus den Erlöser ausgerichtet ist. (Fs)

3. Der positive Moment

39d Die moralischen Werte können nur auf Grund der Wesensgleichheit recht erfaßt werden. Der Dieb ist nicht imstande, an die Ehrlichkeit der anderen und noch weniger an ihren Wert zu glauben. Ein Lügner vertraut gewöhnlich nicht auf die Wahrhaftigkeit der anderen. In beiden Fällen fehlt das "Urteil auf Grund der Wesensgleichheit". Wer hingegen edel und hochherzig ist, kann den Edelmut und die Hochherzigkeit seiner Gesprächspartner auf Grund der Wesensgleichheit erfassen. (Fs)

40a Die Liebe Gottes, der retten will, und das Heilswerk Christi gehören zu jenen Werten, die Wesensgleichheit erfordern, um erfaßt zu werden. (Fs)

Der Mensch, der in sich selbst die Liebe zur Wahrheit pflegt, wo immer sie ist, den absoluten Gehorsam übt gegenüber dem, was ihm wahr erscheint; ein Mensch, der den Maßstab der Gerechtigkeit achtet, wie immer dieser sich ihm darstellt, erwirbt eine innere Neigung zu den Werten der Offenbarung und eine innere Fähigkeit, die Zeichen der Heilsgegenwart Gottes in der Welt zu erfassen. So erkennt er Gottes Spuren in Christus, der die Wirklichkeit und der einzige Sinn des Universums ist; die Anzeichen der angeborenen Schönheit der Kirche, die bestürzende, aber wirkliche Erscheinung des Wortes Gottes in der Geschichte. (Fs)

Die Genialität menschlicher Wissenschaft liegt in der Fähigkeit, die deduktive oder induktive Methode anzuwenden, auch mit ganz wenigen Voraussetzungen: Newton genügte zur Entdeckung des Gesetzes der Schwerkraft ein Apfel, der herunterfiel. Auf dieselbe Weise begründet die genannte Wesensgleichheit eine "religiöse Genialität; je stärker diese ist, um so weniger bedarf sie eingehender Überlegungen und Beweise. (Fs)

40b Diese "religiöse Genialität" wird im Menschen (er mag gelehrt oder ungebildet, intelligent oder unbegabt sein, das ist unerheblich) durch die Gnade Gottes geweckt, wenn sie von ihm frei aufgenommen wird und er nicht gegen das Licht sündigen will, sondern sich dem aus der Höhe kommenden Licht ergibt. (Fs)

4. Einstieg in den Glauben

So entsteht im Menschen durch die übernatürliche Kraft der Gnade ein Erkenntnisprinzip, das den übernatürlichen Wirklichkeiten angemessen ist, die erfaßt werden sollen: die Kirche, die als universales Heilssakrament und Ort der Begegnung mit Christus betrachtet wird; Christus, der als die Wahrheit und die Gerechtigkeit und als Mitte der Begegnung mit Gott erfaßt wird; Gott, der höchste und geheimnisvolle Ursprung unserer Erhöhung zum übernatürlichen Leben in Freude und Herrlichkeit. (Fs)

40c Jetzt ereignet sich der formale Glaubensakt, durch den der Mensch die göttliche Initiative in seinem Leben voll annimmt und in die lebendige Gemeinschaft mit der ganzen unsichtbaren Welt tritt, die uns im Herrn Jesus offenbar gemacht und angeboten wird. (Fs)

***

41a

2. Es fällt nicht schwer, jetzt im Glaubensakt das gleichzeitige Zusammenwirken und die wechselseitige Abhängigkeit des Willens, der Vernunft und der Gnade wahrzunehmen. (Fs)
a) Der Wille begleitet den ganzen Prozeß, der deshalb in seinem ganzem Verlauf ein "Weg in Freiheit" ist. (Fs)

Wie wir gesehen haben, ist der Mensch frei, den moralischen Grundimperativ anzunehmen oder zu verletzen. Er kann sich entscheiden, ob er der Müdigkeit oder Trägheit nachgibt und seinen mühsamen Weg, auf dem er wieder und wieder enttäuscht worden ist, aufgibt, oder ob er ihn beharrlich bis zum positiven Abschluß weitergeht. Der Mensch ist überhaupt frei, in seinem Inneren moralische Werte an sich abzulehnen. In diesem Fall hindert er die Gnade daran, die notwendige Wesensgleichheit zu schaffen, die allein es der menschlichen Sicht ermöglicht, jene Beweggründe zu erfassen, die zum Glaubensakt führen. (Fs)

41b Und schließlich muß der Wille den Menschen beim letzten Schritt stützen, d. h. beim eigenlichen Glaubensakt, der bis zuletzt ein freier Akt bleibt. Er gehört zur menschlichen Freiheit, die eine progressiv sich aufbauende Selbstbestimmung ist. (Fs)

b) Die Vernunft ist aufgerufen, sich primär von der theoretischen Bedeutung des moralischen Imperativs zu überzeugen und in zweiter Linie von der Unhaltbarkeit der verschiedenen Haltungen der Ungläubigkeit, die objektiv nicht vernünftig sind und alle zum Absurden führen. (Fs)

41c Von der Gnade erleuchtet, die der auf das Gute ausgerichtete Mensch frei angenommen hat, erwägt die Vernunft klar die Gründe der Glaubwürdigkeit, die objektiv hinreichend und damit zweifellos vernünftig sind. (Fs)

c) Vom ersten Augenblick an begleitet die Gnade den ganzen Erkenntnisprozeß, indem sie mit dem freien Entschluß des Menschen, den sie immer achtet, zusammenwirkt. Gegenwärtig ist die Gnade vor allem im formalen Glaubensakt, für den sie im Menschen eine neue Fähigkeit entwickelt (die "Tugend" des Glaubens). Diese entspricht der Übernatürlichkeit des Gegenstandes, auf den der Glaubensakt abzielt. (Fs)

***
42a

3. Wir stellen fest, daß die Verformungen des Willens im konkreten Menschen zugleich eine Verformung des Denkvermögens bewirken. Deshalb wird der Mensch, der sich entschließt, Gott zuwiderzuhandeln, sich zuerst davon zu überzeugen suchen, daß er selbst das Maß des Universums ist. Im negativen Fall wird er sich dann von der objektiven Gültigkeit seiner falschen Haltung überzeugt wähnen. Daraus folgt, daß die verweigerte Bereitwilligkeit, sich dem Plan Gottes zu unterwerfen, die Empfänglichkeit für die Gegenwart eines Gottes, der sich offenbart und heilen will, auslöscht. Aber es ist immer möglich, daß der Mensch in gutem Glauben irrt, ohne Schuld weitersucht oder sogar seine Suche an einem falschen Ziel für beendet hält in der Überzeugung, die Wahrheit gefunden zu haben. (Fs) (notabene)

Ich glaube, daß dieser Mensch als ein "scheinbar Ungläubiger" betrachtet werden kann: Er meint, nicht zu glauben, ist aber in Wirklichkeit schon Gott nahe, der als einziger über sein Geschick urteilen kann. In jedem Fall gilt immer: "Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht" (Joh 3,21). (Fs)

Zusammenfassung

42b Jeder von uns kann sich nun die Frage stellen: Glaube ich, oder glaube ich nicht?
Ich meine, daß auf psychologischer Ebene Glaube und Unglaube im Herzen jedes Menschen einander gegenüberstehen. Wir haben oft den Eindruck, daß einmal der eine oder der andere abwechselnd schwankt bzw. überwiegt. (Fs)

Deshalb schlage ich zum Abschluß vor, jeder möge sich die Bitte des Vaters des besessenen Jungen zu eigen machen, die im Evangelium von Markus aufgezeichnet ist: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben" (Mk9,24). (Fs)

Auf den ersten Blick scheint es ein Widerspruch zu sein: Glaubt dieser besorgte Mensch, oder glaubt er nicht?

43a Aber bei näherer Betrachtung scheinen mir diese Worte ganz konkret das unergründliche Geheimnis des Menschenherzen mit seiner Unruhe und unstillbaren Sehnsucht nach dem Absoluten erfaßt zu haben. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Wer ist Jesus Christus? Meinung (der Welt): Mythos, Legende, Idee, Religionsführer, Revolutionär, Sozialpolitiker

Kurzinhalt: Es hat den Anschein, als bemühten sich die "Leute" unbewußt ... Jesus von Nazaret auf etwas schon Bekanntes, etwas bereits Feststehendes, etwas "Normales" zu reduzieren: Wichtig ist nur, daß man ihn in eine von der menschlichen Erfahrung vorgesehene ...

Textausschnitt: A) Für wen halten die Leute Jesus Christus?

46a Wenn man die "Leute" befragt, erhält man in Bezug auf Christus nichts Gewisses zur Antwort, sondern sehr unterschiedliche, vielfältige Meinungsäußerungen. Wir wollen sie der Reihe nach untersuchen und in drei Gruppen einteilen, um die Sache zu erleichtern. (Fs)

1. a) Jesus ist für viele ein Mythos, der das Leben bereichert und ausgeschmückt hat, ohne daß er selbst lebendig ist; etwa wie Orpheus in der griechischen Antike und, etwas bescheidener, wie der Weihnachtsmann im säkularisierten Westen. So ist auch manchmal vom "Christkind" die Rede. (Fs)

b) Für manche ist Jesus eine legendäre Gestalt, die, gerade weil sie nie wirklich existierte, nach und nach göttliche Züge angenommen hat. (Fs)

c) Für andere ist Jesus eine göttliche Idee, ein Glaube, ein geistiger Aufschwung, der nach und nach im Bewußtsein einer Gruppe von Menschen das Aussehen und die Natur eines Menschen angenommen hat. (Fs)

Im Grunde eine übermenschliche, aber irreale Größe. (Fs)

46b
2. Jesus - sagen wiederum andere - sei ein Mensch, ein außergewöhnlicher, aber doch schlicht ein Mensch, der durch seine besondere Ausstrahlung, sein sublimes Denken und seine einzigartige Persönlichkeit der Weltgeschichte einen neuen Impuls gegeben hat: mit einem Wort, er ist für diese Leute ein Genie. (Fs)

a) Mancher sagt: Jesus sei ein Religionsführer, der die höchste Wahrheit der Dinge mit äußerster Klarheit und Intensität erfaßt und die Vaterschaft Gottes, den Kult "im Geist und in der Wahrheit" und das Gebot der Nächstenliebe entdeckt hat. (Fs)

b) Mancher sagt: Jesus sei ein großer Philosoph, der die Bedeutung des subjektiven Gewissens und den Vorrang der Innenwelt vor der Außenwelt offenbart hat. (Fs)

47a
c) Man sagt auch: Jesus sei ein großer Sozialpolitiker, der die grundlegende Gleichheit der Menschen bekräftigt und das Streben nach Gerechtigkeit hochgeschätzt hat. (Fs)

d) Man sagt auch: Jesus sei ein genialer Politiker, der in der Menschheitsgeschichte den Einsatz und das Ideal der "Befreiung" von allen Formen der Gewalt und von allem äußeren Druck und Zwang eingeführt hat. Er ist für diese Gruppe eine reale, aber keine übermenschliche Größe. (Fs)

47b
3. Jesus - so lautet eine weitere Meinung - sei ein Mensch, der sicher gelebt habe, aber über den man nichts Gewisses erfahren kann. Die Beweise, die wir besitzen, deuteten alle auf Christus hin, an den die christliche Urgemeinde geglaubt, den sie geliebt und angebetet hat. Aber dadurch ließe sich nicht erklären, wer der geschichtliche Jesus wirklich war. Er sei also ein historisches Rätsel, das nicht zu lösen ist. (Fs)

Kommentar

47c
1. Allgemein ist festzustellen, daß das Urteil der "Leute" über ihn absichtlich gut und positiv ist. Niemand oder fast niemand spricht schlecht über ihn. (Fs)

2. Die kritische Prüfung dieser Meinungen, d. h., daß man die in ihnen enthaltene Wahrheit sowie ihre Grenzen und ihre ganze Unhaltbarkeit aufzeigt, erfordert eine langwierige, aber keineswegs schwierige Analyse. Sie ist andererseits auch Aufgabe des mündigen Christen, wenn er seinen Glauben in vernünftiger Weise leben will. Aber hier in dieser Betrachtung unter Glaubenden stellen wir uns diese Aufgabe nicht. Wir nehmen uns nur den Vergleich zwischen den beiden Haltungen vor - die der "Leute" und die der "Kirche" -, um die beiden Ansätze zum Zwecke unserer Annäherung an das Geheimnis Christi aufzuzeigen und festzustellen, daß sie völlig unvereinbar sind. Dieses Nachdenken will nur die besagte, in unserem Inneren sich abspielende "friedliche Koexistenz" von "Welt" und "Kirche", von der Meinung der "Leute" und der uns vom Vater geschenkten Erkenntnis, erschüttern und wenn möglich auslöschen, damit wir zunehmend in Grundsatztreue und der Reinheit des Glaubens leben. (Fs)

48a
3. Obwohl die Meinungen der "Leute" unterschiedlich sind, haben sie gemeinsam, daß Jesus von Nazaret eingeordnet werden kann: "einer der Propheten". (Fs)

Ist er ein Mythos? Die Geschichte ist voll von Mythen. Ist er eine Idee, die das menschliche Leben geprägt hat? Dann wäre er mit der Gnosis der antiken Welt oder mit dem Marxismus der modernen Welt zu vergleichen. (Fs)

Ein Religionsfuhrer? Dann können wir ihn unter Buddha, Mose und Mohammed einreihen. (Fs)

Ein Philosoph? Platon und Aristoteles hätten ihn als Begleiter. Ein Sozialkritiker? Er könnte neben den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts und neben Marx stehen. (Fs)

Ein Aufwiegler? Spartakus, Masaniello und Bakunin wären noch besser als er. (Fs)

Ein Befreier? Stellen wir ihn neben Simon Bolivar und Giuseppe Garibaldi. (Fs)

Ein Mensch, von dem man nichts Gewisses weiß? Dafür gibt es andere Beispiele: Homer, Pythagoras und sogar Sokrates wären ihm gleichzustellen. (Fs)

48b Es hat den Anschein, als bemühten sich die "Leute" unbewußt, auch wenn sie die ausgefallensten Hypothesen über ihn anstellen und gewöhnlich ein wohlwollendes Urteil abgeben, Jesus von Nazaret auf etwas schon Bekanntes, etwas bereits Feststehendes, etwas "Normales" zu reduzieren: Wichtig ist nur, daß man ihn in eine von der menschlichen Erfahrung vorgesehene Kategorie einordnet. Wenn er dann in einem Fach untergebracht und beschriftet ist, gilt er als nichts Besonderes mehr und stört nicht. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Wer ist Jesus Christus? Antwort der Kirche: Messianität (Messias; David, Melchisedek, Gottesknecht), Auferstehung,Gottheit ; Zusammenfassung

Kurzinhalt: Der Glaube der Kirche, der durch den Mund des Petrus ausgedrückt wird, unterstreicht die absolute Einmaligkeit: Jesus von Nazaret ist "der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes".

Textausschnitt: B) Ihr aber, für wen haltet ihr mich?

48c Während die Meinung der "Leute" pluralistisch, vielfältig ist, ist die kirchliche Antwort einheitlich. Im Bezug auf Jesus Christus gibt es in der Kirche keinen Pluralismus: Die Antwort des Petrus ist die Antwort aller. Die übereinstimmende Überzeugung eines jeden von uns mit dem Glauben des Petrus bildet den Vergleichs-"Felsen", an dem die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Zugehörigkeit gemessen wird. Wer diesen Glauben verzerrt, hat in der Kirche keinen Raum mehr. Die apostolische Gemeinschaft neigt in diesem Punkt nicht zur Irenik. (Fs)

49a "Wenn jemand zu euch kommt und nicht diese Lehre mitbringt, dann nehmt ihn nicht in euer Haus auf, sondern verweigert ihm den Gruß" (2 Joh 10). (Fs)

"Ich warne euch vor den wilden Tieren in Menschengestalt. Ihr dürft sie nicht aufnehmen, ja, ihr sollt sie nicht einmal treffen. Ihr könnt nur für sie beten, damit sie sich bekehren; das wird aber kaum geschehen" (Ignatios, An die Gemeinde von Smyrna IV, 1). "Sie sind tollwütige Hunde, die insgeheim beißen; ihr müßt euch vor ihnen in acht nehmen, denn sie sind kaum zu heilen" (Ignatios, An die Epheser VII,!). (Fs)

Wie wir gesehen haben, neigen die weltlichen "Meinungen" über Jesus von Nazaret dazu, ihn einzuordnen. Der Glaube der Kirche, der durch den Mund des Petrus ausgedrückt wird, unterstreicht die absolute Einmaligkeit: Jesus von Nazaret ist "der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes". Jesus von Nazaret ist ein "Fall", der mit keinem andern vergleichbar ist. (Fs) (notabene)

49b Aber in welcher Hinsicht dürfen wir im Fall Jesu von "Einzigkeit" sprechen? Warum läßt sich Jesus nicht einordnen? Die apostolische Kirche, die durch den Mund des Petrus spricht und in der Welt auch heute lebendig und gegenwärtig ist, nennt drei klare Inhalte, wenn sie die "Einzigkeit" bekräftigt: die Messianität, die Auferstehung nach dem Tod und die Gottheit. (Fs)

1. Die Messianität

a) Für die Juden war der "Messias" zur Zeit Jesu die Gestalt, auf die sich alle Erwartungen Israels konzentrierten: Er sollte das Reich Davids wiederherstellen, den Gottesdienst erneuern und reinigen, den Willen Jahwes und seinen Heilsplan offenbaren und Israels schmerzlicher und demütigender Geschichte ein Ende setzen. (Fs)

Dabei ist zu berücksichtigen, daß der "Messias"-Begriff nicht unbedingt mit Einmaligkeit verbunden war. Die Juden kannten viele messianische Gestalten in der Vergangenheit: David, die Könige, die Hohenpriester, die Propheten hatten ab und zu diesen Titel erhalten, der an die Weihe durch Salbung erinnerte. (Fs)

49c Auch für die Zukunft erwarteten die Juden nicht nur einen einzigen Messias. Die in Qumran aufgefundenen Schriftrollen und die "Testamente der zwölf Patriarchen" unterrichten uns darüber, daß einige religiöse Strömungen für die Endzeit mehrere Messias-Gestalten erwarteten: Neben einem Messias des David, der mit Königswürde ausgestattet war, wurde auch - im Unterschied dazu - ein mit der Priesterwürde des Aron ausgestatteter Messias erwartet. (Fs)

50a Auch die im Deuteronomium aufgezeichnete Verheißung an Mose scheint die Erwartung eines "Propheten" geweckt zu haben, der sich vom königlichen und vom priesterlichen Messias unterscheiden sollte. (Fs)

"Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, unter deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören" (Dt 18,15). (Fs)

Man vergleiche auch die an Johannes den Täufer gerichtete Frage: "Bist du der Prophet?" (Joh 1,21). (Fs)

b) Jesus hatte die Bezeichnung Messias zunächst nur mit Vorbehalt angenommen, aber während der letzten Woche vor seinem Tod schien er ausdrücklich bekräftigen zu wollen, daß sich in ihm alle messianischen Erwartungen erfüllt und erschöpft hatten. Nach der Salbung in Betanien ordnet er den Einzug in Jerusalem als König und Messias des David an. Er vollbringt ungewöhnliche und bedeutsame Wundertaten, die ihn als "Propheten" auszeichnen (wie die Austreibung der Händler aus dem Tempel und die Verfluchung eines Feigenbaumes). Durch das Zeichen über Brot und Wein beim letzten Abendmahl beruft er sich auf Melchisedek und zeigt sich als priesterlicher Messias. In seinem Leiden verwirklicht er die Messianität des leidenden Gottesknechtes, von dem Deuterojesaja gesprochen hatte. Die Erscheinung des Auferstandenen und seine Himmelfahrt bezeugen ihn am Ende als den Menschensohn, den eschatologischen Messias, der in der Herrlichkeit Gottes kommt und die Menschheitsgeschichte besiegelt, und von dem Daniels Prophethien gesprochen hatten. (Fs)

c) Wir wundern uns also nicht darüber, daß die apostolische Kirche Jesus von Nazaret immer als den Christus, d. h. als den einzigen Messias, die einzige Erfüllung aller Erwartungen der Menschen darstellt. Die Glaubensaussage: "Jesus ist der Christus" ("Du bist der Messias", sagt Petrus) ist eine der am häufigsten dokumentierten Formeln in der Apostelgeschichte (vgl. Apg 2,36; 3,20; 5,42; 9,22; 17,3; 18.5; 18,28). In der jüdischen Welt war sie die meistverbreitete. Aber sie wurde wohl auch allen übrigen Gläubigen angeboten, denn der Beiname "Christus" wird in den griechischsprechenden Gemeinden sogar als Beifügung zu dem Namen Jesus verwandt. Und gerade in Antiochien, das heißt in einer nichtjüdischen Gemeinde, entsteht aus diesem Titel das Wort "Christen", mit dem die Jünger des Jesus von Nazaret bezeichnet werden (vgl. Apg 11,26). (notabene)

51a
d) Die Kirche bietet heute noch allen Menschen den Glauben des Petrus an: Jesus ist der Messias, d. h. die Antwort Gottes auf alle grundlegenden Erwartungen der Menschen. Alle Bestrebungen, die schon immer in den Menschenherzen lebendig sind in bezug auf die Wahrheit, Sicherheit, Freiheit, Sinngebung und Freude finden in Jesus von Nazaret die einzige, endgültige Erfüllung. (Fs)

Die existentielle Schlußfolgerung ist klar: Der erste Aspekt der "Einzigkeit" Jesu - Jesus, der einzige vom Menschen Erwartete und der einzige vom Vater Gesandte - schützt uns vor jedem Persönlichkeitskult und jeder Verblendung. Wenn Jesus der Messias ist, dürfen wir uns keinen anderen Menschen erwarten, der die menschliche Geschichte wirklich zu einer Lösung führen will. Jede menschliche "Größe" verringert sich in diesem Licht. Der Messias ist bereits gekommen. Kein Ideologe, kein Befreier, keine außerordentliche Persönlichkeit kann noch kommen und das Herz des wahren Christen bezaubern und besitzen. (Fs) (notabene)

51b Wie der hl. Ambrosius sagt: "Die Kirche hat schon ihren Magier." Der Christ kann aber jede neue Persönlichkeit oder neue Lehre, die auf der Weltbühne erscheint, im Licht Christi und seiner einzigen Messianität eingehend prüfen und entsprechend relativieren. (Fs)

2. Die Auferstehung

51c Durch das Bekenntnis für Jesus, den Sohn des lebendigen Gottes, scheint die Erklärung des Petrus stillschweigend die Überzeugung miteinzuschließen, die in allen Reden der Apostel vom Pfingsttag an vorherrscht: Der Sohn des lebendigen Gottes konnte nicht Gefangener des Todes und der Verwesung bleiben. "Den Urheber des Lebens habt ihr getötet - sagt Petrus -, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Dafür sind wir Zeugen" (Apg 3,14-15). Ein zweiter Aspekt der "Einzigkeit" Christi ist die Tatsache, daß er lebt. Es ist notwendig, in diesem Punkt jede Unklarheit auszuräumen. Die österliche Botschaft: "Er ist auferstanden", die den ursprünglichen Kern des christlichen Glaubens bildet, lautet, daß Jesus von Nazaret, ein Mensch, der vor zweitausend Jahren den Kreuzestod gestorben ist, heute wahrhaftig, wirklich und körperlich lebt. Er lebt von sich aus: nicht in seiner Botschaft, seinem Beispiel, seinem ideellen Einfluß auf die menschliche Geschichte, nicht in den Armen, in den Mitmenschen, in der Gemeinschaft. Das sind alles wahre, wunderbare Einwohnungen Christi, die für das kirchliche Leben entscheidend sind. Aber sie folgten erst später auf die zentrale und ursprüngliche Wahrheit, daß Christus leiblich und in seiner persönlichen Identität lebt. (Fs) (notabene)
52a Dieses Ereignis, das Jesus von Nazaret zu einem Fall für sich und zu einer unvergleichbaren und nicht einzuordnenden Person macht, macht auch diejenigen, die diese Botschaft aufnehmen, zu einem einmaligen Fall. (Fs)

52b Es ist wichtig, daß sich die Christen darüber im klaren sind:

- daß das der Grund für die tiefste und unverrückbare Spaltung zwischen den Menschen ist (vgl. Apg 25,19: "Sie führten nur einige Streitfragen gegen ihn ins Feld, die ihre Religion und einen gewissen Jesus betreffen, der gestorben ist, von dem Paulus aber behauptet, er lebe");
- daß diese Überzeugung die Gläubigen notwendigerweise in einen Zustand der "Verrücktheit" in den Augen der Nichtglaubenden versetzt (1 Kor 4,10: "Wir stehen als Toren da um Christi willen");
- es gibt und es darf keine unentschiedene Haltung geben in der Frage, ob Jesus heute leiblich lebt oder ob er heute leiblich tot ist; und es darf in diesem Punkt keinen Kompromiß zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden geben;
- daß für den Menschen, wenn Christus auferstanden ist, alles anders geworden ist: der Tod, der letzte Herrscher, ist besiegt und hat nicht das letzte Wort über den Menschen;
- daß das wirkliche "Revolutionäre" an Jesus von Nazaret die Tatsache ist, daß er, nachdem er gestorben war, wirklich, wahrhaftig, leiblich und unwiderruflich weiterlebt. (Fs) (notabene)
3. Die Gottheit
52c Petrus verkündet: "Du bist der Sohn des lebendigen Gottes". Wir haben hier das dritte, höchste und bestürzendste Merkmal der Einzigkeit des Jesus von Nazaret vor uns, das heißt seine göttliche Person oder, einfacher, seine Gottheit. (Fs)

52d Es war geschichtlich undenkbar, daß die Vergöttlichung eines Menschen "auf natürlichem Weg" innerhalb der jüdischen Kultur entstehen konnte, die ganz streng und radikal monotheistisch war. Und doch gelangte die apostolische Kirche zu dieser bestürzenden Überzeugung, weil sie durch das Licht der Auferstehung dazu gezwungen war: "Mein Herr und mein Gott" (Joh 20,28) lautet das Glaubensbekenntnis des ungläubigen Thomas, das am Schluß der Katechese des Johannes steht. (Fs)

53a Die apostolische Kirche drückt diesen schwierigen Bestandteil unseres Glaubens unterschiedlich aus, aber immer ganz klar und unter allen Aspekten:
- Paulus: Jesus ist "Gott gleich" (Phil 2,6) und "ihm wurde der Name verliehen, der größer ist als alle Namen" (Phil 2,9);

- Johannes: Jesus ist das Wort : "... das Wort war bei Gott, ... das Wort war Gott" (Joh 1,1);
- Matthäus stellt den Sohn auf dieselbe Ebene wie Gott den Vater und Gott den Heiligen Geist: "... auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes" (Mt 28,19);
- Der Hebräerbrief bekräftigt im Hinblick auf den Sohn: "Dein Thron, o Gott, steht für immer und ewig" (Hebr 1,8). (Fs)

53b Im Licht von Ostern gelangte die apostolische Kirche zu dieser Überzeugung, denn sie hatte in diesem Licht endlich begriffen, daß Jesus in den Reden und Taten während seines Lebens auf Erden für sich die göttlichen Eigenschaften vielfach, aber behutsam geltend gemacht hatte. (Fs)

- Er stellt sich auf dieselbe Ebene mit dem Gesetzgeber vom Sinai: "Ich aber sage euch" (Mt 5-7). (Fs)
- Er nimmt sich das Recht heraus, Sünden zu vergeben (Mt 9,2; Lk 36,50). (Fs)
- Er hält sich für den Richter der Menschen und der Geschichte. (Fs)
- Er behauptet, "Herr des Sabbat" und mehr als der Tempel zu sein (Mt 12,6.8). (Fs)
- Er sagt, daß er der einzige Lehrer sei, der immer recht hat und der sogar "die Wahrheit ist". (Fs)
- Er stellt sich höher als die Engel (Mt 13,41). (Fs)
- Er bietet sich als Objekt einer Liebe an, die die Liebe des Vaters, der Mutter, der Ehefrau, der Kinder, der Geschwister übersteigt (Mk 10,37; Lk 14,26). (Fs)

Er hält sich nicht für einen der Gottessöhne, sondern für den einzigen Sohn (Mt 21,33-34). (Fs)

- Nach seinen Worten stehen Gott und er auf derselben Ebene: "Niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn ..." (Mt 11,27; Lk 10,22). (Fs)

53c Alle diese unzweifelhaften "Logien" (Aussagen), daß Jesus selbst sich als Gott vorgestellt hat, sind historisch fest untermauert. Deshalb ist jene wohlwollende, ausgleichende, "gemäßigte" Auffassung von Christus unannehmbar, die viele "vernünftige Menschen" von ihm haben, die Jesus als weisen, gerechten und großen Menschen hochschätzen wollen, ihn aber nicht als Herrn und als Gott anerkennen. Eine solche "Mäßigung" wird von der ganzen Dokumention der Evangelien widerlegt, die wir besitzen: Ein Mensch, der solche Aussagen von sich macht, kann nämlch weder als weise noch als gerecht, noch als groß beurteilt werden; er hat keinen Anspruch auf unsere Hochachtung oder Verehrung. (Fs)

54a Es sei denn, daß alles, was er von sich sagt und was die apostolische Kirche von ihm behauptet, wahr ist. (Fs) (notabene)

Die schlichte Hochachtung gegenüber Christus ist in sich niemals vollkommen stimmig: Entweder lehnt man ihn ab und verachtet ihn, oder man wirft sich vor ihm auf die Knie. Jesus selbst hatte das vorhergesehen: "Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern Spaltung" (Lk 12,51). Und im Kindheitsevangelium nach Lukas wird die Überzeugung ausgedrückt, er sei dazu bestimmt, "daß in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden", und daß er in der Welt bleibe als "ein Zeichen, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden" (Lk 2,34-35). (Fs)

Zusammenfassung

54b Wie wir gesehen haben, besteht das christologische Kernproblem in der Frage: Ist Jesus "einer von ..." oder "der" Messias? Ist er einzuordnen, oder ist er ein Fall für sich? Ist die zweifellos bedeutsame Tatsache seines Kommens in die Welt mit unseren Urteilsmaßstäben zu messen, oder ist es ein einmaliges, entscheidendes, unwiederholbares Ereignis? Das ist die Frage. (Fs)

Christsein bedeutet, begriffen zu haben, daß Jesus nicht "einer von", sondern "der" Messias ist; daß es keine ihm angemessene Bezeichnung gibt, daß er absolut einzig ist. (Fs)

54c Daraus ergibt sich als existentielle Konsequenz, daß auch unsere Beziehung zu ihm nur "einzig" sein kann. Unsere Erkenntnis über ihn kann nicht so sein, wie die über andere Dinge und andere Personen, sondern sie ist ein Licht, das uns von oben geschenkt wird: "Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel." Die Anerkennung seiner Herrschaft ist nicht die Schlußfolgerung eines Lehrsatzes, sondern Fügsamkeit gegenüber dem Heiligen Geist: "... keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet" (1 Kor 12,3). Unsere Liebe zu ihm verträgt keinen Vergleich: "Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig" (Mt 10,37). Wenn wir unser Leben für ihn einsetzen, dann kann es nur ganz, absolut und endgültig geschehen und muß sich von jeder noch so vernünftigen Gefolgschaft abheben: "Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen" (Mt 10,39). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Erlösung, Erlöser? Meinung der Welt: pessimistische (Leid ist nicht zu ändern) - optimistische: Aufklärung (konservative, radikale, marxistische); innere - äußere Erlösung

Kurzinhalt: Radikale Aufklärung ... Der Mensch ist gut. Um ihn zu retten, genügt es, daß man ihn vom ganzen bösen Erbe der Vergangenheit befreit: ... Wir wundern uns dann nicht mehr, wenn wir sehen, daß die Anhänger dieser drei "Bruderschaften" reibungslos darin ...

Textausschnitt: A) Was sagen die Leute über die Erlösung?

57a
1. Die erste Stimme, die unter den "Leuten" laut wird, erkennt das "Elend" des Menschen an, meint aber, es sei nicht zu ändern. (Fs)

Der Mensch ist im Grunde ein törichtes Geschöpf und wird es immer bleiben. Der Tod ist tatsächlich der Untergang jeder Hoffnung, unsere unwiderrufliche Niederlage, das absurde Ende eines sinnlosen Lebens, und da ist nichts zu machen. Wir alle werden vom Bösen unterjocht. Wir sind Egoisten, Bösewichte, Faulenzer, und nichts kann uns ändern. (Fs)

Also gibt es das immense und universelle Anliegen der Erlösung, aber keine Erlösung. Jede andere Hypothese ist eine Illusion. Es gibt keinen Loskauf für den Menschen. (Fs)

Diese bittere, pessimistische Erkenntnis hat auch in sehr bedeutenden, klaren und inhaltsreichen Werken der italienischen Literatur, z. B. bei Leopardi, Verga und Pirandello, Niederschlag gefunden. (Fs)

57b
2. Im Gegensatz dazu können wir eine Vielfalt von Stimmen vernehmen, die anfangs ein und derselben Meinung sind, das heißt der Überzeugung, daß der Mensch von sich aus schon gut, schön und erfolgreich ist und deshalb keine persönliche Erlösung braucht. (Fs)

Von diesem anfänglichen gemeinsamen "Dogma" ausgehend, das wir "aufklärerisch" nennen möchten und das größtenteils die zeitgenössische Gesellschaftspolitik beherrscht, haben sich verschiedene "Lehren" entwickelt, die wir sozusagen im Rohzustand erfassen und ganz schematisch und theoretisch aufzählen wollen.

a) "Konservative" Aufklärung.

Der Mensch ist in Ordnung, so wie er ist, ja, er könnte gar nicht besser sein: Es bedarf keiner Änderung, weder der Herzen noch der Gesellschaft. (Fs)

57c Diese Lehre hat unter den Reichen und Privilegierten besonders viele Anhänger, wenn auch niemand mehr den Mut hat, sie zu bekennen. Aber sie ist noch in vielen Herzen verwurzelt, obwohl sie merkwürdigerweise nach außen hin oft radikale und marxistisch verbrämte Verkleidungen annimmt. Der einzige, der sich nicht maskiert und sich nicht fürchtet, seinen kapitalistischen Konservatismus öffentlich zu erklären, ist, glaube ich, Dagobert Duck. (Fs)

b) Radikale Aufklärung.

58a Der Mensch ist gut. Um ihn zu retten, genügt es, daß man ihn vom ganzen bösen Erbe der Vergangenheit befreit:
- von den feudalistischen Überbleibseln in der Staatsstruktur;
- von den mittelalterlichen Verbänden der Arbeitnehmer;
- von der althergebrachten und verdunkelten Wirklichkeitssicht, und zwar mit Hilfe der "Aufklärung" durch den Enzyklopädismus, den Rationalismus und den Szientismus;
- von den vielen Tabus, die das Leben des Einzelnen trüben und vergiften. (Fs)

Um den Menschen vom Irrtum und der Unwahrheit der Dinge zu befreien - sagten die radikalen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, aber die Rede hat sich seitdem nicht wesentlich geändert -, genüge es, ihn das kopemikanische, darwinistische System und das dezimalmetrische System zu lehren. Um ihn von der Sünde zu erlösen, genüge es, ihm zu sagen, daß es keine Sünde gibt, höchsten Schuldkomplexe, von denen man sich befreien kann und muß. Um ihn vor dem Tod zu retten, genüge es, ihn zu überzeugen, daß das Problem des Todes ein falsches Problem ist, das man überhaupt nicht in Betracht ziehen soll. (Fs)

c) Marxistische Aufklärung. (Fs)

58b Die Menschen sind gut, ausgenommen vielleicht die Vertreter der finsteren Mächte der Reaktion. Es genügt, die kapitalistischen Strukturen umzustürzen (die allein der Sitz des Bösen sind) und den Sozialismus aufzubauen, und der Mensch wird nichts anderes mehr brauchen, um gerecht, frei und glücklich zu sein. Bei den Fragen hinsichtlich der Flüchtigkeit und Unwahrheit der Dinge, der Sünde, des Todes werden die Antworten gewöhnlich bei der radikalen Aufklärung entlehnt, mit der die marxistische Lehre sehr leicht übereinstimmt. (Fs)

58c Es ist interessant, den gemeinsamen Ursprung und den gleichen Antrieb dieser drei verschiedenen "Aufklärungen" festzustellen. Wir wundern uns dann nicht mehr, wenn wir sehen, daß die Anhänger dieser drei "Bruderschaften" reibungslos darin übereinstimmen, wenn es sich um Fragen handelt, die das Dasein des Menschen und seinen Wesenskern betreffen, z. B. Ehescheidung, Abtreibung, Euthanasie, Homosexualität, Geburtenkontrolle usw. Das veranlaßt uns zu der Meinung, daß die einzige wirklich wahre und unverrückbare Sicht das christliche Menschenbild ist, so wie die christliche Tatsache das einzige wirklich neue Ereignis der Geschichte ist. (Fs)

59a
3. Eine dritte Gruppe "weltlicher" Meinungen über die Erlösung umfaßt diejenigen, die sich bemühen, jede der bisher dargestellten Haltungen christlich zu verbrämen oder, was ungefähr dasselbe ist, manche Inhalte und Begriffe aus dem Evangelium zu entnehmen und in das eine oder andere der verschiedenen Systeme einzubauen. (Fs)

a) Da gibt es zum Beispiel denjenigen, der ohne Hoffnung lebt, aber den Glauben als eine nicht zu unterschätzende heilsame Illusion betrachtet, als eine Lebenshilfe für die schwächeren Menschen, die ohne Abschirmung nicht imstande sind, dem "scheinbar Wahren", das heißt der tragischen Absurdität des Daseins ins Auge zu blicken. (Fs)

b) Dann gibt es denjenigen, der die christliche Tatsache in den Dienst des Konservatismus stellen möchte: Das Evangelium ist für die Gesellschaft von Nutzen, weil es durch den Ausblick auf das ewige Leben hilft, jede Forderung und jeden Antrieb zur Erneuerung im gegenwärtigen Leben zu unterdrücken. (Fs)

c) Manch einer meint, die christliche Botschaft als eine Botschaft der Freiheit gemäß der radikalen Sichtweise deuten zu können, oder er legt sie als eine Überwindung aller Beschränkungen und aller moralischen Verplichtungen und endgültigen Bindungen aus. (Fs)

d) So mancher meint, als Christ "für den Sozialismus" sein zu müssen und optiert dafür, daß der Klassenkampf und die Befreiung von den äußeren Zwängen die wahre Kernbotschaft des Evangeliums sei. Um es militärisch auszudrücken: Christus wird sozusagen "rekrutiert" und nicht objektiv - abgesehen von den subjektiven Absichten - als Herr betrachtet, auf den alles ausgerichtet ist, sondern als ein "Rekrut", dem jedes Prinzip dieser Welt die eigene Uniform anziehen und die eigene Fahne anstecken möchte: Jesus Christus wird also für tauglich befunden, eingezogen und gewöhnlich nach kurzer Dienstzeit wieder entlassen. (Fs)

Kommentar

59b Insgesamt können wir, abgesehen von den verschiedenen und divergierenden Formulierungen, sagen, daß die unter den "Leuten" in Bezug auf die Erlösung gesammelten Meinungen, die oft in ein und demselben Herzen laut werden, zwischen zwei Behauptungen schwanken: Entweder ist eine wahre und wirkliche Erlösung der menschlichen Person unmöglich, oder eine wahre und wirkliche Erlösung der menschlichen Person ist überflüssig. Viele halten jedoch eine "äußere" Erlösung für möglich und notwendig, die auf einer Änderung der Strukturen und der sozialen, gesellschaftspolitischen Bedingungen hinausläuft. (Fs)
60a Alle jene, die diese äußere Erlösung für möglich und notwendig halten, sind fest davon überzeugt, daß der Mensch der einzige Erlöser seiner selbst, und kein Eingriff von oben notwendig oder möglich und im Grunde auch nicht wünschenswert ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Erlösung, Erlöser? Bekenntnis d. Kirche; Heilstaten (wodurch E?): "Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt" (Röm 4,25)

Kurzinhalt: Alles ist also in Christus heilbringend: Er hat uns nicht durch das, was er getan hat, erlöst, sondern auch durch das, was er gesagt hat, ja durch das, was er ist.

Textausschnitt: B) Ihr aber, Apostel Christi, was haltet ihr von der Erlösung?

60b Die Antwort der Apostel Christi, das heißt der Kirche, ist einmütig und lautet völlig anders als die mannigfaltige Antwort der Welt. Das vom Evangelium verkündete Heil

- ist in erster Linie innere und transzendente Erlösung von der Unwahrheit und Bedeutungslosigkeit, von der Sünde und Knechtschaft der Sünde, vom Tod und von den irdischen Befindlichkeiten des Verfalls und der Sterblichkeit;

- ist Frucht der barmherzigen Liebe des Vaters, der sie allen zusichert, denn "er will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4);

- ist uns erlangt worden durch Jesus Christus, den Sohn Gottes, durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung, und sie kann uns von niemand anderem gegeben werden: "Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen" (Apg 4,12). (Fs)

60c Damit das Heil den einzelnen Menschen wirklich erreichen kann, ist es notwendig, daß er glaubt, das heißt, daß er mit seinem ganzen Wesen den Herrn Jesus aufnimmt, denn in Ihm vereinigt sich und verwirklicht sich der ganze Heilsplan des Vaters: "... wenn du mit deinem Mund bekennst: 'Jesus ist der Herr' und in deinem Herzen glaubst: 'Gott hat ihn von den Toten auferweckt', so wirst du gerettet werden" (Röm 10,9). (Fs)

61a Wenn wir nun das von Christus für alle Menschen gewirkte Heil etwas besser verstehen wollen, ist es nützlich, daß wir unsere Überlegungen in drei Fragen und drei entsprechende Antworten gliedern. (Fs)

1. Die Heilstaten

61b Die erste Frage lautet: Durch welche besondere Heilstat hat uns der Herr Jesus erlöst?
Hier ist zu sagen, daß uns eine erneute aufmerksame Lektüre der für unseren Glauben maßgeblichen Schriften des Neuen Testaments hilft, die gewohnte Lehre unserer Verkündigung und Katechese zu vervollständigen, nach der seit Jahrhunderten das Leiden und Sterben unseres Herrn die einzige Heilstat zu sein scheint. Denn die urchristliche Verkündigung bezeichnet ganz klar die Auferstehung als das entscheidende soteriologische Ereignis: "Der Gott unserer Väter" - sagt Petrus vor dem Hohen Rat - "hat Jesus auferweckt, den ihr ans Holz gehängt und ermordet habt. Ihn hat Gott als Herrscher und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken" (Apg 5,30-31). Oder, besser, die beiden Aspekte des einen Ostergeheimnisses werden in den ältesten Glaubensformeln als die eine Heilsquelle angegeben: "Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt" (Röm 4,25). Ja, wenn man die Evangeliumsberichte aufmerksam liest, stellt man fest, daß auch die vielen Wunderzeichen, von denen erzählt wird, nicht als willkürliche Manifestation von Zauberei und Kraftmeierei, sondern als Zeichen und angeldliche Wohltaten einer heilbringenden Gegenwart unter den Menschen gesehen werden. Selbst Christi Worte werden nicht als lehrhafte Erklärungen und Belehrungen (wie es bei den Lehren der Schriftgelehrten der Fall war), sondern als "Worte des ewigen Lebens" gehört, als das Licht, das die Knechtschaft der Finsternis durchbricht, als eine Offenbarung der Wahrheit, die uns frei macht. (Fs)

61c Sogar das Dasein unter den Menschen wird vor jedem Wort und jeder Tat in den Kindheitsevangelien als Ereignis des SotEr, d. h. des Retters bekräftigt. Und der Prolog des vierten Evangeliums sieht die Erlösung der Menschheit schon in Gang gesetzt durch das Kommen des "Logos" in die Welt, das heißt des ewigen Wortes Gottes, das Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat (vgl. Joh 1,14). (Fs)

62a Alles ist also in Christus heilbringend: Er hat uns nicht durch das, was er getan hat, erlöst, sondern auch durch das, was er gesagt hat, ja durch das, was er ist. (Fs) (notabene)

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß sein Heilswerk gerade durch die Lehre der Apostel eine Steigerung erfährt, bis es den Höhepunkt erreicht im Leiden und Sterben und in der Auferstehung und in seinem Eintritt in das himmlische Heiligtum, in das er - wie es im Brief an die Hebräer heißt - hineingegangen ist, um sein Opfer für uns darzubringen, "und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt" (Hebr 9,12). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Erlöser, Erlösung - Heilsgrund (Christus: warum heilbringend?); 2 Perspektiven (Osten - Westen): Wiederherstellung d. Ebenbildlichkeit (Menschwerdung) - W. d. Gerechtigkeiten (Kreuz, Auferstehung)

Kurzinhalt: Die zweite theologische Perspektive (die wie die synoptische Katechese und noch mehr die Paulusbriefe auch von den Schriften der apostolischen Gemeinde ausgeht) stellt das Heilswerk als eine Wiederherstellung der verletzten Gerechtigkeit und eine ...

Textausschnitt: 2. Der Heilsgrund

62b Die zweite Frage ist schwieriger und läßt uns tiefer in den Kern des Geheimnisses eindringen. Das ganze Christus-Ereignis ist heilbringend, angefangen von der Menschwerdung bis zu seiner Erhöhung in der Herrlichkeit und seinem verborgenen Leben als Gott. Aber warum ist es heilbringend? Wodurch hat diese Geschichte einen besonderen Heilswert?
Die Überlegung der Kirchenväter und der großen Theologen zeigt uns zwei Zugänge zum Verständnis des Geheimnisses, ohne zu beanspruchen, daß damit das Verständnis ausgeschöpft ist. (Fs)

a) Der erste Grund, der aus der Reflexion des Apostels Johannes herrührt und vor allem von den griechischen Vätern vertieft wurde, will den Heilswert der Menschwerdung unterstreichen. Ausgehend von der Voraussetzung, daß der Zustand des Verfalls und Niedergangs des Menschen auf den Verlust der Gottesebenbildlichkeit und der Vergöttlichung zurückgeht, sieht diese theologische Richtung die Wiederherstellung und Erlösung gerade in dem Wiedererlangen der Eigenschaft als lebendige "Ikone" der Gottheit, die der Mensch im ursprünglichen Plan Gottes besitzt, und in seiner Rückführung in den Zustand des Sohnes, der an der Natur des Vaters teilhat. (Fs)

62c Das Wort, das vom menschlichen Sein so Besitz ergreift, daß die göttliche Person darin eingeht, bringt innerhalb unserer geschichtlichen Grenzen wahrhaft und konkret das Menschenbild zurück, das dem unveränderten Willen des Vaters entspricht und deshalb "gerecht" ist. Mit dem lebendigen Abbild Gottes, das durch Jesus, den neuen Adam, gegeben ist, Beziehung aufnehmen; seine gelebte Erkenntnis, seine Liebe und seine Gnade im eigenen Leben wirken lassen; sein Geheimnis, ("theandrico", das heißt Gott und Mensch zu sein) wenn auch bruchstückhaft widerspiegeln: das bedeutet, aus dem Zustand der Ungerechtigkeit, der Knechtschaft des Bösen, der Sterblichkeit in den Zustand der Gerechtigkeit, der geistigen Freiheit, des ewigen Lebens überzugehen. (Fs)

63a Es ist zu beachten, daß sich die heilbringende Menschwerdung nicht auf den Beginn des irdischen Lebens des Gottessohnes beschränkt: Die menschliche Natur wird in ihrer ganzen geschichtlichen Befindlichkeit von Verfall und Sterblichkeit - mit einer einzigen Ausnahme: der Schuldhaftigkeit - angenommen, so daß das Wort Fleisch wird, indem es während seiner gesamten irdischen Lebensspanne sukzessive unser ganzes Geschick und damit körperliche Anstrengung, Traurigkeit, Angst, Leiden und den Tod teilt. Die Stunde des Leidens, des Kreuzestodes und der Auferstehung bildet deshalb den abschließenden Höhepunkt der Menschwerdung und damit des Loskaufs des Menschen. (Fs)

b) Die zweite theologische Perspektive (die wie die synoptische Katechese und noch mehr die Paulusbriefe auch von den Schriften der apostolischen Gemeinde ausgeht) stellt das Heilswerk als eine Wiederherstellung der verletzten Gerechtigkeit und eine "Rückkehr", eine Umkehr des Menschen dar, der sich von Gott entfernt hat. Diese zweite Sichtweise neigt dazu, die Heilsdimension des Leidens und Sterbens Christi zu betonen, vor allem weil es das Geheimnis des Gehorsams des menschgewordenen Gottessohnes gegenüber dem Willen des Vaters bildet. (Fs)

63b Das heißt: Wie Verfall und Untergang im Grunde in der absurden Auflehnung und im Ungehorsam des Geschöpfes, das sich vom Lebensquell entfernt und für den Tod entschieden hat, gegenüber dem Schöpfer bestehen, so besteht umgekehrt die Erlösung in der Wieder-angleichung des Willens des Menschen an den Willen des Vaters. Der Mensch kehrt zum Ursprung des Lebens zurück, was seine vollständige Verwirklichung in der Auferstehung findet. Aber weil es Gottes absoluter und unverrückbarer Wille ist, daß das Grundprinzip der Gerechtigkeit geachtet wird, ist die Rechtschaffenheit mit Freude und die Sünde mit Schmerz verbunden und der Mensch, der "umkehrt", muß das Leiden als pflichtgemäßen Weg annehmen; d. h., der abgeirrte Mensch muß seinen deformierten Willen zurechtbiegen und dem ewigen göttlichen Plan wieder zustimmen. Indem Jesus sein Leiden und Sterben für die Sünder, seine Brüder und Schwestern, annimmt, bekundet und vollendet er seine vorbehaltlose Zustimmung zur Gerechtigkeit des Vaters. In diesem "Gehorsam" richtet sich der menschliche Wille erneut nach dem Willen Gottes und geht in umgekehrter Richtung den Weg, der zu Verfall und Tod geführt hat. (Fs)

64a Wir stellen fest, daß diese beiden Perspektiven einander nicht ausschließen, sondern ineinander verschmelzen und uns ein Stück weiterführen. Sie helfen uns, in eine Wirklichkeit einzudringen, die wir in aller Schönheit und Verständlichkeit erst dann betrachten können, wenn wir einmal jenseits des irdischen Vorhangs die volle Anschauung des Erlösers und des vom Vater beschlossenen ewigen Heilsplans genießen werden. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Erlöser, Erlösung - ursprüngliche Verbundenheit mit Christus (warum heilbringend?); "Wiedergutmachtung für die Schuld" - Solidarität; Ch. als Anfang, Urbild u. Ende d. Menschen;
Zusammenfassung

Kurzinhalt: Es muß sich also nicht so sehr um "stellvertretende Wiedergutmachung", sondern um eine uranfängliche Solidarität zwischen Christus und uns handeln, weshalb das, was von ihm vollbracht wird, auch uns angerechnet wird und nützt. Die wahre Antwort kann ...

Textausschnitt: 3. Unsere ursprüngliche Verbundenheit mit Christus

64b Die dritte Frage führt uns in die Mitte des ganzen Geheimnisses. Weshalb war für uns das, was Christus vollbracht hat, heilbringend? Das klingt so, als bekäme der ältere Bruder die Injektionen, und der jüngere Bruder würde dafür von der Lungenentzündung geheilt. Die Schwere dieses Problems stellte sich im Nachdenken der lateinischen Tradition besonders dringlich, da diese gewohnt war, die Erlösung als "Wiedergutmachtung für die Schuld" darzustellen: Christus, so heißt es, hat an unserer Statt bezahlt; und wie man weiß, wird der Schuldner - wer immer auch zahlen mag - von seiner Schuld befreit. (Fs)

Aber der Vergleich erweist sich, wenn man ihn näher betrachtet, sofort als unangemessen. Wem wurde die Schuld bezahlt? Dem Teufel, wie es mancher antike Schriftsteller wollte? Kann man überhaupt von "Rechten des Teufels" sprechen? Wurde die Schuld an Gott gezahlt? Aber was für ein Vater ist er, wenn er diese Art von blutiger Wiedergutmachung und dann auch noch von dem schuldlosen Sohn verlangt? Und wie ist das überhaupt möglich, daß einer anstelle eines anderen etwas wiedergutmacht, wenn es sich um moralische Schuld handelt?
64c Es muß sich also nicht so sehr um "stellvertretende Wiedergutmachung", sondern um eine uranfängliche Solidarität zwischen Christus und uns handeln, weshalb das, was von ihm vollbracht wird, auch uns angerechnet wird und nützt. Die wahre Antwort kann also nur so lauten, daß zwischen Christus und der Menschheit ein enges Band besteht, gleichsam ein Miteinander-Verbundensein, das aus Jesus und allen Menschen einen einzigen, lebendigen Organismus macht. Und es kann sich nicht um eine Bindung als Folge und Frucht des Heilstodes handeln, wie wir uns zurecht die Verbindung vorgestellt haben, die aus der Kirche den mystischen Leib Christi macht. Es muß vielmehr eine Bindung sein, die Voraussetzung, ursprüngliche Bedingung und entscheidender Grund ist, daß das Kreuzesopfer Jesu für uns wirklich heilbringend sein kann; eine Bindung also, die die Menschheit nicht zu einem gegebenen Augenblick ihrer Geschichte ereilt, sondern die schon von Anfang an, von den Uranfängen, vom Ursprung des Universums an besteht. (Fs) (notabene)

65a Wie man sieht, umfaßt und bekräftigt das Geheimnis der für uns vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazaret gewirkten Erlösung notwendigerweise das Vorhandensein einer angeborenen und unerschütterlichen Solidarität. Diese hat ihren Ursprung im Akt der Vorherbestimmung, durch den Gott von Ewigkeit her Christus als Anfang, als Urbild und als Ende aller tatsächlich existierenden Menschen erdacht und gewollt hat. (Fs)

Von Anfang an war Jesus als Gipfel, als Haupt, als Gesamtheit aller Dinge vorherbestimmt. Alles Geschaffene, das lebt, ist vom Schöpfer auf Christus hin gebildet, ausgerichtet und zuinnerst mit ihm verbunden. (Fs)

Als die Sünde dazwischenkommt, gelingt es ihr nicht, den göttlichen Plan im Kern zu zerstören. Im Gegenteil, sie bekräftigt und bewahrheitet ihn in gewisser Weise, denn der Sohn Gottes distanziert sich nicht von seinen schuldig gewordenen Brüdern und Schwestern, sondern bleibt das gesunde Haupt eines kranken Organismus und macht sich für die Menschheit zur Quelle der Wiederherstellung und des neuen Lebens. (Fs) (notabene)

65b Diese Wahrheit hat entscheidende und unberechenbare Folgen für die Sicht, die wir von der Welt, vom Menschen und vom Einsatz auf Erden erhalten sollen. Darüber werden wir im Rahmen der nächsten Meditation nachdenken. Wir wollen das eben Gesagte noch abrunden. (Fs)

Zusammenfassung

1. Es besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen den "weltlichen" Meinungen hinsichtlich der Erlösung des Menschen und der Wahrheit, die von der christlichen Botschaft angeboten wird: Sie sind absolut nicht miteinander zu vergleichen, und es ist verwunderlich, daß unsere Verwirrung manchmal so weit geht, daß sie in unserem Herzen, wenigstens teilweise, gleichzeitig so heterogene und disparate Auffassungen nebeneinander bestehen läßt. Unsere erste Christenpflicht ist in dieser Hinsicht, jede Widersprüchlichkeit zu überwinden und das eigene innere Heiligtum von allen kleinen Götzen, die dort noch vorhanden sind, zu reinigen. "Was haben Licht und Finsternis gemeinsam? Was für ein Einklang herrscht zwischen Christus und Beliar? Was hat ein Gläubiger mit einem Ungläubigen gemeinsam? Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit Götzenbildern?" (2 Kor 6,14-16). (Fs)

66a
2. Die Heilsinhalte des Evangeliums beziehen sich nicht auf einen Teil des Menschen oder seines Daseins, sondern auf den ganzen Menschen und auf seinen endgültigen Zustand: Es ist ein Heilsein, das uns durch das Licht der Wahrheit gegeben wird, durch das Eingießen der Nächstenliebe, das heißt der wahren Liebesfähigkeit, durch die Vergebung der Sünden, durch die Wiederherstellung der Freiheit angesichts der Mächte des Bösen, durch die Teilhabe an der göttlichen Natur, durch den Sieg über den Tod in der leiblichen Auferstehung und durch das ewige Leben. (Fs) (notabene)

Soziale, politische und kulturelle Veränderungen mit einem direkten und vorrangigen Heilsinhalt zu besetzen, widerspricht nicht nur allen ausdrücklichen Aussagen der apostolischen Kirche und den Herrenworten selbst, sondern steht auch im Gegensatz zur tiefen Logik des Christus-Ereignisses. (Fs)

Es ist nicht glaubhaft, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, nur um das Internationale Rote Kreuz oder die Krankenversicherung oder die Gewerkschaft oder revolutionäre Aktionsgruppen zu gründen. Die Sendung des Wortes muß den Wesenskern aller Dinge berühren. Die Menschwerdung, das Leiden und Sterben, die Auferstehung und das Pfingstereignis haben schon "die Welt besiegt", haben die Wirklichkeit schon verändert, haben schon das Geschick des Menschen erneuert. Wir sind schon die neue Welt. (Fs)

66b
3. Jetzt ist es an uns, im Leben, in unserem ganzen Dasein als Einzelne und Gemeinschaft die Neuheit einzuführen, an der wir bereits Anteil haben. Es ist unsere Aufgabe, uns vom Gerümpel der weltlichen Anschauungen und Verhaltensweisen zu befreien und im neuen Leben zu wandeln. (Fs)

67a Gewiß sollen auch wir für die soziale Gerechtigkeit, für die Bürgerrechte und Freiheit, für die Errichtung einer brüderlicheren und menschlicheren Gesellschaft kämpfen. Aber nicht aus dem Grund, weil sie direkte, erschöpfende oder vorrangige Ziele der Erlösung Christi sind, sondern weil die Ungerechtigkeit, die Unterdrückung, die Grausamkeit und Entfremdung in krassem Gegensatz zur christlichen Neuheit stehen, sie verdunkeln und ihr widersprechen. "Wenn einer in Christus ist, ist er eine neue Schöpfung" (2 Kor 2,17). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christus - Haupt der Kirche (kephale); Pfingsten als ständiges Ereignis Heiliger Geist); Wunder der Heiligung und der Heiligkeit der Kirche

Kurzinhalt: ... die objektive und subjektive Heiligkeit, die unter dem Himmel durch dieses unablässige Pfingstereignis fortdauert und eine lebendige Einheit bildet, stellt das Wunder der Kirche dar,

Textausschnitt: III. DAS HAUPT

Vorbemerkung

67b
1. Bisher haben wir festgestellt, daß die "weltlichen" Stimmen mit der Stimme, die durch den Mund des Petrus aus der Offenbarung des Vaters kommt, unvereinbar sind. Wir haben die verschiedenen kulturellen Götzen ausgeräumt, die sich in den geheimsten Falten des Gewissens verbergen und die wahre Erkenntnis Christi beeinträchtigen. An diesem Punkt sind alle Kräfte des Geistes angespannt, um zu verstehen, was es für mein Leben und meine existentielle Entwicklung bedeutet, wenn ich Jesus von Nazaret als den einen Herrn und Erlöser erkenne, welche Tragweite und möglichen Implikationen es hat. (Fs) (notabene)

Er ist der Messias: Er ist derjenige, der mir gesandt wurde, der aus dem Geheimnis Gottes zu mir gekommen ist, um alle meine Erwartungen zu erfüllen, sich als Antwort auf meine unerschöpflichen Fragen anzubieten und meine quälenden Zweifel durch sein Licht, seine Einfachheit und Sicherheit zu zertreuen. (Fs)

Er ist der Lebendige, der durch seine Auferstehung die Schranke des Todes durchbrochen hat, die meinen Lebensweg hemmt und grausam unterbricht. So gibt er mir die Möglichkeit zu hoffen, das heißt, ohne Angst in die Zukunft zu blicken. (Fs)

67c Er ist der Sohn des Ewigen, der meine Natur angenommen hat. Dadurch hat er mir die Würde der lebendigen Gottesebenbildlichkeit zurückerstattet und für immer mein Menschsein, das noch dem Druck der Mächte des Bösen ausgesetzt ist, mit der glückseligen und unantastbaren Wirklichkeit Gottes verbunden. Er ist der Menschensohn. Er hat bis zum Kreuzestod heroisch ja gesagt zum Willen des Vaters und zu seinem absoluten Anspruch der Gerechtigkeit und dadurch Adams "Nein" der Auflehnung überschritten und besiegt. (Fs)

68
2. Wie man sieht, verleitet diese Meditation spontan dazu, in der ersten Person Einzahl zu sprechen, denn gerade mein Personsein in seiner unverkürzbaren Individualität fühlt sich von Jesus von Nazaret, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, aufgerufen, erfaßt und einbezogen. Wenn er der Messias ist, ist er für mich Messias. Wenn er der Herr ist, ist er mein Herr. Wenn er der Erlöser ist, geht es um meine Erlösung. Ich bin nicht der Zuschauer eines fremden Schicksals, ich spiele die Hauptrolle. (Fs)

Aber die Offenbarung der Einzigkeit Christi und der Einmaligkeit des von ihm gewirkten Heils sagt mir, daß das, was für mich gilt, für alle Geltung hat. Wenn er der Eine ist, dann ist die von ihm gewirkte Erlösung universell. Wenn es niemand andern gibt, der Rettung bringt, müssen alle in ihm gerettet werden. Wenn er der einzige ist, der die Wahrheit und die Verbundenheit mit den Geschöpfen erlangen und sie erneuern kann, steht ihm natürlicherweise alles offen, ist alles von Anfang an mit ihm verbunden und auf ihn hingeordnet. Wenn er es ist, der der Wirklichkeit Bedeutung, Sinn und Beständigkeit verleiht, darf nichts von ihm getrennt gesehen werden, weil wir es sonst verzerrt wahrnehmen. Was von ihm getrennt wird, verliert an Kraft, geht verloren. (Fs)

68b Der Apostel Paulus drückt diesen Grundbegriff der christlichen Sicht dadurch aus, daß er das Bild des "Hauptes" verwendet: Christus ist das "Haupt" (HE kephalE) der Kirche und zuvor noch das "Haupt" des geschaffenen Universums (Kol 1,18). "Christus, das Haupt", ist Gegenstand dieser Betrachtung. Wir wollen ihn zunächst für sich allein und dann in einigen seiner vielfachen Wirkungen erforschen. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christus - Haupt der Kirche; unablässiges Opfer der Erlösung; Wunder der Heiligung und der Heiligkeit der Kirche; Wasser, Öl, Brot, Wein als Zeichen

Kurzinhalt: ... die objektive und subjektive Heiligkeit, die unter dem Himmel durch dieses unablässige Pfingstereignis fortdauert und eine lebendige Einheit bildet, stellt das Wunder der Kirche dar ...

Textausschnitt: A) Christus ist das Haupt der Kirche und "des Universums"

1. Christus, das Haupt der Kirche

69a Jesus von Nazaret, der Gekreuzigte und Auferstandene, der im himmlischen Heiligtum dem Vater unablässig sein Erlösungsopfer darbringt, ruft dadurch die Wirklichkeit der Kirche hervor, daß er seinen Geist in die Welt ausgießt. Pfingsten ist nicht so sehr eine Episode aus der Apostelgeschichte, sondern ein ständiges Ereignis, das zwar am fünfzigsten Tag nach der Auferstehung des Herrn eingetreten ist und großes Aufsehen erregt hat. Aber es nimmt von sich aus kein Ende und wirkt weiter. Wir sind der Wirkung der göttlichen Gnade ständig ausgesetzt, was durch die Gegenwart des Herrn zur Rechten des Vaters hervorgerufen wird. (Fs) (notabene)

Der Heilige Geist, der als erhabene Quelle aus dem menschlichen Herzen des durchbohrten und verherrlichten Gottessohnes hervorströmt, tränkt die Welt, macht sie fruchtbar, überschüttet die schwachen und sündigen Menschen und macht sie zu festen und wirksamen Werkzeugen im Dienst des neuen Lebens. Er bewegt die Herzen der Menschen und macht sie Gott ähnlich. (Fs)
69b So entstehen die Wunder der Heiligung und der Heiligkeit der Kirche. (Fs)

a) Kraft ihrer "heiligenden" Wirkung geschieht es, daß

- einfache, schwache Männer über alle persönlichen Verirrungen hinaus den Fortbestand der sichtbaren Sendung Christi in der Apostelnachfolge sicherstellen, denn seit Jahrhunderten werden Bischöfe von Bischöfen eingesetzt, während jede Dynastie auf Erden früher oder später untergeht;
- Schriften aus Menschenhand, die an eine bestimmte Kultur gebunden, manchmal sogar unbeholfen und grammatikalisch unkorrekt sind, vom ewigen Wort Gottes durchtränkt werden und uns als "Heilige Schrift" zur Verfügung stehen;
- geringfügige, einfache Dinge, wie Wasser, Öl, Brot und Wein in den Sakramenten wirksame Zeichen der Gnade, ja in der Eucharistie sogar Zeichen der Realpräsenz Christi und seines Opfertodes in unserer Mitte werden. (Fs)

b) Aber die Ausgießung des Heiligen Geistes, der vom gekreuzigten und auferstandenen Christus gesandt wird, geht auch auf die innere und unsichtbare Welt, den Verstand, das Herz, das Gewissen über. So kann der Mensch das Geschenk der Erleuchtung spüren, die ihm die göttliche Wahrheit verstehen hilft, auch wenn sie hart und fernliegend erscheint, oder Eingebungen spüren, die ihn dazu bewegen, einer bisher scheinbar unüberwindlichen Versuchung zu widerstehen, ein bisher scheinbar unausrottbares Laster aufzugeben und etwas Gutes zu tun, das sich bisher als zu anspruchsvoll und damit als unerreichbar erwiesen hatte. (Fs) (notabene)

70a Wer diesem Erneuerungsimpuls nachgibt, wer aus dem Glauben zu leben beginnt und sich von der Liebe entzünden läßt, wird Tempel des Heiligen Geistes und nimmt als staunenswertes Geschenk des Herrn Jesus diesen geheimnisvollen und wirksamen Gast auf, der in ihm als Quelle des Gnadenlebens wohnt. (Fs)

Das sind die Wunder der "Heiligkeit", die der Geist Christi im Innern des Menschen wirkt, der ja als Sünder, also wankelmütig und zutiefst verwirrt, geboren wird. (Fs)

Ja, die objektive und subjektive Heiligkeit, die unter dem Himmel durch dieses unablässige Pfingstereignis fortdauert und eine lebendige Einheit bildet, stellt das Wunder der Kirche dar, das sie unüberwindbar und stets jung erhält. (Fs)

Im Licht dieser Überlegungen ist die Kirche als die Menschheit zu verstehen, die nach dem ewigen Plan des Vaters vom gekreuzigten Erlöser, der jetzt in der Herrlichkeit Gottes lebt, durch den Heiligen Geist berührt, gereinigt, erneuert und geeint wird. Die Kirche ist eine lebendige Einheit, deren "Haupt" Christus ist. Sie ist nach einem Wort des Apostels Paulus der "Leib" Christi (Kol 1,18). (Fs)

70b Wer Jesu Wort aufgenommen hat, wer durch die Sakramente sein Prägemal erhalten hat, wer im Glauben an derselben Erkenntnis teilhat, die Christus von Gott und den Dingen hat, wer im Herzen dieselbe Liebe zum Vater und zu den Brüdern und Schwestern wie Christus hat, und wer in seinem Herzen denselben Geist beherbergt, der von Ihm ausgeht, der ist ein lebendiges Glied dieses Leibes. Im Leben der Kirche wachsen bedeutet, in der objektigen Verbindung mit Christus zu wachsen, ihm, dem Gott-Menschen, ähnlicher zu werden und daher immer mehr am göttlichen Leben teilzuhaben. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christus - Haupt des Universums; Verbindung mit Ch. seit Schöpfungsbeginn; Ambrosius (Anthropozentrismus); Unterschied: Zugehörigkeit zu Kirche; Hymnus (Kolosser); Ch: in, durch, auf ihn hin (en, dia, eis,)

Kurzinhalt: Christus ist also das Haupt der geschaffenen Welt, noch bevor er Haupt der Kirche ist... Diese anfängliche Zugehörigkeit zu Christus unterscheidet sich von der Zugehörigkeit zur Kirche:

Textausschnitt: 2. Christus, Haupt des geschaffenen Universums

71a Wir haben über das Geheimnis der Erlösung nachgedacht. Dabei ist uns aufgegangen, daß es schon vor der geheimnisvollen Verbindung der Kirche, die Frucht der Erlösung ist, eine Verbindung zwischen den Menschen, ja zwischen der ganzen Schöpfung und Christus gegeben haben muß. Diese Verbindung besteht schon seit Schöpfungsbeginn und ist, obwohl sie vom Teufel ständig bekämpft und behindert wurde, nie erloschen. (Fs)

Von Anfang an ist alles für den Menschen erdacht und gewollt. Alle Dinge sind deshalb in den Dienst des Menschen gestellt, alle Dinge finden im Menschen Sinn und Ausdruck, um Gott zu loben. Alle Dinge existieren gleichsam als gestufte Teilhabe an der Daseinsfülle, die in der menschlichen Natur enthalten ist. Dieser Anthropozentrismus wird zum Beispiel vom hl. Ambrosius klar ausgedrückt:

"Der sechste Tag ist zu Ende, und die Erschaffung der Welt mit der Herstellung des Meisterwerks, des Menschen, ist beendet. Er herrscht über alles, was lebt, und ist gleichsam die Krone des Universums und die höchste Schönheit alles Geschaffenen."

"... in quo principatus est animantium universarum et summa quaedam universitatisetomnismundanaegratiacreaturae"(Exameron VI, 10,75). Aber alle Menschen sind von Ewigkeit her in Christus, dem Erlöser, erdacht und gewollt, von Anfang an ihm nachgebildet, auf ihn ausgerichtet und eng mit ihm verbunden. (Fs)

Christus ist also das Haupt der geschaffenen Welt, noch bevor er Haupt der Kirche ist. Jeder Mensch gehört Ihm an, noch bevor er von seinem Geist erreicht und umgewandelt wird. Jeder Mensch ist in gewisser Weise sein Spiegelbild, noch bevor er an seinem göttlichen Leben teilhat. (Fs) (notabene)

71b Diese anfängliche Zugehörigkeit zu Christus unterscheidet sich von der Zugehörigkeit zur Kirche:

- weil sie von Anfang an besteht und für ihre Fortsetzung keine Zustimmung des Einzelnen oder der Gemeinschaft erfordert;
- weil sie universelle Wirklichkeit ist und alle einbezieht, nicht nur die Getauften oder diejenigen, die den Glauben angenommen haben;
- weil sie unauslöschlich ist; nicht einmal das auflehnende Verhalten des Menschen kann bewirken, daß er nicht derjenige ist, der er in der Wahrheit seines Wesens ist, d.h. ein wenn auch verblichenes und geschändetes Bild des Herrn. (Fs)

72a Gewiß ist eine solche Zugehörigkeit zu Christus in dieser vergänglichen und sündebefleckten Welt nur unvollständig und anfanghaft und will von der Heilskraft vervollkommnet und sublimiert werden. Sie ist gleichsam der Entwurf eines Bildes, das verfeinert werden will, damit es das, was es ist, besser ausdrücken und ein Meisterwerk werden kann. Aber der Ansatz ist authentisch, er ist schon in allen Menschen vorhanden, und keine Gewalt des Bösen ist imstande, ihn vollständig zu zerstören. (Fs)

Jedes Ding, jeder Mensch wird schon mit dem Kennzeichen des Herrn Jesus geboren, das seinem Wesenskern aufgeprägt ist. Jedes Ding, jeder Mensch wird aber auch unter der "Herrschaft" des Bösen geboren ("...der Tod ist zur Herrschaft gekommen", sagt Paulus, vgl. Röm 5,17). Deshalb kann sich dieser Ansatz von Ebenbildlichkeit nicht bis zur Inbesitznahme, besser, bis zur vollen Ausspendung des göttlichen Lebens entwickeln. Das ist das Geheimnis der Ursünde. Das erlöste Leben (das durch die Taufe geschenkte neue Leben, das Leben in der Kirche oder das Leben in der Gnade) befreit den Menschen von der schweren Unterdrückung des Bösen und erlaubt ihm, seine wahre Natur als "lebendige Ikone Christi" zu verwirklichen; es läßt ihn immer mehr in der Verbundenheit und in der Ebenbildlichkeit mit seinem Erlöser wachsen. (Fs)

72b Wie man sieht, wird der Mensch, der ernsthaft als Christ lebt, wirklich "mehr Mensch", das heißt, er verwirklicht voll seine ursprüngliche und unauslöschliche Natur des "Bildes", das immer mehr "Abbild", Gott "ähnlich" (vgl. Gen 1,26) werden will. (Fs) (notabene)

72c Die Gemeinde zur Zeit der Apostel verkündete freudig diese Wahrheit, die die Grundlage und Zusammenfassung des ganzes Christentums ist, in einem Hymnus, den Paulus im Brief an die Gläubigen von Kolossä wiedergegeben hat:

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
Denn in ihm (en autO) wurde alles erschaffen
im Himmel und auf Erden,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten;
alles ist durch ihn (di autou) und auf ihn (eis auton)
hin geschaffen.
Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.

73a
Er ist das Haupt des Leibes,
der Leib aber ist die Kirche.
Er ist der Ursprung,
der Erstgeborne der Toten;
so hat er in allem den Vorrang.
Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm
(en autO) wohnen,
um durch ihn (di autou) alles auf ihn hin (eis auton)
zu versöhnen.
Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus
führen,
der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut
(Kol 1,15-20). (Fs)

Anmerkungen

- Die Rede ist von dem geliebten Sohn, das heißt vom Eingeborenen des Vaters, der uns durch sein Blut die Erlösung, die Vergebung der Sünden erlangt hat. (Fs)

- Der Hymnus ist symmetrisch in zwei Strophen geteilt, die erste handelt von der Schöpfung, die zweite betrifft die erlöste Schöpfung, das heißt die Kirche. (Fs)

- Die Rolle Christi in beiden Bereichen wird durch die Angabe der dreifachen Ursächlichkeit ausgedrückt: in, durch, auf ihn hin (en, dia, eis,). (Fs)

- In beiden Strophen wird klar dargestellt, daß die Rolle als "Haupt" oder "Prinzip" über die "Gesamtheit" ausgeübt wird. Die "Gesamtheit" im geschaffenen Universum und im erlösten Universum (der Kirche) umfaßt auch die Welt der himmlischen Mächte. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christus - Haupt: Folgen; Mensch als Ikone Christ; irdische Werte; Christus als Urbild; Wahrheit über den Menschen; 2 Aspekt, 1 Ordnug ("Profanität" der Dinge)

Kurzinhalt: Wenn die Herrschaft Christi nicht - zumindest stillschweigend - anerkannt wird, lehnen sich auch die Dinge gegen uns auf und überwältigen uns... Unser Verstand bleibt ohne dieses "Gedächtnis" nicht lebendig. Unser Wille kann sich ...

Textausschnitt: B) Die Folgen

73c Die Wahrheit vom "Primat" Christi und seiner zentralen Rolle nicht nur in der Kirche, sondern auch im geschaffenen Universum hat tiefreichende Auswirkungen auf die christliche Sicht der Wirklichkeit. (Fs)

1. Jeder Mensch ist eine "Ikone Christi"

74a Jeder Mensch, wie auch sein Verhalten, seine Überzeugungen, seine Gemütsverfassung sein mögen, bleibt immer ein anfängliches Abbild Christi und ist deshalb in den vom Glauben erleuchteten Augen des Menschen "liebenswert". (Fs)

Deshalb gibt es im Christentum nicht das Gebot, den Gläubigen zu lieben, sondern den Nächsten zu lieben, auch wenn er geistig fremd und anders ist. Für uns ist jeder durch sein Menschsein eine "Ikone Christi". Natürlich ist es unerträglich, daß ein Abbild Christi durch Irrtum, Unglaube und Bosheit entstellt und verdunkelt wird. Wer also den Herrn Jesus liebt, bemüht sich darum, daß ihm alle näherkommen und ähnlicher werden. Jeder wahre Christ ist zum Apostolat unter den Menschen berufen. (Fs)

2. Jeder irdische Wert ist Widerschein des inneren Reichtums Christi

74b Wenn in Christus die ganzen Werte der Schöpfung zusammengefaßt sind, so daß er die Wahrheit, die Schönheit, die Heiligkeit ist, dann ist jeder authentische Wert, dem man in der Welt begegnet, Widerschein seines Lichtes. Jeder wahre Wert ist deshalb ursprünglich christlich. In der Natur und Geschichte, in der Forschung und Erfindung, in der Kunst und in der Kontemplation wird alles Wahre, alles Schöne und alles Gute, dem wir begegnen dürfen - vorausgesetzt, es ist wirklich wahr, schön und gut -, vom fleischgewordenen Wort her erhellt, das sich ohne Minderung ständig schenkt und überall manifestiert, wo es ein Geschöpf Gottes gibt. (Fs) (notabene)

Die Werte achten, hochschätzen und lieben, wo immer sie sich finden und welche Form sie auch angenommen haben, kann, wenn es reinen Herzens geschieht, auch ein unbewußter, aber realer Weg zu Christus und sogar zur Begegnung mit ihm sein. Christus im Glaubensakt besitzen, d. h. den Ursprung, den Höhepunkt, die Summe aller Wahrheit, aller Schönheit und aller Gerechtigkeit kennen, bedeutet aber auch, die Werte in bevorzugter Weise und besser aufzunehmen, als es diejenigen können, die sie verspürt und ausgedrückt haben, ohne Christus genau zu kennen. (Fs)

3. Christus ist das allumfassende Urbild

74c Wie alle Werte der Welt schon in gewisser Weise "christlich" sind, so ist alles, was existiert, in Christus ein Wert. (Fs)

75a Und weil dieser Christus der gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes ist, wie es im Plan Gottes konkret erdacht und gewollt wurde, damit er der Anfang und das Urbild der Menschen und des Universums sei, darum hat in ihm auch all das einen Wert, was dem Verstand allein als das Gegenteil erscheinen mag, wie z. B. das Leiden, der Mißerfolg, die Niederlage und der Tod. (Fs) (notabene)

Die nichtchristliche Vernunft kann darin keinen Wert entdecken. Damit ist die Vernunft gemeint, die noch nicht die wirklichen Dimensionen des konkreten Daseins in sich aufgenommen hat, wenn es wahr ist, daß das konkrete Dasein in Christus seine Mitte, sein Urbild, seine Rechtfertigung findet. (Fs)

Aber die vom Glauben erleuchtete Vernunft, die die Zentralität, Urbildlichkeit und Gesamtheit des gekreuzigten und auferstandenen Herrn kennt, zögert nicht - gerade weil sie wahrhaftig und voll "Vernunft" sein will -, den logischen Prozeß umzukehren: Die gesellschaftlichen Nichtwerte wie Leiden, Mißerfolg, Niederlage, Tod, sind, wenn sie in Christus und wie Christus gelebt werden, für uns zweifellos auch Werte. (Fs) (notabene)

75b Damit findet das Leiden, das für den Menschen ein Rätsel ist, eine christliche Lösung. (Fs)
4. Zwei Aspekte, eine Ordnung der Dinge

75c Es besteht ein klarer und unverwechselbarer Unterschied zwischen dem geschöpflichen Zustand, in den alle Dinge und alle Menschen natürlicherweise versetzt sind, und dem Heilszustand, in den wir durch das Opfer Christi und die daraus folgende Ausgießung des Heiligen Geistes gelangen. (Fs)

Aber diese beiden Befindlichkeiten oder Aspekte des Daseins bestehen in Christus, durch Christus und auf Christus hin (um an die dreifache Kausalität des Hymnus aus dem Kolosserbrief zu erinnern). Kann man deshalb von einer Weltlichkeit oder gar von einer "Profanität" der Dinge sprechen?

75c Ja, wenn damit gemeint ist, daß die Dinge eine eigene Struktur und folglich eine eigene natürliche Erkennbarkeit besitzen, die, wenn sie von der Sünde entweiht und in ihrer ursprünglichen Berufung verletzt wird, ebenso fortbesteht und mit dem Verstand zu erfassen ist, wie wenn sie von der umwandelnden Wirkung des Heiligen Geistes erreicht und erneuert wird. Zum Beispiel bleibt ein Mensch weiterhin Mensch, auch wenn er sich gegen den Plan Gottes auflehnt und von Christus getrennt hat, so wie er Mensch bleibt, wenn er lebendiges Glied des kirchlichen Leibes wird. (Fs)

76a Nein, wenn damit gemeint ist, daß die Dinge in dieser vorgesehenen Ordnung unabhängig von Christus existieren und daß sie ohne den grundlegenden Bezug auf Ihn ausreichend erfaßt werden könnten, denn er bleibt in jedem Fall, ob wir wollen oder nicht, ihr Haupt und Herr. Weil Christus nur im Glauben erkannt werden kann (d. h. als der tiefste und endgültige Sinn des Universums und insbesondere des Menschen), kann der Mensch und das Universum nur von demjenigen vollständig erfaßt und verstanden werden, der den Glauben als höchstes Erkenntnisprinzip anerkennt. Wir leben in keiner Schattenwelt. Die Dinge existieren wirklich. Jedes Geschöpf besitzt eine Gegenständlichkeit, eine eigene Natur und eine eigene Verständlichkeit. Die Geschöpfe sind keine leeren Gelegenheiten, die der Wirksamkeit Gottes dargeboten werden. Sie haben eine eigene sekundäre, aber wirkliche Kausalität. Das soll nicht heißen, daß die Welt ein Haufen einzelner, heterogener, unabhängiger Fragmente ist. Die Offenbarung über Christus als denjenigen, in dem alles erdacht worden ist, sagt uns, daß ein einheitlicher Gesamtplan besteht und daß jedes Ding als Teil eines Organismus existiert, der in Christus sein Haupt hat. Wenn das wahr ist, dann kann nichts vollständig erkannt werden, solange es vom Rest getrennt wird. Jedes getrennte Erkennen eines Geschöpfes ist immer nur eine abstrakte Erkenntnis, weil kein Geschöpf eine fragmentarische Existenz hat, sondern alle nach einem Plan und in einer zumindest anfänglichen und tief verwurzelten Verbundenheit leben. (Fs) (notabene)

Jede menschliche Wissenschaft hat ihre eigenen Methoden und Gesetze, die zu Recht respektiert werden müssen. Um die Fragen der einzelnen Fachbereiche zu beantworten, darf man nicht sogleich auf Jesus Christus als Antwort zurückgreifen. Aber getrennt von der Erkenntnis Christi schöpft keine Wissenschaft vollständig die Verständlichkeit ihres Objektes aus. Ebensowenig können wir durch eine Praxis, die nicht mit dem Gehorsam gegenüber dem Herrn Jesus verbunden ist, über das Universum in rechter Weise herrschen. (Fs) (notabene)
76b "Alles gehört euch; ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott" (1 Kor 3,23). Alles gehört uns - unter der Bedingung, daß wir Christus gehören. Wenn die Herrschaft Christi nicht - zumindest stillschweigend - anerkannt wird, lehnen sich auch die Dinge gegen uns auf und überwältigen uns. (Fs)

77a In der Tat huldigt "die materialistische Zivilisation trotz 'humanistischer' Erklärungen dem Vorrang der Sachen über die Person", sagt Johannes Paul II. (vgl. Dives in misericordia 11). (Fs)

5. Christus lehrt die Wahrheit über den Menschen

77b Wenn der Mensch immer ein anfängliches Abbild Christi ist, ist jede wahre und echte Anthropologie auch beginnende Christologie: Wer in rechter und ehrlicher Absicht den Menschen betrachtet und liebt, erkennt etwas vom Geheimnis des Gott-Menschen, und seine Liebe führt ihn unwillkürlich hin zum Herrn Jesus, auch wenn es ihm nicht bewußt ist: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben" (Mt 25,35). (Fs)

Wenn es andererseits wahr ist, daß der Mensch Christus und nicht Christus dem Menschen nachgebildet ist, ist keine kulturelle Anthropologie imstande, uns das Geheimnis des wahren Adam und auch nicht das Geheimnis des Menschen wirklich verständlich zu machen; (gemeint sind die verschiedenartigen Menschenbilder, die uns immer wieder von den "Kulturen" angeboten werden, die im Lauf der Geschichte auftreten und die Weltbühne beherrschen). Nur Christus kann wirklich sagen, wer der Mensch ist, und derjenige, dem der Herr Jesus nicht vom Fleisch und Blut, sondern vom Vater im Himmel geoffenbart worden ist. (Fs)

77c Nur er weiß vollständig, was im Menschen ist, denn nur er trägt in sich das Bild des vollkommen verwirklichten Menschen. Deshalb ruft jeder von der Erkenntnis Christi getrennte Humanismus (oder, noch schlimmer, ein dem christlichen Glauben gezielt entgegengesetzter Humanismus) unweigerlich eine unmenschliche und menschenfeindliche Gesellschaft ins Leben. Das ist die traurige Lehre, die unser Jahrhundert unfreiwillig mit einer bisher noch nie dagewesenen Deutlichkeit und Reichweite erteilt. (Fs)

Schlußbemerkungen

77d Wir haben versucht, in dieser kurzen Zeit Christus näherzukommen. Wir sind uns auch dessen bewußt, daß er im christlichen Sinn des Wortes ein "Geheimnis" ist: das heißt eine Wirklichkeit, die uns übersteigt und uns gerade deshalb heilt. Denn alles, was uns nicht übersteigt, ist zu gering für uns und muß wie wir geheilt werden. Wir haben versucht, dem Geheimnis Christi näherzukommen, und achteten darauf, seine Einzigkeit zu erfassen und zu respektieren: Wenn man ihn auf unsere Ebene und auf die Ebene unserer sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Interessen reduzieren will, nivelliert man ihn und macht ihn zum Schluß unbedeutend und unnütz. (Fs)

78a Wir haben versucht zu verstehen, warum die Einzigkeit ihm universelles und notwendiges Gewicht verleiht: Kein Volk und keine Kultur dürfen ihn schuldhaft außeracht lassen, sonst werden sie menschenfeindlich. Keine Geschichtsepoche darf ihn für überholt halten, wenn auch alle mehr oder weniger dazu neigen, dies zu denken. Kein Mensch darf sich bewußt von ihm trennen, sonst verliert er sich als Mensch. Christus ist kein Luxus, keine fakultative Option, kein Ideenschmuckstück. Seine Gegenwart oder seine Abwesenheit (das heißt, wenn wir ihn aufnehmen oder ablehnen) berühren unseren Wesenskern und entscheiden unser Schicksal. Er ist der Herr, und er will, daß wir ihm in unseren Gedanken, in unseren Entscheidungen, in unserem Leben Raum geben. Unser Verstand bleibt ohne dieses "Gedächtnis" nicht lebendig. Unser Wille kann sich ohne diesen "Gehorsam" nicht aufrechthalten. Unser Menschsein verwirklicht sich nicht voll, wenn es nicht in dieser Verbundenheit und in dieser Übereinstimmung zu wachsen sucht. Er ist der Herr, und er darf aus keinem Winkel unseres Daseins ausgeschlossen werden. (Fs)

78b Er ist der Herr, obwohl er sich niemandem aufdrängt, sondern sich pausenlos der freien Zustimmung aller anbietet. Die Freude, daß er da ist, besiegt jede mögliche Traurigkeit in unserem Leben. Die Augen, die ihn im Glauben betrachtet haben, können die Welt und Geschichte nicht mehr voll Verzweiflung anblicken. Das Herz, das sich ihm geöffnet hat, hat sich dem Universum geöffnet und kann sich nicht mehr in die eigene Engherzigkeit einkapseln. Weil er da ist, sind wir ein erlöstes Volk. Weil er da ist, sind wir eine Kirche. Weil er da ist, muß alles neu werden. Jedes Nachdenken über Christus muß ein neues Menschsein in Christus zur Folge haben. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Hinabgestiegen in das Reich des Todes 1; Daten der Offenbarung; Scheol

Kurzinhalt: Hier ist zu beachten, daß das Hinabsteigen Christi ganz anders zu deuten ist als der Hinabstieg, dem man in der Mythologie begegnet

Textausschnitt: Die Daten der Offenbarung

81c
3. Wir können jetzt rasch die Reihe der neutestamentlichen Hinweise prüfen, die uns interessieren dürften. (Fs)

a) Da ist vor allem das Logion Jesu aus dem Evangelium von Matthäus: "... so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Innern der Erde sein" (Mt 12,40). Jona spricht in seinem Lied vom "Herz der Meere" (Jona 2,4). "Im Herzen" bedeutet in diesem Zusammenhang "im Innern", "im Schoß". "Im Innern der Erde" ist also das Erdinnerste, wo man den Aufenthaltsort der Verstorbenen vermutete. (Fs)

82a
b) Christus wird aus dem "Scheol" - als Unterwelt verstanden - durch die Auferstehung wieder "heraufgeführt": "Christus von den Toten heraufführen" (Röm 10,7), schreibt Paulus im Brief an die Römer, übereinstimmend mit dem Autor des Briefes an die Hebräer, wo es heißt: "Der Gott des Friedens aber, der Jesus, unseren Herrn, den erhabenen Hirten seiner Schafe, von den Toten heraufgeführt hat" (Hebr 13,20). (Fs)

c) Der Brief an die Epheser stellt die Himmelfahrt Christi seinem "Herabsteigen" entgegen: "Wenn er aber hinaufstieg, was bedeutet dies anderes, als daß er auch zur Erde herabstieg?" (Eph 4,9). Hier besteht jedoch eine Interpretationsschwierigkeit: Was bedeuten genau to katOtera merE tEs gEs? Wenn sie "unterirdische" Stätten sind, dann ist hier die Rede vom Hinabstieg in den "Scheol". Wenn ein unterhalb des Himmels gelegener Ort der Erde gemeint ist, dann handelt es sich um das "Herabsteigen" der Menschwerdung (die Bibelübersetzung der Italienischen Bischofskonferenz CEI lautet: "herabgestiegen auf die Erde"). (Fs)

d) Der christologische Hymnus des Briefes an die Philipper verkündet, daß Gott seinen Sohn erhöht hat, "damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr" (Phil 2,10.11). Wie immer man sich diese Geschöpfe vorstellen mag, die aufgerufen sind, Christus anzubeten - der Sinn ist, daß Jesus durch seinen Gehorsam bis zum Tod die Herrschaft auch über die Unterwelt, d. h. den "Scheol", erlangt hat. (Fs)

e) Die interessantesten und problematischsten Zeugnisse werden uns vom 1. Petrusbrief in zwei getrennten Abschnitten geboten. (Fs)

82b Im 4. Kapitel wird bekräftigt, daß den Bewohnern des "Scheol" das Evangelium verkündet worden ist: Denn "sie werden vor dem Rechenschaft ablegen müssen, der schon bereit steht, um die Lebenden und die Toten zu richten" ... so "daß sie wie Menschen gerichtet werden im Fleisch, aber wie Gott das Leben haben im Geist" (1 Petr 4,5.6). (Fs)

82b Und im 3. Kapitel heißt es: "Denn auch Christus ist der Sünden wegen ein einziges Mal gestorben, er, der Gerechte, für die Ungerechten, um euch zu Gott hinzuführen; dem Fleisch nach wurde er getötet, dem Geist nach lebendig gemacht. So ist er auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt. Diese waren einst ungehorsam, als Gott in den Tagen Noachs geduldig wartete, während die Arche gebaut wurde; in ihr wurden nur wenige, nämlich acht Menschen, durch das Wasser gerettet" (1 Petr 3,18-20). (Fs)
83a Die Stelle ist schwer zu interpretieren, und wir überlassen sie der Kunst der Exegeten. Im wesentlichen scheint sie eine Erklärung der Heilsbotschaft zu sein, die für die damalige theologische Kultur eine uns unbekannte Bedeutung hatte und auf diejenigen hin gemünzt war, die zur Zeit des Osterereignisses der Erlösung schon vom Tod dahingerafft worden waren; auf diese Botschaft wird dann - wie wir gesehen haben - im nachfolgenden Kapitel hingewiesen. (Fs)

4. Die Religionsgeschichte, die nach rationalistischer Methode Vergleiche anstellt, wollte in diesem Teil der apostolischen Predigten eine Ableitung aus der griechischen oder orientalischen Mythologie sehen, in der der Held oder ein Gott in den Hades hinabsteigt. Hier ist zu beachten, daß das Hinabsteigen Christi ganz anders zu deuten ist als der Hinabstieg, dem man in der Mythologie begegnet. Christus geht, um die Erlösung anzukündigen und das Ende des Todesreiches auszurufen, während die mythischen Helden kämpfen, den Mächten der Hölle Tribut zahlen und oft zugrundegehen. Dennoch ist zu sagen, daß diese heidnischen Legenden eine tatsächliche Sehnsucht des Menschen nach Befreiung und nach dem Sieg über den Tod zum Ausdruck bringen. Die alten Kirchenväter bedienen sich manchmal dieser Bilder und ihrer Terminologie, um das Geheimnis des Erlösers anschaulich darzustellen. (Fs)

83b Das beste Beispiel ist hier der Hymnus des Synesius von Cyrene (Anfang 5. Jh.). (Fs)

Du stiegst hinab in die Unterwelt,
wo der Tod
über unzählige Generationen von Seelen herrscht.
Da schreckte der alte Beherrscher der Unterwelt zurück,
und sein strenger Wächter, der Menschenzermalmer,
wich von der Schwelle ...
Als du, Herr, hinabstiegst,
erzitterten vor dir die unzähligen Scharen der Dämonen,
die die Luft bevölkern.
Der unsterbliche Chor
der unverweslichen Sterne staunte,
und der lächelnde Äther, weiser Vater der Harmonie,
begleitete den Siegeshymnus
mit dem Klang der siebensaitigen Leier. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Hinabgestiegen in das Reich des Todes 2; theologische Reflexion; Wirkung der Erlösung auf die Vergangenheit; Paulus: "räumliche" Universalität - Petrus: "zeitliche" U.; heilende Geschichte - Gnade Christi

Kurzinhalt: Wir können sagen, daß es eine Geschichte der Heilsprinzipien, aber keine Geschichte der Heilsbedingungen gibt... anfangs nur eine Weise, um die Wahrhaftigkeit des Todes des Gottessohnes zu unterstreichen, sie wird aber auch zur Ausschmückung und ...

Textausschnitt: Theologische Reflexion

A) Die ursprüngliche Bedeutung

84a Welche Lehre können wir aus all den Schriftstellen ziehen? Zweifellos bekräftigte die ursprüngliche Predigt ganz klar und umfassend, daß Jesus Christis "in den 'Scheol' hinabgestiegen" ist. Und sie bekräftigte es in dem Sinn, den der Satz in der ganzen Bibel hat. Als Jakob meint, Josef sei von einem wilden Tier getötet worden, wünscht er sich den Tod und sagt: "Ich will trauernd zu meinem Sohn in die Unterwelt hinabsteigen" (Gen 37,35). Im Buch Numeri wird das plötzliche und tragische Ende von Korach, Datan und Abiram so beschrieben: "Sie... stürzten lebend in die Unterwelt hinab" (Num 16,33). Ijob, der daraufhinweisen will, daß keiner nach dem Tod zurückkommt sagt: "So steigt nie mehr auf, wer zur Unterwelt fuhr" (Ijob 7,9). Und in Psalm 6 heißt es: "Denn bei den Toten denkt niemand mehr an dich. Wer wird dich in der Unterwelt noch preisen?" (Ps 6,6). (Fs)

"In den Scheol hinabsteigen" bedeutete also für die semitische Welt im gewohnten Sprachgebrauch ganz einfach "sterben". (Fs) (notabene)

84b Die Urkirche benötigte eine deutliche Bekräftigung der Wirklichkeit des Todes Jesu als Unterstützung gegen die Hypothesen eines Scheintodes, gegen die doketistischen Versuchungen und gegen alle mythischen Interpretierungen des Lebens Jesu. Deshalb stellt sie dem gewohnten volkstümlichen Ausdruck ("starb") dessen gleichsam kulturelle und metaphysische Version ("hinabgestiegen in den Scheol") an die Seite, um keine Zweifel daran zu lassen: Jesus von Nazaret ist in den "Scheol" hinabgestiegen, das heißt, er war wirklich tot. Dasselbe war auch in den ersten Jahren des 2. Jahrhunderts lebendig. Ignatios von Antiochien hat dies deutlich gemacht, natürlich in den damals üblichen griechischen Formeln. (Fs)

Jesus Christus, aus dem Stamm Davids,
ist geboren von Maria;
wahrhaft geboren, hat gegessen und getrunken,
er wurde wahrhaft verfolgt
unter Pontius Pilatus
und wahrhaft gekreuzigt; er ist gestorben
im Angesicht des Himmels,
der Erde und der Unterwelt;
er ist wahrhaft auferstanden von den Toten ... (Ad Trall. IX). (Fs)

85a
6. Wir müssen uns diese tiefe theologische Bedeutung voll ins Bewußtsein rücken: Die Menschwerdung des Sohnes Gottes findet in dem "Absteigen in die Unterwelt", das heißt im Tod ihre Vollendung. Erst durch sein Sterben wird er im Vollsinn einer von uns. Die Menschwerdung ist "fortschreitend" als natürlicher Verlauf zu verstehen, aber nicht aus dem Grund, als wäre Christus nicht von seiner Empfängnis an göttliche Person gewesen, sondern weil jedem Menschen das Wachstum, vollständiger Mensch zu werden, angeboren ist. Und weil Christus sich nicht in einer abstrakten und rein theoretischen Menschheit inkarniert hat, sondern in der konkreten der Kinder Adams, hat er nach und nach unser ganzes Leben in jedem Augenblick und jeder existentiellen Situation, einschließlich Leiden und Tod, angenommen und damit göttlich erhöht. Durch seinen Tod am Kreuz hat Jesus, der Herr, das göttliche "Zugeständnis", d. h. die Menschwerdung zur Vollendung geführt. (Fs)

B) Die "neutestamentlichen Überlegungen"

1. Der Sieg über die Herrschaft des Todes

85b
7. Der ursprüngliche Terminus "Hinabgestiegen das Reich des Todes" hat sich aber theologisch noch weiter gewandelt, was man bis in die apostolische Zeit zurückverfolgen kann. Zunächst wird in dem "Hinabsteigen in die Scheol" das Zeichen der Oberherrschaft des Erlösers über das Reich des Todes ("Die Todesherrschaft ist beendet", sagt der Apostel Paulus) und damit auch die höchste Manifestation seines Sieges gesehen. Bis zu jenem Augenblick hatte die Unterwelt das Menschengeschlecht beherrscht, aber danach war sie besiegt. (Fs)

86a In der Apokalypse verkündet der Auferstandene: "Ich habe die Schlüssel (d. h.: ich bin der Herr) zum Tod und zur Unterwelt" (Offb 1,18). Er hat den entmachtet, "der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel", heißt es im Hebräerbrief (2,14). Deshalb kann die Christengemeinde Jesu - die ekklEsia - beruhigt sein, weil nach der Verheißung des Herrn "die Mächte der Unterwelt sie nicht überwältigen werden" (Mt 16,18). (Fs)

Das ist die beste Nachricht, die wir erhalten können. Der Tod ist unser mächtigster Feind, der scheinbar alles zunichte macht. Wir können den Gedanken an ihn verdrängen, aber in Wirklichkeit wird jede Freude, jede Hoffnung, jedes Glück von ihm ein wenig getrübt. Es gibt gegen ihn keine Abhilfe. Wissenschaft, Heilkunst, Philosophie und Ästhetik können uns nur einen begrenzten Aufschub, unsichere Beweisgründe, einen illusorischen Trost liefern. Nichts ist törichter, als dem Tod gegenüber Überheblichkeit zu zeigen. Menschlich gesprochen, haben wir keinen Grund, ruhig und gleichgültig zu sein. (Fs)

86b Aber jetzt - so sagt uns der Glaubensartikel, über den wir nachdenken - ist der Tod kein losgelassenes Raubtier mehr, von dem wir nur erwarten dürfen, verschlungen zu werden. Er hat einen Bezwinger gefunden, und uns wurde der einzig mögliche Grund zur Hoffnung geschenkt. (Fs)

2. Die Herrschaft des Auferstandenen über den Kosmos

86c
8. Diesen Terminus kann man weiter vertiefen, wenn man versucht, ihn in den Rahmen der kosmischen Herrschaft des Auferstandenen zu stellen. (Fs)

86d Das scheint der Apostel Paulus in seinen Gefangenschaftsbriefen zu tun. Neben dem "Hinaufsteigen bis zum höchsten Himmel (vgl. Eph 4,10) kann uns das entgegengesetzte Hinabsteigen in den "Scheol", das heißt an das entgegengesetzte Ende, die räumliche Ausdehnung der Herrschaft Christi verdeutlichen; es kann uns davon überzeugen, daß seiner Macht kein Teil des Universums entzogen ist. Deshalb beugt jede Wirklichkeit im Himmel, auf der Erde und unter der Erde das Knie vor Jesus von Nazaret, der, nachdem er in die Herrlichkeit Gottes des Vaters eingegangen ist, der Herr ist (Phil 2,10-11). So gelingt es der apostolichen Verkündigung, Christus wenigstens auf der Ebene der Wirksamkeit dieselbe Universalität zuzuschreiben, die das Volk Israel seinem Gott zuerkannt hat:

Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist,
wohin vor deinem Angesicht flüchten?
Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort;
bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen (Ps 139,7-8). (Fs)

3. Die Wirkung der Erlösung auf die Vergangenheit

87
9. Die wichtigste theologische Aufbereitung dieses Themas wird uns vielleicht vom 1. Petrusbrief angeboten. (Fs)

Abgesehen von allen möglichen Deutungen der Einzelheiten, scheint es um folgende Überzeugung zu gehen: Jesus ist nicht nur derjenige, der "die Lebenden und die Toten richtet" (vgl. 1 Petr 4,5), das heißt alle Menschen aller Zeiten, auch der vergangenen. Er ist auch der Erlöser der Lebenden und der Toten und damit auch derer, die ihm geschichtlich vorausgegangen sind. Mit anderen Worten: Die Erlösung durch Christus hat eine Rückwirkung, weil sie die "Toten" umfaßt, das heißt diejenigen, die ihm zeitlich vorausgegangen sind. (Fs)

Das ist der gleiche Gedanke, den der spätere Nachfolger des Petrus auf dem römischen Stuhl, Clemens, in seinem Brief an der Stelle ausgedrückt hat, wo er vom Blut Christi sagt, es habe allen Altersklassen der Welt die Gnade der Umkehr geschenkt (vgl. Clemens; 1 Kor 7,4-5). (Fs)

Die Menschen aller Zeiten - vor und nach Christus - sind deshalb von ihm losgekauft worden, und alle sind berufen, an demselben Reich Gottes teilzuhaben. (Fs)

87b Wir könnten sagen, daß Paulus das "Hinabsteigen in die Unterwelt" verwendet, um die "räumliche" Universalität der Heilstat Christi deutlich zu machen, Petrus sie dagegen "zeitlich" deutet: Keine Generation darf sich von der Heilstat ausgeschlossen fühlen. Aber nun fragt man sich: Gibt es überhaupt eine von der Theologie vorgezeichnete Geschichte der Menschheit? Oder ist die so sehr gerühmte "Heilsgeschichte" ein Mißverständnis? Nein. Denn es gibt eine Heilsgeschichte, aber im aktiven und nicht im passivem Sinn. Knapp ausgedrückt, es gibt eine "heilende" Geschichte, aber keine "geheilte" Geschichte. Abrahams Berufung, der Bund vom Sinai, die Menschwerdung, das Leiden und Sterben Jesu, die Entstehung der Kirche sind Ereignisse, die tatsächlich zeitlich aufeinandergefolgt sind. Jedes einzelne dieser Ereignisse hat eine ganz besondere Wirkung, aber alle zusammen sind nach einem Plan in der Reihenfolge angeordnet, daß sie eine wirkliche Geschichte bilden. Hingegen bilden die einzelnen, persönlichen Gnaden von Jeremias, Judas Makkaba, Johannes dem Täufer, dem Apostel Petrus, dem hl. Franz von Assisi keine "Geschichte", weil sie sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden, sondern alle an der einen Gnade Christi teilhaben. (Fs) (notabene)

88a Wir können sagen, daß es eine Geschichte der Heilsprinzipien, aber keine Geschichte der Heilsbedingungen gibt. Grund dieser Verflechtung, die die Wirklichkeit bildet, ist die Existenz des Herrn Jesus zur Rechten des Vaters, die auf den folgenden Seiten Thema unserer Reflexion ist. (Fs)

Zusammenfassung

88b
10. Was heißt also "hinabgestiegen in die Hölle"? Ursprünglich heißt es einfach "gestorben". Im Verständnis der apostolischen Zeit ist das "Hinabsteigen in den 'Scheol'" anfangs nur eine Weise, um die Wahrhaftigkeit des Todes des Gottessohnes zu unterstreichen, sie wird aber auch zur Ausschmückung und vertieften Verkündigung verwendet und will am Ende einige wichtige Aspekte der Heilsmacht Christi, des "Zentrums des Kosmos und der Geschichte" (vgl. Redemptor hominis 1) herausstellen. (Fs)

Es ist im Grund der gleiche Gedanke, den Paulus im Brief an die Römer ausdrückt, wenn er sagt: "Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende" (Röm 14,9). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Aufgefahren in den Himmel 1; begriffliche Weitergabe in vielfachen Ausdrucksweisen; Brief an d. Hebräer (Christus, Hohepriester); Soteriologie: östliches (Menschwerdung, Himmelfahrt) - westliches Denken (Anselm)

Kurzinhalt: ... während der Kreuzestod der Augenblick der Selbstaufopferung Jesu ist, stellt die Himmelfahrt den Augenblick des Opfers dar ... e nicht die Erhöhung Christi gedanklich in den Vordergrund stellt. Aber leider ist zu sagen, daß es die Theologie ...

Textausschnitt: 95b Fülle und Vielfalt der Sprache sind ein Beweis dafür, daß diese Gewißheit im Glaubensgut der ersten Christen tief verwurzelt und allgemein verbreitet war. Es handelt sich nicht um eine rein schriftstellerische und terminologische Tradition, sondern um eine begriffliche Weitergabe in vielfachen Ausdrucksweisen; oder, mit anderen Worten, es handelt sich um einzelne katechetische Traditionen, die darin übereinstimmen, daß die Auferstehung Jesu von Nazaret eine himmlische Erhöhung zur Folge hat. (Fs) (notabene)

11. Wir haben bisher die Version des Briefes an die Hebräer unberührt gelassen, aber nicht weil sie ohne Bedeutung wäre; im Gegenteil, sie ist der interessanteste Fall für die theologische Forschung. Christus hat, diesem Brief nach, "die Himmel durchschritten" (4,14: dielElythota tous ouranous): Das ist dieselbe Überlieferung, nur mit ungewöhnlichen Worten ausgedrückt. (Fs)

Dieses Bild ist außerordentlich faszinierend, seine Interpretation dogmatisch stimmig: "Denn Christus ist nicht in ein von Menschenhand errichtetes Heiligtum hineingegangen, in ein Abbild des wirklichen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt für uns vor Gottes Angesicht zu erscheinen" (Hebr 9,24). (Fs)

Der Autor beschreibt die vom Sohn Gottes gewirkte Erlösung als eine priesterliche Handlung: "Die Hauptsache dessen aber, was wir sagen wollen, ist: Wir haben einen Hohenpriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel gesetzt hat. Als Diener des Heiligtums und des wahren Zeltes, das der Herr selbst aufgeschlagen hat, nicht etwa ein Mensch" (Hebr 8,1-2). (Fs)

95c Die Erlösung wurde durch ein einziges und völlig ausreichendes Opfer bewirkt; und während der Kreuzestod der Augenblick der Selbstaufopferung Jesu ist, stellt die Himmelfahrt den Augenblick des Opfers dar, das er, der Hohepriester, im Heiligtum vollbracht hat; einen Augenblick, der sozusagen in Ewigkeit währt und die ständige Quelle der ganzen Heilskraft bildet, die die Geschichte vorantreibt. Das hier dargestellte Muster ist der jüdischen Liturgie im Jerusalemer Tempel entnommen: "Christus aber ist gekommen als Hoherpriester der künftigen Güter; und durch das erhabenere und vollkommenere Zelt, das nicht von Menschenhand gemacht, das heißt nicht von dieser Welt ist, ist er ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt. Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer Kuh die Unreinen, die damit besprengt werden, so heiligt, das sie leiblich rein werden, wieviel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst kraft ewigen Geistes Gott als makeloses Opfer dargebracht hat, unser Gewissen von toten Werken reinigen, damit wir dem lebendigen Gott dienen" (Hebr 9,11-14). (Fs) (notabene)

96a
12. Diese Sicht des Heilsereignisses ist zu bewundern, weil sie den ganzen Gehalt der geoffenbarten Lehre deutlich macht und bekräftigt und die vom Wort Gottes gebotenen Angaben systematisch zusammenfaßt. Bei näherer Betrachtung ist es in dieser Sicht gerade die Himmelfahrt, die dem Opfertod auf Golgota formal seine Natur als Opfer verleiht, so daß eine Soteriologie undenkbar wäre, die nicht die Erhöhung Christi gedanklich in den Vordergrund stellt. Aber leider ist zu sagen, daß es die Theologie im großen und ganzen nie verstanden hat, sich dieses erhellenden Beitrags zu bedienen. Das östliche Denken hat unter dem Einfluß von Johannes stärker die Anziehungskraft der Menschwerdung verspürt und diese verstanden als das entscheidende Ereignis der Wiederherstellung des von der Sünde entheiligten Universums. Es hat aber immer großes Gewicht auf die Auferstehung des Herrn als Anfang der Erneuerung von allem gelegt. (Fs) (notabene)

96b Das westliche Denken hat besonders nach der Synthese des Anselm eine Soteriologie entwickelt, in der es den "Verdienst", die Gott zu leistende "Genugtuung", und das Opfer, d. h. das aus Liebe angenommene Leiden und Sterben, hervorhob. Dieser Ansatz beschränkt die Suche nach der soteriologischen Bedeutung auf das, was Christus während seines Daseins auf Erden vollbracht hat, und stellt den ontologischen Aspekt der Erlösung in den Hintergrund. (Fs) (notabene)

97a Natürlich sind alle diese Elemente wichtig, und keines darf vernachlässigt werden. Tatsächlich wird auch nichts ausgelassen. Aber ein umfassendes Verständnis, das vor allem in der Schule dieses großen und unbekannten Theologen, des Verfassers des Briefes an die Hebräer, entstanden ist, könnte zweifelllos von Nutzen sein. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Aufgefahren in den Himmel 2 (theologische Reflexion); Wirklichkeit - Bild; chronologisch - ontologisch; Himmelfahrt - Soteriologie (wenig Beachtung); Zeitlosigkeit des Ereignisses der Verherrlichung; Reihenfolge - Geschichte

Kurzinhalt: ... Auferstehung, Himmelfahrt und Geistsendung seitens des Auferstandenen und sogar die "Parusie", die die Geschichte beenden wird, sind Aspekte der "Herrlichkeit" Christi, die über die zeitliche Dimension hinaus bestehen und nicht in einer Reihenfolge ..

Textausschnitt: Theologische Reflexion

97b
13. Wir können jetzt die Ergebnisse unserer Analyse zusammenfassen. (Fs)

A) Wirklichkeit und Bild

a) Man muß vor allem gut zwischen der Wirklichkeit der himmlischen Erhöhung des Gekreuzigten von Golgota, der in der Unversehrtheit seiner Person in die Herrlichkeit eingegangen ist, und dem Bild der Himmelfahrt Jesu unterscheiden. Dieses wurde den Jüngern als Erklärung und Hilfe angeboten, damit sie das Heilsgeheimnis der Verherrlichung des menschgewordenen Gottessohnes und des Eintritts eines Mitglieds der Menschheitsfamilie in die verborgene Welt der Gottheit besser verstehen. (Fs)

b) Die Reihe der Erscheinungen des Auferstandenen während vierzig Tagen endete zweifellos mit der Vision der Himmelfahrt Jesu vor den auserwählten Augenzeugen: "Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken. Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten ..." (Apg 1,9.10). In dieser Erzählung wird beharrlich auf das Sehvermögen hingewiesen. (Fs)

Wir können auch nicht ausschließen, daß es mehr als eine wahrnehmbare Himmelfahrt gegeben hat, wenngleich das nicht die normale Art und Weise war, "ihren Blicken zu entschwinden" (vgl. Lk 24,31) und die österlichen Erscheinungen zu beenden. (Fs)

97c
c) Die Wirklichkeit der Erhöhung selbst und der Eintritt Christi in die göttliche Herrlichkeit sind nicht chronologisch festlegbar, ontologisch allerdings als mit dem Ereignis der Auferstehung verbunden zu betrachten. Besser gesagt, Auferstehung, Himmelfahrt und Geistsendung seitens des Auferstandenen und sogar die "Parusie", die die Geschichte beenden wird, sind Aspekte der "Herrlichkeit" Christi, die über die zeitliche Dimension hinaus bestehen und nicht in einer Reihenfolge zu sehen sind. (Fs) (notabene)

B) Theologischer Gehalt

98a
d) Die lateinische Soteriologie neigt dazu, Leiden und Tod Christi stärker zu gewichten als seine Auferstehung (die sozusagen mehr als persönlicher Sieg Christi und weniger als grundlegendes Ereignis der Erlösung verstanden wird), und die Auferstehung stärker als die Himmelfahrt Christi (die hier von ihrer Natur her eher als Vervollkommnung und schmückendes Beiwerk denn als substantielles Ereignis betrachtet wird). Das Neue Testament bietet uns eine etwas andere Perspektive. Hier spielt die Himmelfahrt eine entscheidende Rolle. In ihr bewahrheitet sich das einzige Opfer des Neuen Bundes (Brief an die Hebräer) in Ewigkeit, der "Heilskreis" schließt sich (Johannes), das Universum wird von der Gegenwart Christi erfüllt (Brief an die Kolosser), der Auferstandene übernimmt eine Herrschaft, die sogar die Engelwelt umfaßt (Petrusbrief). Durch die Himmelfahrt übertrifft das Königtum Christi auch das von David. Vor dem Universum wird seine Herrschaft als Messias über den Kosmos verkündet: "David ist nicht zum Himmel aufgestiegen ... Mit Gewißheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt" (vgl. Apg 2,34-36). (Fs)

C) Zeitlosigkeit des Ereignisses der Verherrlichung

98b
14. Eine letzte Überlegung, um einige Anstöße, die wir gegeben haben, noch besser zu erklären. (Fs)

Die in der Kirche gebräuchlichen Glaubensbekenntnisse scheinen die Ereignisse nach Jesu Tod als eine Theorie getrennter Tatsachen zu verstehen, die in einer festgelegten Reihenfolge geschehen sind: das Hinabsteigen in die Unterwelt, die Auferstehung, die Himmelfahrt, die Erhöhung zur Rechten des Vaters, die Wiederkunft Jesu Christi als Richter. Es handelt sich um eine Verknüpfung von Ereignissen, die die Reihe der Lebensabschnitte auf Erden (die Empfängnis, die Geburt, Leiden und Sterben) fortsetzt, ohne sie jedoch in reiner Kontinuität aufzulösen. (Fs)

99a Wenn wir uns ansehen, inwiefern die Verherrlichung des Auferstandenen nun in eine Art historischen Ablauf gebracht worden ist, so läßt sich dessen Vorhandensein in einem gewissen Sinn nicht bestreiten. Aber er wird im Neuen Testament mehr angedeutet als vertieft und weist unterschiedliche Formen und Bedeutungen auf. Er ist weniger wörtlich als vielmehr instrumenteil zu verstehen und wird nicht so sehr in der Absicht eingeführt, die "Geschichte" über den Tod Jesu hinaus fortzusetzen, sondern zu dem Zweck, möglichst vollständig die Bausteine jenes wunderbaren Ereignisses zusammenzufassen, das die Geschichte vollendet und erfüllt hat. Mit dem Übergang vom irdischen Zustand in die "Verherrlichung" ist alles vollbracht. Nichts mehr ist hinzuzufügen. Die Auferstehung ist bereits das Ende: Über die Geschichte hinaus gibt es keine Geschichte. (Fs) (notabene)

Dennoch ist es weder willkürlich noch unrechtmäßig, die Verherrlichung in die Form eines historischen Ablaufs zu kleiden. Es ist sogar notwendig. Denn es war die einzige Möglichkeit, die es konkret denkenden Menschen erlaubte, den Zustand des Auferstandenen in seinem Reichtum zu erfassen. Keine der damit verbundenen Tatsachen - das Hinabsteigen in die Unterwelt, die Himmelfahrt, die Erhöhung, die "Parusie" - darf man verschweigen, andernfalls entstellt man die Bedeutung des Zustandes in der Herrlichkeit. Diese Tatsachen sind alle Wirklichkeit. Was nicht der Wirklichkeit entspricht, ist ihr voneinander getrenntes Für-sich-Sein. Daß wir die Tatsachen voneinander scheiden, ist nur auf unser diskursives Denken zurückzuführen. Wenn es nicht analysiert, bringt es sich um seine Synthese. Es entstellt und verfälscht durch Vereinfachung die Komplexität seiner Gegenstände. (Fs)

99b Man kann sogar sagen, daß auch die Chronologie in gewisser Hinsicht wirklich ist: In der Erfahrung des leeren Grabes, den aufeinanderfolgenden Erscheinungen des Auferstandenen, seines Emporsteigens in den Himmel, im Pfingstereignis und in der "Parusie" zeigt sich das einzige Ereignis der "Verherrlichung" Christi in der Ordnung einer Reihenfolge, die das Gewebe der Menschheitsgeschichte durchzieht und zweifellos selbst geschichtlich ist. Aber man darf nicht vergessen, daß die Ereignisse zeitlich unterschiedene und geordnete Darstellungen einer einzigen und überzeitlichen Wirklichkeit sind. (Fs)

100a Es ist ein Mangel unserer theologischen Reflexion, daß sie die rein instrumentelle und darstellende Natur dieser Chronologie nicht genügend berücksichtigt hat. (Fs)

Man könnte als mildernde Umstände - aber ist es ein mildernder Umstand? - die geringe Aufmerksamkeit anführen, die die westliche Theologie bisher der Betrachtung dessen gewidmet hat, was auf den Opfertod von Golgota gefolgt ist, weil dieser praktisch als einziges Erlösungsereignis betrachtet wird. Die Verherrlichung Christi war selten Gegenstand eingehender Untersuchungen, so daß man die Ereignisse, die sein Leben in Herrlichkeit kennzeichnen, einfach akzeptierte und wiederholte, ohne die Quellen zu befragen und ohne allzu viel über ihr Verständnis nachzuforschen. (Fs)

100b Hilfreich ist daher eine eingehende und umfassende Untersuchung des Zustandes Jesu, der "zur Rechten des Vaters sitzt" (vgl. G. Biffi, Alla destra del Padre, Vita e pensiero, Mailand 1970, S. 16-18). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Er sitzt zur Rechten des Vaters (theologische Reflexion; Zusammenfassung); "oberflächliche" Darstellung des Christentums (nur d. "Nachahmenswerte); Cristentum: eine sich wirklich ausbreitende "Macht"

Kurzinhalt: Die Tatsache, daß ein Mensch, ein Glied unserer Menschheitsfamilie, das die gleiche Natur mit uns teilt, "zur Rechten des Vaters" sitzt ... ist das zentrale Ereignis ...

Textausschnitt: Theologische Reflexion

108b
14. Wir können jetzt abschließend einige Schwerpunkte festhalten. (Fs)

Die Tatsache, daß ein Mensch, ein Glied unserer Menschheitsfamilie, das die gleiche Natur mit uns teilt, "zur Rechten des Vaters" sitzt und damit so intensiv, wie man sich das überhaupt vorstellen kann, am göttlichen Leben sowie an der göttlichen Macht über das Universum teilhat, ist das zentrale Ereignis, das im Mittelpunkt des ganzen christlichen Weltbildes steht und den Grundstein unseres Glaubens bildet. (Fs) (notabene)

Wenn man diesen Grundstein vergißt oder absichtlich in den Hintergrund rückt, oder wenn man ihn zu den wohlbekannten, psychologisch nutzlosen Ideen zählt, verändert sich der gesamte uns von der göttlichen Offenbarung gebotene Ausblick, oder er wird zumindest unscharf. (Fs)

108c Heute überwiegt eine "oberflächliche" Darstellung des Christentums, die vor allem das "Nachahmenswerte" dessen herausstellt, was Christus getan hat: die Liebe zum Nächsten, die Hilfe für die Armen und Benachteiligten, die Selbsthingabe für die anderen. Das alles ist recht, geboten und unverzichtbar, so lange es nicht die grundlegende Aufmerksamkeit für den Zustand in Herrrlichkeit und Macht überdeckt, der von Jesus von Nazaret erreicht wurde; ein Zustand, der die ontologische Quelle der "neuen Menschheit" und damit auch der "Liebe", der Seele des ganzen kirchlichen Lebens, ist. (Fs) (notabene)

109a Die für die westliche Frömmigkeit typische Betrachtung des gekreuzigten, erniedrigten und leidenden Sohnes Gottes ist für uns von großem Wert, denn wir erfahren in unseren Lebenssituationen als Einzelne und als Gemeinschaft Niederlage und Leid als unausweichlichen Weg zur Erlösung. Wir dürfen aber nie vergessen, daß das Evangelium hauptsächlich eine "gute Nachricht" ist, das heißt die Ankündigung eines Sieges und eines übermenschlichen Triumphes, der erzielt wurde: des Sieges Christi, der auch eine Revanche des Menschen gegenüber den Mächten des Bösen ist; der endgültige Triumph des Hauptes als Voraussetzung für den Triumph des "Christus totus". (Fs)

Gerade weil die Kirche immer mehr oder weniger das Geheimnis des Weges nach Golgota lebt und angesichts der weltlichen Mächte täglich ihre Schwäche spürt, muß sie immer von der Kraft ihres Erlösers überzeugt sein. So denkt Paulus, der vom Herrn die tröstlichen Worte vernimmt: "Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit" (2 Kor 12,9); und er bekräftigt: "Viel lieber will ich mich also meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Mißhandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark" (2 Kor 12,9.10). (Fs)

109b Wer mit der Kirche lebt, dem scheint Jesus oftmals unterlegen und von der sichtbaren Weltgeschichte ausgeschlossen. Darum ist es notwendig, daß wir wissen und immer daran denken, daß er jetzt schon Sieger ist, und daß er es ist, der von der Rechten des "Hochgelobten" aus die wahre Geschichte des Universums und des Einzelnen bewegt. Er lenkt sie nach seinem Plan und Willen, die mit dem Plan und Willen des Vaters vollkommen übereinstimmen. (Fs)

109c
15. Die Gewißheit von der "Macht" Christi - als ausübende Macht und nicht nur als eschatologische Hoffnung - zu wecken und zu festigen, ist - wie wir bereits festgestellt haben - ein pastorales Problem, das Paulus offensichtlich in den Gefangenschaftsbriefen besonders beschäftigt. Die Sache ist einer näheren Betrachtung wert. Bereits im Brief an die Römer hatte er daran erinnert, daß Jesus nicht nur "dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids", sondern auch "eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht" (Röm 1,3.4). Aber als er allmählich begriff, daß er und das christliche Ereignis immer mehr angefeindet wurden, ist dem Apostel wahrscheinlich die Bedeutung dieses Glaubensinhaltes aufgegangen, das heißt der unbesiegbaren "Kraft" des Auferstandenen, der über uns und über die Welt herrscht und wirksam ist, auch wenn wir im Vergleich zu anderen scheinbar schwach und unterlegen sind. (Fs)

110a So erklären wir uns das Beharren auf diesem Thema und die häufige Verwendung von Vokabeln wie:

energeia - chratos - ischys - dynamis
energeO - chrataioO - ischyO - dynamoO

Aber das pastorale Problem des Paulus ist auch unser Problem. Deshalb müssen auch wir an der fundamentalen Bedeutung dieses Grundsteins des christlichen Glaubens festhalten und in unserem Leben die Rolle Christi als "Pantokrator" wiederentdecken, dessen Figur die Apsis der antiken Basiliken beherrscht. (Fs)

Zusammenfassung

16. Das Markusevangelium beschreibt die Betroffenheit der Bewohner von Kafarnaum, als sie die geheimnisvolle Wirklichkeit Jesu von Nazaret spüren: "Was hat das zu bedeuten ? Hier wird mit Vollmacht eine ganz neue Lehre verkündet" (Mk 1,27). (Fs)

110b Das Christentum ist gewiß in der Geistesgeschichte eine "neue Lehre", gerade weil es nicht nur eine Lehre ist: Es ist die Botschaft eines umstürzenden heilbringenden Ereignisses. Aber außer einer "Lehre" ist es eine sich wirklich ausbreitende "Macht", die Macht des gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazaret, der das dunkle Reich des Todes besiegt, über Raum und Zeit herrscht und in Ewigkeit bestehen bleibt als unversiegbare Quelle einer Kraft, die jede Müdigkeit überwindet und alle unsere Niederlagen vorläufig macht. Es ist die pfingstliche Kraft, die pausenlose Ausgießung des Heiligen Geistes, die von Christus, der zur Rechten des Vaters ist, kommt und der Erde ihren ständigen Antrieb gibt. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Ich glaube an den Heiligen Geist (theologische Reflexion); Überzeitlichkeit von Pfingsten; "Proprium" des Heiligen Geistes; ontologische Instrumental-Kausalität; der "Mittler"

Kurzinhalt: Durch den Geist, den er sendet, wird Jesus der engste Freund eines jedem von uns und im wahrsten Sinn des Wortes das "Haupt" des lebendigen Organismus der neuen Menschheit. Jetzt können wir auch besser verstehen, von welcher Art die "Macht" über die ...

Textausschnitt: Theologische Reflexion

116c
8. Die theologische Reflexion ist von dieser Wahrheit sozusagen berauscht und eingeschüchtert zugleich: daß ein Mensch im wahren und vollkommenen Sinn, obwohl er göttliche Person ist, mit dem Vater so vertraut wurde, daß er zusammen mit ihm gewissermaßen Mitprinzip der Ausgießung des Heiligen Geistes auf die geschaffene Wirklichkeit geworden ist. (Fs)

117a Unserer Meinung nach ist das in mancher Hinsicht der Kern des christlichen Weltverständnisses. Das heißt, daß wir von hier ausgehend die übernatürliche Anthropologie erforschen sollen (das heißt die vielfältige Wahrheit des Gnadenlebens), die Kirche, die Sakramente, unsere Bestimmung und die alles Geschaffenen. Im Lichte dieses Geheimnisses können wir die ganze Größe, Einzigartigkeit und Schönheit des göttlichen Plans ermessen, aber auch seine Unvorhersehbarkeit und Transzendenz erahnen. (Fs)

117b Die höchste und kühnste geschaffene Vernunft hätte nichts Vergleichbares ersinnen können. Jetzt, wo wir Gewißheit erhalten haben von dieser unvorstellbaren Tatsache, ist kein menschlicher Geist imstande, ihre Bedeutung positiv zu erfassen und ihre Inhalte angemessen darzustellen und zu erklären. Wir können nur die Implikationen und Wirkungen dieser staunenswerten Wirklichkeit betrachten, die zugleich verborgen und erhellend ist, das heißt selbst unergründlich, aber dennoch imstande, die ganze Ordnung der Vorsehung auszuleuchten, in der wir berufen sind zu leben, zu denken und unsere unwiderruflichen Lebensentscheidungen zu treffen. (Fs)

A) Die Überzeitlichkeit von Pfingsten

9. An dieser Stelle unserer Untersuchung müßte es leicht sein, die wahre Natur der Theophanie des fünfzigsten Tages nach der Auferstehung des Herrn zu bestimmen. Diese Theophanie war als zeitliche Offenbarung dessen, was in der Herrlichkeit Gottes geschieht, eine chronologisch erfaßbare Erfahrung: nicht die einzige, die wir den Erzählungen der Apostelgeschichte entnehmen konnten, aber diejenige, die das meiste Aufsehen erregt und die größte Bedeutung hatte, so sehr, daß sich aus ihr offiziell der Weg der Kirche in der Welt ableitet. (Fs)

117c Aber diese Theophanie ist im Grunde weniger ein Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt, wie es Lukas so detailliert und lebendig beschrieben hat, sondern eine ständige Beziehung, die zwischen dem Vater und der Menschheit durch den Opfertod und die Verherrlichung Christi hergestellt wurde. Diese Beziehung gründet in der Gegenwart des Gekreuzigten zur Rechten des Vaters, von wo aus er den Heiligen Geist über die Menschen ausgießt, wobei er sie zugleich reinigt und heilt. (Fs)

118a Das Pfingstereignis ist also seinem wahren Kern nach als außergewöhnliche in die Zeit eingebettete Erfahrung einer überzeitlichen Wirklichkeit zu verstehen, die uns von ihrem wahren Wesen her als ein Aspekt des ganzen transzendenten Reichtums der "Herrlichkeit" Christi erscheint. (Fs) (notabene)

B) Ein "Proprium" des Heiligen Geistes
118b

10. Unsere Theologie war immer so ausgerichtet, daß sie Pfingsten und damit die Sendung des Heiligen Geistes als nebensächlich behandelt hat. (Fs)

Zunächst wird das Pfingstereignis im wesentlichen als reine Manifestation der Geistausgießung betrachtet, die an und für sich unsichtbares Handeln ist. Darin stimmen wir überein. Dann ist die Theologie der Ansicht, daß diese Ausgießung kein "Proprium" der dritten göttlichen Person, sondern nur eine Appropriation ist; d. h. eine Handlung, deren eigentliches Subjekt der dreifaltige Gott ist. Die Offenbarung habe nur aus sprachlichen Gründen und zum besseren Verständnis die Sendung auf den Heiligen Geist bezogen - und hier ist ein Einwand angebracht. Der eigentliche Grund dieser von der Mehrheit geteilten Auffassung liegt in einer These, die dem hl. Augustinus zugeschrieben wird. Danach sei es undenkbar, daß es eine eigene Beziehung einer göttlichen Person mit einem Geschöpf geben kann, die nicht in eine hypostatische Union führt, wie dies bei der Inkarnation der Fall ist. Weil aber der Heilige Geist sich mit den Menschen, die er durch seine Sendung erfaßt, nicht hypostatisch vereinigt, ist daraus zu schließen, daß seine Beziehung zu den Menschen die gleiche wie die der drei göttlichen Personen ist: also eine reine Appropriation. (Fs)

118c Diese Position wurde von Petavius im 17. Jahrhundert und von einigen Theologen der "römischen Schule" (Passaglia und seinen Schülern Schrader und Denzinger) im 19. Jahrhundert kritisiert. In die gleiche Richtung ging Scheeben, der sich auf eine eingehende Kenntnis der griechischen Väter und vor allem des hl. Cyrill von Alexandrien stützen konnte. Er vertrat mit großer Entschiedenheit die These, wonach die Sendung des Heiligen Geistes als Fundament einer personalen Beziehung zu verstehen ist. (Fs)

119a
11. Mir scheint, daß das Neue Testament die Sendung des Sohnes und die des Geistes so deutlich nebeneinander setzt, daß man meinen müßte, beide seien wahrlich wirkliche Sendungen einer göttlichen Person. Dafür gibt es in den Texten, wie es scheint, eindeutige Hinweise. (Fs)

- "... sandte Gott seinen Sohn ... sandte Gott den Geist seines Sohnes" (vgl. Gal 4,4-6). (Fs)
- In den Reden beim letzten Abendmahl wird im vierten Evangelium in gleicher Weise davon gesprochen, daß Jesus "gesandt" wurde und daß der Geist "gesandt" werden wird (vgl. z.B. Joh 15,21.26). (Fs)

Kann man von vornherein behaupten, daß die Beziehung einer göttlichen Person ad extra notwendigerweise zu einer hypostatischen Union führen muß? Kann man die Möglichkeit einer anderen Beziehung ausschließen, die eine Vereinigung erzeugt, die aber keine personale Union ist? Wenn wir so argumentieren, müßten wir wahrscheinlich auch die Möglichkeit der Menschwerdung ausschließen, die sich jedoch als möglich erwiesen hat. (Fs) (notabene)


119b Nur wenn man die göttliche Einwohnung im begnadeten Menschen als Beziehung zu den göttlichen Personen als solchen auffaßt, jede ihrer Ordnung entsprechend und von der Beziehung zum Heiligen Geist ausgehend, dürften wir diese Gegenwart von der Gegenwart der Unendlichkeit ausreichend unterscheiden, die Beziehung mit dem Wesen des Schöpfers als solchem ist. Mit anderen Worten, gerade hier ist das einzige unbedingt gültige Kriterium zu finden, das uns erlaubt, den kreatürlichen Aspekt, bezogen auf den unendlichen Wesenskern, zu unterscheiden von dem übernatürlichen Aspekt, bezogen auf das innere dreifaltige Leben. (Fs) (notabene)

119c
12. Weil der einzige wirklich denkbare Ursprung der Sendung einer göttlichen Person seitens einer anderen der Ursprung der gesandten Person aus der sendenden Person ist, kann der Ursprung der Sendung des Heiligen Geistes durch den auferstandenen Christus nur eine erhabene und geheimnisvolle Teilhabe Jesu von Nazaret am wirksamen Hauch des Heiligen Geistes durch den Vater sein. Christus ist nicht auf zweifache Art Sohn des Vaters, einmal natürlich und einmal adoptiert; vielmehr muß man ihm eine einzige, natürliche Sohnschaft zuweisen - weswegen auch der Adoptianismus verurteilt wurde. Daher gilt es festzuhalten, daß Christus, der gekreuzigte und auferstandene Gottmensch vom Vater alles in einem einzigen, lebendigen Akt des Schenkens empfangen hat. Das heißt auch, daß der Sohn zusammen mit dem Vater Quell des Heiligen Geistes ist, insofern dieser der Welt gegeben ist. Es gäbe keinen plausiblen Grund dafür, daß am Ursprung des Heiligen Geistes ein Mensch stünde, wenn er nicht auch die anderen Menschen desselben Geistes teilhaftig machen würde. Dadurch daß Christus in Herrlichkeit zur Rechten des Vaters sitzt, wird der ewige Hervorgang des Heiligen Geistes seine "Sendung" zur Menschheit. (Fs) (notabene)

120a Das alles wird vom vierten Evangelium ganz klar erkannt, wenn es die Pfingstausgießung mit der Verherrlichung Jesu verbindet, indem es die ontologische Herkunft mit dem Bild der zeitlichen Aufeinanderfolge ausdrückt: "Denn der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war" (Joh 7,39). "Es ist gut für euch, daß ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden" (Joh 16,7). (Fs)

C) Ontologische Instrumental-Kausalität

120b
13. Wenn wir jetzt weiter erforschen wollen, auf welche Weise und in welcher Hinsicht der verherrlichte Christus der Welt den Geist schenkt, müssen wir zunächst einige sichere Eckpunkte klären, die ins Auge stechen. (Fs)

Der erste besteht darin, daß die aktive Ursache der Geistsendung immer der Vater bleibt, von dem alles ausgeht, und daß die Tatsache, daß der Vater der Ursprung der dritten Person ist, keinen Grund bietet, daß er sich von der zweiten Person unterscheidet: "tamquam ab unico principio et unica spiratione", lehrt das Konzil von Florenz. Die zweite Wahrheit ist, daß die Menschheit Christi nur als "Weg" bei der Sendung des Geistes aufgefaßt werden kann. In der Scholastik spricht man von einer "instrumentellen Kausalität". Von welcher instrumentellen Kausalität ist die Rede? Hier taucht dasselbe Problem auf, das in der Theologie in Bezug auf die Kausalität der Sakramente zu lösen ist. (Fs) (notabene)

120c Gewiß können und müssen wir sagen, daß Christus aktiv an der pneumatischen Ausspendung teilhat, weil er uns durch seinen Opfertod das "Donum Dei altissimi" verdient hat. Gewiß können und müssen wir auch sagen, daß Christus zur Rechten des Vaters für uns eintritt und für uns das Pfingstereignis erbittet und erlangt. Bis hierher könnte man von "moralischem" Einfluß sprechen. (Fs)

121a Das alles ist zweifellos wahr, und es ist schon eine erhabene und tröstliche Wahrheit. Aber ist diese Deutung ausreichend?

Wenn das, was wir der Offenbarung entnommen haben, ernstzunehmen ist, wenn wir den griechischen Vätern Glauben schenken sollen, besonders Cyrill von Alexandrien, und wenn das, was wir bis jetzt beschrieben haben, Gültigkeit haben soll, muß man sagen, daß die Deutung nicht ausreicht. Im Hinblick auf das, was von Christus als dem Urheber unseres Gnadenlebens gesagt wurde, vor allem in den Schriften von Paulus und Johannes, gelangt man zu der Überzeugung, daß der gekreuzigte und auferstandene Herr auch ontologischen Einfluß hat auf alles, was vom Vater zu uns ausströmt; das gilt besonders für die Ausgießung des "ersten Geschenkes an die Gläubigen". (Fs) (notabene)

Man muß deshalb von einer "physischen Kausalität" oder wie Scheeben sagt, "hyperphysischen" Kausalität sprechen. (Fs)

121b Scheeben beschreibt das übernatürliche Leben in uns (dessen tiefster Grund und höchster Ausdruck das Eindringen des Heiligen Geistes in uns ist): "Vom Gottmenschen werden wir alsdann sagen müssen, daß er als Gott durch seine Menschheit die Gnade physisch oder hyperphysisch in uns bewirkt, ja daß er in ebenso realer oder noch vollkommenerer Weise Ursache der Übernatur in uns ist, als Adam Ursache der Natur war, daß er uns ebenso wahrhaft oder noch mehr zum übernatürlichen Leben zeugt, als Adam uns zum natürlichen Leben gezeugt hat... Der zweite Adam..., der Gottmensch, trägt als Gott die Kraft zur übernatürlichen Belebung des Menschen in sich selbst, und diese Kraft geht durch seine Menschheit, mit der die Gottheit realiter verbunden ist, auf die übrigen Menschen über. Wenn daher auch seine Menschheit an sich gar nichts dazu tut, um die Übernatur hervorzubringen, ... so wird dieser Mangel doch reichlich dadurch ersetzt, daß die Menschheit Christi eben die Quelle der Übernatur in sich trägt und im vollsten Sinne der Kanal derselben ist. Der Gottmensch ist durch seine Gottheit in seiner Menschheit nach dem Ausdrucke des Apostels Spiritus vivificans, lebendigmachender Geist, welcher die Menschen mit göttlicher Geistigkeit, mit göttlichem Leben erfüllt." (Die Mysterien des Christentums, 3. Aufl., S. 395 f.). (Fs)

D) Der "Mittler"

122a
14. In dieser Sicht wird der Begriff des "Mittlers", der vom Wort Gottes dem auferstandenen Christus zugewiesen wird, ganz besonders deutlich. (Fs)

Der Terminus ist in den neutestamentlichen Schriften nicht allgemein verbreitet. Auf Christus bezogen findet er sich nur im Hebräerbrief (8,6; 9,15; 12,24) und im 1. Brief an Timotheus (2,5). Er geht also nicht zurück auf die christliche Urgemeinde, aber er wurde von der Theologie der apostolischen Zeit ausdrücklich als gültiges Instrument gebraucht, um die Wesenheit Jesu, sitzend zur Rechten des Vaters, klarzustellen. (Fs)

122b Mittler wird derjenige genannt, der sich zwischen zwei Personen stellt, um sie miteinander in Einklang zu bringen. In diesem Sinn ist es eine Grunderkenntnis, die sich in allen Gesellschaften und Kulturen findet. Das christliche Denken hat diese Erkenntnis angenommen, ihr theologischen Sinn gegeben und dadurch ihren dynamischen Wert sicher nicht verleugnet: Jesus ist Mittler zwischen Gott und den Menschen, weil er uns erlöst hat, das heißt auf Grund seiner Heilstat und seines immer lebendigen Eintretens für uns. Aber darüber hinaus hat er aufgrund seiner Heilstat die ihm zugewiesene ontologische Hauptrolle übernommen, die darin besteht, die Menschheit unlöslich und für ewig mit Gott zu verbinden. Das Nachdenken über den Heiligen Geist hat uns also zu dem Schluß geführt, daß durch das ständige Pfingstereignis der Herr Jesus eine lebendige Verbindung zwischen Erde und Himmel herstellt. (Fs)

Zusammenfassung

122c
15. Wie man sieht, ist gerade die Ausgießung des Heiligen Geistes die Hauptverbindung, die uns wahrhaft mit Christus vereint, der zur Rechten des Vaters ist. Ja, wir können sagen, daß sie die einzige ontologische Verbindung ist, weil sie alle miteinander verschweißt und zusammenfaßt. Durch den Geist, den er sendet, wird Jesus der engste Freund eines jedem von uns und im wahrsten Sinn des Wortes das "Haupt" des lebendigen Organismus der neuen Menschheit. Jetzt können wir auch besser verstehen, von welcher Art die "Macht" über die Schöpfung ist, die wir dem gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes zuerkannt haben. Es ist eine "geistliche" Macht, die nur durch das Einwirken des Geistes Christi auf die Geschichte, die Dinge und die Herzen ausgeübt wird. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Heilige Geist (theologische Reflexion); neue Gegenwart (Schöpfer - Geist); "aktuelle" Gnade; Glaube, Hoffnung und Liebe (metánoia); Einwohnung des Heiligen Geistes; habituelle Gnade; Eingliederung in Christus; der "Heilige"

Kurzinhalt: Aktuelle Gnaden und habituelle Gnade, die erhöhende Gnade und die nur heilende Gnade, wirksame Gnaden und genügende Gnaden, geschaffene und ungeschaffene Gnade: Sie alle scheinen verstreute Bruchstücke eines schönen, unwiderruflich untergegangenen ...

Textausschnitt: Theologische Reflexion

Vorbemerkungen

127b
5. Wir vergleichen jetzt diese "übernatürliche Anthropologie", die uns die Offenbarung als uranfängliche Vorahnung einer wachsenden Gegenwart des Heiligen Geistes im Wesen und Handeln des Menschen anbietet, mit der Namensbezeichnung und den Aussagen, die uns die gewohnte Theologie liefert. Und da hat man unwillkürlich den Eindruck, daß ein lebendiger Organismus in viele einzelne Glieder zerstückelt wurde. (Fs)

Aktuelle Gnaden und habituelle Gnade, die erhöhende Gnade und die nur heilende Gnade, wirksame Gnaden und genügende Gnaden, geschaffene und ungeschaffene Gnade: Sie alle scheinen verstreute Bruchstücke eines schönen, unwiderruflich untergegangenen Segelschiffes. (Fs)

Man ging so weit, von "seinsmäßig natürlichen heilenden Gnaden" zu sprechen, so daß das allgegenwärtige Wirken des vom Auferstandenen gesandten Geistes aus dem Blickfeld geschwunden ist. Der genannte Begriff war schon im 17. Jahrhundert von Ripalda zurückgewiesen und - mit mehr Erfolg - zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1908) von Billot entschieden kritisiert worden. Dieser nicht sonderlich attraktive Sachverhalt läßt sich geschichtlich dadurch erklären, daß die Theologie der Gnade seit Augustinus immer als Antwort auf die in dieser Frage aufgetauchten Lehrabweichungen (oder als scholastische Dispute) entwickelt wurde und nicht als Frucht einer ausgewogenen Betrachtung dessen, was uns vom Wort Gottes gesagt wird. (Fs)

127b Wir wollen uns daher so weit wie möglich an das halten, was uns die Offenbarung gelehrt hat, wobei wir auch eine theoretische Einordnung vornehmen, die unseren Wünschen nach Einheitlichkeit und Klarheit entspricht. Damit wollen wir keineswegs die Bedeutung und Notwendigkeit der gewohnten theologischen Analysen schmälern. Wir möchten nur zur Entwicklung einer Synthese ermutigen, die für unser geistliches Leben jenen großen Reichtum rettet, den die Seiten des Neuen Testamentes bergen. Andererseits können auch wir eine gewisse Komplexität und Ausfaltung der Begriffe nicht vermeiden. Die sprachliche Ausdrucksweise unseres Verstandes ist nicht imstande, sich einer reichhaltigen Wirklichkeit in einem einzigen Erkenntnisakt zu bemächtigen. Wir versuchen also nacheinander und in verschiedenen einzelnen Annäherungsversuchen die ganze Fülle des göttlichen Geschenkes zu erfassen. (Fs)

128a Dabei ist zu berücksichtigen, daß das eigentliche Objekt der verschiedenen Betrachtungen eine einzige lebendige, wenn auch äußerst vielfältige Wirklichkeit ist: unsere vollkommene Ähnlichkeit mit Christus, wie sie sich unter dem wachsenden Einfluß des Heiligen Geistes immer mehr entfaltet. Die Offenbarung nennt sie nicht umsonst "Leben", das heißt, sie verwendet einen Begriff, der es von seiner Natur her nicht verträgt, mit Begriffen wie Bruchstückhaftigkeit und Auflösung in Verbindung gebracht zu werden. (Fs)

Eine neue Gegenwart

128b
6. Der Mensch ist aufgrund seiner inneren Beschaffenheit ein Wesen, das wächst und fortschreitet, begabt mit einer Freiheit, die nicht mit einem Schlag da ist, sondern nach und nach aufgebaut wird. Er ist ein Geschöpf, das durch sein ständiges, sich wiederholendes Tun seine endgültige Gestalt ausbildet. Und der Heilige Geist respektiert bei seinem Einwirken diese Komplexität und paßt sich ihr an. Wir versuchen hier die einzelnen Faktoren oder Stufen aufzuzählen, die wir bei der Verwandlung des menschlichen Geistes durch den Geist, den der Erlöser geschenkt hat, wahrnehmen können. Man muß sich dabei aber immer die absolute Einheit des Heiligen Geistes vor Augen halten, der immer der gleiche ist, trotz seiner vielfältigen Wirkungen: das gleiche Licht, das "alles überströmt / und Vielfalt hervorruft, / wo immer es niederfällt". Gleichzeitig muß man auch die lebendige Einheit der inneren Welt des Menschen berücksichtigen, die nur schwer in klar abgegrenzte oder sogar voneinander getrennte Begrifflichkeiten zu zwängen ist. (Fs)

128c Wir stehen hier vor einer geheimnisvollen "Gegenwart" des Heiligen Geistes im Geschöpf (die sich von der unauslöschlichen Einwohnung des Schöpfers in den Lebewesen, der sogenannten "Gegenwart der Unendlichkeit" unterscheidet). (Fs)

129a Diese neue Gegenwart ist anders als die anfängliche nicht notwendig und unausweichlich: Sie kann vorhanden sein oder nicht, sie kann in demselben Menschen stärker oder schwächer sein. Sie kann sich in jedem Einzelnen auf je eigene Weise entwickeln. Diese Gegenwart ist ihrer Natur nach eine "Assimilation" an den Heiligen Geist, der diese bewirkt, und eine Grundlage für die fortschreitende "Vergöttlichung". Sie dringt in den Menschen von außen, das heißt von seinem Handeln her, immer tiefer ein, bis sie nach und nach sein Herz trifft. (Fs)

Die "aktuelle" Gnade

129b
7. Der Heilige Geist wirkt im mündigen und sündigen Menschen durch dessen Tun. Der Mensch, der handelt, ist ständig aufgefordert — wenn auch in unterschiedlichem objektivem Maß und mit unterschiedlichem subjektivem Bewußtsein -, zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Er nutzt oftmals, ohne es wahrzunehmen, seine angeborenen Fähigkeiten mit Hilfe von Eingebungen und Kräften, die vom göttlichen Beistand kommen. (Fs)

Durch das Geschenk des Heiligen Geistes ist Christus jedem Menschen nahe, der als Mensch handelt. Und je nach der freien Zustimmung des Menschen wird Christus in stärkerem oder geringerem Maß im Handeln dessen gegenwärtig, der sich entscheidet. Diese Gegenwart Christi durch den Heiligen Geist wird uns in unseren Handlungen ("Akten") von den "aktuellen" Gnaden geschenkt. Von dem Augenblick an, da der Vater in der einen Mittlerschaft Christi alle zum Heil berufen hat, werden diese Gnaden keinem verweigert. (Fs)

Unter dem Einfluß dieser Gnade schickt sich der Ungläubige an zu glauben, wird der Sünder gerecht, und der Gerechte bleibt standhaft und wächst im neuen Leben. (Fs)

Glaube, Hoffnung und Liebe

129c
8. Wenn die göttliche Gegenwart den inneren Beweggrund des Handelns erreicht - das heißt das Denkvermögen, die Fähigkeit der Zustimmung zum Guten, des Strebens zur eigenen natürlichen Mitte und der Liebe - ereignet sich die "metánoia", die innere Umkehr. Sie besteht in der entschiedenen Ablehnung gegenüber jeder Gegenwart des Bösen im eigenen Leben und einer entschlossenen, vertrauensvollen und erleuchteten Zustimmung zur göttlichen Heilsinitiative. (Fs) (notabene)

130a Das Wort Gottes erhellt und vertieft die Selbsterkenntnis und die Einsicht von den Dingen, von Gott. Es wird nach und nach zur Mentalität, zum Urteilskriterium, zur Erkenntnisquelle. Und so beginnt das Leben des "Glaubens". (Fs)

Bei dieser Umkehr verändert sich die Natur des Ausblicks auf die Zukunft, die Natur der Wünsche und Sehnsüchte, der Erwartungen. Der Mensch, ursprünglich auf die Erde bezogen und gekrümmt, öffnet sich der "Hoffnung", die zuversichtliches Streben nach der Fülle des Reiches Gottes ist. (Fs)

Die Welle der Vergöttlichung berührt den inneren Kern des geschaffenen Geistes, wenn es ihr gelingt, die menschliche Liebe zu verwandeln und der Liebe ähnlich zu machen, mit der Jesus sich dem Vater und den Brüdern schenkt. Und das ist die "Nächstenliebe", die das ganze Geschöpf erneuert und erhöht und in die Freundschaft und Vertrautheit mit Gott einführt. Das alles wirkt der Heilige Geist, der vom Auferstandenen gesandt wird und uns durch diese Verwandlung immer enger mit Christus vereint und ihm ähnlich macht. (Fs)

130b Glaube, Hoffnung und Liebe sind in unserem Innersten offensichtlich Prinzipien, die ausstrahlen. Aufgabe des "aszetischen" Lebens, d. h. des in Grundsatztreue und Fügsamkeit voll entfalteten christlichen Lebens ist es, alle Hindernisse auszuräumen, damit diese Ausstrahlung auch die geheimsten Winkel unserer komplexen Wirklichkeit erreichen kann. (Fs)

Die Einwohnung des Heiligen Geistes

9. Die Liebe verwandelt also unsere Herzen kraft einer Gegenwart des Heiligen Geistes, die nun so intensiv geworden ist, daß sie als "Einwohnung" bezeichnet werden kann. Deshalb nennt die Offenbarung den Beistand immer wieder einen geheimnisvollen und wirksamen Gast des "neuen" Menschen. (Fs)

130c Der Heilige Geist ergreift uns und macht uns mit dem göttlichen Leben vertraut, indem er uns unmerklich in die lebendigen Akte der Erkenntnis und Liebe einbezieht, durch die Gott sich vollkommen besitzt; in dieselben Akte, aus denen das unaussprechliche Leben der Dreifaltigkeit ewig hervorströmt. (Fs)

131a Bei dieser wunderbaren Teilhabe können wir von einer wirklichen "Vergöttlichung" des Menschen sprechen, denn er wird in allen seinen Fasern vom Feuer des Heiligen Geistes durchdrungen, der in ihm Wohnung genommen hat. (Fs)

Die habituelle Gnade

10. Weil der Geist, der in uns wohnt, verwandelnd wirkt, wird der Mensch von ihm in seinem ganzen Wesen nicht von außen, sondern von innen her umgewandelt, wobei er seine persönliche Identität und seine Menschennatur beibehält. Aber er wird wirklich "neu" geschaffen. (Fs)

Das meint man gewöhnlich, wenn von "habitueller Gnade" die Rede ist. Sie kommt vom Heiligen Geist, ist aber nicht identisch mit ihm, dem ungeschaffenen Geschenk, sondern wird "unsere eigene" und deshalb "geschaffene", bleibende Neigung. (Fs)

131b Der Mensch, der so erneuert worden ist, hat die Gleichförmigkeit mit Christus wiedererlangt, in der er am Anfang erdacht und gewollt worden war. In ihm gibt es nichts mehr, was sich dem Plan Gottes widersetzt, und deshalb ist an ihm keine Verzerrung mehr festzustellen. Der Sündenzustand ist ausgelöscht, und der anfängliche Zustand der Gerechtigkeit ist wiederhergestellt. Durch diese Ausgießung des Heiligen Geistes hat der Sünder endlich die Rechtfertigung erlangt. (Fs)

Die Eingliederung in Christus

11. Durch das Geschenk des Heiligen Geistes werden wir lebendige Glieder unseres Herrn Jesus. (Fs)

Die Eingliederung in Christus ist ein wunderbares Bild, das die geheimnisvolle Wirklichkeit, die wir entdeckt haben, umfassend verdeutlicht. (Fs)

131c Sie schließt Gleichförmigkeit und Verbundenheit mit Christus ein: Und das sind Wirkungen, die der vom Auferstandenen gesandte Geist im Menschen hervorruft. Der Heilige Geist macht den Menschen Christus ähnlich, indem er ihm dieselbe Mentalität, dieselben Wünsche, dieselbe Liebe, dasselbe Gnadenleben, ja die Teilhabe am göttlichen Leben schenkt, die Jesus als Sohn Gottes in Fülle besitzt. Der Heilige Geist bindet den Menschen an Christus, weil er in das Geschöpf kommt, ohne seine vollkommene Einwohnung in der Menschheit Christi und seine Wesensgleichheit mit dem Wort zu unterbrechen. So ist der Besitz des Geistes Christi die beste Voraussetzung zur Vereinigung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn. (Fs)

Der "Heilige"

132a
12. Der Geist Gottes kennt keine Grenzen in seiner Ausgießung über die Welt. Alle geistlichen Reichtümer, die wir aufgezählt haben, können im Herzen eines jeden Menschen vorhanden sein, wie seine äußere Befindlichkeit auch immer sei. Die tatsächliche Verwirklichung dieser Sublimierung des Geschöpfes in den einzelnen Phasen bleibt jedoch immer ein Geheimnis Gottes. Uns ist es nicht gegeben, die "Landkarte" der Heiligkeit zu kennen, die das Ergebnis des ewigen Pfingsten ist. Der Grund, daß es unseren Augen verborgen bleibt, ist nicht nur und nicht in erster Linie das Geheimnis des Heiligen Geistes, sondern beruht ganz einfach auf dem Geheimnis der freien Antwort des Menschen, die dem Auge eines anderen Menschen verborgen bleibt. Die Gegenwart des Heiligen Geistes, von der wir gesprochen haben, ist im mündigen Gläubigen von seiner Öffnung und freien Zustimmung abhängig. Besser: Der Heilige Geist handelt immer zuerst, führt aber das Erneuerungswerk fort, indem er der freien Antwort des Menschen Raum läßt. Das ist von außen nicht vorauszusehen und, genaugenommen, nachher nicht mehr festzustellen. Infolgedessen ist es uns nicht gegeben, das Ausmaß des Glaubens, der Liebe und der heiligmachenden Gnade in der Welt zu erkennen. Nun sind wir so weit, daß wir auch verstehen, was mit dem Wort "heilig" gemeint ist: Heilig ist das, was der Geist des Auferstandenen unter Achtung und mit der Zustimmung der geschaffenen Freiheit hervorruft. (Fs) (notabene)

132b So versteht man, wie Heiligkeit überall zu finden ist, wo ein Menschenherz fähig ist, zum Geist "ja" zu sagen, so verschiedenartig und ungünstig auch die äußeren Bedingungen dafür erscheinen mögen (vgl. G. Biffi, Io credo, Mailand 1980, S. 157-161). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Der Heilige Geist (objektive Seite); apostolische Sendung; Sakramente; Heilige Schrift; Charismen; objektive" und "subjektive" Heiligkeit

Kurzinhalt: Während die subjektive Heiligkeit im innersten Geheimnis des Menschen ihren Sitz hat und oft unsichtbar ist, ist die objektive Heiligkeit äußerlich wahrnehmbar oder wenigstens lokalisierbar ... Die "Apostel" mögen unwürdig sein, aber ihre Sendung ...

Textausschnitt: Theologische Reflexion

Die "objektive" Heiligkeit

136b
7. Der Heilige Geist, den der Herr Jesus aus dem Geheimnis des Vaters aussendet, ruft in der Welt nicht nur die subjektive Heiligkeit des Menschen hervor, d. h. die Übereinstimmung des Handelns, der inneren Fähigkeiten und der ganzen Gesinnung mit dem Willen Gottes. In der Zeit, d.h. solange der Kampf noch nicht beendet ist, die Mächte des Bösen tätig und feindselig, die Herzen schwach und wankelmütig sind, sorgt der Erlöser dafür, daß die Ausgießung des Heiligen Geistes unter uns eine "objektive Heiligkeit" sicherstellt, eine Anpassung an den Heilsplan, die ihrer Natur nach unabhängig ist von den wechselnden Entscheidungen des Menschen. Es handelt sich um eine feststehende Gnade, die durch Untreue und Abtrünnigkeit nicht gefährdet wird. Es ist der vielfältige Reichtum der objektiven Heiligkeit, eine Zuflucht und Labung für den müden Pilger, ein uneinnehmbarer Stützpunkt für den entmutigten Kämpfer, ein Leuchtturm für die Verirrten. (Fs) (notabene)

136c Während die subjektive Heiligkeit im innersten Geheimnis des Menschen ihren Sitz hat und oft unsichtbar ist, ist die objektive Heiligkeit äußerlich wahrnehmbar oder wenigstens lokalisierbar. Ja, durch die objektive Heiligkeit erhält die Erlösung einen Wohnsitz und eine für alle erkennbare Adresse. (Fs)

Die apostolische Sendung
137a

8. Sündenvergebung und ewiges Heil sind für die Menschheit feste Angebote der apostolischen Sendung, die die erste "heilige" Frucht der Erlösung und der Ausgießung des Geistes ist. "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch... Empfangt den Heiligen Geist", sagt der Auferstandene bei seiner ersten Erscheinung vor den Zwölf (Joh 20,21.22). (Fs)

Wie man sieht, entspringt dieser Impuls, der eine Gruppe von Männern erfaßt, dem Leben der Dreifaltigkeit: Der Antrieb, mit dem der Vater den Sohn zeugt, wird in diesem für uns konkretisierten Liebesplan ein Geschenk an die Welt, das sich seinerseits in der Sendung der Zwölf und in der ununterbrochenen Reihe ihrer Nachfolger Jahrhunderte hindurch fortsetzt. (Fs)

Aus diesem Netz von "Sendungen", das in der Zeugung des Wortes seine Wurzel hat, fügt und setzt sich das Volk Gottes, das "von oben" gerettete Volk, zusammen. (Fs)

Auf diese Weise werden die "Apostel" eingesetzt, d. h. diejenigen, die nicht von der Gemeinschaft, sondern von Christus, dem großen Gesandten des Vaters, "gesandt" sind. In ihnen ist das "Charisma Petri" unvergänglich, mit dem einer von ihnen bekleidet ist. Er ist der Bezugspunkt, der die substantielle Einheit im Werk der Heiligung, im Lehr- und Leitungsamt für das Volk der Erlösten sicherstellt. (Fs)

Gerade der apostolische Sendungsauftrag ist das sichere Zeichen, daß in der Welt die Heilskraft des Geistes, d.h. der Wahrheit und der Gnade, fortlebt. (Fs)

137b Die "Apostel" mögen unwürdig sein, aber ihre Sendung bleibt "heilig", das heißt, sie bleibt geistlich wirksam und wird nie aufhören, in der Gnade des von Christus gesandten Geistes objektiv Heilsträgerin zu sein. (Fs)

Die Sakramente

138a
9. Die österliche Ausspendung des Geistes schenkt der Menschheit die Sakramente, das sind Handlungen, in denen der Herr Jesus gerade durch den Geist stets gegenwärtig ist und handelt, so daß in ihnen das Erlösungswerk unweigerliche Wirkung hat. Wenn die Handlung in der von Christus gewollten Form vollzogen wird, wird die Kraft des Sakraments weder durch ungünstige Disposition des menschlichen Verwalters noch durch äußere Verunstaltungen des Ritus beeinträchtigt. Das Gesetz der Heiligung bestätigt uns, daß wir hier unweigerlich Gnade finden: die Gnade für die Erneuerung des Menschen und für den Aufbau seiner christlichen Persönlichkeit in der Taufe und in der Firmung; die Gnade, mit Christus, dem Erlöser, und mit seinem Opfer in der Eucharistie in wirkliche, lebendige Gemeinschaft zu treten; die Gnade, die nach der Taufe begangenen Verfehlungen in der Buße zu überwinden; die Gnade, durch die Krankensalbung die Krankheit als übernatürliche Quelle der Reinigung und inneren Bereicherung zu erfahren; die Gnade, in der neuen Wirklichkeit des christlichen Ehebundes konsequent zu leben; die Gnade, als geweihte Priester als fügsame Werkzeuge des Geistes in das Netz der "apostolischen Sendung" aufgenommen zu werden. (Fs)

Und jede dieser Handlungen läßt den gläubigen Empfänger gewiß wachsen, wenn er sich nicht willentlich widersetzt, dem auferstandenen Christus ähnlich zu werden und an seinem Leben teilzuhaben. (Fs)

138b In den Sakramenten bewahrheitet sich das Gesetz der Heiligung nicht nur in der Handlung selbst, sondern auch in demjenigen, der ihr Empfänger und Ziel ist. Nachdem er ein Sakrament gültig empfangen hat, ist er nicht mehr in derselben Situation wie vorher. Seine objektive Beziehung zu Christus hat sich verstärkt und gefestigt, unabhängig von der größeren oder geringeren Treue gegenüber der empfangenen Gnade und sogar von seinen eventuellen Sünden. Diese "heiligmachende" Wirkung ist besonders deutlich und bestimmend in den Sakramenten der Taufe, der Firmung und der Priesterweihe, die "das Prägemal aufdrücken". Das heißt, sie verleihen ein besonderes inneres Kennzeichen der Ähnlichkeit mit Christus, das nicht mehr auszulöschen ist. Kraft dieses unauslöschlichen "Charakters" wird derjenige, der untreu geworden ist, ständig aufgerufen, sich mit dem inneren Anspruch, der in sein Wesen nunmehr für immer eingeprägt ist, wieder in Einklang zu bringen. (Fs) (notabene)

Die Heilige Schrift

139a
10. Das Handeln des Heiligen Geistes bewirkt eine weitere objektive Gegenwart Gottes, des Erlösers, in der Heiligen Schrift. In den Seiten der Bibel ist das Wort Gottes in besonderer Weise enthalten und wird allen Menschen mit der Garantie der Authentizität und Unfehlbarkeit angeboten. (Fs)

Die göttliche Offenbarung findet sich aber nicht nur dort. Die Heilswahrheit hat Auswirkungen auf die ganze Menschheit, die schwer zu kontrollieren sind. Übrigens ist die "gute Nachricht" auch der Niederschrift des Evangeliums vorausgeeilt und wurde von dort aus weiterverbreitet. Die kirchliche "Tradition" setzt in Wirklichkeit hier an. (Fs)

Stets verfügbar für alle, die sie aufrichtig suchen, ist die Heilswahrheit mit Sicherheit in den heiligen Schriften. Auch das ist eine "heiligmachende" Wirkung. Die Gegenwart des Wortes Gottes in der Bibel geht der inneren Befindlichkeit des Lesers voraus und ist von ihr unabhängig. (Fs)

Die Charismen

11. Auf die "heiligmachende" Wirkung des Geistes sind auch die echten Charismen zurückzuführen, die er unter den Menschen hervorruft. (Fs)

Weil diese Gaben dem einzelnen "zum Nutzen" des kirchlichen Leibes verliehen werden, sind die Charismen für sich allein nicht rechtfertigend und auch kein Zeichen der Rechtfertigung. Theoretisch könnte ein Mensch mit seinem Charisma zur Heiligung der anderen beitragen, ohne selbst in der Liebe zu wachsen. Die Charismen zeigen also nicht notwendigerweise die Gegenwart Gottes im Herzen des Menschen an, offenbaren aber das phantasievolle Wirken des Heiligen Geistes in der Gemeinschaft der Gläubigen. (Fs)

139b Das Neue Testament berichtet von Charismen, die einen ständigen Zustand darstellen, wie die Ehe, der Zölibat der Hingabe, die durch Handauflegung erteilte Weihe (vgl. 1 Kor 7,7; 2 Tim 1,6). (Fs)

140a Auch das apostolische Dienstamt wird durch ein Charisma gestützt, wie man sieht. Ja, diesem Charisma ist die Aufgabe übertragen, alle vom Heiligen Geist ausgespendeten Charismen zu erkennen, zu regeln und in Einklang zu bringen. (Fs)

Weiter gibt es Charismen, die, ohne einen Stand zu gründen, für den Menschen, die ihren wohltuenden Einfluß offenen Herzens annehmen, eine wertvolle Hilfe sind. Im Neuen Testament wird von vielen solchen Charismen berichtet, die sehr unterschiedlich sind. Sie bezeugen die unerschöpfliche und vielfältige Weisheit des Vaters und sein Erbarmen gegenüber unserer Armut (vgl. 1 Kor 12,4-11). (Fs)

"Objektive" und "subjektive" Heiligkeit

12. Man sollte aber nicht meinen, daß "objektive" und "subjektive" Heiligkeit zwei voneinander unabhängige Auswirkungen von Pfingsten seien. Im Gegenteil, sie sind eng miteinander verbunden. Aber die "objektive" Heiligkeit wird nur dann wirksam, wenn sie tatsächlich Quelle, Nahrung und Schutz der "subjektiven" Heiligkeit ist. (Fs)

140b Wer mit der apostolischen Sendung beauftragt ist, muß gleichsam von Natur aus "subjektiv" heilig sein. Wie immer er sich verhalten mag, er bleibt "Apostel" (Bischof oder durch abgestufte Teilhabe Priester oder Diakon); aber er muß sich getreu seinem Charisma verhalten. Wer ein Sakrament empfängt, muß es so empfangen, daß sich in ihm wirklich das göttliche Leben kräftigt und ausdehnt. Wer im Ehebund oder in geweihter Jungfräulichkeit lebt, darf sich nicht so sehr des empfangenen Geschenkes rühmen, sondern muß den Anforderungen der Heiligkeit entsprechen, die mit dem eigenen Stand verbunden sind. Wer die Heilige Schrift liest, muß sich darum bemühen, daß das von sich aus immer wirksame Wort Gottes in ihm wahrhaftig den Glauben stärkt und belebt. Dabei ist nie zu vergessen, daß dieser vielfältige und überströmende Reichtum aus der Ausgießung des Heiligen Geistes hervorquillt, der vom auferstandenen Christus kommt: "Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist" (1 Kor 12,4; vgl. G. Biffi, Io credo, Mailand 1980, S. 163-167). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche - Reich Gottes; "Logien" Christi; Zusammensetzung des Reiches: Christus, Apostel

Kurzinhalt: Für Jesus bildet die Idee des Reiches den Mittelpunkt ... eine eschatologische Wirklichkeit, die zu erwarten und herbeizuwünschen ist, und um deren Kommen man bitten muß. Zugleich ist es ein "nahendes" Ereignis, ja, es ist bereits angekommen: ...

Textausschnitt: I. Die "Logien" Christi

142b Prüfen wir zunächst die "Logien" Christi: die Worte des Herrn Jesus, die in der synoptischen Katechese, das heißt in der christlichen Lehrweise, die in den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas deutlich wird, niedergeschrieben und bewahrt sind. Es handelt sich um Worte, die zu uns gelangt sind und insgesamt zweifellos auf Jesus zurückgehen, auch wenn sie vom Bewußtsein der Urkirche gefiltert und ihren pädagogischen Bedürfnissen entsprechend ein wenig zurechtgerückt wurden. Manchmal sind diese Abänderungen deutlich zu erkennen, wenn man die verschiedenen Formen desselben "Logion" in den einzelnen Evangelien miteinander vergleicht. (Fs)

A) Das Reich

1. Das Reich

142c Jesus bezeichnet die Heilswirklichkeit, an der der Mensch teilhaben soll, als "Reich", "Reich Gottes" oder "Himmelreich". Der Begriff war nicht unbekannt. Er war in der apokalyptischen jüdischen Literatur des 1. Jahrhunderts sehr verbreitet und wurde vom prophetischen Gedanken des "neuen Bundes" hergeleitet (vgl. Jer 31,31—34; Ez 16,60; Jes 55,3; 61,8). (Fs)

143a Für Jesus bildet die Idee des Reiches den Mittelpunkt: Seine Botschaft ist das euaggelion tEs basileias, das heißt die Botschaft vom Reich. (Fs)

2. Das Reich Israel, das allen Völkern offensteht
Jesus wendet sich hauptsächlich an Israel, das Volk der Verheißungen, die jetzt Wirklichkeit werden. Die Juden sind "die Söhne und Töchter des Reiches". Aber sie können davon ausgeschlossen werden, wohingegen das Reich den anderen offensteht (vgl. Mt 8,11 f.). Nach dem Verständnis Christi geht es von Israel aus, aber dann werden alle Völker einbezogen. (Fs)

Auffallend ist, daß die synoptische Katechese aller drei Zeugen ihre Lehre mit einer ausdrücklich weltumspannenden Sicht des Reiches abschließt:
- Markus: "Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!" (16,15). (Fs)

- Matthäus: "Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern" (28,19). (Fs)

- Lukas: "In seinem Namen wird man allen Völkern, angefangen in Jerusalem, verkünden, sie sollen umkehren, damit ihre Sünden vergeben werden" (24,47). (Fs)

3.Ambivalenz des Reiches

Das Reich ist sozusagen eine ambivalente Wirklichkeit, eine eschatologische Wirklichkeit, die zu erwarten und herbeizuwünschen ist, und um deren Kommen man bitten muß. Zugleich ist es ein "nahendes" Ereignis, ja, es ist bereits angekommen: "Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch" (Lk 17,21). Trotzdem ist es keine aufsehenerregende, sensationelle Wirklichkeit: "Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es an äußeren Zeichen erkennen könnte" (Lk 17,20). Man erinnere sich, daß Jesus ganz bewußt jeden "politischen" Aspekt seiner Reichsidee ausgeschaltet hat. Seine diesbezüglich klare, konstante Haltung ist vielleicht der Hauptgrund, warum seine Zeitgenossen so enttäuscht von ihm waren. (Fs)

4. Zusammensetzung des Reiches

143b Wer trägt und hält das Reich?

- In erster Linie ist es Christus. Seine "mit Vollmacht verkündete neue Lehre" (vgl. Mk 1,27), seine Wundertaten, seine "eschatologischen Zeichen", seine Macht, Sünden zu vergeben, machen das Reich schon gegenwärtig. Besonders deutlich wurde es durch seine Herrschaft über die Dämonen: "Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen" (Mt 12,28). (Fs)

144a
- Dann sind es die "Zwölf, eine ausgewählte, unverkennbare Gruppe, die Jesus als Grundpfeiler des "neuen Israel" vorstellt (vgl. Mt 19,28). (Fs)

- Und es gibt die erweiterte Gruppe der "Jünger", die Jesus nachfolgen, seine Lebensweise teilen und in die "Geheimnisse des Himmelreiches" eingeführt werden (vgl. Mt 13,11). In der Fassung von Lukas werden die Jünger genau nach ihrer Anzahl (70 oder 72), Auswahl und Bestimmung durch den Herrn angegeben. Die Zahl der Apostel erinnert an die Stämme Israels, und die Zahl der Jünger ist ein Hinweis auf die Universalität der Völker der Erde. (Fs)

- Schließlich gibt es noch die Menge der Zuhörer Jesu, die ihm folgte und von ihm durch sein Wort und auch durch sein Brot gespeist wurde. Es ist eine gemischte Menge von Kranken, Sündern, Leuten aller Art, die dem Evangelium gegenüber unterschiedlich reagieren, wie es im Gleichnis vom Sämann gut beschrieben wird. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche; Petrus, Primat; Terminus "ecclesia" - 2 Bedeutungen: juridisch-organisatorisch (Mt 18) - theologisch kosmisch (Mt16)

Kurzinhalt: ... scheint Christus den Begriff "Kirche" nicht zu kennen... Einwand ... es gibt zwei "Logien" des Herrn, in denen das Wort "ecclesia" erscheint, und eine gemeinschaftliche Sicht derer deutlich wird ...

Textausschnitt: B) Die Kirche

144b Nach dem, was wir bisher geprüft haben, scheint Christus den Begriff "Kirche" nicht zu kennen. Jesus hat scheinbar eine mehr vertikal als gemeinschaftlich strukturierte Vorstellung. Für ihn ist es wichtig, daß die festgefügte Gruppe der Zwölf vorhanden ist, damit sie die Botschaft sicherstellt, und daß die von ihm bestimmten Jünger dabei helfen. Die Menschen mögen dann in verschiedener Weise antworten. Eine Gemeinschaft von Gläubigen in ganz bestimmten Grenzen hat Jesus anscheinend nicht geplant: "Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch" (Lk 9,50). (Fs)

144c Der Einwand ist begründet und darf nicht beiseite geschoben werden. Aber er hat kein großes Gewicht, denn es gibt zwei "Logien" des Herrn, in denen das Wort "ecclesia" erscheint, und eine gemeinschaftliche Sicht derer deutlich wird, die dem Evangelium zustimmen:

145a
- Mt 16,17-19: Es ist der Abschnitt des Primats von Petrus: "Selig bist du, Simon Barjonas; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein."

- Mt 18,15-18: ein Abschnitt, der üblicher- und irrtümlicherweise unter der Überschrift "Brüderliche Zurechtweisung" oder "Von der Verantwortung für den Bruder" steht: "Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muß durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein."

Man könnte hier leicht von der Redaktion des Matthäus und seiner Umgebung schreiben. Aber das überzeugt nicht, denn die Ausdrucksweise ist altertümlich, beinahe rabbinisch, und der Terminus "ecclesia" taucht unmittelbar im nachösterlichen Christentum auf. Er könnte also schon in Christi Reden vorweggenommen sein. Der Terminus "ecclesia" ist vor allem mit der Idee des neuen Israel verbunden, die, wie wir gesehen haben, in den "Logien" des Herrn sehr oft vorkommt. Die beiden Abschnitte haben etwas Wichtiges gemeinsam:

- Beide beziehen sich auf "Oberhäupter" der "ecclesia" (Petrus in Mt 16 und die Zwölf in Mt 18):

- in beiden scheint "ecclesia" keine unbestimmte Versammlung, sondern eine festumschriebene Gemeinschaft zu sein, der Verantwortliche vorstehen;

- in beiden wird das Bild vom Binden und Lösen verwendet. Aber es besteht ein grundlegender Unterschied: In Mt 18 will man Anweisungen für den reibungslosen Betrieb einer begrenzten örtlichen Gemeinde geben: In Mt 16 wird das neue Israel in den Rahmen einer kosmischen Wirklichkeit gestellt. Es wird mit dem ihm voll entsprechenden "Himmelreich" und "Himmel" verglichen und mit den Mächten der Unterwelt, die sie nicht überwältigen werden. Wie man sieht, hat das Wort "ecclesia", sobald es auftaucht, zwei verschiedene Bedeutungen: eine juridisch-organisatorische Dimension, die sich auf eine örtlich zu leitende Gemeinde bezieht, und eine verborgene theologische Dimension, die in ihm die kosmische Wirklichkeit des "Volkes des Neuen Bundes" sieht. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, ecclesia, Ekklesiologie - Apostelgeschichte, Lukas; Volk Gottes (Wüste, des neuen Bundes); zweifache Bedeutung: örtlichen Gemeinde - universale Gemeinschaft; K.: Werk des Geistes, Epiphanie;

Kurzinhalt: Die Verwendung des Terminus in der Apostelgeschichte spiegelt wahrscheinlich die geschichtliche Entwicklung des Begriffs in der christlichen Urgemeinde wider. Wir nennen hier die einzelnen Phasen.

Textausschnitt: II. Die Apostelgeschichte

146a Während in den Evangelien der Ausdruck "ecclesia" praktisch fehlt, ist er in der Apostelgeschichte ein grundlegender Begriff. Hervorzuheben ist, daß Lukas als Autor des dritten Evangeliums dieses Wort völlig ignoriert, während er es als Autor der Apostelgeschichte sehr häufig verwendet. Wir untersuchen hier:

a) die Entwicklung des Terminus in der Schrift;
b) wie der Begriff Kirche im Text entstanden ist;
A) Die "ecclesia"

Die Verwendung des Terminus in der Apostelgeschichte spiegelt wahrscheinlich die geschichtliche Entwicklung des Begriffs in der christlichen Urgemeinde wider. Wir nennen hier die einzelnen Phasen. (Fs)

1. "Ecclesia" (qahal) bedeutet zunächst im religiösen Sprachgebrauch der damaligen Zeit das Volk Gottes in der Wüste, die Versammlung des Bundes und des Gesetzes, die Nation, welche Gesprächspartnerin Gottes wird. (Fs)

In dieser Bedeutung erscheint das Wort in der Rede des Stephanus vor dem Hohen Rat (Apg 7,38). (Fs)

2. Nach dem Pfingstereignis verwenden die Jünger Jesu dieses Wort und bringen damit ihre Überzeugung zum Ausdruck, das Volk des neuen Bundes und des neuen Gesetzes zu sein. "Ecclesia" bedeutet deshalb die Gemeinschaft der Jünger Christi, die in Jersualem lebt und sich für das neue Israel hält. (Fs)

147a Es ist deshalb hauptsächlich ein theologischer Begriff ohne Mehrzahl. In Jerusalem ist immer nur die Rede von einer Kirche, obwohl die wachsende Zahl der Gläubigen (dreitausend am Pfingsttag und dann immer mehr: Apg 4,4; 5,14; 6,17; 9,31; 11,21; 16,5) vermutlich nicht nur eine einzige gemeinsame Versammlung bildete. (Fs)

3. In Apg 9,31 haben wir einen Abschnitt, den die Textkritik für unsicher hält, gleichsam um die Begriffswandlung anzuzeigen: "Die Kirche" - alexandrinischer Text - oder "Die Kirchen" - antiochenischer und westlicher Text — "in ganz Judäa, Galiläa und Samarien hatte (oder hatten) nun Frieden."

4. Antiochia scheint die erste gewesen zu sein und hielt sich für eine eigene "Kirche" (Apg 12,26 [eg: 12,26 gibt es nicht]; 14,27; 15,3). Grund dafür dürfte die griechische Herkunft der antiochenischen Gemeinde sein, die sich kulturell und später auch ethnisch von den palästinensischen Kirchen unterschied. (Fs)

5. Der Begriff bezeichnet dann vorwiegend die örtlichen Gemeinden und wird auch in der Mehrzahl verwendet (14,27; 15,41; 16,5). (Fs)

6. Aber in Apg 20,28 ist die Abschiedsrede, die Paulus an die "Ältesten" von Ephesus richtet (die "für die Kirche Gottes sorgen sollen, die er sich durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben hat") auf das ganze neue Israel abgestimmt und nicht nur auf die örtliche Gemeinschaft. (Fs)

Bemerkungen

146b
1. Es ist nicht ausgeschlossen, daß zu der Bedeutung des semitischen Wortes "qahal", das bereits die theologische Wirklichkeit des Volkes Gottes bezeichnete, die Bedeutung hinzukam, die der Terminus "ecclesia" in der heidnischen Welt der Griechen hatte (d.h. sich versammeln, zusammentreffen), vor allem als dieser Ausdruck von Jerusalem auf die Gemeinden griechischer Sprache und Kultur überging. (Fs)

147a
2. Wie man sieht, wird die ganze Apostelgeschichte hindurch dieses Wort in den beiden Bedeutungen beibehalten. Diese zweifache Präsenz hat gewiß einen tiefen theologischen Sinn: Eine stattfindende Versammlung oder eine örtliche Gemeinde ist nur "ecclesia", wenn sie das große kosmische Geheimnis des ganzen Volkes Gottes ausdrückt und darstellt. (Fs) (notabene)
3. Der Terminus bewahrt bis in unsere Tage diese zweifache Bedeutung, einerseits einer örtlichen Gemeinde, wenn es hauptsächlich um ihren rechtlichen oder organisatorischen Charakter geht, andererseits der universalen Gemeinschaft, wenn es sich mehr um eine theologische und sakramentale Wirklichkeit handelt. (Fs)

Aber beide Bedeutungen implizieren sich gegenseitig. Das neue Israel kann nicht ohne Verwurzelung in den geschichtlichen Gemeinden bestehen, und die einzelnen Gemeinden haben nur dann Heilswert, wenn in ihnen das ganze Volk Gottes präsent ist und Ausdruck findet, andernfalls sind sie "Sekten". (Fs) (notabene)

B) Ekklesiologie

147b Die Ekklesiologie der Apostelgeschichte setzt folgende Schwerpunkte. (Fs)
1. Die Kirche ist Werk des Geistes Gottes. Ihre "Epiphanie" ist das Pfingstereignis (Kap. 2), und das Entstehen neuer Christengemeinden wird als Ausdehnung der pflingstlichen Erfahrung dargestellt (z. B. 8,15-17; 10,44). (Fs)

2. Der Heilige Geist errichtet das neue Israel, indem er alle Schranken zwischen Juden und Nichtjuden niederreißt. Höhepunkt dieses mühsamen Prozesses sind: die Bekehrung des Kornelius durch Petrus (Kap. 10 und 11); die Entstehung einer nichtjüdischen Gemeinde in Antiochia (11,19-25), wo erstmals die Bezeichnung "Christen" auftaucht; die erste apostolische Reise des Paulus (Kap. 13 und 14) und das Konzil von Jerusalem (Kap. 15). (Fs)
3. Die Kirche ist ganz auf die "Zwölf gestützt, deren Bedeutung stark hervorgehoben wird (vgl. die Wahl von Matthias, Apg 1,23.26). (Fs)

148a Aber die apostolischen Eigenschaften werden auch auf Paulus bezogen, um den Übergang von der jüdischen Kirche zur Kirche aller Völker zu markieren. (Fs)
4. Die Kirche wird als Gemeinschaft aufgebaut. Lukas beschreibt die Kirche von Jerusalem als eine "Christenheit": Sie ist eine fest umschriebene Gemeinschaft, geprägt durch das Wort Gottes, das gemeinsame Gebet und die Eucharistie, streng getrennt von den anderen Juden ("Von den übrigen wagte niemand, sich ihnen anzuschließen", Apg 5,13), und sie hat sogar eine eigene Wirtschaftsordnung, die auf der Gütergemeinschaft gründet (2,42—47). (Fs)

Anmerkung

148b Lukas zeichnet offensichtlich ein ideales Bild von der Jerusalemer Gemeinde, um die Judenchristen vor der Kritik in Schutz zu nehmen, die die anderen Kirchen an ihr üben. (Fs)
Durch das "kommunistische" Experiment (dem die Überzeugung des nahen Weltendes zugrundelag) geriet die Kirche von Jerusalem in große Armut, was lange Zeit auch die anderen Kirchen belastete. Man denke nur an die beständige Aufforderung des Apostels Paulus, für die Mutterkirche der von ihm gegründeten Gemeinden zu sammeln (vgl. Gal 2,10: J Kor 16,1-4; 2 Kor 8 und 9), und an seinen Spendenaufruf sogar für die Kirche von Röm (Röm 15,26-28). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Reich - theologische Reflexion; Hypthesen (Verrat, vollkommene Verwirklichung des Gottesreiches, "Wegweiserin"); Schluss vom NT auf das persönliche Denken Christi; Kirche: Sakrament des Reiches Gottes

Kurzinhalt: "Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche", hat A. Loisy geschrieben" ... Der Begriff Sakrament ist also die angemessene Form, um die Wirklichkeit der Kirche zu erfassen, ohne Einseitigkeit und ohne Zensur.

Textausschnitt: III. Theologische Reflexion: Die Kirche und das "Reich"

148c Die bisherige Prüfung der Texte wirft sofort eine Frage auf, die wir nicht so sehr als exegetisch-geschichtliches Problem, sondern als theologische Frage behandeln wollen, so daß wir am Ende zu einem tieferen Verständnis des Geheimnisses der Kirche gelangen. Wie wir gesehen haben, spricht Jesus immer vom "Reich", während die christliche Urgemeinde vorwiegend von "Kirche" spricht (wie es die Apostelgeschichte, die wir überprüft haben, aber auch die Briefe der Apostel bezeugen). Die Gegenüberstellung ist unvermeidlich: Was ist die Kirche im Vergleich zu dem von Christus angekündigten Reich?

150a Prüfen wir zunächst der Reihe nach die verschiedenen Hypothesen, damit wir uns ein theologisches Urteil bilden können. Theologische Beurteilung soll hier heißen: ein kritisches Urteil der Vernunft, das sich ständig vom Licht des Glaubens erleuchten läßt. (Fs)

1. Erste Hypothese: Verrat des Reiches

150b "Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche", hat A. Loisy geschrieben (L Évangile et l'Église, Paris 1902, S. 111). Oh weh! - Das von Christus angekündigte Reich Gottes, verstanden als eschatologische Wiedergeburt, ist nicht gekommen. An seine Stelle ist die Kirche getreten. Die Idee Jesu ist also schon von der christlichen Urgemeinde mißverstanden worden ... Man beachte, daß es in dieser Gegenüberstellung gar nicht so sehr darum geht, das heutige Kirchenbild anzuprangern, weil es gegenüber dem der Zeit der Apostel verzerrt erscheint (das ist der ständige unterschwellige Gemütszustand derjenigen, die sich in allen Jahrhunderten gegen die Kirche auflehnen). Es handelt sich vielmehr um die Feststellung, daß sich schon die Kirche der apostolischen Zeit vom Plan des Meisters unterscheidet. (Fs) (notabene)

Diese Auffassung zeigt sich mehr oder weniger bewußt in der Haltung derjenigen, die in der Kirche mehr ein Hindernis als eine Verbindung mit Christus sehen. Sie begründen und rechtfertigen diese Hypothese im geschichtlichen und exegetischen Bereich damit, daß sie vom Neuen Testament aus (das nicht mehr als Glaubensmaßstab betrachtet wird) auf das persönliche Denken Christi schließen wollen. Dieses, so wird vermutet, stimme mit dem, was aus den Dokumenten eindeutig hervorgeht, nicht überein. Es sei denn, daß man - wie so oft - erklärt, der Versuch sei gescheitert, und das, was Jesus wirklich gedacht hat, sei nicht nachvollziehbar. Rein theologisch sind zwei Überlegungen notwendig:

150c
a) Wenn uns also nicht einmal die lebendige, kirchliche Gemeinde (weil sie von Anfang an Verrat übte) wirklich mit Christus verbinden kann, dann ist keine wahre Verbindung mit ihm möglich. Außer man schränkt ein, daß man nur durch das historisch-exegetische Studium der Dokumente zur wahren und lebendigen Erkenntnis Jesu gelangen könne. Das wäre dann ein rein "kulturelles" Christentum, das auf berühmten Professoren und Bibliotheken gründet, und in dem die "Weisen" und "Gebildeten" den Vorrang haben, was jedoch einem berühmten "Logion" Christi widerspricht (Mt 11,25). (Fs)

151a
b) Die Kirche als Verrat am Himmelreich zu sehen, kann ernsthaft nur von dem behauptet werden, der Jesus von Nazaret als Sohn Gottes, Erlöser der Welt und Offenbarer des Vaters ablehnt. Welchen Sinn hätte der Eintritt der göttlichen Wahrheit in die Geschichte, wenn sie dann verloren ginge?

Wie man sieht, die Kirche und Christus widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander. (Fs)

151b Aber die vorgenannte Hypothese kann uns auch etwas lehren. Sie erinnert uns daran, daß die Botschaft Christi gerade auf Grund ihres absoluten und transzendenten Wertes zu keiner Zeit der Geschichte vollkommen verwirklicht wird. Die Kirche ist ein Ansatz des Gottesreiches, der nie ganz gelingen kann. Der Gläubige ist nicht so sehr ein Christ, als vielmehr der mehr oder weniger gelungene Versuch, Christ zu sein. (Fs)

2. Zweite Hypothese: Die vollkommene Verwirklichung des Gottesreiches

151c Wenn Jesus das Reich Gottes verkündet hat, und die Kirche gekommen ist, bedeutet das aus theologischer Sicht nichts anderes, als daß die Kirche eben schon das vollkommen verwirklichte Reich Gottes auf Erden ist. (Fs)

Diese Auffassung geht auf die Väterzeit zurück, hat die mittelalterliche Ekklesiologie großenteils geprägt und in der Bulle Unam Sanctam Bonifaz' VIII. ihren stärksten Niederschlag gefunden. Dennoch kann auch dieser Gedanke nicht ohne Vorbehalte akzeptiert werden:
a) Wenn das Reich Gottes mit der Kirche vollkommen identisch wäre, wäre seine grundlegend eschatologische Natur, wie sie aus den synoptischen Katechesen und auch aus der Katechese des Johannes hervorgeht (die wir später datieren), nicht mehr zu erklären. (Fs)

b) Ebensowenig wäre die Kirche ein "pilgerndes" Volk, sondern vielmehr ein "ans Ziel gelangtes Volk", und die Erwartung des Reiches - die wesentlich zum christlichen Leben gehört - wäre ihres eigentlichen Inhalts beraubt. (Fs)

151d
c) Diese Auffassung könnte sowohl zum kirchlichen Triumphalismus als auch zur Enttäuschung über die Kirche verleiten. Wenn man die Kirche mit dem Himmelreich identifiziert, ist man versucht, in der Struktur und im Leben der Kirche alles zu kanonisieren und für vollkommen zu halten. Oder man neigt umgekehrt dazu, an den Erbärmlichkeiten der kirchlichen Gemeinschaft derartigen Anstoß zu nehmen, als wäre die kirchliche Gemeinschaft schon das himmlische Jerusalem. (Fs)

152a Andererseits ist aber auch Jesu Wort wahr: "Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch!" (Lk 17,21). Wenn Paulus schreibt, daß das Reich Gottes nicht Essen und Trinken ist, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist (vgl. Röm 14,17), spricht er gerade vom gegenwärtigen christlichen Leben. Und Johannes schreibt über die in dieser Welt lebenden Christen: "Er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern" (Offb 1,6). (Fs)

Wenn wir die Lehre der Bibel nicht verzerren wollen, indem wir einige Abschnitte hervorheben und andere zensieren, müssen wir sagen, daß zwischen der "basileia" und der "ecclesia" sicher ein Unterschied besteht, aber keine Trennung. (Fs)

3. Dritte Hypothese: "Wegweiserin"

152b Die Kirche ist nicht das Reich Gottes, und sie ist auch nicht dessen Fälschung: Sie ist seine Ankündigung und seine Präfiguration. Sie ist Wegweiserin und gibt die Richtung an. Sie ist keine Wegweiserin, die in die Irre führt oder voraussetzt, daß das Ziel schon in gewisser Weise da ist. (Fs)

Sie ist auch kein "Vorstadium" des Reiches: Zwischen Kirche und Reich gibt es keine Kontinuität. Die Kirche ist nur die "Dienerin" des Reiches. (Fs)

"So liegt der Kirche ganzer Sinn nicht in sich selbst, nicht in dem, was sie ist, sondern in dem, worauf sie zugeht." (H. Küng, Die Kirche, Freiburg i. Br. 1967, S. 118)
Vom theologischen Standpunkt aus scheint diese Sicht der Dinge ärmlich und lückenhaft. Denn:

152c
a) Sie tendiert dazu, in den Schatten zu stellen, daß nach biblischer Lehre das kirchliche Leben schon Besitz der zukünftigen Güter ist: des "ewigen Lebens", das hauptsächlich in der Erkenntnis des Vaters und Christi besteht (vgl. Joh 17,3); der Liebe, die "niemals aufhört" (vgl. 1 Kor 13,8); des Geistes Gottes, der "der erste Anteil des Erbes ist, das wir erhalten" (Eph 1,14); des Reiches, das uns wenn auch unter Bedrängnissen schon gegeben ist: "Ich, euer Bruder Johannes, der wie ihr bedrängt ist, der mit euch an der Königsherrschaft teilhat und mit euch in Jesus standhaft ausharrt" (Offb 1,9). (Fs)

153a Das alles ist nicht nur "Zeichen" oder Prophetie, sondern auch Besitz und Wirklichkeit. (Fs)

b) Die vorgenannte Sicht berücksichtigt nicht die Auffassung, die bei Paulus und Johannes erscheint (und die wir noch prüfen werden). Die Kirche - auch die auf Erden pilgernde christliche Gemeinschaft - ist schon der "Leib" Christi (vgl. Eph 5,23). Für Paulus ist die Kirche nicht die "Magd", sondern die "Braut" des Herrn (vgl. Gal 4,22-31). (Fs)

Bei näherer Betrachtung entspricht dieses Kirchenverständnis von reinem "Zeichen", Verkündigung und Prophethie mehr dem "Israel des Fleisches" als dem "Israel Gottes", um mit den Worten von Paulus zu sprechen. (Fs)

153b Dennoch ist festzuhalten, daß diese Hypothese eine reiche Vielfalt zum Aussdruck bringt. Der Gedanke, die Kirche als "Zeichen", Verkündigung und Prophethie des Reiches zu verstehen, ist zwar ungenügend und unvollkommen, aber nicht völlig falsch. Wenn "Zeichen", dann muß es sichtbar und deutlich, nicht im Untergrund und verborgen sein. Wenn Verkündigung, dann muß sie sich deutlich von den abgeschmackten Ideologien unterscheiden. Wenn Prophethie, dann muß sie immer auf die eschatologi-sche Vollendung der Heilsgeschichte ausgerichtet sein. (Fs)

Das "Sakrament" des Reiches Gottes

153c Die Kirche, die wir erkennen wollen, ist die, die in der Geschichte zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi lebt: Sie ist nicht die "Synagoge", und sie ist nicht das offen in Besitz genommene "ewige Leben". (Fs)

Sie ist die Zeitspanne der Sakramente, das heißt der wirksamen Zeichen, die nicht nur erklären oder verheißen, sondern ankündigen und bewirken. Sie ist die Zeit, in der die messianischen Güter uns noch nicht voll und unverhüllt, aber in unvollendeter Weise unter greifbaren Symbolen gegeben sind. (Fs)

153d Der Begriff Sakrament ist also die angemessene Form, um die Wirklichkeit der Kirche zu erfassen, ohne Einseitigkeit und ohne Zensur. Und diese Form wird von den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils verwandt (vgl. SC 26; LG 1.9.48; AG 1), wo es heißt: "Ecclesia, seu Regnum Christi iam praesens in mysterio." "Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi" (LG 6). (Fs) (notabene)

154a Die Kirche ist also das "Sakrament des Reiches Gottes". Das heißt:
a) Die Kirche ist wahrhaft "Zeichen", Wegweiserin, Prophetin des Reiches, vorausgesetzt, alle diese Züge werden nicht im ausschließlichen Sinn verstanden (was einem verkürzten Verständnis gleichkäme). Die Kirche ist gegründet "für" das Reich, so wie die Taufe und die Eucharistie "für" die Eingliederung in Christus gestiftet sind. (Fs)

b) Aber wie schon die Taufe Einverleibung in Christus und die Eucharistie eschatologisches Hochzeitsmahl ist, das gegenwärtig gesetzt und dessen wir in diesem Leben bereits teilhaftig sind, so ist die Kirche schon Vorwegnahme des Reiches. (Fs)

Wer wahrhaftig und voll in der Kirche ist, ist schon wahrhaft und voll im Reich, aber unter zweifachem Vorbehalt: daß diese Zugehörigkeit noch verhüllt ist und daß man sie auch verlieren kann. (Fs)

c) Die sakramentale Wirklichkeit hat die Eigenschaft, daß sie das (begrenzte, fehlbare, immer perfektible) Handeln des Menschen und das (unfehlbar wirksame und heilbringende) Handeln Gottes zusammenführt und miteinander verbindet. (Fs) (notabene)

Das geschieht in jedem Sakrament, und das geschieht auch in der Kirche. Das "Zeichen" in der Kirche (das heißt der menschliche Aspekt ihrer Wirklichkeit) mag schön oder weniger schön, mehr oder weniger würdevoll, mehr oder weniger angemessen sein, ihrem inneren Wesen mehr oder weniger entsprechen. Aber das, was durch das "Zeichen" Wirklichkeit und Gegenwart wird (das "Reich"), ist immer wahr und wirksam, auch unter den Fehlern und Mängeln der Menschen. (Fs)

154b Wenn man die Kirche als "Sakrament des Gottesreiches" versteht, ist es möglich und geboten, von Reform, Erneuerung und Wachstum der Kirche zu sprechen. Aber ihr Leere, Nutzlosigkeit, Verrat oder Sünde zuzuschreiben, ist unmöglich und unannehmbar. Auch unter mittelmäßigen oder farblosen Zeichen ist in der Kirche für uns das Reich Gottes substantiell in unfehlbarer Weise wahrhaft vorweggenommen, trotz der Untreue, der Verzerrung, der Stumpfheit und geistlichen Dürftigkeit derer, die an dem großen kirchlichen "Abenteuer" beteiligt sind. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Ekklesiologie, Paulus: die ersten großen Briefe; Kirche: das neue Israel, das heilige Volk, die Gemeinschaft in Erwartung (Thessalonicher)

Kurzinhalt: Weil sie "Heilige" sind, dürfen sie in ihrer Mitte niemand dulden, der bewußt und öffentlich in Sünde leben will...

Textausschnitt: I. Die Briefe des Apostels Paulus

155b Auch in den paulinischen Briefen finden wir die vorgenannte semantische Entwicklung des Terminus "Kirche", die wir in der Apostelgeschichte zu sehen meinten. (Fs)

Die Bezeichnung "Kirche Gottes" wurde erstmals von der Jerusalemer Gemeinde verwandt, um die Würde eines messianischen Volkes beanspruchen zu können. Zu demselben Zweck und in demselben Sinn werden Worte wie "Heilige" und "Auserwählte" benützt. Unter den Gläubigen griechischer Sprache wurde es üblich, von der Ortsgemeinde der Christen zu sprechen. Die ursprüngliche Wurzel hat neue Formen hervorgebracht: Durch die sich vertiefende paulinische Betrachtung über die von Christus wiederhergestellte Erneuerung wird die universale Dimension von "ecclesia" wiedererlangt und sogar in einer überirdischen und ewigen Sicht überschritten. (Fs)

155c Die Ekklesiologie des Paulus — die uns keine systematischen Abhandlungen bietet, sondern in gelegentlichen Niederschriften ausgedrückt ist - ist eine Erkenntnis, die sich fortschreitend entwickelt. Daher ist es zweckmäßig, die einzelnen Schriften ihrer Entstehung nach chronologisch zu ordnen. Wir untersuchen drei Gruppen:

- die ersten großen Briefe (1. und 2. Brief an die Thessalonicher; 1. und 2. Brief an die Korinther; Brief an die Galater und Brief an die Römer);
- die Gefangenschaftsbriefe (Brief an die Kolosser, die Epheser und die Philipper);
- die Pastoralbriefe (1. und 2. Brief an Timotheus; Brief an Titus). (Fs)

155d Wir beschränken uns darauf, die Leitideen der einzelnen Briefgruppen zu beleuchten, vorbehaltlich dessen, daß keiner dieser Gedanken ausschließlich, sondern nur vorwiegend zu einer bestimmten Gruppe gehört. (Fs)

A) Die ersten großen Briefe

156a Diesen Texten können wir drei Hauptthemen entnehmen: Die Kirche als das neue Israel, die Kirche als das heilige Volk, die Kirche als Gemeinschaft in Erwartung. (Fs)

1. Das neue Israel

Auch die ekklesiologische Reflexion des Paulus geht von der Identifizierung der Christen als "Volk Gottes" des neuen Zeitalters aus. Seine umstrittene Mission unter den Heiden und die Polemik mit den Judenchristen haben ihn dazu veranlaßt, die Beziehung zwischen der Gemeinschaft der Jünger Jesu und dem Volk Israel zu klären, das die alte Offenbarung als Empfänger aller Verheißungen dargestellt hatte. Er kommt zu dem Schluß, daß die Versammlung der Gläubigen mit Israel identisch ist. Es ist nach seinen Worten das "Israel Gottes". Schwerpunkte dieser Reflexion sind:

a) Das Volk der Gläubigen ist "von der Knechtschaft des Gesetzes befreit": Das ist das Hauptthema des Briefes an die Galater. Der Unterschied zwischen Kirche und Synagoge wird durch die typischen Gestalten der zwei Frauen Abrahams dargestellt: die Freie und die Sklavin. Hagar "entspricht das gegenwärtige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt. Das himmlische Jerusalem aber ist frei, und dieses Jerusalem ist unsere Mutter" (Gal 4,25.26). (Fs)

b) "Hat Gott sein Volk verstoßen?" (Röm 11,1): Es hat tatsächlich den Anschein, als habe er seinen ursprünglichen Plan geändert und die an die Juden gerichteten Verheißungen bei anderen wahr gemacht. (Fs)

156b Diese Sicht wird entschieden abgelehnt: Gott hat seine Verheißungen ausgedehnt und nicht zurückgezogen. Israel (auch das "Israel dem Fleische nach", d. h. die jüdische Gemeinschaft) wird nicht vom göttlichen Plan ausgeschlossen. Denn seine Verblendung ist vorübergehend; am Ende wird es seinen Platz finden, und Gott wird sich als treu erweisen (Röm 9-11). (Fs)

c) Denn die Kirche, das Israel Gottes, steht eigentlich nicht im Gegensatz zum Israel "dem Fleische nach", sondern schließt es ein. Das Volk Gottes, Erbe der alten Verheißungen, ist eine neue Wirklichkeit, in der für alle Platz ist und wo es keine Diskriminierung oder Behinderung gibt: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid 'einer' in Christus Jesus" (Gal 3,28). (Fs)

457a Alle (auch die Unbeschnitten, aber auch die Juden), die zu Gottes Israel gehören, sind Erben der Verheißung (vgl. Gal 3,16-19), alle sind Kinder Abrahams, der der Vater aller Glaubenden ist (vgl. Röm 4,11-17). (Fs)

2. Die Gemeinschaft der Heiligen

157b Wie das alte Israel und mehr als dieses verwirklicht die Kirche den Begriff der "heiligen Nation", das heißt, daß sie ein geheiligtes Volk ist, das Gott von der Welt abgesondert und für sich vorbehalten hat. Sie ist "Tempel Gottes" (vgl. l Kor 3,16), in dem der Heilige Geist wohnt (ebd.). (Fs)

Sie ist das durch die Taufe wiedergeborene Volk: "Ihr seid reingewaschen, seid geheiligt, seid gerecht geworden im Namen Jesu Christi, des Herrn, und im Geist unseres Gottes" (1 Kor 6,11). Deshalb sind die Christen die Geheiligten oder einfach die "Heiligen" (z. B. 1 Kor 1,2). (Fs)

Weil sie "Heilige" sind, dürfen sie in ihrer Mitte niemand dulden, der bewußt und öffentlich in Sünde leben will, wie es bei dem Mann in Korinth der Fall war, der Blutschande trieb (vgl. 1 Kor 5,1-13). Und weil sie ein "ausgesondertes" Volk sind, dürfen sie sich bei einem Rechtsstreit nicht an die heidnischen Gerichtshöfe wenden (vgl. 1 Kor 6,1-11). Sie dürfen aber die Beziehung zu den Nicht-christen und Sündern nicht abbrechen, sonst müßten sie ja "aus der Welt auswandern", wie Paulus mit Humor bemerkt (1 Kor 5,10). (Fs)

3. Die Gemeinschaft in Erwartung des Christus

157c Die Kirche ist wesentlich auf die Ereignisse ausgerichtet, die der Menschheitsgeschichte ein Ende setzen werden. Sie ist also ein Volk in Erwartung, so daß die Menschen, die ihr nicht angehören, als "die anderen, die keine Hoffnung haben" gelten (1 Thess 4,13). Das wird in den Briefen an die Thessalonicher deutlich, deren Hauptthema die Erwartung Christi ist. Aber dieses Thema findet sich auch in den großen Briefen. (Fs)

157d Christ werden heißt, sich von den Götzen abwenden, "um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten" (1 Thess 1,9.10). Die kirchliche Gemeinschaft ist die Braut Christi auf dem Weg zur eschatologischen Hochzeit: "Denn ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes; ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen" (2 Kor 11,2). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Ekklesiologie, Paulus: Gefangenschaftsbriefe; Heilsgeheimnis (oiconomia), der Leib Christi (Formeln der Einwohnung; kosmische Dimension); Menenius Agrippa

Kurzinhalt: In den Gefangenschaftsbriefen hingegen verbindet sich das Bild mit dem Begriff des Primats Christi, der "Haupt des Leibes" ist, und wird die höchste Begriffsform, mit der Paulus sich das feste und lebendige Band vorzustellen sucht ...

Textausschnitt: B) Die Gefangenschaftsbriefe

158a Die Gefangenschaftsbriefe unterscheiden sich nicht wesentlich von den vorher genannten Briefen. Sie sind aber Frucht einer weitergehenden, vertieften Reflexion. (Fs)

1. Das Heilsgeheimnis

Die Kirche als Heilsgeheimnis entfaltet und vertieft das Geheimnis des "Volkes Gottes". (Fs)

158b Die Verwandlung des Israel "dem Fleische nach" in das Israel Gottes ist nicht nur eine der Etappen der Heilsgeschichte, sondern auch die Offenbarung und Verwirklichkung des Planes Gottes, d. h. des Geheimnisses Christi, das "den Menschen früherer Generationen nicht bekannt war; jetzt aber ist es seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist offenbart worden" (Eph 3,5). Es ist "jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war. Jetzt wurde es seinen Heiligen offenbart" (Kol 1,26). Aber was bedeutet dieser verborgene Plan ("oiconomia")? Die Teilhabe aller Menschen am "Erbe", das heißt an der Sohnschaft Christi: "daß nämlich die Heiden Miterben sind, zu demselben Leib gehören und an derselben Verheißung in Christus Jesus teilhaben durch das Evangelium" (Eph 3,6). (Fs) (notabene)

In einem dichten und anschaulichen Text geht Paulus so weit zu sagen, daß die himmlischen Wesen gerade durch die Entstehung der Kirche erkennen konnten, wie phantasievoll und weise der Schöpfer ist: "So sollen jetzt die Fürsten und Gewalten des himmlischen Bereichs durch die Kirche Kenntnis erhalten von der vielfältigen Weisheit Gottes" (Eph 3,10). (Fs)

2. Der Leib Christi

158c Während er den Begriff der Kirche als heiliges Volk entwickelt und vertieft, gelangt Paulus zum tiefen und bedeutsamen Bild der Kirche als "Leib Christi". (Fs)

159a Christ sein bedeutet, persönlich und innerlich mit Christus verbunden zu sein. Und gerade diese geheimnisvolle Verbindung ist das, was die Gläubigen zu einem lebendigen Organismus vereint und zusammenfügt. (Fs)

Schon in den ersten Briefen steht das Thema unserer Verbundenheit mit dem Herrn Jesus im Mittelpunkt und wird vielfach behandelt. (Fs)

a) Die Formeln der Einwohnung:

- Christus in uns (2 Kor 4,5-14; 13,2-5; Gal 2,19 f.; Röm 8,9-11; Eph 8,16 ff.; Kol 1,27; 3,9 ff.; Phil 1,21);
- wir in Christus: die Redewendung "in Christus ("en Christo")" kommt in den paulinischen Schriften 165mal vor;
- mit Christus (Röm 6,8; 2 Kor 4,14; Kol 3,3-4);
b) Letzere Form erscheint abgewandelt mit dem Präfix "syn" (mit), das er oft anwendet, um die einzelnen Aspekte dieser tiefen Verbundenheit mit dem Auferstandenen hervorzuheben:
- mit Jesus leiden, mit Jesus gekreuzigt werden, mit Jesus sterben, mit Jesus begraben werden;
- mit Christus leben, mit Jesus auferweckt werden, mit Christus verborgen in Gott leben, mit Christus offenbar werden in Herrlichkeit;
- Christus gleichgestaltet werden, in Christus verwurzelt sein, Miterbe Christi sein, in den Leib Christi eingegliedert sein. (Fs)

c) So entsteht in den großen Briefen und in den Gefangenschaftsbriefen die Idee des "Leibes Christi" als Bild, das bei der Vertiefung in das Geheimnis der Kirche benützt wird. (Fs)

Als mögliche Quellen dieser charakteristischen Lehre des Paulus sind zu nennen:
- die berühmte Erzählung des Menenius Agrippa, verfeinert durch die Reflexion der stoischen Philosophie über die universale Solidarität der Menschen;
- der eucharistische Ritus, in dem der "Leib Christi" das gemeinsame Lebens- und Einheitsprinzip der Teilhabenden ist;
- die Überzeugung einer grundlegenden Verbundenheit der Christen mit Christus, die auf einige "Logien" Jesu und auf das entscheidende Damaskuserlebnis zurückzuführen ist, von dem in der Apostelgeschichte (9,1-9; 22,5-16; 26,9-19) berichtet wird: "Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?"

459b In den großen Briefen dient das Bild des "Leibes" hauptsächlich dazu, die Verbundenheit der Christen mit der Gemeinschaft und untereinander auszudrücken (wir sind also der Lehrfabel von Menenius Agrippa noch sehr nahe). In den Gefangenschaftsbriefen hingegen verbindet sich das Bild mit dem Begriff des Primats Christi, der "Haupt des Leibes" ist, und wird die höchste Begriffsform, mit der Paulus sich das feste und lebendige Band vorzustellen sucht, das zwischen der erneuerten Menschheit und dem gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes besteht. (Fs)

160a In dem Hymnus aus dem Kolosserbrief (1,15-20), den wir schon untersucht haben, erscheint der Satz: "Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche" (1,18) als Eckstein der ganzen Komposition. In diesem Kontext nimmt die "ecclesia" - das ist die Gemeinschaft der Gläubigen, geschichtlich betrachtet - auch ein großartiges kosmisches Ausmaß an, in das sogar die himmlischen Gewalten einbezogen werden. (Fs)

Im Ausblick auf die Erhöhung Christi zum König des Universums nimmt die Kirche immer deutlicher Gestalt an: "Sie ist sein Leib und wird von ihm erfüllt, der das All ganz und gar beherrscht" (Eph 1,23). (Fs)

3. Eine Wirklichkeit, die über die Geschichte hinausgeht

160b Der Begriff des "Leibes", der durch seine kosmische Ausdehnung auch die himmlischen Wesen umfaßt, fuhrt Paulus zum Begriff der Kirche als Wirklichkeit, die den irdischen und zeitlichen Zustand überschreitet. Obwohl für Paulus die Kirche immer die konkrete Gemeinschaft der Gläubigen bleibt - mit all ihren Schwächen und Schwierigkeiten -, ist sie auch die neue Wirklichkeit, die Christus zum Haupt hat: Sie ist eine Wirklichkeit des "kommenden Zeitalters". Aber dieses "kommende Zeitalter" hat bereits begonnen. Die Gemeinschaft der Gläubigen strebt "auf den vollkommenen Menschen hin", d. h. auf jene eschatologische Fülle, in der alle Dinge in Christus ihren Platz finden. Aber sie hat auch schon daran teil, so daß Paulus sogar von unserer Auferweckung und von dem für uns bestimmten Platz im Himmel spricht, als hätten diese Ereignisse bereits stattgefunden: Gott hat uns "mit Christus wieder lebendig gemacht ... Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben" (Eph 2,5.6). Kraft dieser schon bestehenden eschatologischen Wirklichkeit, an der wir teilhaben, kann Paulus sagen: "Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter" (Phil 3,20). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Ekklesiologie, Paulus: Pastoralbriefe; K. als "Haus" Gottes; Hierarchie, Tradition, Sukzession; Schlußbemerkungen

Kurzinhalt: Der Grundbegriff für die Kirche in diesen Briefen ist das "Haus"; das "Hauswesen Gottes ... Wahrscheinlich würde Paulus manchen Aspekt der zeitgenössischen ekklesiologischen Mentalität anprangern ...

Textausschnitt: C) Die Pastoralbriefe

161a Die sogenannten Pastoralbriefe unterscheiden sich deutlich von den anderen Briefen, sie sind in einem anderen Ton geschrieben, und es ändert sich auch die ekklesiologische Perspektive. Die Kirche der Pastoralbriefe ist ebenfalls das "Volk Gottes" (Tit 2,14). Sie weiß sich auch eingebettet in die kurze Zeitspanne zwischen der ersten und zweiten Epiphanie des Herrn und ist deshalb ganz auf die endgültige Begegnung hin ausgerichtet (1 Tim 6,14; Tit 2,13). Aber das Bild der Kirche erscheint jetzt gereifter, man sorgt sich schon mehr um gute Leitung. Die kirchlichen Gemeinschaften, um die es hier geht, scheinen weniger charismatisch und besser organisiert zu sein. Sie sind dabei, die turbulente Anfangsphase zu überwinden oder haben sie schon überwunden, haben aber noch nicht die tragische Erfahrung der großen Verfolgungen gemacht. (Fs)

a) Der Grundbegriff für die Kirche in diesen Briefen ist das "Haus"; das "Hauswesen Gottes, das heißt die Kirche des lebendigen Gottes, die die Säule und das Fundament der Wahrheit ist" (vgl. 1 Tim 3,15). (Fs)

b) Die Leitung des Hauswesens Gottes ist besonders den Mitgliedern der Hierarchie aufgetragen, die auf dem "festen Fundament, das Gott gelegt hat", weiter bauen (vgl. 2 Tim 2,19), sein Haus vor Gefahren schützen und dessen Leben entfalten sollen. (Fs)

In den Pastoralbriefen zeigt sich die Hierarchie wie folgt geordnet:
- Die oberste Autorität über die von ihm gegründeten Kirchen liegt noch in den Händen des Apostels, der weiterhin in das Gemeinschaftsleben eingreift. (Fs)

- Dem Apostel sind Männer seines Vertrauens untergeordnet, wie Timotheus und Tttus, die über ganze Bezirke bestimmen. (Fs)

- Die Leitung der einzelnen Gemeinden haben die Bischöfe oder Ältesten, die von den Führern wie Timotheus und Titus gewählt und durch einen Ritus geweiht werden (vgl. 1 Tim 1,18; 4,14; 2 Tim 1,6). (Fs)

c) Hauptaufgabe des Apostels und seiner Mitarbeiter bleibt die Evangelisierung (vgl. 2 Tim 1,10 ff.), die aber zu diesem Zeitpunkt auch Bewahrung der empfangenen Lehre und Ermahnung der Gläubigen bedeutet (vgl. Tit 1,9; 2 Tim 4,3; J Tim 4,11; 6,2). (Fs)

161b So entsteht allmählich in der Kirche das Prinzip der "Tradition" und der "Sukzession", das in der nachfolgenden Epoche in der Errichtung des monarchischen Episkopats seinen deutlichsten Niederschlag findet (vgl. die Briefe des Ignatios von Antiochien). (Fs)

Schlußbemerkungen

162a
1. Drei verschiedene Inspirationsquellen liegen der ekklesiologischen Reflexion des Apostels Paulus zugrunde:

- die alte Offenbarung und das Konzept Israels als Volk Gottes;
- die apostolische Erfahrung und das konkrete Leben der christlichen Gemeinden, die ihm die Kirche als Wirkungsbereich des Heiligen Geistes vor Augen führen;
- die Erwartung der "Parusie" und des Triumphes Christi, die ihn die Kirche als kosmische und transzendente Wirklichkeit erkennen lassen. (Fs)

Betrachtung der Heiligen Schrift, existentielle Eingliederung in die Gemeinschaft der Gläubigen, Sinngebung und Zielsetzung unseres Lebens sind die Wege, die Paulus auch uns anbietet, damit wir tiefer in das Geheimnis der Kirche eindringen. (Fs)

2. Paulus ist kein unruhiger Visionär oder inkonsequenter Charismatiker. Er ist ein Menschenkenner, ein Führer und Manager. Deshalb hat er die Kirche immer als konkrete Gemeinschaft von schwachen und fehlerhaften Personen vor Augen, und in seine Rede wird immer auch der institutionelle und betriebsmäßige Aspekt miteinbezogen. (Fs)

Aber er weiß, daß man den Wesenskern der Kirche nur erfaßt, wenn man über diesen Aspekt hinausgeht und in den ewigen Plan Gottes eindringt. Seine Rede, die den Menschen gegenüber auch hart und streng sein kann, steht aber nie im Widerspruch zur Kirche und ist ihr gegenüber nie voll Bitterkeit. Im Gegenteil, er spricht von ihr mit der Begeisterung dessen, der weiß, ein Meisterwerk Gottes vor sich zu haben. (Fs)

3. Wahrscheinlich würde Paulus manchen Aspekt der zeitgenössischen ekklesiologischen Mentalität anprangern:

162b
- Der Begriff der Kirche als Volk Gottes ist grundlegend richtig. Aber gerade deshalb darf man die Kirche nicht als ein gleichgeschaltetes, der allgemeinen Mentalität angepaßtes Volk verstehen, das sich nicht unterscheidet. Das Volk Gottes ist als ein "geheiligtes" und ausgesondertes Volk zu sehen. (Fs) (notabene)

163a
- Der Begriff der Kirche als Volk Gottes ist ein theologischer Denkansatz, von dem man ausgehen muß: Von ihm wurde das Kirchenverständnis der christlichen Urgemeinde hergeleitet. Aber dieser Begriff ist nicht erschöpfend für das Kirchenverständnis. Paulus erreicht den Höhepunkt in seiner Reflexion, wenn er die Kirche als "Leib Christi" begreift. (Fs)
- Um das Verständnis des kirchlichen Geheimnisses wirklich zu vertiefen, ist nicht so sehr das Nachdenken über die Beziehungen zwischen den Christen und der Welt, sondern das Nachdenken über die Beziehungen zwischen den Christen und Christus notwendig. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche als "Mutter", Maria (Vatikanum II); K. als Eva (Offenbarung); Teilhabe der K. an der Heilstat Christi, Mitprinzip der Erlösung

Kurzinhalt: Das II. Vatikanische Konzil hat einen ersten Versuch gemacht, den Terminus "Mutter" mit Inhalt zu füllen, denn es spricht von Maria als "Typus" der Kirche und sagt, daß die Kirche, ähnlich wie die Jungfrau, "auch selbst Mutter wird: ...

Textausschnitt: II. Reflexion über die Kirche als "Mutter"

Vorbemerkung

163b Paulus stellt im Brief an die Galater das geschichtliche Jerusalem mit seinem Gesetzesgehorsam und seinem ethnischen Partikularismus dem "Jerusalem von oben", das heißt dem freien, universalen, messianischen Jerusalem gegenüber, von dem der Prophet Jesaja gesprochen hatte: "Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn ... überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker" (Jes 2,2). In diesem "Jerusalem von oben" sieht er im Gegensatz zum Israel "dem Fleische nach", das Israel Gottes, d. h. die Kirche; und von ihr sagt er: "Dieses Jerusalem ist unsere Mutter" (Gal 4,26). (Fs)

Dieser Satz ist das fruchtbare Samenkorn eines Gedankens, der sich im christlichen Bewußtsein allmählich durchgesetzt hat, d. h. die Idee der "Mutterschaft" der Kirche. (Fs)

163c Das Thema wird im 12. Kapitel der Offenbarung eingehend behandelt, wo die Kirche als neue Eva beschrieben wird, in kosmischer Herrlichkeit strahlend, aber gleichzeitig von der alten Schlange bedroht und Geburtswehen erleidend wie die alte "Mutter der Lebendigen". (Fs)

164a Dieser Begriff wird von den frühen Schriftstellern stets im Lichte der Analogie zwischen der ersten Frau aus dem Buch der Offenbarung und der Kirche entfaltet. (Fs)

Diese Identifizierung führt im Denken der Kirchenväter zu zwei wertvollen theologischen Überzeugungen:

- Es wird bekräftigt, daß die Kirche in Christus ihren Ursprung hat und in ihm den umfassenden Grund ihres Heils, ihrer Heiligung und ihres Daseins findet;
- Es wird bekräftigt, daß die Kirche teilhat an der Heilstat und Heiligung durch Christus, was gerade in der Idee der "Mutterschaft" zum Ausdruck kommt. (Fs)

164b Die Väter sind der Meinung, daß das Zusammentreffen dieser beiden Daten, die im Bild der neuen Eva enthalten sind, die ganze Schönheit und Ursprünglichkeit des Planes des Vaters geoffenbart und das Wesen des kirchlichen Geheimnisses ausdrückt. Diesen Zeugnissen gegenüber ist es bedeutsam, daß heute in vielen Veröffentlichungen über die Kirche deren Mutterschaft völlig außeracht gelassen wird. Man könnte im analogen Sinne von einer echten und eigentlichen Allergie gegen diese sprechen. Die Abneigung, sich als Sohn oder Tochter zu fühlen, und das Schreckgespenst des "Paternalismus", welche die zeitgenössische Kultur kennzeichnen, beeinflussen auch das theologische Denken unserer Tage. (Fs)

Meiner Meinung nach gehört dieses Thema aber nicht nur zum unveräußerlichen Erbe der Offenbarung, sondern bietet auch den besten Ansatz zum Verständnis des Geheimnisses der Kirche. (Fs)

Theologische Reflexion

164c Wenn man die Kirche "Mutter" oder "neue Eva" nennt, dann zieht man einen Vergleich und weckt Bilder. Aber was ist der eigentliche Begriffsinhalt? Was bedeutet die Aussage, daß die Kirche Mutter ist?

164d Unsere Untersuchung wird um so ergiebiger sein, wenn sie berücksichtigt, daß die Kirche, von der die Rede ist, das "neue Israel" ist, an dem jeder Christ teilhat. Deshalb ist diese Mutterschaft, über die wir hier nachdenken, ein Merkmal aller Gläubigen. (Fs)

165a Wir wollen stufenweise vorgehen:

a) Das II. Vatikanische Konzil hat einen ersten Versuch gemacht, den Terminus "Mutter" mit Inhalt zu füllen, denn es spricht von Maria als "Typus" der Kirche und sagt, daß die Kirche, ähnlich wie die Jungfrau, "auch selbst Mutter wird: Durch Predigt und Taufe nämlich gebiert sie die vom Heiligen Geist empfangenen und aus Gott geborenen Kinder zum neuen unsterblichen Leben" (LG 64). Das heißt: Die Menschen werden Söhne und Töchter Gottes kraft des göttlichen Wortes, das im Glauben und im Taufritus angenommen wird. Weil es die Kirche ist, die das Wort verkündet und die Taufe spendet, entsteht eine Herkunftsbeziehung des Menschen, der von der gebärenden Kirche wiedergeboren wird. (Fs)

Daraus folgt, daß die Kirche nicht nur "Dienerin" und Hüterin des Wortes Gottes, sondern von ihm durchdrungen ist, so daß das Wort wirklich ihr eigenes wird. Diese Lehre setzt auch voraus, daß in den Sakramenten wirklich die Kirche handelt, was keine bloß äußerliche Beziehung ist. (Fs)

b) Zweitens: Die Kirche Mutter nennen bedeutet, davon überzeugt zu sein, daß niemand mit dem Erlöser in Verbindung treten kann ohne die Vermittlung einer zwischen den Menschen und in Christus bestehenden wirklichen Gemeinschaft, die jedem einzelnen Menschen schon vorausgegangen ist. (Fs)

165b Das heißt, daß die Heilsbotschaft, die Heilige Schrift, das Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe auf den einzelnen Menschen nur übergehen, weil sie schon zuvor von der Kirche in Besitz genommen wurden. Selbst Christus ist für mich insofern lebendig und wirksam - und nicht nur eine bedeutende vergangene Persönlichkeit der Geschichte -, als er in dieser kirchlichen Gemeinschaft, die mir vorausgegangen ist und für die ich mich öffne, gegenwärtig und wirksam ist. Der Mensch findet den Maßstab des eigenen Glaubens und des eigenen Christseins nicht in seinem Inneren, sondern im Glauben und im Leben der Kirche. Das gilt für alle, angefangen vom Papst bis zum unsichersten Gläubigen. Keiner ist der Hersteller des Christentums, sondern jeder ist "Erbe", "Sohn" des christlichen Lebens, das die Kirche bereits besitzt. (Fs)

c) Die Mutterschaft der Kirche verdeutlicht noch eingehender und entschiedener einen besonders wichtigen Aspekt des Geheimnisses der Erlösung. (Fs)

166a Nach dem unvorhersehbaren und transzendenten Plan des Vaters erlöst Jesus den Menschen, indem er ihn tatsächlich der Macht des Bösen entreißt, erneuert und reinigt. Aber die Erneuerung ist so umfassend und einschneidend, daß jeder Mensch in Christus, mit Christus und durch Christus sogar Mitprinzip der Erlösung wird. Er ist so sehr erlöst, daß er je nach dem Maß, in dem er erlöst ist, Miterlöser wird. (Fs)

Jeder erneuerte Mensch ist an dem Erneuerungswerk seiner Brüder und des Universums beteiligt. Das ist ein universales Prinzip, das das ganze christliche Leben miteinbezieht. Mein Glaube wird gestützt vom Glauben meiner Brüder und stützt diesen. Meine Hoffnung und meine Nächstenliebe werden von der Hoffnung und Nächstenliebe des ganzen Volkes Gottes genährt und nähren diese. Meine Reinigung bedient sich der Leiden und der Buße der anderen, so wie "ich für den Leib Christi, die Kirche, in meinem irdischen Leben das ergänze, was an den Leiden Christi noch fehlt" (vgl. Kol 1,24). (Fs)

166b Dasselbe gilt auch für die sakramentale Handlung, die ihren höchsten Ausdruck in der Eucharistie findet. In ihr wird die "erlöste" Kirche, die opfert und selbst Opfergabe ist, wahrhaftig in die Wirklichkeit des einen und vollkommenen Erlösungsopfers einbezogen. Natürlich unterscheidet sich diese geheimnisvolle Vereinigung mit dem Erlösungsopfer Christi je nach ihrem Wesen und Grad, nach der Stellung, die jemand in der Kirche hat; nach dem Dienst, den er ausübt, den Charismen, mit denen er begabt ist, den menschlichen Bindungen, die ihn nach dem Plan der Vorsehung mit seinen Mitmenschen vereinen, der Intensität seiner Nächstenliebe. Aber in dieser geheimnisvollen Vereinigung verwirklicht und breitet sich die Mutterschaft der Kirche ständig aus. Mit dieser Überzeugung kann Paulus - der genau weiß, daß nur einer unser Vater im Himmel ist, und wir alle Brüder sind (vgl. Mt 23,9) - zu den Christen von Korinth sagen: "In Christus Jesus bin ich durch das Evangelium euer Vater geworden" (1 Kor 4,15). (Fs)

166c Wenn das bislang Gesagte Gültigkeit hat, dann ist klar, was das Ideal jedes Gläubigen sein soll: Immer mehr "Sohn und Tochter" der Kirche zu werden und den Brüdern und Schwestern gegenüber die Mutterschaft der Kirche im eigenen Leben deutlich zu machen. Wir könnten auch sagen: Es ist unser Programm, mit einem Wort, immer mehr "Kirche" zu werden - in dem Sinn, daß wir uns immer mehr vom heilbringenden und heiligenden Wirken des Geistes erfassen und durchdringen lassen und daß wir immer persönlicher und entschiedener an der Erneuerung und Heiligung des Universums teilhaben. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Ekklesiologie: Johannes (Evangelium, Briefe, Offenbarung); coinonía, "Welt" (seitens der Welt Verfolgung), Opfer Christi (Heilige Geist, Taufe, Eucharistie) , Einwohnung Christi (Weinstock), Sendung (Heilskreis); Babylon, Rom - Frau, Kirche

Kurzinhalt: [ecclesía] ... dieser Terminus fehlt im vierten Evangelium völlig. Dasselbe stellten wir bei den Lukasschriften fest. Es zeigt an, daß den frühen Christengemeinden noch bewußt war, daß dieses Wort nicht von Jesus verwandt worden war. Im dritten Brief ...

Textausschnitt: III. EKKLESIOLOGISCHE SYNTHESE

167a Wir wollen jetzt die Lehre des Evangeliums und der Briefe des Johannes zusammenfassen und eine Synthese der vom Neuen Testament gelieferten Elemente erstellen. (Fs)

Bemerkenswert ist, daß der Terminus "ecclesía" Johannes wohlbekannt ist. Er verwendet ihn in seinem dritten Brief mehrmals. Aber dieser Terminus fehlt im vierten Evangelium völlig. Dasselbe stellten wir bei den Lukasschriften fest. Es zeigt an, daß den frühen Christengemeinden noch bewußt war, daß dieses Wort nicht von Jesus verwandt worden war. Im dritten Brief hat diese Vokabel wie in der Offenbarung des Johannes nur die Bedeutung von "örtlicher Gemeinde". (Fs)

A) Das Evangelium und die Johannesbriefe

Wir wollen nur die wichtigsten Daten des ekklestologischen Denkens dieser Schriften beleuchten. (Fs)

1. Die "coinonía"

167b Die Kirche ist eine "coinonía" (communio), die durch den gemeinsamen Glauben entsteht, die Verkündigung des Heilsereignisses voraussetzt und letztlich die göttlichen Personen miteinbezieht: "Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus" (1 Joh 1,3). Jesus im gemeinsamen Glauben anzunehmen macht aus dieser "Communio" von Menschen eine Familie von Söhnen und Töchtern: "allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden" (Joh 1,12). (Fs)

168a Die Gläubigen, das heißt diejenigen, die in diese Communio der Erkenntnis und Liebe mit Christus und mit Gott eingetreten sind, besitzen schon das ewige Leben, das für Johannes eine im kirchlichen Leben bereits vorhandene Wirklichkeit ist (vgl. Joh 3,36; 5,24; 17,3). (Fs)

2. Die Gemeinschaft

Über die jüdische, völkische Gemeinschaft hinaus sind die "Kinder Gottes" in der einen Wirklichkeit des Opfers Christi versammelt: Jesus "sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch, um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln" (Joh 11,52). Zu beachten, daß diese Einheit von Gläubigen nicht als eine rein formale oder juridische Tatsache gesehen wird. Sie hat ihr wahres Vorbild und ihren eigentlichen Ursprung in dem Band, das den Vater und den Sohn im Geheimnis des dreifaltigen Lebens eint: "Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein ..." (Joh 17,21). (Fs)

Andererseits wird die Einheit der Kirche nicht nur als eine geheimnisvolle oder innere Tatsache betrachtet, sondern als Zeichen der Glaubwürdigkeit vor der Welt gewertet: " ... auch sie (sollen) in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast.... ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich" (Joh 17, 21.23). (Fs)

3. Die "Welt"

168b Diese Gemeinschaft ist genau abgegrenzt und gekennzeichnet. Außen ist die "Welt". Der Terminus bezeichnet in diesen Schriften einmal die erlösungsbedürftige Menschheit und sodann die dem Heilsplan des Vaters ständig widerstehenden Mächte. Die Beziehung zur letztgenannten Wirklichkeit kann nur Widerstand, Kampf und seitens der Welt Verfolgung bedeuten: "... die ganze Welt steht unter der Macht des Bösen" (1 Joh 5,19). "Die Welt hat sie gehaßt, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin" (Joh 17,14). (Fs) (notabene)

168c "Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht" (1 Joh 2,15). In diesem Kontext werden die Verfechter der "Welt" beurteilt, die Johannes "Antichrist" nennt. Ihnen gegenüber ist die Haltung unerbittlich, selbst wenn es sich um Leute handelt, die unsere kirchliche Erfahrung geteilt haben: "Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns" (1 Joh 2,19; vgl. den ganzen Abschnitt 1 Joh 2,18-29). (Fs)

169a Wenn auch der Kampf, den die Gläubigen zu bestehen haben, schwer ist und die Welt oftmals zu siegen scheint, darf die Kirche nicht den Mut verlieren, denn der Herr Jesus hat schon gesiegt: "In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt" (M 16,33). (Fs)

4. Das Opfer Christi

169b Die Kirche erwächst aus dem Opfer Christi, des wahren Osterlamms. Auf diesem Gedanken baut Johannes seine Erzählung über das Leiden und Sterben auf und ändert bewußt die Chronologie der Synoptiker. (Fs)

Er verwendet die Begriffe "Verherrlichung" und "Erhöhung", um das Ereignis herauszustellen, das die beginnende Erneuerung von allem ist. Dieses Ereignis umfaßt bei ihm zugleich den Tod und die Auferstehung: "Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen" (Joh 12,32). "Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn" (Joh 17,1). (Fs)

169c Das Opfer Christi erbaut die Kirche, weil aus ihm der Heilige Geist, die Taufe, die Eucharistie hervorgehen, die das vierte Evangelium als Grundbausteine der neuen Wirklichkeit bezeichnet. Mit der ihm eigenen Vorliebe für Symbolik und leise Anspielungen gelingt es Johannes, diese Theologie auch in seiner Beschreibung des Todes auf Golgota auszudrücken: "Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf (Joh 19,30). "... einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus" (Joh 19,34). Daß die Anordnung dieser drei Elemente nicht zufällig, sondern wohl überlegt ist, wird von folgender Aussage des 1. Johannesbriefes bestätigt: "Drei sind es, die Zeugnis ablegen: der Geist, das Wasser und das Blut, und diese drei sind eins" (1 Joh 5,7-8). (Fs)

5. Die Einwohnung Christi

169d Johannes erkennt wie Paulus in den Gefangenschaftsbriefen ganz klar die tiefe Wirklichkeit der Kirche. Diese beruht auf dem Geheimnis der Einwohnung Christi von Nazaret in den Seinen und in dem geheimnisvollen Band, das Christus und die Christen zu einer unteilbaren Wirklichkeit macht. (Fs)

170a Während Paulus das Bild des "Leibes" verwendet, zieht Johannes das des "Weinstocks" vor: "Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer. ... Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen" (Joh 15,1-15). Das Bild setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der erste Teil erinnert an einen Vergleich, der schon von den Propheten für das Bundesvolk verwandt wurde (vgl. Jes 5,1-7; 27,2-6; Jer 2,21). Scheinbar ist das neue, wahre Israel der "Rest", den Gott sich seiner Verheißung nach vorbehalten wollte, um das Volk des neuen Bundes zu begründen, eine Anspielung auf Jesus. (Fs)

Der zweite Teil ist neu und bekundet die gegenseitige Einwohnung von Christus und den Gläubigen, die das Wesen der Kirche ausmacht. Das Leben der christlichen Gemeinschaft ist dasselbe wie das Leben des Erlösers. Es ist ausgeschlossen, sie voneinander zu trennen, will man nicht alles entleeren und verzerren. (Fs)

6. Die Sendung

170b Der letzte Begriff, der notwendig ist, um die Ekklesiologie des Johannes zu verstehen, ist die "Mission", die "Sendung": Die Kirche entsteht, lebt, ist zusammengefügt und entwickelt sich kraft der "Sendung". (Fs)

Das Wort "senden" ist eines der am häufigsten verwendeten Worte und bringt einen Grundgedanken des vierten Evangeliums zum Ausdruck. Im Griechischen sind es zwei Worte: "pempo" und "apostello"; aber es besteht zwischen ihnen kein wesentlicher Unterschied. (Fs)

170c Die erste Sendung, von der alles seinen Anfang nimmt, ist die des Jesus von Nazaret, des eingeborenen Sohnes Gottes. Von ihr ist die Rede in allen Schriften des Johannes. Ja, Christus bezeichnet Gott in diesen Texten mit der sterotypen Formel "o pempsas me pater" ("der Vater, der mich gesandt hat"). Diese Sendung verläuft in einem "Heilskreis" und endet wieder beim Vater:
"Vom Vater bin ich ausgegangen
und in die Welt gekommen;
ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater" (Joh 16,28). (Fs)

171a Die erste Sendung hat die zweite zur Folge, die des Geistes, den der Auferstandene aus der Mitte des göttlichen Lebens sendet: "Der Beistand, den ich euch vom Vater aus senden werde" (Joh 15,26). Mit der Sendung des Geistes wird die Sendung der Zwölf vervollständigt, die die Kirche als Heilsgemeinschaft leiten: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch" (Joh 20,21). Die Gemeinschaft der Gläubigen ist ein Netz dieser aufeinanderfolgenden Sendungen, die alle ihren Ursprung im Heilsplan des Vaters haben. Selbst der unaussprechliche Schwung der Liebe, mit dem der Vater sein ganzes Leben dem Sohn überträgt, geht auf die Schöpfung über und schenkt der Kirche immer von neuem das Dasein. (Fs)

Anhang: das Buch der Offenbarung

171b Eine kurze Bemerkung zur Ekklesiologie der "Offenbarung," eines Buches, dessen Hauptthema die Kirche ist, die gleichsam als Einsatz im Spiel der kosmischen Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Teufel dargestellt wird. Die menschliche, irdische Phase dieses Kampfes, der alles menschliche Verstehen übersteigt, ist die dramatische Auseinandersetzung zwischen der Kirche und der römischen Macht (möglicherweise vor dem Hintergrund der Verfolgung unter Nero oder Domitian). (Fs)

Röm ist die "große Hure" (17,1), das Tier mit sieben Köpfen: "Die sieben Köpfe bedeuten die sieben Berge" (17,9). Sie dürstet und ist betrunken vom Blut der Zeugen Jesu (17,6). Aber der wahre Grund dieses bestürzenden Verhaltens der politischen Verantwortlichen ist die Aufreizung durch Satan. (Fs)

Ihr Triumph darf nicht erschrecken und Ärger erregen, weil sie ja schon zum Untergang bestimmt ist: Christus, der Auferstandene, "der König der Könige und Herr der Herren" (19,16), wird sie zerstören. (Fs)

Der Macht Roms, der "Welt" gegenüber ist die Kirche eine schwache Frau, leidet Geburtswehen, ist gezwungen zu fliehen. Aber ihre Leiden sind die einer Gebärenden, weil sie eine neue und herrliche Wirklichkeit gebiert. Gott rettet sie und bestimmt sie zum Sieg (vgl. 12,1-6). (Fs)

171c Nach der Zerstörung des Tieres wird eine Zeit des Friedens und Wohlstandes kommen (die "tausend Jahre": vgl. 20,1-6), aber die Prüfungen sind noch nicht zu Ende, weil der Teufel dann wieder zum Angriff übergehen (vgl. 20,7-9) und freie Hand haben wird bis zur Stunde des Gerichts und der Auferstehung (vgl. 20,11-15). Die Offenbarung des Johannes scheint also den Christen sagen zu wollen, daß alle Prüfungen auch hier unten einmal enden werden und daß es Zeiten der Ruhe gibt. Aber sie warnt auch, sich Illusionen zu machen: Vor dem Kommen des Herrn ist keine irdische "Ordnung" endgültig. Deshalb muß die Kirche immer bereit sein zu leiden, sie darf aber nie die Hoffnung verlieren, daß Gott immer Herr des menschlichen Schicksals ist (Vision von Kap. 4) und daß Christus von ihm alle Vollmacht empfangen hat und Sieger bleibt, was immer auch geschieht (Vision von Kap. 5). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Zusammenfassung (NT); Kontinuität Israels ("Fülle der Zeit"), Universalität, Sendung, Wirken des Geistes, Communio und Gemeinschaft, Leiden und Kampf, eschatologische Erwartung; Kosmopolitismus; antikirchliche Haltung

Kurzinhalt: Das "wahre" Bild der Kirche ist nicht das, was sich die Menschen zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt von ihr machen, sondern das, was Gott von ihr hat, der sie gewollt hat, und was offenbar geworden ist.

Textausschnitt: B) Abschließende Synthese

172a Versuchen wir jetzt, kurz die Lehre zu erfassen, die uns die einzelnen Bausteine der neutestamentlischen Welt dargeboten haben. In einer Reflexion, die "für Gläubige" bestimmt ist, muß diese Zusammenfassung wahrheitsgetreu sein, wenn sie bindend sein soll. Das "wahre" Bild der Kirche ist nicht das, was sich die Menschen zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt von ihr machen, sondern das, was Gott von ihr hat, der sie gewollt hat, und was offenbar geworden ist. Natürlich ist diese notwendigerweise gedrängte Darstellung zu schematisch und lückenhaft. Aber wir wollen uns wenigstens einbilden, daß wir die in den Schriften der christlichen Urgemeinde anscheinend grundlegenden und unverzichtbaren "Themen" erfassen konnten. (Fs)

1. Die Kontinuität Israels

a) Die Kirche erscheint nicht als ein improvisiertes und nie dagewesenes Ereignis. Sie ist und will der letzte Abschnitt einer Geschichte sein, die viel früher mit der Berufung Abrahams, mit dem befreienden Unternehmen von Mose und mit der Gründung des jüdischen Volkes angefangen hat. Diese Geschichte wird nicht geleugnet, sondern setzt sich fort und wird in der Kirche Wirklichkeit. Die Gründung der Kirche ist die "Fülle der Zeit", wie Paulus sagt, d. h. der Höhepunkt des langen Heilsplans. (Fs)

b) Das geht schon aus den Logien des Herrn hervor, die chronologisch an erster Stelle in der neuen Wirklichkeit die "verlorenen Schafe des Hauses Israel" haben wollen und uns den Erlöser zeigen, wie er seine Tätigkeit und die beginnende Arbeit der Apostel absichtlich auf das jüdische Territorium begrenzt. Das wird selbst in der Verbreitung des Terminus "ecclesía" (übersetzt "qahal") deutlich, wie ihn uns die Apostelgeschichte dokumentiert. (Fs)

173a
c) Der Begriff ist für unser Kirchenbild entscheidend. Er lehrt uns, daß man unbedingt an eine ununterbrochene Kontinuität gebunden und in eine "Geschichte" eingetaucht sein muß, um den Sinn für die Kirche zu haben. Die Haltung dessen, der vielleicht unbewußt meint, am Anfang von allem zu stehen und sich gleichsam als einer der Gründerväter oder Mitbegründer betrachtet, ist das antikirchlichste, was man sich nur vorstellen kann. Auf diese Weise befinden wir uns in maximaler Entfernung von demjenigen, der eine Religion im Lichte der jetzigen Zeit und in Bezug auf den Menschen von heute entwickeln will; oder von der Haltung dessen, der zu einem abstrakten Kosmopolitismus neigt und eine Religion erträumt, die rein humanistisch und rational nach Art der Aufklärung ist; oder von der Haltung dessen, der in der Kirche eine "Übereinstimmung" mit den (philosophischen, sozialen oder politischen) "Idolen" sucht, die in unserer Zeit vorherrschen. Die einzige "Übereinstimmung", die die Kirche häufig überprüfen muß, ist die mit der von Gott geleiteten eigenen Heilsgeschichte. (Fs) (notabene)

2. Die Universalität

a) Die Kirche ist ihrer Herkunft nach israelitisch und ihrer Bestimmung nach universal. In ihr ist Raum für alle Menschen mit den positiven Werten ihrer Geschichte und Kultur. (Fs)

Diese wesenhafte "Katholizität" gründet in dem wirksamen Heilswerk des einen Erlösers der Welt, so daß jeder, der davon erreicht wird, von Grund auf so neu wird, daß alle vorausgehenden Merkmale (Geschlecht, Rasse, Sprache, sozialer Stand) unbedeutend werden. (Fs)

b) Lukas und Paulus dokumentieren mit unterschiedlicher Einfühlsamkeit, wie schwer es für die Urkirche war, diese Auffassung zu akzeptieren, und wieviel es sie gekostet hat. Bei Johannes scheint sie schon ein feststehender Begriff zu sein: Wenn es nur einen Hirten, Christus, gibt, ist es natürlich, daß man nur einen Schafstall bildet. (Fs)

173b
c) Wann immer in der Kirche Ansprüche oder Haltungen auftauchen, die deutlich rassistischer, klassenkämpferischer oder sonstwie diskriminierender Natur sind, wird ein Wesensmerkmal der Kirche Christi verleugnet und aufs Spiel gesetzt. (Fs)

3. Der Plan Gottes und die Sendung

174a
a) Die Kirche wird aus dem Heilsplan des Vaters geboren; eine Initiative, die in der konkreten Sendung zum Ausdruck kommt: der Sendung des Sohnes, der Sendung der Apostel, der Sendung der von den Aposteln Beauftragten. (Fs)

Jede kirchliche Kontinuität erwächst also aus einer Sendung und wird von einer Sendung gestützt. (Fs)

b) Die Logien Christi sind eindeutig in diesem Punkt, so daß sie den Eindruck erwecken, daß das "Reich" mit den Boten des Evangeliums (Aposteln und beauftragten Jüngern) identisch ist. Was wahrscheinlich auf die Tatsache zurückgeht, daß sich Jesus in der Gründungsphase der neuen Wirklichkeit der Kirche befindet. (Fs)

Aber auch bei Lukas, Paulus und Johannes ist dieser Gedanke immer lebendig: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch."
c) Deshalb ist die Kirche nicht nur eine Wirklichkeit, die "da ist" und die "handelt", sondern eine Wirklichkeit, die "geschaffen wird". Der Vater bildet sie, aber er beschränkt sich nicht darauf, die einzelnen Menschen direkt zu inspirieren, sondern er sendet den Sohn und legt in ihm den Leitfaden der Sendungen. (Fs)

4. Das Wirken des Geistes

a) Der Vater ruft die Kirche ins Leben, indem er in Einheit mit dem Auferstandenen den Heiligen Geist sendet. Der Geist wird als die "Gabe" schlechthin betrachtet, als das Unterpfand und die Vorwegnahme des vollen und endgültigen Erbe des Reiches. Ohne den Heiligen Geist wird die Kirche nicht erbaut und lebt sie nicht. Sie ist, wie Paulus sagt, "der Tempel des heiligen Geistes" und der Ort des immerwährenden Pfingsten. (Fs)
Der Geist eine aktive Gabe: Er leitet, inspiriert, lehrt die Kirche und führt sie "in die ganze Wahrheit" (Joh 16,13). Zwischen der Kirche und dem Geist gibt es keine Gegensätze, so daß sie mit gleicher Stimme dasselbe erbitten: "Der Geist und die Braut sagen: Komm!" (Offb 22,17). (Fs)
174b Und dieses Prinzip schließt die äußeren "sakramentalen" Kulthandlungen nicht aus, sondern setzt sie voraus: Denn der Geist beginnt sein Wirken mit der Taufe und vollendet es in der Eucharistie. (Fs)

Kommentar (08.02.11): Andererseits ist das Wirken des Geistes nicht auf die Kirche beschränkt.

175a
b) Lukas, Paulus, Johannes und die Geheime Offenbarung verkünden in verschiedener Weise dieselbe Wahrheit: Die Kirche wird erbaut und lebt durch den Geist, den Jesus ihr aus dem Schoß des Vaters sendet. (Fs)

c) Eine rein juridische, strukturelle, soziologische und politische Sicht der Kirche, die über jeden äußeren Anschein hinaus nicht das phantastische und unvorhersehbare Handeln des Geistes zu bewundern vermag, stünde nicht im Einklang mit dieser Lehre. (Fs)

5. Communio und Gemeinschaft

a) Die Kirche ist ihrem Wesen nach eine "Communio", das heißt eine lebendige und ständige Begegnung der Menschen mit Christus und mit Gott, die zu einer Communio der Gläubigen untereinander führt. (Fs)

Diese Communio läßt die Menschen nicht in ihrem bisherigen Zustand, sondern wandelt sie von Grund auf, indem sie sie fortwährend durch das Wort Gottes, die Eucharistie und die gelebte Nächstenliebe zusammenruft und erneuert. (Fs)

Unter dem Antrieb des Wortes Gottes, der Eucharistie und der Nächstenliebe strebt diese Communio - wenn sie authentisch ist - danach, "Gemeinschaft" zu bilden. Das heißt, sie wird eine neue soziale und nach außen hin erkennbare Wirklichkeit, die in allen Bereichen ihren eigenen Weg in einer besonderen Verhaltensweise zu gehen sucht, und bis zu einem gewissen Grad gelingt es ihr. Deshalb ist die Kirche eine geeinte Wirklichkeit mit besonderem Merkmal, die sich von der Menge der Menschen unterscheidet: Sie ist eine "andere" Wirklichkeit. Sie ist ein "heiliges Volk", das heißt, sie ist von der Liebe Gottes ausgesondert, und sie ist ein heiligmachendes Volk, das die Menschen umwandelt, indem sie sie in die eigene Antwort auf den Anruf des Vaters einbezieht. (Fs)

b) Johannes und Paulus machen den Begriff der "coinonia" zu einer der Grundlagen ihrer Meditation über die Kirche. (Fs)

Die Apostelgeschichte zeigt uns das Idealbild der Kirche als "neue Gemeinschaft"; Paulus zeichnet die christlichen Verhaltenszüge in allen Bereichen (in Ehe und Familie, in Gesellschaft und Gerichtsbarkeit); Johannes stellt die neue Wirklichkeit vor dem dunklen Hintergrund der "Welt" dar. (Fs)

175b
c) Das Verhältnis Communio-Gemeinschaft warnt uns davor, uns die Kirche als eine rein soziale Versammlung vorzustellen oder sie als rein mystische, abstrakte Tatsache, ohne nachweisbare Auswirkungen auf die Entwicklung der Geschichte zu betrachten. Und es ist gleichzeitig eine Aufforderung, am eigenen Ort auch verbandsmäßig Gemeinschaft zu bilden, aber nicht so sehr als selbstgenügsame kirchliche Tatsache, sondern als Hilfe, um das Geheimnnis der Communio zu leben, und als "Sakrament" der kosmischen und transzendenten Wirklichkeit der Kirche. (Fs) (notabene)

6. Leiden und Kampf

176a
a) Gerade weil sie "anders" ist, kann die Kirche nur erwarten, weitgehend unverstanden, bekämpft und verfolgt zu werden. Sie unterscheidet sich von der "Welt" zu sehr und bringt eine Botschaft, die zu stark im Widerspruch mit der vorherrschenden Mentalität unter den Menschen steht, als daß sie hoffen könnte, immer verstanden und akzeptiert zu werden. (Fs)
Außerdem wird die Kirche in ihrer äußeren Erscheinung, ihren Gliedern, ihrer Struktur immer die Zeichen der Schwäche und der Niedrigkeit tragen, denn die Zeit ihrer Herrlichkeit ist noch nicht gekommen. (Fs)

b) Die Logien Christi und die Ausführungen des vierten Evangeliums weisen uns darauf hin, daß wir uns von den Menschen Vorurteile und Feindschaft erwarten müssen. Dieses Thema wird besonders von der Apokalypse behandelt, wo uns der eigentliche Grund dieses ständigen Kampfes enthüllt wird: der dämonische Angriff auf die reiche und tiefe kirchliche Wirklichkeit. (Fs)
c) Das hilft uns, nicht den Mut zu verlieren angesichts der Mißerfolge und Mühen und uns keine Illusionen zu machen im Hinblick auf zeitweilige "Triumphe" der Kirche in der Geschichte; was auch die sicherste Methode ist, nicht enttäuscht zu werden. (Fs)

7. Die eschatologische Erwartung

a) Die Kirche ist immer ein Volk auf dem Weg. Keine Epoche, keine Gesellschaft, keine Form des Zusammenlebens ist ihr fremd, aber keine gehört ihr ganz. Sie bleibt immer ein wenig "Fremde" auf Erden, weil sie immer auf das volle Offenbarwerden des Reiches wartet. (Fs)

176b Aber die Erwartung ist nicht vergeblich. Ja, die Substanz des zukünftigen Reichtums ist schon in ihren Händen. Die Zukunft ist für sie schon gegenwärtig. Die Kirche ist nicht nur Pilgerin auf dem Weg ins Gottesreich, sie ist schon das Reich, wenn auch verhüllt und unvollkommen. Auch wenn sie sich immer "schön machen" muß, ist die Braut bereits schön. (Fs)

177a
b) Dieser auf die endgültige Herrlichkeit abzielende Dynamismus ist in den Logien Christi weitgehend vorhanden, wird von Paulus und Johannes beibehalten und ist der eigentliche Sinn der Geheimen Offenbarung. (Fs)

c) Wir leben, sind präsent und wirken als Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten, aber wir bleiben immer ein wenig Fremde in jedem Augenblick der Geschichte. Wenn wir auch die menschliche Befindlichkeit voll leben müssen und keine Mühe scheuen dürfen, richtet sich unsere Erwartung auf das Reich Gottes, und nur der wirkliche Besitz des Reiches Gottes wird unsere Sehnsucht erfüllen können. (Fs)

Zusammenfassung

177b Jetzt sollten wir verstanden haben, daß die Kirche wesentlich "Geheimnis" ist, das heißt eine Wirklichkeit, die Heil vermittelt nach einem Plan, der dem Reichtum und der Phantasie des Vaters angemessen ist und deshalb immer unser Fassungsvermögen übersteigt. Dieses Geheimnis soll betrachtet, geliebt und gelebt werden in dem Bewußtsein, daß wir in ein Spiel miteinbezogen sind, das weit größer ist als wir. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - Mythen; Begriff: Mythos; M. des ewigen Kreislaufs, der Seelenwanderung, des Fortschritts, des Untergangs (der Tod als Nichts)

Kurzinhalt: Sowohl der Marxismus als auch die Mentalität und Praxis der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Philosophie stimmen in der Verehrung dieses Mythos überein, der das eschatologische Problem ebenfalls dadurch löst, daß er es verneint.

Textausschnitt: 2. Die eschatologischen "Mythen"

180b "Mythos" ist ein Modewort, das die zeitgenössische Kultur allerdings in einem anderen Sinn verwendet als gewöhnlich. Unter Mythos verstehen wir hier, um es klarzustellen, eine existentiell bedeutsame Überzeugung, die zwar keine ausreichende Vernunftgrundlage hat, aber doch von der Gemeinschaft einhellig akzeptiert wird, und dort die heilsame Rolle der Wahrheit übernommen hat. (Fs) (notabene)

Was das eschatologische Thema betrifft, können Mythen jede weitere Suche verhindern. Der Mensch tut sie dann als sinn- und hoffnungslos ab, selbst wenn sie ihm eigentlich angebracht erscheint. Insofern ist es klar, daß erst einmal alle Mythen aus dem Weg geräumt werden müssen, wenn man wirklich in der Erwartung leben und die eschatologische Frage wachhalten will.

180c
a) Der erste Mythos ist der des ewigen Kreislaufs. Er ist charakteristisch für die griechische Welt, die ganz von dem Gedanken der ewigen Wiederkehr beherrscht wird: Die Weltgeschichte verläuft in mehr oder weniger breiten, mehr oder weniger nachweisbaren Zyklen, die immer zu demselben Punkt zurückführen. Alles vergeht und alles kehrt wieder. Die Menschheit folgt denselben Gesetzen des Kosmos, in dem die Bewegungen der Sonne, des Mondes, der Sterne und der Jahreszeiten immer wieder von vorne anfangen. In dieser Weltsicht, in der kein wahres Ende der Welt Platz hat, gibt es natürlich gar kein eschatologisches Problem. Diese Hypothese scheint völlig unvernünftig, ist aber nicht ganz wirklichkeitsfremd. Wenn man davon ausgeht, daß die Naturphänomene (die Tage, Jahreszeiten usw.) einem bestimmten Zyklus folgen, dann ist es nicht unsinnig, an einen noch größeren Kreislauf zu denken, dessen volle Ausdehnung wir gar nicht erkennen, weil wir nur ein Segment von ihm erfassen. Aus dieser Erfahrung ist die Überzeugung vom ewigen Kreislauf entstanden. (Fs)

181a
b) Dem kosmischen Mythos des ewigen Kreislaufes ähnlich und geistesverwandt ist der Mythos der Seelenwanderung, der das Schicksal des einzelnen Menschen betrifft. Demnach wandert die Seele; das heißt, das geistige und ewige Prinzip des Menschen geht über in einen anderen Körper, in dem sie ein neues Dasein beginnt. Man kann sehen, daß auch hier alles wiederkehrt, zumindest solange das Gesetz der Seelenwanderung sich fortsetzt. (Fs)

Wenn man aus diesem Kreislauf ausscheidet, gelangt man an ein Ziel, und es bietet sich eine andere Möglichkeit, aber solange man im Bereich der Seelenwanderung bleibt, ist alles ständige Wiederkehr. (Fs)

c) In der westlichen Gesellschaft der letzten Jahrhunderte herrscht jedoch der Mythos des Fortschritts vor. "Man muß eine gewisse fortschreitende und im höchsten Sinn freie Entwicklung des ganzen Universums anerkennen", urteilte Leibniz. (Fs)

Nach ihm wurde die Idee, daß die Menschheitsgeschichte unter immer besseren Bedingungen und auf einen immer größeren, ja vollständigen Besitz des Wahren und Guten zugeht, ein außerkirchliches Dogma. Es fand Anhänger in allen Kreisen, auch in denen, die sich aus ganz anderen Gründen heftig dafür einsetzten, angefangen von der Französischen Revolution bis zum Ball im Excelsior, wo man das 20. Jahrhundert mit großen Erwartungen eröffnete, die aber später mehr oder weniger enttäuscht wurden. (Fs)

181b Im Rahmen des eschatologischen Problems wird dieser Fortschrittsglaube absolut gesetzt. Aber auch unter dem Volk war diese Überzeugung besonders im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Man hielt nicht nur im Wissensbereich einen Fortschritt der menschlichen Gesellschaft für möglich. Schon Duns Scotus hatte gesagt, daß "die Erkenntnis der Wahrheit in den aufeinanderfolgenden menschlichen Generationen ständig zugenommen hat". Um ihre Situation gegenüber dem Altertum zu beschreiben, zogen die Menschen des Mittelalters einen herrlichen Vergleich (der anscheinend auf Bernhard von Chartres zurückgeht, aber so oft wiederholt wurde, daß man schon nicht mehr weiß, wem er ursprünglich zuzuschreiben ist): "Sie waren Riesen, wir sind Zwerge, aber wenn wir ihnen auf die Schulter steigen, können wir besser sehen als sie." Das bedeutet ein Fortschreiten in der Erkenntnis. Aufgrund dieser Befindlichkeit des Menschen und seines Strebens nach Glückseligkeit hat man der Fortschrittstheorie entsprechend an eine ständig zunehmende Verbesserung ohne Grenzen zu glauben. Sowohl der Marxismus als auch die Mentalität und Praxis der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Philosophie stimmen in der Verehrung dieses Mythos überein, der das eschatologische Problem ebenfalls dadurch löst, daß er es verneint. Wenn der Fortschritt wirklich unbegrenzt ist, kann offenbar von einem Ende im wahren Sinn des Wortes keine Rede sein. (Fs)

182a
d) Auf individueller Ebene ist der Fortschrittsmythos oft mit dem des totalen Einsatzes für das Kollektiv verbunden. Danach wird dem Menschen, der nach seiner Bestimmung und dem Sinn seines Lebens fragt, als Antwort der Kult der künftigen Gesellschaft, der Sieg der Klasse oder das Wohlergehen der Menschheit angeboten. Hier hat der Fortschrittsmythos Eingang in eine materialistische oder zumindest diesseitige Mentalität gefunden. Aber das verträgt sich eigentlich nicht: Was soll das für ein Fortschritt sein, wenn alles in der Katastrophe des Todes endet? Das Hindernis umgeht man, indem man sagt: Für den einzelnen mag es die Katastrophe geben, aber sie dient dem Wohl der gesellschaftlichen Klasse und damit der zukünftigen Gesellschaft. Die Sonne der Zukunft tröstet und belohnt mich für meinen persönlichen Untergang, auch wenn sie mich nicht bescheinen kann. Wer diese Religion, auf die sich Millionen von Personen gestützt haben, begeistert annimmt, braucht sich nicht zu fragen, was nach ihm kommt. Für ihn als Person wird nichts da sein, und das soll ihn nicht ängstigen, denn wichtig ist nur der verbesserte Zustand der Gemeinschaft. (Fs)

182b Er hat deshalb keine Hoffnung auf ein Weiterleben als diese: daß sein Dasein, sein Denken, sein Tun, sein ganzer Wert in die schöne neue Welt von morgen eingeht. (Fs)

183a
e) Aber nicht alle aus den Gruppierungen, die gierig vom eisigen und berauschenden Wein der Aufklärung getrunken haben, ließen sich vom Fortschrittsglauben bezaubern. "Das großartige Fortschrittsglück des Menschengeschlechtes" - so Leopardi, der hier Terenzio Mamiani zitiert und belächelt, hat nicht alle berauscht. Einige haben sich sogar dem Mythos des Untergangs zugewandt (wenn man so sagen darf): Das Ende der Menschheit wird eine kosmische Katastrophe sein, die jede Lebensform und sogar jede Seinsform auslöscht. (Fs)

So betrachtet, wird der sogenannte Fortschritt nur zum beschleunigten Lauf in den Untergang. Und wenn das Ziel, der Untergang, auch der Zweck von allem ist, dann ist es der Zweck der Dinge, zugrundezugehen. "Es scheint, daß das Dasein der Dinge das Sterben zum Ziel hat. Weil das, was nicht war, auch nicht sterben konnte, sind die Dinge, die sind, aus dem Nichts hervorgegangen", schrieb Leopardi erschreckend hellsichtig (Il cantico del gallo Silvestre). Das Ziel, das uns und die Welt erwartet, ist schauerlich: "Nacktes Schweigen und tiefe Stille werden den unermeßlichen Raum füllen. So wird sich dieses wunderbare und erschreckende Geheimnis, noch bevor es offenbar und bekannt wurde, auflösen und verlieren" (ebd.). (Fs)

f) Auf individueller Ebene führt der Mythos des Untergangs offensichtlich zu der Überzeugung, daß der Tod das absolute Ende jeden persönlichen Schicksals ist: nach dem Tod das Nichts. Die eschatologische Frage wird klar und einhellig beantwortet: Die letzte Wirklichkeit, auf die mein Leben zugeht, ist das Nichts. Wohl gemerkt: nicht das Unbekannte oder Dunkle, sondern einfach das Nichts. Weil der Mythos eine dogmatische Überzeugung ist und deshalb unvereinbar mit der Unsicherheit, dem Zweifel oder der Enthaltung im Urteil, ist dieser Mythos wirklich ein fester Glaube an den Untergang. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - Kritik an Mythen (Antinomien, Notwendigkeit einer Offenbarung); Mythos d. Kreises, Fortschritts (Flucht), Todes (Nichts, Summen vieler Nullen)

Kurzinhalt: Der Mythos des Fortschritts: Der unbegrenzte Fortschritt ist ein Fortschritt ohne Ziel. Und wenn er ohne Ziel ist, sind Fortschritt und Rückschritt Begriffe, die verschwimmen ... [Tod ] Wenn das Ziel das Nichts ist, dann ist die Substanz des Daseins ...

Textausschnitt: 3. Kritik an den "Mythen". Notwendigkeit einer Offenbarung

183b Keiner dieser Mythen darf erwarten, von uns angenommen und verehrt zu werden. (Fs)

Der Grund dafür liegt in der widersprüchlichen Natur des Mythos, der sich nicht als Gabe einer Offenbarung von oben, sondern als Produkt des Menschen präsentiert und verkaufen möchte. Der Mensch ist scheinbar dazu in der Lage, ihn sich auszudenken, aber unfähig, ihn zu beweisen oder zu überprüfen. Hier liegt also von Grund auf ein methodologischer Widerspruch vor. (Fs)

Antinomie der Mythen

184a Jeder der eschatologischen Mythen zeigt dann in seinem Kern unlösliche Antinomien. (Fs)

Der Mythos des Kreises: Wenn es kein Ziel gibt, sondern nur eine ständige Kreisbewegung, warum hat sich dann die Geschichte der Welt in Bewegung gesetzt? Es sei denn, das Universum ist ein Spielzeug, wie die Eisenbahnzüge unserer Kinder, das von einer irrsinnigen und grausamen Gottheit zu ihrem Vergnügen erdacht und gewollt ist. (Fs)

Der Mythos des Fortschritts: Der unbegrenzte Fortschritt ist ein Fortschritt ohne Ziel. Und wenn er ohne Ziel ist, sind Fortschritt und Rückschritt Begriffe, die verschwimmen und ruhig ausgewechselt werden können. Wenn ich in einem Zug sitze, kann ich auf die Frage "Fährt der Zug vorwärts oder rückwärts?" nur dann antworten, wenn ich weiß, wo der Ausgangspunkt und wo die Endstation ist. Weiß ich das nicht, kann ich auch nicht sagen, ob der Zug vorwärts oder rückwärts fährt. Wenn es kein absolutes Gutes und keine absolute Glückseligkeit gibt, wo die Fahrt und der Fortschritt enden, wie weiß man dann, daß man "fortschreitet"? Es wäre dann weniger ein Fortschreiten als vielmehr eine Flucht vor dem augenblicklichen Zustand, der in seiner Endlichkeit wahrgenommen wird. Das scheint gerade das Los des Menschen zu sein. Der Mensch braucht die Veränderung. Auch wenn es ihm gut geht, will er die Abwechslung. Die sich ständig wiederholendenden Dinge langweilen ihn. Das ist eine Flucht. Aber der Ausweg aus dieser Situation garantiert uns noch nicht, daß wir unsere Lage wirklich verbessern. (Fs) (notabene)

184b Ehrlich gesagt, dieser "Fortschrittsglaube", der vielleicht noch unter den Leuten fortlebt, die weniger zum selbständigen Denken fähig sind, wird heute in allen Bereichen erschüttert. Viele Menschen fürchten heute die Übel, die uns in Bezug auf Sicherheit, Ökologie, soziales Zusammenleben und von Seiten der unkontrollierten Entwicklung von Wissenschaft und Technik auferlegt werden. In der Tat war die Fortschrittsidee mit großem Optimismus hinsichtlich der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik verbunden. Heute sind es gerade diese Errungenschaften, die in uns solche Befürchtungen wecken, daß man den Untergang heraufbeschwört. (Fs)

185a Viele zweifeln auch daran, daß wir in nächster Zukunft eine Gesellschaft mit besserer Lebensqualität zu erwarten haben. Nicht nur ältere, auch junge Menschen sind unsicher geworden. Das ist eine der Wahrnehmungen, die in der heutigen Welt am stärksten zu spüren sind. (Fs)

Der Mythos des Todes ist der schrecklichste, aber von der Vernunft her auch der zäheste. Um weiterzuleben, muß er die vollkommene Sinnlosigkeit von allem predigen. Der einfache Mensch mag sich angesichts der hellsichtigen Folgerung Leopardis fragen: Wenn die Dinge das Sterben zum Ziel haben und sie dazu aus dem Nichts hervorgegangen sind, warum sind sie dann nicht im Nichts geblieben? Wer an diesen Mythos glaubt, muß daraus schließen, daß alles sinnlos ist: Wenn das Ziel das Nichts ist, dann ist die Substanz des Daseins schon jetzt das Nichts. Das ist entscheidend: Wenn ich davon überzeugt bin, daß für mich nach dem Tod das Nichts ist, ist das nicht nur eine Antwort auf das, was nach dem Tod kommen wird, sondern eine Antwort auf die Lebensweise. Das heißt, daß ich schon jetzt für das Nichts lebe. Wenn ich im Nichts enden soll, lebe ich für das Nichts. Und das ist eine vollkommene Sinnlosigkeit. Was die Bestimmung des Einzelnen betrifft, meine ich ganz klar sagen zu dürfen, daß diese Mythen, wenn sie zu meiner Beruhigung erdacht sein sollten, ihren Zweck völlig verfehlt haben. Wenn wir uns nichts vormachen wollen, müssen wir sagen, daß jede Hypothese, die mein persönliches und bewußtes Weiterleben ausschließt, für mich unannehmbar ist. Daß sich jemand für das zukünftige Wohl meiner Mitmenschen opfert, kann ich zwar für schön und gut halten, (was den Vorzug des Edelmuts hat, und es hat solche Märtyrer gegeben, z.B. Märtyrer des Kommunismus), aber im letzten doch nur unter der Voraussetzung, daß meine Mitmenschen, für die mich hingebe und für die ich mich zunichte mache, nicht selber Geschöpfe sind, die persönlich doch nur wieder zum Untergang bestimmt sind. Andernfalls scheinen mir alle Verbrüderungen, von denen es hieß, sie seien der Selbstlosigkeit und Hingabe fähig, wie die "Klasse", das "Vaterland", die "Menschheit" eine riesengroße Summe von Nullen, die es nicht wert sind, daß man sich für sie opfert. (Fs)

185a Wenn ich als Mensch im Nichts ende und alle anderen im Nichts enden, dann sind diese Verbrüderungen null, weil sie die Summen vieler Nullen sind. Sie haben theoretisch nur dann Wert, wenn sie nicht doch zunichte werden. (Fs)

186a Infolgedessen könnte ich den Mythos des Todes für mich nur dann akzeptieren, wenn er der unanfechtbaren Wahrheit entspräche. Wenn er Frucht einer logischen, ernsthaften, überzeugenden Beweisführung wäre, könnte ich sagen: Er ist eine unangenehme Sache, aber ich akzeptiere ihn. Aber ohne stichhaltige Beweise könnte ich ihn mir nie selbst vortäuschen. Wenn schon ein Märchen, dann würde ich mir etwas Besseres ausdenken. Wenn sich die Menschheit eine unvernünftige Antwort auf die eschatologische Frage ausdenken soll, dann ist es besser, eine tröstlichere Fabel zu erfinden. Vorausgesetzt, wiederhole ich, daß dieser Mythos nicht unanfechtbar nachgewiesen wurde, was tatsächlich nicht der Fall ist. (Weiß jemand, was im Jenseits ist?)

Wenn der Mensch allein und von sich aus eine Antwort auf das eschatologische Problem geben wollte, hat er am Ende immer Behauptungen aufgestellt, die manchmal widersprüchlich, gewöhnlich unschön, in jedem Fall aber willkürlich waren. (Fs)

Der Ruf um Hilfe von oben

186b Nachdem alle unsere Möglichkeiten erschöpft sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als Hilfe von oben zu erhoffen. Platon hatte bereits mit prophetischem Weitblick festgestellt, daß "im Hinblick auf dieses Problem nur eines zu tun bleibt: Entweder sich von den anderen sagen lassen, wie die Dinge stehen, oder es von allein entdecken, oder, wenn das nicht möglich ist, die beste und am wenigsten anfechtbare menschliche Idee akzeptieren und sich auf dieser wie auf einem Floß treiben lassen. Dabei riskiert man auf der Überfahrt das Leben. Außer man macht die sicherere und weniger gefährliche Überfahrt auf einem festeren Boot, das heißt auf dem der göttlichen Offenbarung" (Phaidon, c. 35). (Fs)

186c Ich glaube, daß das ein sehr vernünftiger und klarer Ansatz ist und das beste, was der Mensch zu erwarten hat. Nun haben wir, wenn auch ziemlich oberflächlich, nachgeforscht und den Untergang aller "Flöße" festgestellt. Jetzt wollen wir sehen, ob tatsächlich ein "sichereres Boot" existiert und ob es uns gegeben ist. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - christliche Antwort; Inhalt d. Evangeliums: keine Lehre, sondern Person; Alpha, Omega; Parusie, epipháneia (Beispiel); Ende d. Geschichte, Maran athà

Kurzinhalt: Merkwürdigerweise, und das ist neu, hat die Theologie Christus weder als Herrscher der Protologie noch als Herrscher der Eschatologie sonderliches Gewicht beigemessen... Wenn die Auferstehung Christi das Ende ist, gibt es auch einen Schlußpunkt ...

Textausschnitt: II. DIE CHRISTLICHE ANTWORT

Die Offenbarung

187a Wir - das gilt für die Christen, die das Wort Gottes im Glauben gehört und aufgenommen haben - wissen, daß es dieses "Boot" gibt. Unsere Aufgabe hier ist nicht, die Zuverlässigkeit des christlichen Glaubens zu beweisen, sondern im Bereich der uns gegebenen Offenbarung die christliche Antwort auf die eschatologische Frage zu suchen. Man hüte sich davor, die Offenbarung mit den Mythen zu verwechseln. Denn die Mythen gründen ausschließlich auf menschlichen Überlegungen und sind damit in der Beweispflicht. Die göttliche Offenbarung kommt von oben. Bestenfalls ist zu beweisen, daß es sie gegeben hat. Wir wissen, daß Gott "viele Male und auf vielerlei Weise einst zu den Vätern gesprochen hat durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn" (Hebr 1,1); durch den Sohn, der zu uns aus der unerreichbaren Welt der Gottheit gekommen ist und der die engen Grenzen des irdischen Daseins durchbrochen hat; den Sohn, der durch seine Auferstehung von den Toten zu uns aus der Unterwelt gekommen ist; er hat in umgekehrter Richtung die dunkle Wand des "Nachher" überwunden, die bisher die menschliche Erkenntnis daran hinderte, unsere Bestimmung zu erfassen und zu erhellen; den Sohn, der vor uns steht als der einzige Zeuge des eschatologischen Geheimnisses und der Wirklichkeit, die uns erwartet; der einzige Zeuge, der zu uns zurückgekehrt ist und zu uns gesprochen hat. (Fs) (notabene)

Es geht für den Glaubenden im Grunde nicht so sehr darum, einige feststehende Wahrheiten von vielen aus dem Erbe der Offenbarung besser und klarer zu erfassen, als vielmehr darum, den universalen, absoluten, für das Christentum notwendigen Aspekt zu erkennen. (Fs)

Das Christentum ist wesentlich eschatologisch. Das heilbringende Erscheinen des Sohnes Gottes, das sich "in dieser Endzeit" ereignet hat, ist schon Teilhabe an der Endzeit. Das Ende unserer Geschichte hat schon begonnen. (Fs)

187b Wir sind also an der Schwelle dessen gelangt, was die Offenbarung uns über dieses Problem zu sagen hat und was wir jetzt, natürlich unvollständig, zusammenfassen wollen. (Fs)

188a Zunächst ist klarzustellen, daß zwischen dem, was wir im ersten Teil dieser Reflexionen angeboten haben, und dem, was wir jetzt darlegen, ein methodologischer Unterschied besteht. Im vorhergehenden Teil haben wir die Frage seitens des Menschen und die menschlichen Lösungen untersucht. Dabei sind wir ausschließlich der Vernunft gemäß vorgegangen, und alle Beweisführungen konnten sowohl von den Glaubenden als auch von den Nichtglaubenden geteilt werden, deren Bewertung wir sie anheimstellen. Wenn wir jetzt die Antwort der Offenbarung untersuchen, die uns das Evangelium bietet, folgen wir einer theologischen Methode, das heißt einer Methode, die den Glauben voraussetzt, so daß das Gesagte für die Glaubenden gilt. Das soll nicht heißen, daß die Vernunft ausgeschaltet wird, im Gegenteil, die Vernunft ist miteinbezogen und aufgerufen, sich noch stärker zu bemühen, aber natürlich auf der Seite dessen, der das Wort Gottes aufnimmt. Es ist hier verständlicherweise nicht möglich, die vernünftigen Voraussetzungen dieser Aufnahme festzulegen. Es genügt, einfach festzuhalten, das diesmal die Methode rein theologisch ist. (Fs)

Was kommt "danach"? Was ist "im Jenseits"? Was ist "das Ende"? Die christliche Antwort auf alle diese Fragen ist eine einzige: Danach ist Christus. Jenseits des Vorhangs der Dinge ist Christus. Am Ende von allem steht Christus. (Fs) (notabene)

188b Wir stellen fest, daß diese Antwort auch innerhalb einer christlichen Reflexion Verwunderung erregen kann, denn in der gewohnten Darstellung der "letzen Dinge" (Tod, Endgericht, Hölle, Paradies) war von Christus gewöhnlich nicht die Rede. Das Gesagte war nicht christologisch. Heute ist man sich stärker als bisher dessen bewußtgeworden, daß der Inhalt des Evangeliums keine Lehre, sondern eine Person ist: Der Inhalt des Evangeliums ist Christus. Die Offenbarung zeigt uns keine andere Wirklichkeit als diese, sie führt uns zu keiner anderen Erfahrung als zu einer personalen Beziehung, und das gilt auch für die eschatologische Frage. (Fs)

1. Er, der kommt...

Christus, Ziel des geschaffenen Daseins

189a Im ersten Kapitel der Offenbarung des Johannes steht ein sehr bedeutsamer Vers. Der Herr Jesus stellt sich vor mit den Worten: "Ich bin das Alpha und das Omega. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt." Hier sieht man sofort, daß es eine genaue Perspektive gibt, die die Eschatologie mit der Protologie verbindet: Aus Christus geht die Welt hervor, und Christus setzt der Welt ein Ende. (Fs)

Merkwürdigerweise, und das ist neu, hat die Theologie Christus weder als Herrscher der Protologie noch als Herrscher der Eschatologie sonderliches Gewicht beigemessen. Das aber ist, meine ich, der korrekteste Ansatz einer christlichen Antwort auf die eschatologische Frage. (Fs)

In der letzten Woche seines Lebens schildert Jesus, der bis dahin sehr vorsichtig war, wenn es darum ging, sich als Messias vorzustellen, in einem Gleichnis klar und deutlich sein Dasein. Es ist das bekannte Gleichnis von den bösen Winzern (Mt 21,33-46 Parr.). Näher betrachtet, ist dieses Gleichnis auf menschlicher Ebene sehr unwahrscheinlich und bringt gerade deshalb das gut zum Ausdruck, was sich in der Heilsgeschichte tatsächlich ereignet hat. Der Besitzer verpachtet seinen Weinberg den Winzern. Als die Zeit der Ernte kommt, sendet er seine Knechte aus, um die Früchte einzuholen, aber die Winzer verjagen sie. Er sendet andere aus, aber die Winzer schrecken auch vor Mord nicht zurück. Da denkt der Besitzer bei sich: "Ich habe einen Sohn, ihn werde ich senden." Das ist höchst unwahrscheinlich. Wenn jemand weiß, daß er den Weinberg an eine Mörderbande verpachtet hat, wird er kaum seinen einzigen Sohn der Gefahr aussetzen. Als die bösen Winzer den Sohn kommen sehen, sagen sie: "Das ist der Erbe, wir wollen ihn töten, dann gehört sein Erbgut uns!" Ich frage mich, in welchem Gesetzbuch der Welt geschrieben steht, daß das Erbgut an die Mörder des Erbberechtigten übergeht. Aber gerade das ist in der Heilsgeschichte geschehen. (Fs) (notabene)

189b In diesem Gleichnis findet sich ein sehr wichtiger Satz: "Ihn sandte er als letzten zu ihnen." Der Sohn Gottes ist das Zeichen für das Ende, und das Ende ist er selbst. Mit seinem Kommen endet alles. Seine Ankunft als gekreuzigter und auferstandener Mittler zerreißt den Vorhang der vergänglichen Wirklichkeit (1 Kor 7,29-31), führt die neue, endgültige Wirklichkeit ein und verkündet sie. Es genügt, sich lebendig in ihn einzugliedern, um an dieser Erneuerung teilzuhaben: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden" (2 Kor 5,17). Deshalb ist die Zeit, die mit ihm begonnen hat, die "Endzeit" (Hebr 1,2), und mit seiner Sendung unter uns hatte sich die Zeit erfüllt (Gal 4,4). Dieser Zeitpunkt der Erfüllung ist aber nicht der zentrale Zeitabschnitt, wie man denken könnte, sondern der letzte, das Ende. Die Zeit ist erfüllt, es gibt nichts mehr darüber hinaus. (Fs)

190a Wie man sehen kann, ist durch den Tod und die Auferstehung Jesu die alte Welt schon besiegt (Joh 16,33). Die Endzeit hat schon begonnen, das "ewige Leben" hat hier unten schon angefangen (wenn im Johannes-Evangelium vom ewigen Leben die Rede ist, ist damit nicht nur etwas im Jenseits, sondern etwas schon Gegenwärtiges gemeint), das Reich Gottes hat unter uns schon begonnen. Weil uns aber die Möglichkeit gegeben ist, an dieser schon vorhandenen endgültigen Wirklichkeit teilzuhaben, gibt es gleichsam einen Zusatz zum Leben und einen weiteren Endzeitpunkt. Wenn die Auferstehung Christi das Ende ist, gibt es auch einen Schlußpunkt dieses Endes, sobald auch diese fortschreitende Teilhabe der Geschöpfe am Zustand des auferstandenen Herrn abgeschlossen sein wird. (Fs) (notabene)

190b Und das ist das, was wir gemeinhin Ende der Welt nennen. Es darf aber nicht als etwas betrachtet werden, das in der Zukunft liegt, sondern als etwas, das schon stattfindet, aber ohne unsere persönliche Teilnahme. (Fs) (notabene)

Jenes "Ende vom Ende" wird selbst eine Offenbarung Christi sein. Er wird also auch das "Zeichen" dieses sichtbaren Abschlusses der Geschichte sein, die ja enden wird, wenn "das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen wird" (Mt 24,30). Es ist nicht das Zeichen des Kreuzes, wie man meinen könnte, sondern der Menschensohn, der das Ende anzeigt. (Fs)

190c In gleicher Weise wird der Auferstandene, der dann vor den Augen aller und nicht nur vor den "vorherbestimmten Zeugen" (Apg 10,41) erscheinen wird, das Zeichen des endgültigen Zustandes des Universums sein. Er wird dann von allen als der erkannt werden, der er ist: als der "Erste", von dem das Dasein alles Geschaffenen ausgeht, und als "der Letzte", über den die mühsame, unermüdliche und immer unbefriedigte menschliche Suche nicht mehr hinausgehen kann. (Fs)

Die "Parusie"

191a Um diesen Abschluß der Geschichte durch Christus anzudeuten, hat die Urgemeinde zwei Worte der feierlichen hellenistischen Sprache entlehnt:

— "Parusie", was wörtlich "Anwesenheit", "gegenwärtig sein", "Wiederkunft" bedeutet;
- "epipháneia", was wörtlich "Manifestation", "Erscheinung in Herrlichkeit" bedeutet. (Fs)
Ein König oder General, zum Beispiel, vollzog eine "Parusie" oder eine "epipháneia", wenn er nach einer siegreichen Schlacht gegen den Feind feierlich in eine Stadt einzog und als "Gott und Retter" empfangen wurde und vor aller Augen als Sieger erschien. So ist es mit der christlichen "Parusie": Nachdem Jesus die Welt besiegt hat (Joh 16,33) und das feindliche Oberhaupt, "der Herrscher dieser Welt, gerichtet ist" (Joh 16,11), schickt Jesus sich an, seinen Sieg zu feiern. Die Zeit, in der wir jetzt leben, das heißt die Endzeit, wie es im Hebräerbrief heißt, ist die Zeit, die zwischen der siegreichen Schlacht und der triumphalen Siegesfeier abläuft. Jesus ist also im Begriff zu kommen. Im Advent feiern wir die erste Ankunft (das heißt die Menschwerdung, die Geburt: Advent als Vorbereitung auf das Geburtsfest) und die glorreiche Wiederkunft am Ende der Zeiten (Advent als Erwartung dessen, was am Ende geschehen wird). (Fs)

Interessanterweise spricht das Neue Testament nie von einer "Rückkehr" Christi und vermeidet einen zu starken Kontrast zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen. (Fs)

191b Es heißt nicht: "Der Herr kehrt zurück", sondern "Der Herr kommt". Jesus ist "o erkómenos", er ist nicht nur der, der gekommen ist, sondern auch der Kommende, der immer im Begriff ist zu kommen. Wenn wir die Eucharistie feiern, begrüßen wir den, der im Begriff ist zu kommen: "Hochgelobt sei, der da kommt" (o erkómenos). Jesus, der gekommen ist, uns durch das Kreuz zu retten, hat durch die Auferstehung seinen Sieg vollendet und schon seine "Parusie" begonnen, die zugleich eine schon vorhandene und eine zukünftige Wirklichkeit ist. Sie ist an und für sich schon da, aber vor unserem Blick muß sie sich noch ereignen, weil das Universum vor unseren Augen noch "der Vergänglichkeit unterworfen" (Röm 8,20) und vom Schleier der unerlösten Welt verhüllt ist. (Fs)

192a Das ist eine etwas ungewohnte Auffassung der gewohnten Darstellung: d. h., es braucht nichts Neues mehr zu geschehen, es ist schon geschehen. Alles, was sich in Christus ereignen soll, hat sich schon ereignet. An uns liegt es, die Augen zu öffnen, damit wir es sehen. (Fs)

Die "Parusie" und wir

Wie und wann wird die "epipháneia" Christi eintreten, die alles beenden wird? Wann werden wir diese grundlegende Wirklichkeit wahrnehmen können, die die Herrlichkeit des Auferstandenen ist? Eine anfängliche Wahrnehmung ist uns durch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe gegeben. (Fs)

Der Glaube beinhaltet schon das Ostergeheimnis, das heißt den auferstandenen und für immer lebenden Christus. Die Liebe versetzt uns schon in Lebensgemeinschaft mit dem Sohn Gottes, der der Inhalt des endgültigen Zustandes sein wird. (Fs)

Die hoffnungsvolle Erwartung nimmt die zuversichtliche und beruhigende Freude der offenen Begegnung voraus und ist deshalb die Grundhaltung des Christen, der sich immer den zukünftigen Termin vor Augen hält, der ihm am Tag der Himmelfahrt gegeben wurde (Apg 1,11). Der Christ ist deshalb im Grunde genommen einer, der wartet, der hofft, während der Nichtglaubende derjenige ist, der keine Hoffnung hat. (Fs)

192b Der Christ ruft jeden Tag im Gebet den Augenblick der Epiphanie herbei: "Maran athà", "Komm, Herr Jesus", betete die Urgemeinde der Gläubigen (1 Kor 16,22; Offb 22,20; Didaché 10,16). Das ist vielleicht der älteste uns überlieferte Text, das wörtliche liturgische Gebet der Apostel bei der Eucharistiefeier in Jersualem. Wie können wir das beweisen? Wir finden dieses aramäische Wort im 1. Korintherbrief, aber die Korinther sprachen nicht Aramäisch; also ist es unwahrscheinlich, daß sie Gebete in einer Fremdsprache eingeführt haben. Wahrscheinlicher, daß sie dieses Gebet der Liturgie von Jerusalem entnommen haben. Es ist also zusammen mit dem Amen das Wort, das sich wirklich aus der Liturgie der frühesten Zeit herleiten läßt. Nun, dieses mit der Liturgie der frühesten Zeit verbundene Gebet ist ein eschatologisches Gebet: "Komm, Herr", oder "der Herr kommt", je nachdem, wie man die hebräischen Wörter trennt. (Fs)

193a Im Augenblick des Todes - wenn wir aus dem "verhüllten" Zustand des Glaubens in den unverhüllten Zustand der Herrlichkeit übergehen - werden wir die "Parusie" des Herrn und mit ihr das Ende und den Sinn von allem voll erkennen. (Fs) (notabene)

Wenn sich unsere Augen schließen werden, werden sie sich wahrhaftig öffnen, und wir werden die schon vorhandene Wirklichkeit sehen: den Herrn, der schon gesiegt hat, den auferstandenen Herrn. Im Evangelium steht geschrieben: "Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie den Menschensohn in seiner königlichen Macht kommen sehen" (Mt 16,28). (Fs)

Es scheint ein schwer verständlicher, rätselhafter Satz zu sein, so daß die eschatologische Schulmeinung der Ansicht war, es handle sich um einen Fehler. In Wirklichkeit ist die Übersetzung ganz einfach: Diejenigen, die den Auferstandenen schon gesehen haben (die Apostel, die "vorherbestimmten" Zeugen, Stephanus, der im Augenblick des Todes "den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen" sah), sie haben vor ihrem Tod bereits das Reich Gottes gesehen, wie es in Wirklichkeit ist. (Fs) (notabene)

Im christlichen Tod wird der Herr Jesus - der "Kommende", der schon gekommen ist — "kommen", und es wird keine noch so dünne Trennwand mehr geben, die uns daran hindern könnte, an seinem Zustand als Auferstandener voll teilzuhaben und ihn zu schauen. Im selben Augenblick werden wir den stürmischen Verlauf der Weltgeschichte, wie er wahrhaftig ist, sehen. Wir werden sehen, wie sich die Weltgeschichte in der Verherrlichung des Sohnes Gottes besänftigt und in seine siegreiche Auferstehung mündet. (Fs) (notabene)

1. Kommentar (11.02.11):Analogie: diskursives Denken -- Entfaltung der Geschichte.

193b Das ist also die christliche Antwort. Was kommt danach? Christus! Christus, der schon gesiegt und die Welt verändert hat. Er ist die neue Mitte einer Welt, die noch die alten Kleider trägt. Der Apostel Paulus sagt, daß die Schöpfung "in Geburtswehen liegt" und sich abmüht: Es ist eine neue Wirklichkeit in einem alten Kleid. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - Gericht (zu richten die Lebenden und die Toten); skandalöses Schweigen (Gerechtigkeit); Gericht (Druck der Absurdität); Richter (At: Gott, NT: Christus); Universalität des Gerichts

Kurzinhalt: Diese Unstimmigkeit zwischen Wahrheit und Schein erreichte in dem Augenblick den Höhepunkt ... als der Sohn Gottes getötet wurde... Die Mauern des Scheins stürzen ein, und jeder wird sichtbar in seiner Wahrheit - nicht vor Gott, denn vor Gott steht er ...

Textausschnitt: 2. ... zu richten die Lebenden und die Toten

194a Unsere Begegnung mit Christus hat grundlegende Bedeutung für uns, denn sie wird unser Richterspruch sein. "Und er hat uns geboten, dem Volk zu verkündigen und zu bezeugen: "Das ist der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten" (Apg 10,42). Petrus spricht mit diesen Worten eine Grundwahrheit der christlichen Botschaft aus: Wir wissen nicht nur, daß der Herr Jesus die Geschichte der Welt und die Geschichte jedes einzelnen Menschen abschließen wird, sondern wir wissen auch, daß seine "Parusie" ein Gericht sein wird und daß er als Richter kommen wird. Am Ende von allem wird jeder von uns unweigerlich mit dem Auferstandenen zusammentreffen, und in dieser Begegnung wird jeder von uns nach seinem wahren Wert beurteilt und offenbar werden. (Fs)

Ein skandalöses Schweigen

194b Das Thema des Gerichtes — das ist zu beachten — kommt einem tiefen Bestreben des Menschen entgegen. Denn eine der tiefsten Ursachen des Mißbehagens, das auf dem menschlichen Dasein lastet, ist die Abwesenheit eines transzendenten Gerichts. Der Mensch kann gut oder böse handeln; er kann hochherzig oder grausam, barmherzig oder egoistisch sein, er kann die Wahrheit und Gerechtigkeit hochhalten oder Zyniker und Lügner sein. So gesehen scheint negatives Verhalten keine schwerwiegenden Konsequenzen zu haben. Deshalb überzeugt keine der moralisierenden Darstellungen, am wenigsten übrigens jene ohne Gott, weil sie alle dadurch widerlegt werden. Gutes oder böses Handeln scheint in dieser Welt keine signifikant unterschiedlichen Folgen zu haben. Der Tod ist eine Katastrophe, der "den ganzen Rasen gleichmacht" (um mit Manzoni zu sprechen), das heißt, daß es angesichts des Ereignisses "Tod", menschlich gesprochen, unerheblich ist, ob man gut oder böse war. Wenn man vor allem schlau genug war und sich nicht in den weiten und oft launischen Maschen des menschlichen Gesetzes verstrickt hat, ergeben sich meist keine allzu großen Nachteile für den Fall, daß man vom Weg der Rechtschaffenheit abgewichen ist. (Fs)

195a Es ist schon wahr, daß Diebe bestraft werden, aber eben nur in geringem Maß. (Die menschliche Gerichtsbarkeit hat nämlich einige wahrhaft christliche Überzeugungen übernommen, wie die Achtung des Schuldigen und seine Wiedereingliederung, vernachlässigt aber darüber zwei wesentliche Aspekte: die Würde des Unschuldigen und die Solidarität mit dem Opfer. In unserer Gesellschaft gibt es keine Solidarität mit den Opfern, keinen sozialen Mechanismus, der sie entschädigen würde. Aber das ist ein Problem, das vom hier behandelten Thema abweicht.) Die Schlauen kommen im allgemeinen gut davon. Und das ist schon etwas Bestürzendes. Aber das Bestürzendste auf religiöser Ebene ist, daß Gott angesichts des gesetzwidrigen Verhaltens der Menschen meist schweigt, und sein Schweigen - seine scheinbare Gleichgültigkeit dem Guten und dem Bösen gegenüber - empört uns: "Warum siehst du also den Treulosen zu und schweigst, wenn der Ruchlose den Gerechten verschlingt?" (Hab 1,13). (Fs) (notabene)

Dann gibt es noch die unredlichen Augen der Welt, weshalb die Menschen selten für das gehalten werden, was sie sind. Die Werte sind gleichsam verkleidet, so daß man schwerlich sagen kann, wo wahrhaftig das Gute und wo das Böse ist. Es gibt herausragende Personen, die Bösewichte zu sein scheinen. Oder Personen, die wir zu meiden suchen, die aber vielleicht Fürsten im Himmelreich sind. Warum das? Warum dieser Betrug?
Simonides sagte: "Der äußere Anschein der Dinge vergewaltigt auch die Wahrheit."
195b In einer Welt, in der das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche, das Volle und das Leere scheinbar nicht voneinander zu unterscheiden sind, wird der Zustand des Menschen zur Absurdität. (Fs) (notabene)

Das Gericht

195b Die göttliche Offenbarung löst diesen Druck der Absurdität und befreit uns davon, indem es gerade von einem "Gericht" spricht, durch das die Wahrheit und die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Ein Gericht, das es offenbar in der weltlichen Wirklichkeit nicht geben kann, weil sie, für sich allein betrachtet, ohne Hoffnung ist, die ihr aber dann von oben geschenkt wird. (Fs)

196a Wer in dieser Welt Gerechtigkeit sucht, wird enttäuscht werden. Gewiß, man muß sie suchen, aber in dem Bewußtsein, daß wir sie in dieser Welt nicht finden werden. (Fs)
Wer erinnert sich nicht an die ironische und bittere Bemerkung Manzonis, als Renzo angesichts der Pflichtverletzung von Don Rodrigo beabsichtigt, diesen zu töten? Renzo war so aufgebracht, daß er im Haus umherging und sagte: "Endlich gibt es auf dieser Welt Gerechtigkeit." Und Manzoni bemerkt: "Wahrhaftig, wenn einer außer sich ist, weiß er nicht mehr, was er spricht." (Fs)

Das Gericht wird deshalb ein Eingreifen in die Geschichte sein, ein Eingreifen Gottes, der gerecht ist und Gerechtigkeit erheischt, der auf diese Weise endlich sein Schweigen brechen und seine scheinbare, aber zugleich bestürzende Neutralität ablegen wird. Das ist eine Überzeugung, die in der jüdischen Welt schon seit der Zeit der großen prophetischen Schriftsteller (Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia, Zefanja) lebendig ist und nach dem Exil (Joel, Daniel) immer deutlicher und verständlicher zutage tritt. (Fs)

Das Neue Testament hat die Neuheit gebracht, daß der Richter mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus identisch ist, der die Welt schon durch das Osterereignis gerichtet hat und seinen Richterspruch durch seine "Parusie" verkünden wird. (Fs)
196b Das ist nach Meinung der christlichen Urgemeinde einer der deutlichsten Beweise der Gottheit Christi. Der Richter, der im Alten Testament der Gott Israels ist, ist im Neuen Testament Christus. Und so sprechen die ersten Christen von einem "Gericht Christi", vor das wir alle gerufen werden, um unser ganzes Verhalten zu verantworten: "Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat" (2 Kor 5,10). (Fs)

Universalität des Gerichts

196c Wir haben gesehen, daß Petrus, wenn er vom Gericht spricht, dieselben Worte verwendet, die wir im Credo wiederholen: "Er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten". Diese älteste christliche Formel wurde in der Urgemeinde allgemein verwendet. Was bedeutet diese Formel? Sie ist wörtlich zu verstehen: Man will damit sagen, daß Jesus nicht nur diejenigen richten wird, die er bei seinem Kommen lebend antreffen wird, sondern auch alle Menschen, die in der Vergangenheit schon gestorben sind. Man will ganz einfach sagen, daß die ganze Menschheit ohne Ausnahme gerichtet werden wird, und verwendet deshalb jenen semitischen Doppelbegriff für Gesamtheit, der durch die getrennte Aufzählung der einzelnen Teile das Ganze angibt (z. B. "Himmel und Erde", um zu sagen "alles"). (Fs)

197a Die Offenbarung sagt uns, daß neben der Universalität der Personen auch eine Universalität der menschlichen Handlungen besteht: Nichts von dem, was menschlich ist, wird dem Urteil des Richters entgehen. Man wird keine leeren Phrasen vorbringen dürfen ("nicht derjenige, der sagt: Herr, Herr ...", Mt 7,21-23), sondern die vollbrachten Werke vorstellen müssen (Mt l6,27; Röm 2,6; 2 Kor 5,10). Aber wir werden nicht nur auf Grund der Werke, sondern auch auf Grund der Worte gerichtet (Mt 12,36), ebenso auf Grund der Unterlassungen (in Mt 25,35-46: "Ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben", usw. werden die Unterlassungen verurteilt) und der geheimen Gedanken (J Kor 4,5). (Fs)

Die Natur des Gerichts

197b Wie wird dieses Gericht vor sich gehen? Was sagt die Offenbarung darüber? In der Bibel finden wir einige Hinweise, die das Bild des Gerichts in einen Rahmen stellen, der schon immer die Phantasie angeregt hat, aber um seines wahren Inhalts willen auch in jenen pittoresken Einzelheiten gedeutet werden muß. (Fs)

Der Prophet Joel legt das Gericht in ein geheimnisvolles "Tal Jochafat" (Joel 4,2), das später - vom 4. Jh. n. Chr. an - mit dem Kidrontal südostlich des Tempelberges identifiziert wurde. Araber und Juden wollen auch heute auf der einen und anderen Seite des Tales beerdigt werden, um für den jüngsten Tag gerüstet zu sein. Aus der Zusammensetzung der Bezeichnung geht ganz klar ihr Symbolcharakter hervor: "Joschafat" bedeutet: Jahwe richtet. Übrigens verwendet derselbe Prophet später im Text eine andere bedeutsame Bezeichnung: "Tal der Entscheidung" (Joel 4,14). Das ist keine geographische Angabe. Das Tal Joschafat ist das Gericht. (Fs)

197a Daniel beschreibt eine wahre Gerichtsverhandlung mit einem Richter, einem Gerichtshof und Aktenbündeln (Dan 7,9-10). (Fs)

198a Diese Vorstellung wird bis zur Verkündigung Jesu beibehalten, auch wenn sie von anderen Sinnbildern überlagert wird. Das heißt, daß es sich um bildhafte Vorstellungen handelt, wie die des Hirten, der am Abend seine Herde überprüft und die Schafe von den Böcken scheidet (Mt 25,31-46). (Fs)

Ist es abgesehen von phantasievollen Einzelheiten möglich, nachzuweisen, wie unser Gericht tatsächlich verlaufen wird? Wir meinen ja, wenn wir unsere anfänglichen Überlegungen zu diesem Thema berücksichtigen. (Fs)

In unserer Welt stimmen ja die wirklichen Werte keinesfalls mit ihrem Anschein überein, so daß es meist nicht möglich ist, Menschen und Dingen den Wert beizumessen, den sie vor Gott haben. Diese Unstimmigkeit zwischen Wahrheit und Schein erreichte in dem Augenblick den Höhepunkt - und wurde angeprangert -, als der Sohn Gottes getötet wurde, als er, der unsere "Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung" (1 Kor 1,30) war, "sich unter die Verbrecher rechnen ließ" (Jes 53,12). Die Hinrichtung Jesu außerhalb des Jerusalemer Tores, das heißt "außerhalb des Weinbergs", der sein Erbteil war (vgl. Mk 12,8; in dem Gleichnis wird der Sohn außerhalb vom Weinberg getötet), stellt die Niederlage Gottes dar, der heute scheinbar aus der Welt, die sein ist, ausgeschlossen wird. Tatsächlich ist die Tötung des Sohnes Gottes außerhalb der Stadt tragisches Bild und Wirklichkeit des Ausschlusses Gottes aus der Welt — gerade heute: Die Menschen versuchen Gott auszuschließen. (Fs) (notabene)

Gott ist unterlegen, und das nicht so sehr dem Menschen gegenüber, der sündigt, sondern vielmehr dem Menschen gegenüber, der sündigt und zugleich schön, stark, glücklich und zufrieden zu sein scheint. Hingegen begegnet derjenige, der versucht, sich dem Willen des Vaters entsprechend formen zu lassen, Spott, Leiden, Verfolgung und Tod und hat dadurch am Geheimnis der Niederlage seines Schöpfers teil. Wir sind Augenzeugen dieser Tragödie der Niederlage Gottes, und haben als Christen an dieser Tragödie teil. Das für den endgültigen Zustand zu halten, wäre völlig absurd und unannehmbar. (Fs) (notabene)
198b Der Augenblick des Gerichts ist gerade das Ende dieses unsinnigen und blasphemischen Zustandes. Das Gericht wird deshalb hauptsächlich in dem plötzlichen Zerreißen des äußerlichen Schleiers bestehen, so daß die ganze Schöpfung so "nackt und bloß" vor aller Augen liegt, wie sie schon immer nackt und bloß vor den Augen Gottes liegt (Hebr 4,13). (Fs) (notabene)

199a Der Posaunenschall am Ende - eine Besonderheit, die in allen biblischen Beschreibungen des Endgerichts erscheint (Mt 24,31; 1 Kor 15,22; l Thess 4,15; Offb 11,15) -wird die Bühne dieser Welt einstürzen lassen, wie Josuas Hörnerklang die Mauern von Jericho einstürzen ließ (Jos 6,20), und jeder wird sichtbar werden mit seinem inneren Reichtum und seiner inneren Armut. (Fs)

Die Mauern des Scheins stürzen ein, und jeder wird sichtbar in seiner Wahrheit - nicht vor Gott, denn vor Gott steht er schon in seiner Wahrheit, sondern vor allen andern. Und vor sich selbst, denn niemand von uns kann sich wirklich ernsthaft beurteilen. Im Matthäusevangelium, Kap. 25, ist hauptsächlich vom Staunen, von der Verwunderung die Rede. Alle staunen, sowohl die guten, die nicht gemerkt hatten, das sie gut waren, als auch die Bösen, die nicht gemerkt hatten, daß sie böse waren. Das Staunen erwächst aus dem Zusammensturz der Mauern des Scheins, die das wahre Gesicht der Dinge verhüllten. Und was wird beim Einsturz der Mauern erscheinen?

Der Erste, der "offenbar" werden wird, ist Christus, das Haupt des Universums und die Mitte der Menschheitsgeschichte, der bis dahin verborgen und von der Nichtigkeit der Welt beinahe überwältigt worden war. Und jeder Mensch wird plötzlich ohne die Maske, die jede wahre Prüfung verhinderte, in seiner Nähe zu ihm oder in seiner Ferne zu ihm erscheinen: Das wird das Gericht sein. Jesus wird also der einzige Bezugspunkt sein, nach dem alles gemessen wird. Deshalb wird er der "Richter" sein. (Fs)

"Der Mensch ist das Maß aller Dinge", sagte Protagoras; (ein Satz, der durch die letzte Rede Mussolinis berühmt geworden ist, der sie Anaxagoras zuschrieb mit den Worten: "Verzeiht meine Gelehrsamkeit"); wohingegen Platon sagt: "Nein, Gott ist das Maß aller Dinge." Das Christentum sagt: "Christus ist das Maß aller Dinge." Thesen, die stets unvereinbar schienen. (Fs)

199b Wenn also Christus das Maß aller Dinge ist, wenn er dann endlich vor allen erscheinen wird, wird alles beurteilt werden. Christus wird der einzige Bezugspunkt sein, nach dem alles bemessen wird. Wir werden sehen, ob wir ihm nah oder fern stehen. Das wird das Gericht sein. Es wird keiner Fragen bedürfen, denn es wird ganz einfach sein. (Fs)

200a Dann wird endlich die Kehrseite unserer Lebensgeschichte sichtbar werden, und man wird die Güte, die Harmonie, die Weisheit des Planes in seiner ganzen Fülle betrachten, den Gott zur Vollendung geführt hat; den Plan, den wir heute in den Wechselfällen der Geschichte ohne einen festen Glauben schwerlich wahrnehmen können. (Fs)

Wahr bleibt auch Shakespeares Intuition, wonach die menschliche Geschichte "ein Märchen ist, das von einem Irren erzählt wird". Im Menschenschicksal scheint es keine Logik zu geben, aber die Logik ist da. Wir können sie nicht sehen, weil wir gewissermaßen auf der anderen Seite der Stickerei stehen: Die Fäden scheinen ins Absurde zu laufen. (Fs)

Wodurch wird in Wirklichkeit die Nähe oder die Ferne von Christus bestimmt? Mit anderen Worten, nach welchem Gesetz werden wir gerichtet?
Wir werden sicher nicht nach unserer Stellung beurteilt. Es ist uninteressant, ob wir im Welttheater den König oder den Bettler, den Kardinal oder den Meßdiener gespielt haben. Entscheidend ist, daß wir unsere Rolle gut gespielt haben. Wie in den Komödien, wenn einer in der Rolle des Bettlers gut war, bekommt er mehr Applaus als derjenige, der die Rolle des Königs schlecht gespielt hat. Wonach werden wir also gerichtet werden? (Fs)

200b Gewiß werden wir nach unserer Treue gegenüber dem Gesetz Gottes gerichtet werden, denn Jesus hat den Dekalog nicht abgeschafft. Er bleibt die Verhaltensregel für die Menschen aller Zeiten. Aber weil der Herr selbst gesagt hat, daß Gottes Gesetz als Vervollständigung, als Wesenskern die Liebe Gottes über jede andere Liebe und als konkrete Verwirklichung der Liebe zu Gott die Liebe zum Nächsten hat, können wir wohl sagen, daß "wir am letzten Tag - so der hl. Johannes vom Kreuz - nach der Liebe gerichtet werden" (vgl. Mt 25,31-46). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse, Jesus, Sünde; Sünder; Unglück kein Schuldbeweis

Kurzinhalt: Jesus ist also weit entfernt von der irenischen und permissiven Haltung dessen, der meint, im Grunde seien alle Menschen gut und letztlich immer Opfer der Gesellschaft... Jesus war von seiner Schuldlosigkeit und von der Bosheit aller Menschen fest ...

Textausschnitt: Jesus und die Sünde

216b Wie verhält sich Jesus der Wirklichkeit der Sünde gegenüber, die ihm für das Verständnis seiner Sendung so wichtig zu sein scheint? Es ist der Mühe wert, seinen spezifischen Umgang damit näher zu untersuchen. (Fs)

Er selbst zeigt nicht den geringsten Anflug von persönlichem Schuldgefühl, so daß er diejenigen, die in ihm nicht den Eingeborenen des Vaters erkennen, aus der Fassung bringt: "Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen?" (Joh 8,46) So vermag er seine Gegner herauszufordern. (Fs)

Er ist aber keineswegs ein unrealistischer Idealist, der die allumfasssende Bedrohung durch das Böse nicht wahrnimmt. Er bezeichnet seine Zuhörer sogar als "eine böse und treulose Generation" (Mt 16,4) und setzt als unbestreitbar voraus, daß alle "böse" seien (vgl. Mt 7,11). Er weiß sehr wohl, daß aus dem Herzen der Menschen ständig "Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft" kommen (Mk 7,21-22). (Fs)

216c Er weiß, daß er die vermeintliche Schuldlosigkeit der Angesehensten seines Volkes auf die Probe stellen kann: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein" (Joh 8,7). Er ist sich dessen voll bewußt, daß die Welt unweigerlich ein Ort der Schandtaten ist; und er hat für die Menschen, die diese verschulden, unerbittliche, harte Worte: "Es ist unvermeidlich, daß Verführungen kommen. Aber wehe dem, der sie verschuldet. Es wäre besser für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen" (Lk 17,1-2). (Fs)

217a Jesus ist also weit entfernt von der irenischen und permissiven Haltung dessen, der meint, im Grunde seien alle Menschen gut und letztlich immer Opfer der Gesellschaft, der Strukturen sowie vielfacher Zwänge. (Fs)

Jesus akzeptiert nicht die althergebrachte Meinung einer rein irdischen Sichtweise, Unglücksfälle seien immer ein Schuldbeweis. Denn er weiß, daß alle schuldig sind und deshalb alle umkommen müssen, wenn sie sich nicht bekehren (vgl. in Lk 13,1-5 den Kommentar zu dem von Pilatus verübten Blutbad und dem Einsturz des Turms von Schiloach: "Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt"). (Fs)
Jesus war von seiner Schuldlosigkeit und von der Bosheit aller Menschen fest überzeugt. Aber das verleitet ihn nicht, sich hochmütig zu isolieren: Er hat nichts von der unsympathischen Hochmütigkeit des Pharisäers an sich, der sich von den "Sündern" fern hält; eine Haltung, die er mit großem Nachruck verurteilt (vgl. Lk 18,9-14). (Fs)

Im Gegenteil, sein ganzes Leben ist auf diejenigen ausgerichtet, die gesündigt haben und von denen er die Umkehr verlangt. Er vergibt die Sünden (vgl. Mt 9,2-8: Heilung des Gelähmten) und lehrt, daß man dem, der uns unrecht getan hat, unbegrenzt Barmherzigkeit erweisen muß (vgl. Mt 18,21-22: "Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal" ). (Fs)

Jesus hat eine wunderbare Art, das Herz dessen zu treffen, der sein Leben ändern soll: Er überzeugt Zacchäus, den Dieb, indem er sich zum Essen einladen läßt (vgl. Lk 19,5); er rettet die Ehebrecherin vor der Steinigung (vgl. Joh 8,1-11); er verteidigt die Dirne gegenüber der Gemeinheit der Gäste (vgl. Lk 7,36-50). Er geht so weit, seiner betroffenen Zuhörerschaft zu sagen: "Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr" (Mt 21,31). (Fs)

217b Er ist lieber mit Sündern zusammen, denn zu ihnen ist er gekommen: "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten" (Mt 2,17); "Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist" (Lk 19,10). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse, Jesus, Leiden; Leidensweg, Jünger; Petrus; Hebräerbrief: Psychologie des Gottessohns; Opfer; Opfertod; Zusammenfassung; positiver Wert des Leidens

Kurzinhalt: ... treffen sich in ihm sozusagen die zwei Seiten des Bösen, Leiden und Schuld ... ist die christliche Botschaft ihrem Wesen nach die Verkündigung des Triumphes der Menschheit über das Reich des Todes und der Sünde durch den Opfertod und die ...

Textausschnitt: Jesus und das Leiden

218a Auch dem Leiden gegenüber verhält sich Jesus in ganz spezifischer Weise. (Fs)

Leiden - sagt er - sei nicht immer das Anzeichen für eine persönliche menschliche Schuld, die Strafe verdient, aber immer von Bedeutung und Wert für den Plan des Vaters (vgl. die Heilung des Blindgeborenen: "Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden" (Joh 9,3). In Jesu Lehre wird das Leiden beinahe zu einer Bevorzugung im Hinblick auf den damit verbundenen Lohn, während der irdische Wohlstand eine Gefahr sein kann: "Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen... Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen" (Lk 6,21.25). (Fs)

Ja, weil er selbst leiden muß, ist der Leidensweg notwendig, um ernsthaft sein Jünger sein zu können: "Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 8,34). Ein Satz, der in seiner vollen Härte, über die stets gepflegte und äußerst konventionelle Zitiererei hinaus, neu erfaßt werden sollte. (Fs)

Dieses Logion läßt uns über die Tatsache nachdenken, daß Jesus das Leiden als etwas Wesentliches betrachtet, das sein Dasein und seine Sendung kennzeichnet. Sein ganzes Denken richtet sich auf das wiederholt angekündigte furchtbare Leiden. Man vergleiche z. B. Mk 8,31-33: "Dann begann er, sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen. Und er redete ganz offen darüber. Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe. Jesus wandte sich um, sah seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen."
218b Petrus verkörpert sehr gut unseren Widerwillen gegen einen göttlichen Plan für uns, der Niederlage, Leiden und Tod einschließt; Jesu Reaktion sagt uns, daß hier ein äußerst sensibler Punkt des Empfindens und des missionarischen Bewußtseins des Herrn berührt wurde. (Fs)

219a Die staunenswerte Meditation des Hebräerbriefes über die grundlegende Bedeutung des Leidens für die volle menschliche Bewußtseinsbildung Jesu im Hinblick auf seine Sendung hat sehr gut erfaßt, wie wichtig die Erfahrung des Kreuzes für die geheimnisvolle Psychologie des Gottessohns war: "Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden" (Hebr 5,8-9). (Fs)

Aber derselbe Hebräerbrief sagt uns - und die Berichte des Evangeliums bezeugen es auch -, daß Jesus nichts Masochistisches an sich hat und daß es ihm nicht angenehm ist, zu leiden: Die Szene von Getsemani macht das deutlich: "Da ergriff ihn Angst und Traurigkeit, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt ... Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst" (vgl. Mt 26,37-39). "Er hat mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden" (Hebr 5,7). Diese Worte zeigen uns die komplexen und geheimnisvollen Beziehungen zwischen Leiden, Gebet und dem Plan des Vaters, der in jedem Fall erfüllt werden muß. (Fs)

Jesus scheint den furchtbaren Tod am Kreuz zu ersehnen, wenn er sagt: "Ich muß mit einer Taufe getauft werden, und ich bin sehr bedrückt, solange sie noch nicht vollzogen ist" (Lk 12,50). Er weiß, daß sein Blut als Blut des Opfers, das den neuen Bund besiegelt, "zur Vergebung der Sünden" vergossen wird (Mt 26,27). (Fs)

219b Wie man sieht, treffen sich in ihm sozusagen die zwei Seiten des Bösen, Leiden und Schuld, wie es im Buch der Tröstung Israels angekündigt worden war. Und gerade dadurch, daß er sich in die Mitte des Geheimnisses des Bösen gestellt hat, haben die Apostel nach der Auferstehung verstanden, daß Jesus von Nazaret wahrhaftig der "Goel" des neuen Volkes Gottes ist. (Fs)

Die apostolische Verkündigung

220a Nach der tragischen Erfahrung des Karfreitags und den wiederholten Begegnungen mit dem auferstandenen Herrn können die Apostel den schwierigen Plan der Erlösung des unglücklichen und sündigen Menschen durch das Leiden erfassen. So verstanden, ist die christliche Botschaft ihrem Wesen nach die Verkündigung des Triumphes der Menschheit über das Reich des Todes und der Sünde durch den Opfertod und die Auferstehung Christi: "Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: 'Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift ... Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden'" (1 Kor 15,3-4.22). "Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt" (Röm 4,25). (Fs)

Und weil das christliche Leben ein "Leben in Christus und nach dem Bild Christi ist, beginnen die Apostel sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß das für Jesus erduldete Leiden sogar ein Vorzug und eine Quelle der Freude ist. So begreifen sie allmählich den wahren Sinn der anspruchsvollen "Seligpreisungen" des Evangeliums: "Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, daß sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden" (Apg 5,41). (Fs)

Deshalb konnte Petrus sogar schreiben. "Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet. Ist es vielleicht etwas Besonderes, wenn ihr wegen einer Verfehlung Schläge erduldet? Wenn ihr aber recht handelt und trotzdem Leiden erduldet, das ist eine Gnade in den Augen Gottes" (1 Petr 2,19-21). (Fs)

Und der Apostel Paulus kann hervorheben, daß der Christ, der durch sein Leiden in seinem Leben das Todesleiden Jesu trägt, zum Prinzip des Gnadenlebens wird: "Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird" (2 Kor 4,10). (Fs)

220b Als Teilhabe am Opfer Christi haben die Leiden des Christen für die Menschheit und den Aufbau der Kirche sogar einen Heilswert, wie der Apostel in tatsächlich überraschender Weise sagt: "Jetzt freue ich mich an den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt" (Kol 1,24). (Fs)

221a Das Leiden wird natürlich nicht als Ziel, sondern als Voraussetzung für den Zustand der Freude und Herrlichkeit gesehen, der der Lohn sein wird. Das ist im Christentum eine Grundperspektive und eine unwiderrufliche, klare Gewißheit: "Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden" (Röm 8,17). Mehr noch, die christliche Hoffnung beschränkt sich nicht nur auf den Einzelnen, sondern umfaßt den ganzen Kosmos: "Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt" (2 Petr 3,13), und damit wird endlich alles bereinigt. "Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen" (Offb 21,4). (Fs)

Zusammenfassung

221b Die Besonderheit des Christentums besteht darin, daß es den positiven Wert des Leidens bekräftigt und versichert, daß in Christus der Zustand der Sünde und die Katastrophe des Todes überwunden sind. Das alles wird in der Botschaft des Evangeliums nicht durch eine Reihenfolge von theoretischen Beweisführungen ausgedrückt: Das Christentum ist an und für sich keine Lehre, die dem menschlichen Denken Lösungen des Rätsels anbieten will, sondern es ist die Nachricht von einem Ereignis und einer uranfänglichen Wirklichkeit, in der alles schon da ist und aus der alles Sinn und Bedeutung empfängt. (Fs) (notabene)

Es ist das österliche Ereignis des Eingeborenen des Vaters, der unser Bruder geworden ist: das Pascha des Blutes und der Erlösung, der Erniedrigung und der Herrlichkeit, des Todes und der Auferstehung, der Teilhabe an der Niederlage der Kinder Adams und ihrer wirklichen endgültigen Erlösung. (Fs)

221c Die uranfängliche Wirklichkeit ist Christus selbst: Indem sich der Mensch im Denken und Handeln immer enger an Christus bindet, teilt er das Geschick des leidenden Erlösers, der vom Vater gerettet wird. Wenn der Mensch sich von Christus ausschließt, dann schließt er sich auch vom göttlichen Plan und von seiner ursprünglichen Berufung aus und muß sich trostlos dem Absurden überlassen. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Seele, Mensch; nur die Vernunftseele ist eine foram subsistens; sie entsteht durch einen Schöpfungsakt

Kurzinhalt: F1_090a2c - Ob die Seele durch einen Schöpfungsakt hervorgebracht wurde

Textausschnitt: ANTWORT: Die Vernunftseele kann nur durch Erschaffung entstehen, was bezüglich der andern Formen nicht so ist. Der Grund hierfür ist dieser: Da das Entstehen der Weg zum Sein ist, kommt einem Ding das Werden in der Weise zu, wie ihm das Sein zukommt. Man sagt aber von jenem im eigentlichen Sinne, daß es sei, welches das Sein so besitzt, daß es in seinem Sein Selbstand hat. Darum heißen auch nur die Selbstandwesen im eigentlichen und wahren Sinne Seiende; das Beiwesen aber hat nicht Sein, sondern durch dasselbe ist etwas [so oder so beschaffen]; aus diesem Grunde wird es ein Seiendes genannt, wie man die Weißfarbenheit ein Seiendes nennt, weil durch sie etwas weiß ist. Darum "nennt man das Beiwesen richtiger eines Seienden [Bestimmung], denn ein Seiendes" [Aristoteles1]. Derselbe Grund gilt für alle nicht Selbstand besitzenden Formen. Darum kommt keiner nicht Selbstand besitzenden Form das Entstehen im eigentlichen Sinne zu, sondern man sagt, sie entstünden dadurch, daß zusammengesetzte Selbstandwesen entstehen. — Die Vernunftseele ist aber eine Selbstand besitzende Form (75, 2: Bd. 6). Und da sie nicht entstehen kann aus vorliegendem körperlichem Stoffe, weil sie dann körperlicher Natur wäre, noch aus einem geistigen Stoffe [5], weil dann die geistigen Selbstandwesen ineinander umgewandelt würden, so muß man sagen, daß sie nur durch einen Schöpfungsakt entsteht. (Fs)

Kommentar (23.03.11): Dann besitzt etwa die Tierseele keinen Selbstand. Interessant im Zusammenhang des Bedenkens der Evolution.

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse; Jesus, Satan, Teufel; Bibel, Schrifttexte: AT: Schlange, Buch d. Weisheit, Sacharja; NT: Wüste, Vater d. Lüge (Joh 8,44), Paulus, Offenbarund (Satans Niederlage)

Kurzinhalt: ... daß das Böse in der Heiligen Schrift keine blinde und gesichtslose Macht ist, sondern immer einen personalen Ursprung hat... beginnt die Bibel mit der Darstellung des Bösen an seinem Ursprung (Gen 3); sie schließt mit der Beschreibung des Bösen ...

Textausschnitt: III. EXCURSUS ÜBER DEN TEUFEL

222a Als getreue Deuter der Offenbarung dürfen wir nicht außer Acht lassen, daß das Böse in der Heiligen Schrift keine blinde und gesichtslose Macht ist, sondern immer einen personalen Ursprung hat. Hinter dem Bösen steht immer die unheimliche Gestalt des Teufels, das heißt des "Widersachers". (Fs)

Das Argument der Schlange

Die Erzählung der Genesis zeigt uns, daß Leiden und Sünde aus der freien und unsinnigen Entscheidung der Stammeltern entstanden sind, aber auf Grund der Anstiftung durch ein anderes Wesen, das schon alle Merkmale zeigt, die die nachfolgende Offenbarung dem Teufel zuschreiben wird: den Willen zur Versuchung, die Neigung zur Lüge, die Absicht, in den Tod zu treiben. Im Buch der Weisheit wird die Schlange der Genesis ganz klar mit dem Teufel identifiziert: "Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt" (Weish 2,24); ebenso von Jesus selbst: "Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge" (Joh 8,44); und von der Geheimen Offenbarung: "der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt" (Offb 12,9). (Fs)

Das Argument des Anklägers

222b In den Prophetien von Sacharja (gegen 520) erscheint der Satan als abtrünniger Engel, dem es gefällt, die Gerechten bei Gott anzuklagen: "Der Satan aber stand rechts von Jeschua, um ihn anzuklagen" (Sach 3,1), und dieselbe Rolle spielt er im Buch Ijob (Ijob 1-2). Diese Beschreibungen dienen dazu, die Bosheit dieser Gestalt hervorzuheben, denn nach Meinung der Alten gibt es nichts Niederträchtigeres als eine unwahre Anklage vor Gericht gegen einen Unschuldigen. (Fs)

Im ganzen Alten Testament erscheint Satan mit denselben Merkmalen und immer mit dem Ziel, zum Bösen und zum Untergang hin zu drängen. Zum Beispiel treibt er David zur Volkszählung an (1 Chr 21,1). (Fs)

Jesus und der Teufel

223a Jesus vergißt nie die Existenz dieser unheimlichen Gestalt. Seine Sendung beginnt sogar mit der verblüffenden Szene des Teufels, der den Menschensohn in der Wüste versucht und abgewiesen wird, gleichsam in Erinnerung und Gegenüberstellung zur ersten unglückseligen Versuchung im Paradies (vgl. Mt 4,1-11). Der Teufel ist der Protagonist des herrlichen Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, in dem vielleicht das Geheimnis des Bösen in der Welt am deutlichsten dargestellt wird: "Der Feind, der es gesät hat, ist der Teufel" (Mt 13,39). (Fs)

Jesus will, daß seine Jünger bitten, von diesem Feind befreit zu werden: "rette uns vor dem Bösen" (Mt 6,13: apo tou ponErou). Christus nennt den Teufel sogar "Herrscher dieser Welt" (Joh 12,31; 14,30; 16,11), und die apostolische Sendung wird als Kampf aufgefaßt mit dem Ziel, ihn von seinem Thron zu stürzen: "Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen" (Lk 10,18). Die Stunde des Leidens wird als höchste Entfesselung dieser finsteren Macht gesehen: "Das ist eure Stunde, jetzt hat die Finsternis die Macht" (Lk 22,53). (Fs)

Satans Niederlage

Zum Glück sagt uns die Offenbarung auch, daß diese niederträchtige Persönlichkeit (die von der Schrift nie als ein "Gott des Bösen", sondern als ein abtrünniges Geschöpf dargestellt wird) zum vollständigen und endgültigen Untergang bestimmt ist. Nach Jesu Lehre wird "der König" am Weltende zu den Bösen sagen: "Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist (Mt 25,41). (Fs)

223b Paulus schreibt an die Römer: "Der Gott des Friedens wird den Satan bald zertreten und unter eure Füße legen" (Röm 16,20). Die Offenbarung beschreibt sehr anschaulich die letzte Auflehnung und die endgültige Niederlage der dämonischen Kräfte: "Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit" (Offb 20,10). (Fs)

224a Wie man sieht, beginnt die Bibel mit der Darstellung des Bösen an seinem Ursprung (Gen 3); sie schließt mit der Beschreibung des Bösen und seiner Niederlage; einer Niederlage, die schon im Gange ist durch den Tod und die Auferstehung des Herrn, die aber daraufwartet, vollendet und offenbar gemacht zu werden, wenn Christus kommen wird, "die Lebendigen und die Toten zu richten" und damit die menschliche Geschichte, dieses Leben in Sünde und Mühsal, besiegeln wird. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse; theologische Reflexion; das Böse als Nicht-Sein, Mangel am Sein (Plotin, Augustinus); "beste aller möglichen Welten" (Leibniz); Hoffnung: Gott

Kurzinhalt: Plotin faßt ganz klar das Böse als "Nichtsein" auf... Deshalb wird die angemessene Frage nicht lauten: Warum existiert das Böse in der Welt Gottes?, sondern: Welchen Sinn hat das Böse im göttlichen Heilsplan?

Textausschnitt: IV. REFLEXION ÜBER DAS, WAS BISHER DER SCHRIFT ENTNOMMEN WURDE

Notwendigkeit persönlichen Nachdenkens

224b Hier könnten unsere Überlegungen auch enden. Wenn die theologische Betrachtung hauptsächlich ein "Hören" ist auf den, der allein weiß, wie die Dinge im Himmel und auf Erden sind, haben wir jetzt "gehört"; und wir könnten uns damit auch zufrieden geben. In Wirklichkeit besteht sowieso keine Hoffnung, daß unser spekulatives Denkvermögen dem aus der göttlichen Offenbarung Entnommenen noch etwas hinzufügen kann. (Fs)

Aber gerade weil unser Interesse groß und aufrichtig ist, ist es notwendig, daß wir den Fragen, die das Wort Gottes natürlich in unserem Herzen geweckt hat, freien Lauf lassen. (Fs)

224b Als erwachsene Menschen können wir die Stimme von oben nicht so hören, wie irgendein Lebewesen in der Welt das Donnern oder das Blätterrascheln des Windes vernimmt. Wir müssen sie in unser Denken eindringen lassen: Die Offenbarung will unsere Vernunft nicht überwältigen, sondern erhellen. Sie will überzeugen und den transzendenten Gedanken Gottes in die Formen des geschaffenen Verstandes einsenken. Wir müssen Gottes Denken in uns arbeiten lassen, aber gleichzeitig unsere Neigung zum unverbesserlichen Forschen nach letzten Ursachen achten. (Fs)

225a Gott hat uns so geschaffen, und es ist recht, daß wir uns so verhalten, wie wir sind. Das unersättliche Forschen, sagt Kohelet, ist "ein schlechtes Geschäft, für das die einzelnen Menschen durch Gottes Auftrag sich abgemüht haben" (Koh 1,13); die lateinische Version klingt noch besser: "... quaerere et investigare sapienter de omnibus quae fiunt sub sole: hanc occupationem pessimam dedit Deus filiis hominum, ut occuparentur in ea."

Hören, was der Herr sagt: Das ist der Glaubensakt.

Aber der Glaubensakt setzt als unerläßliche Grundlage auch die Anstrengung des Verstandes voraus. Im Gegensatz zu der durch die Aufklärung verbreiteten vorgefaßten Meinung muß der Gläubige immer eine vernünftige Denkarbeit leisten. Ja, in gewisser Hinsicht kann man sogar sagen, daß der Mensch seine eigene Vernünftigkeit nur durch das Wagnis des Glaubens retten und dem Absurden ausweichen kann. Der beste Beweis dafür scheint gerade die Herausforderung zu sein, vor die unser Geist durch die Existenz des Bösen gestellt ist. (Fs)

Wir können der uns von Gott angebotenen Wahrheit am meisten Ehre erweisen, wenn wir versuchen, sie ihren Inhalten, ihren inneren Zusammenhängen und ihren Implikationen entsprechend zu verstehen. Und das wollen wir hier anhand einiger systematischer Überlegungen tun. (Fs)

225b Natürlich ist dieses Forschen, auch wenn es ganz objektiv sein will, weitgehend persönlich. Jeder von uns hat seine eigenen Fragen und Forschungsmethoden. Jeder von uns spürt im Innern seine Dunkelheiten und seine Erleuchtungen. Deshalb sind diese Schwerpunkte nur als Beispiel und Anregung zur Denkarbeit des einzelnen zu betrachten, ohne jemanden unbedingt überzeugen zu wollen, aber mit der leisen Hoffnung, daß vielleicht manchem brüderlich geholfen wird. (Fs)

Das Böse als Nicht-Sein

225c Zu Beginn eine in der Geschichte des menschlichen Denkens klassische metaphysische Überlegung, die nicht zu vergessen ist: Es ist die Unmöglichkeit, sich das Böse als positiv existierende Wirklichkeit vorzustellen (als "Wesenheit", um mit den Alten zu sprechen). (Fs)

226a Das war die definitive Errungenschaft des Neuplatonismus, der auf diese Weise die primitiven und phantasievollen Auffassungen von Gut und Böse als zwei gleichzeitig miteinander vermischte und in ständigem Kampf befindliche Wesen überwunden hat. Plotin faßt ganz klar das Böse als "Nichtsein" auf. Der griechischen Tradition entsprechend wird das Böse zwar als gebunden an Materie wahrgenommen; aber diese "Materie" wird von Plotin nicht als etwas Positives, sondern als Verlust, als reiner Mangel des Seins betrachtet: "Es bleibt also nichts anderes übrig, wenn es das Böse wirklich gibt, als daß es zu den Nichtseienden gehört und sozusagen eine bestimmte Form des Nichtseins ist..." (Enneaden 1,8,3). (Fs)

Das ist eine notwendige Vorbemerkung, um jede manichäische Denkweise zu vermeiden, die manchmal auf den menschlichen Geist sehr anziehend wirkt. (Fs)

Man denke nur an einen Geist wie den des Augustinus, der beinahe fünfzehn Jahre lang darin verstrickt war und gerade wegen dieser dualistischen Sichtweise so lange gebraucht hat, um Gott als Schöpfer recht zu erfassen. Es gelingt ihm erst nach der Lektüre der Neuplatoniker, durch die er erkennt, daß "alles, was da seiend ist, gut ist, und jenes Böse, dessen Ursprung ich suchte, ist nicht Wesenheit; denn wäre es Wesenheit, so wäre es gut" (Augustinus, Bekenntnisse VII.12.18). (Fs)

Wenn man das Böse einmal als Mangel an Sein verstanden hat, dann begreift man auch, daß eine bestimmte Art des "Bösen", die in der Endlichkeit und Begrenzung besteht, nicht nur möglich, sondern im Geschöpflichen unbedingt notwendig ist. Ein Sein ohne ontologische Mängel wäre nämlich unendlich, das heißt, es wäre kein Geschöpf mehr. (Fs)

Kommentar (18.02.11): zu oben: Endlichkeit als eine Art des Bösen?

226b Durch einen ähnlichen Gedankengang entleert man auch die optimistische Hypothese der "beste aller möglichen Welten", wie sie Leibniz vorgeschlagen hat. Die Welt, wie man sie sich auch vorstellen mag, würde immer nur einige göttliche Vollkommenheiten aufweisen, aber nicht alle, und könnte deshalb immer ein Mehr an Sein empfangen. Die "beste aller möglichen Welten" ist folglich ein widersprüchlicher Begriff, etwa wie der der "letzten ungleichen Zahl". Es ist interessant festzustellen, daß Leopardi zu Recht die gleiche Beweisführung anwendet, um auszuschließen, daß das die "beste aller möglichen Welten" sei. Und das schmälert nicht seinen Pessimismus, im Gegenteil: Es ist die Überzeugung, daß das Schlimmste nicht aufzuhalten ist. "Ich wagte nicht zu sagen, daß das vorhandene Universum das schlechtmöglichste von allen ist, indem ich so den Optimismus durch Pessimismus ersetze. Wer kennt denn die Grenzen des Möglichen?" (Zibaldone 4174). Diese schöne Rede über das Böse als Nichtsein ist meiner Meinung nach metaphysisch unanfechtbar, aber sie erhellt kaum das Rätsel des Bösen als menschliche Qual, das heißt das Leiden und die Schuld; ein Rätsel, mit dem wir einfach vom Leben her alle gezwungen sind, uns auseinanderzusetzen. (Fs)

Einzige Hoffnung: Gott

227a Angesichts des Drucks von Trauer und Mühsal, der auf der jetzigen Befindlichkeit und Geschichte des Menschen lastet, ist paradoxerweise nicht derjenige im Vorteil, der von Anfang an von Gottes Existenz überzeugt ist, sondern derjenige, der überhaupt nicht an Gott denkt. (Fs)

Es fällt nämlich sehr schwer, den anfänglichen Begriff eines Wesens, das das unendliche Gute ist, mit der Erfahrung der traurigen Situation auf Erden zu vereinbaren. (Fs)

Um dem Absurden zu entkommen, kann es eher passieren, daß wir — nach der Feststellung des Bösen — als einzigen uns gebotenen Lichtstrahl die Hypothese eines unbekannten Gottes annehmen, der imstande ist, im Verborgenen alle Ungerechtigkeiten auszugleichen. Wer von der Idee eines ewigen Urhebers aller Dinge ausgeht, neigt instinktiv dazu, den Schöpfer für jedes Unglück, das in der Welt geschieht, zur Rechenschaft zu ziehen. Die Tragik unseres Lebens wird dann zum Anklagepunkt, zum Hinderungsgrund, der theistischen Sicht treu zu bleiben. (Fs)

Letztlich also Gott auszugrenzen, um die Angriffe des Bösen zu vermeiden oder zumindest abzuschwächen, das muß das Ergebnis eines kuriosen psychologischen Vorgangs sein. Aber das ist natürlich eine Täuschung: Das Leiden - das furchtbare und unvermeidliche Leiden der Kreatur - ist eine von unserem Denken völlig unabhängige Tatsache: Man kann Atheist oder gläubig sein, der Wirklichkeit des menschlichen Leidens kann man auf keinen Fall entgehen. (Fs)

227b Wer aber nachzudenken beginnt und die leidende Menschheit mit ihrem tiefen Bedürfnis nach Trost im Blick hat, wird dann leichter an die Existenz Gottes als einzigen möglichen Weg denken, um Hoffnung schöpfen zu können. (Fs)

228a Nun können wir verstehen, daß die rechte Haltung in Bezug auf das Böse nicht die ist, sich vor Gott hinzustellen wie eine stirnrunzelnde Lehrerin, die den Schüler vorwurfsvoll anblickt, weil sie viele Kleckse in seinem Schulheft gefunden hat, oder wie der Untersuchungsrichter, der dem Angeklagten sein Verhalten vorhält, um seine Schuld festzustellen. Wir müssen Gott fragen, welche Rolle das Leiden und die Schuld in seinem transzendenten Plan spielen. (Fs)

Deshalb wird die angemessene Frage nicht lauten: Warum existiert das Böse in der Welt Gottes?, sondern: Welchen Sinn hat das Böse im göttlichen Heilsplan?

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse; Sünde, Sinn des Leidens: Strafe, Sühne Miterlösung; Newman (Erbsünde); Paradoxon (Vorzug des Leidens); Schuld: Ausdruck und Beweis der Freiheit

Kurzinhalt: In einer absolut sündelosen Welt wäre das Leiden nicht einmal begriffsmäßig denkbar... nicht: "Ich bin unschuldig, also leide ich zu unrecht"; sondern: "Ich leide, also neige ich zur Sünde."... Möglichkeit der Sühne haben, sich untereinander und mit ...

Textausschnitt: Sinn des Leidens: Strafe

228b Wenn wir den Sinn des Leidens ergründen wollen, müssen wir die Offenbarung befragen und aus dem, was sie uns sagt, lernen. In einer absolut sündelosen Welt wäre das Leiden nicht einmal begriffsmäßig denkbar. (Fs) (notabene)

Kommentar (19.02.11): Zu oben dann die Frage: Wie verhält es sich mit dem Leiden Marias?
Nach einem absoluten und unwiderruflichen Prinzip wird Schuld vom Unglück begleitet, so wie Glückseligkeit der Zustand der Tugend sein muß. Das ist so evident, daß wir ansonsten unseren Gerechtigkeitssinn verletzt fühlen und empört sind. Aber das rechte Denken des Menschen, der leidet, ist nicht: "Ich bin unschuldig, also leide ich zu unrecht"; sondern: "Ich leide, also neige ich zur Sünde." (Fs) (notabene)
Eine Neigung, die entweder auf Grund einer persönlichen Beziehung zur Ungerechtigkeit oder zumindet auf Grund unserer Zugehörigkeit zu einem befleckten Menschengeschlecht besteht. Das Leiden ist die bitterste und entscheidendste Niederlage, die jedem naturalistischen Optimismus unweigerlich widerfährt: Niemand von uns kann sich absolut schuldlos nennen, und sei es nur auf Grund jenes inneren Zusammenhangs, der uns in die Mißgeschicke des ganzen Menschengeschlechtes einbezieht. (Fs)

228c Wie man sieht, ruft die Rätselhaftigkeit des Leidens die Rätselhaftigkeit einer Urschuld mit universalen Folgen auf den Plan. Darüber schrieb Kardinal Newman die bekannten Worte: "Betrachten wir die Welt nach ihrer Länge und Breite, ... die Enttäuschungen des Lebens, die Niederlage des Guten, den Triumph des Bösen, körperliche Leiden und geistige Drangsale, die Vorherrschaft und Gewalt der Sünde, ... - das alles ist ein Anblick, der Schwindel und Grauen erregt und dem Geiste die Ahnung eines tiefen Geheimnisses aufdrängt, das über alle menschlichen Lösungsversuche erhaben ist ... (Fs)

229a So schließe ich ... - wenn es einen Gott gibt, und da es einen Gott gibt, muß das Menschengeschlecht von der Wurzel her in irgendein furchtbares Unheil verstrickt sein. Es hat die Verbindung mit den Absichten seines Schöpfers verloren. Das ist eine Tatsache, so sicher wie die Tatsache seiner Existenz; und darum ist die Lehre von dem, was die Theologen Erbsünde nennen, in meinen Augen fast ebenso gewiß, wie die Existenz der Welt und die Existenz Gottes. (Apologia, c. V). (Fs) (notabene)

Es handelt sich um eine Wahrheit, "tief verborgen wie jedes Geheimnis; aber ohne sie wird alles in der Welt und im Menschen noch undurchdringlicher, angefangen von dem Meer von Tränen und Blut, das unsere Geschichte bedeckt" (G. Biffi, La Bella, la Bestia e il Cavaliere, S. 74 f.). Dieser zweifellos schwierige Begriffsknoten läßt sich keinesfalls lösen, "wenn man den theologischen Inhalt der traditionellen Lehre irgendwie verkürzt, damit er in die Schemata der zeitgenössischen Kultur und Wissenschaft paßt.... Die Wurzel der Sünde, die von den Anfängen der Menschheit an in geheimnisvoller Weise unsere ganze Geschichte hindurch weitergegeben wurde, ist in der unsichtbaren Welt zu suchen (das heißt in der Engelwelt), über die wir nicht viel sagen können, aber die wir noch weniger verneinen oder kritisch beurteilen sollten" (ebd., S. 82 f.). Wie man sieht, müssen wir voraussetzen, daß unter den Menschen - ja unter allen Lebewesen — eine von Natur aus gegebene Solidarität besteht, die uns miteinander verbindet und uns schon seit der Erschaffung gleichsam zu einem Leib macht. (Fs)

Sinn des Leidens: Sühne

Das Leiden ist nicht nur Bestrafung der Schuld, sondern auch Grund und Mittel zur Sühne. (Fs)
229b Die Sünde ist formal der geschaffene Wille, der vom Willen des Schöpfers abweicht. Jede eventuelle Wiedergutmachung gegenüber der verletzten Gerechtigkeitsordnung kann grundsätzlich nur in dem Willen bestehen, der dem Willen Gottes durch einen Akt der Liebe wieder zustimmt. Aber jede Berichtigung des Willens, die sich nicht der verdienten Strafe unterziehen würde, wäre trügerisch und fast nur ein Wort, weil ihr die volle Liebe zur Gerechtigkeitsordnung fehlen würde. (Fs)

230a Die Sünde wird wiedergutgemacht durch die Reue. Aber jede wahre Reue wird durch Annahme des Leidens ausgedrückt und bewiesen. (Fs)

Sinn des Leidens: Miterlösung

In der von Gott gewollten Ordnung erhält das Leiden auch einen Heilswert zugunsten der anderen. Das Solidaritätsgesetz dient wiederum zur Weitergabe des Guten: Jedes aus Liebe angenommene Leiden nützt nicht nur dem, der leidet, sondern dem ganzen sozialen Leib der Menschheit, in den wir von Grund auf eingebunden sind. Kein Leiden ist unnütz oder vergebens, wenn es in Liebe zum göttlichen Gesetz ertragen wird. Auch wenn das Leiden die persönliche Schuld überwiegen sollte, fließt alles im Heilswerk zugunsten des Universums zusammen. (Fs)

Das ist möglich, weil wir nicht in einen rein theoretischen Plan des Loskaufs des Menschengeschlechtes einbezogen sind, sondern in eine lebendige Teilhabe an der Wirklichkeit dessen, der der Erlöser aller ist. (Fs)
Daraus folgt das Paradoxon, daß das in Christus angenommene Leiden ein Weg zur vollkommenen Verwirklichung unserer Bestimmung wird. (Fs)

Wir sind nach der vom Vater festgelegten Ordnung der Dinge dazu bestimmt, "an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei" (Röm 8,29). Aber der Sohn Gottes ist ein Mensch, der zum Heil der Welt gekreuzigt wurde. Wer ihm vollkommen ähnlich werden will, der kann deshalb das Kreuz, dieses Werkzeug des Heils, nicht außerachtlassen. (Fs)

230b So schwer das Leiden auch anzunehmen ist, es bedeutet einen Vorzug; einen um so größeren Vorzug, weil die Teilhabe am furchtbaren Geheimnis des Karfreitags die Teilhabe am freudvollen und herrlichen Geheimnis des Auferstehungstages bedingt und ausmißt. Das Leiden als Ausdruck der Liebe zum Vater und zu den Mitmenschen wird so ein grundlegender Baustein des christlichen Daseins, das darin besteht, sich immer vollkommener in Jesus, den auferstandenen Gekreuzigten, den einzigen Erlöser des Menschen, einzugliedern. (Fs)

Sinn des Leidens insgesamt

231a Wenn wir dieses Problem von der allgemeinen Sicht trennen, die uns vom Glauben gegeben wird, scheint es völlig undurchdringlich und beinahe der Gipfel des Absurden zu sein. Stellen wir aber dieses Problem in den Rahmen des Weltbildes, das uns geoffenbart wurde, können wir vielleicht folgendes daraus entnehmen: Es widerspricht keineswegs der Weisheit und Güte Gottes, daß er eine Welt geschaffen hat, in der die freien und sündigen Menschen die Möglichkeit der Sühne haben, sich untereinander und mit Christus durch den Heilswert ihrer Leiden enger zu verbinden; daß sie ihre Zuneigung zum Herrn des Universums in einer Weise spüren können, wie es in einem Zustand dauernden Wohlergehens nicht möglich ist; daß sie ihre Hingabefähigkeit verstärken und damit eine größere Vollkommenheit und Freude erlangen können. (Fs)

So verstehen wir, daß das Wesen jeder wahren religiösen Beziehung darin besteht, die Welt anzunehmen, die Gott frei erwählt hat, um den für alle seine Geschöpfe bestimmten Heilsweg zu verwirklichen: Dieser Weg endet im Himmelreich, führt aber unweigerlich über Golgota. (Fs)

Sinn der Schuld: Ausdruck und Beweis der Freiheit

231b Im Unterschied zur griechischen Auffassung, die vor allem in den Tragödiendichtern erscheint und wo oft von einer transzendenten Notwendigkeit (anagkE tychE)) als tiefster Wurzel der menschlichen Sünde die Rede ist, schreibt die jüdisch-christliche Offenbarung die Existenz des moralischen Übels, das heißt der Sünde, immer der Anwesenheit freier Menschen in der Welt zu. Die geschaffene Freiheit bringt unweigerlich das Risiko der Auflehnung mit sich, die, weil sie aus einer freien Entscheidung des Geschöpfes erwächst, in keiner Weise Gott zugeschrieben werden kann. Dazu ist es nützlich, uns einen Text von Jesus Sirach in Erinnerung zu rufen:

Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott.
Denn was er haßt, das tut er nicht.
Sag nicht: Er hat mich zu Fall gebracht.
Denn er hat keine Freude an schlechten Menschen.
Verabscheuungswürdiges haßt der Herr;
alle, die ihn fürchten, bewahrt er davor.
Er hat am Anfang den Menschen erschaffen
und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen.
Wenn du willst, kannst du das Gebot halten;
Gottes Willen zu tun ist Treue.
Feuer und Wasser sind vor dich hingestellt;
streck deine Hände aus nach dem, was dir gefällt.
Der Mensch hat Leben und Tod vor sich;
was er begehrt, wird ihm zuteil (Sir 15,11-17). (Fs)

232a Das Vorrecht der Freiheit macht den Menschen in gewisser Weise Gott ähnlich, denn er wird sozusagen zum Prinzip des Guten und des Bösen, zumindest in Bezug auf sich selbst. Weil der Herr aber nicht darauf verzichtet, das objektive und wahre Prinzip des Guten und des Bösen zu sein, führt die Entscheidung des Geschöpfes unweigerlich zu einer Begegnung oder einem Zusammenstoß mit dem Absoluten. Wenn ich positiv entscheide, bekräftige ich das gewählte Objekt als konkreten auf mich bezogenen Wert; wenn ich es ablehne, zerstöre ich das Objekt, das ich ja als konkreten auf mich bezogenen Wert abgelehnt habe. Gott, der "universales Gesetz" und universale Hoheit ist, hat schon im voraus eine bestimmte Meinung über die Beziehung, die zwischen mir und einem bestimmten Objekt zu bestehen hat (seine Meinung wird mir durch die Stimme des Gewissens mitgeteilt). Meine Entscheidung oder meine Ablehnung, im Einklang oder im Widerspruch zu Gottes Ansinnen, führt deshalb von selbst zur Annahme oder Verneinung dessen, der die unabdingbare Norm von allem ist. (Fs)

232b Der Dieb glaubt, er habe nur die Geldbörse seines Reisebegleiters gewählt, als er sich zu stehlen entschloß, aber er hat mit ihr auch den Zusammenstoß mit Gott gewählt. Und das ist die Sünde. (Fs)

Sinn der Schuld: Gottes Barmherzigkeit offenbar machen
233a Warum greift Gott nicht ein und verhindert das moralische Böse? Dazu ist zu sagen, daß die Freiheit in den Augen des Herrn etwas so Großes ist, daß er auch die Auflehnung seines Geschöpfes gegen ihn duldet. Aber wir sind damit nicht zufrieden und wagen zur besseren Erklärung eine Hypothese zu formulieren: Hätte Gott unter unendlich vielen möglichen Welten, die er vorhersehen konnte, nicht eine Welt auswählen können, in der die freien Geschöpfe sich tatsächlich immer und immer frei für das Gute entscheiden würden? (Fs) (notabene)

Wir sehen nicht ein, warum er es nicht gekonnt hätte. Warum hat er dann anstelle einer Welt, die sich als schuldlos erwiesen hätte, diese verderbte Welt gewählt?
Unsere Fragen werden immer kühner, aber sie sind nicht unkorrekt. Im Grund geht es darum, zu verstehen, welchen positiven Sinn die Sünde im konkreten Plan Gottes hat, den er gewählt hat. Denn meines Erachtens genügt es nicht, die Idee eines rein "permissiven Willens" zu Hilfe zu nehmen. Man muß nach den spezifischen "Werten" dieser tatsächlich existierenden Welt suchen, die der Grund von Gottes Ratschluß waren. (Fs)

233b Eine Ordnung der Dinge, in der die Schuld vorgesehen ist, zeigt göttliche Vollkommenheiten, die eine Ordnung der Dinge, in der nur die Unschuld Platz hat, nicht zeigt: Zum Beispiel der Mensch, der demütig sein Unrecht anerkennt; die bußfertige Liebe, die nur ein Mensch, der gesündigt hat, dem Vater zollen kann; vor allem die erlösende Liebe Christi, der für unser Heil gestorben ist. Zweifellos hätte eine schuldlose Welt andere Vollkommenheiten, aber nicht diese geoffenbart. Der Faszination eines unbefleckten Herzens wurde die Faszination eines reumütigen, schmerzerfüllten Herzens vorgezogen. (Fs) (notabene)

Natürlich muß man sich vor dem schweren Irrtum in Acht nehmen, daß der Schöpfer die Schuld gewollt habe: Er hat nur das gewollt, was seine Weisheit aus der beklagenswerten Entstellung der Gerechtigkeitsordnung, die durch den freien geschaffenen Willen verursacht wurde, an Gutem und Lobenswertem hatte gewinnen können. (Fs)

233c In diesem Licht erhellt sich für uns ein wenig die paradoxe Aussage des Herrn: "Im Himmel (wird) mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren" (Lk 15,7). Dieser einzige Sünder stellt durch seine Reue ein Zeichen dar für das, was dieser konkreten von Gott gewollten Ordnung der Dinge eigen und für sie charakteristisch ist. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse; Sünde, Verdammnis, leere Hölle; Apokatastasis (Origenes), Hoffnung (Balthasar), Ambrosius; Freiheit - ewige Bestimmung;

Kurzinhalt: Unsere Freiheit ist im eigentlichen Sinn das erschreckende und herrliche Vorrecht, unsere ewige Bestimmung aufbauen zu können... Ohne Gott ist das Böse ein quälendes Rätsel, das uns unerbittlich festhält... gerade weil er über uns hinausgeht, läßt er ...

Textausschnitt: Das dunkle Geheimnis der Verdammnis

237b Es bleibt noch eine Frage übrig, die beängstigendste von allen: Ist es möglich, daß Gott eine Welt erschaffen wollte, in der vorgesehen ist, daß ein freies Geschöpf in die ewige Verdammnis gehen kann?
Die Existenz von geistigen Geschöpfen im endgültigen und ewigen Zustand des Unglücks ist psychologisch wirklich unerträglich. Es verwundert also nicht, daß selbst innerhalb der authentischen christlichen Reflexion oft versucht wurde, das Unbehagen dieses Ausblicks abzuschwächen. (Fs)

Das reicht von der gewagten Hoffnung auf die allgemeine "Apokatastasis" nach der Lehre des Origines, die am Ende alle Menschen zur Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer führt, bis zur jüngsten Hoffnung von Balthasars, daß die Hölle, die doch existiert, leer sei. Auch der hl. Ambrosius scheint der Meinung zu sein, daß für die Christen, die den Glauben bewahrt haben, selbst wenn sie Sünder waren, am Ende die Barmherzigkeit Gottes überwiegen wird. (Fs)

237c Siehe zum Beispiel:

"Num Deus Pater ipse qui contulit potest sua dona rescindere et quos adoptione suscepit eos a patemi affectus gratia relegare? Sed metus est ne iudex severior sit: considera quem habeas iudicem. Nempe Christo dedit Pater omne iudicium. Poterit ergo te ille damnare, quem redemit a morte, pro quo se obtulit, cuius vitam suae mortis mercedem esse cognoscit? Nonne dicet: 'Quae utilitas in sanguine meo, si damno quem ipse salvavi?' Deinde consideras iudicem, non consideras adovcatum. Potest iste severiorem ferre sententiam, qui interpellare non desinit, ut paternae reconciliationis in nos conferatur gratia?" (De Jacob et vita beata 1,6,26). (Fs)

"Kann denn Gott, der Vater, die Gaben, die er selbst verliehen hat, zunichtemachen und die von ihm Adoptierten aus der Gnade der väterlichen Liebe ausschließen? Aber da besteht die Befürchtung, daß der Richter zu streng sei: Bedenke, wen du zum Richter hast. Gewiß, der Vater hat Christus jedes Urteil überlassen. Kann er dich denn verurteilen, wenn er dich vom Tod losgekauft hat, wenn er sich für dich hingegeben hat, wenn er weiß, daß dein Leben der Lohn für seinen Tod ist? Wird er nicht sagen: Welchen Nutzen hat denn mein Blut, wenn ich den verurteile, den ich selbst gerettet habe? Du berücksichtigst die Tatsache, daß er Richter ist, und nicht die Tatsache, daß er Verteidiger ist. Kann er, der darauf besteht, daß die Gnade für die Versöhnung mit dem Vater verliehen wird, ein zu strenges Urteil fällen?"
238a Es wird gut sein, das Problem in seiner Gesamtheit anzugehen. Warum Menschen erschaffen, von denen man nicht nur die Schuld, sondern auch das Beharren in der Schuld und folglich die Verdammnis voraussieht? (Fs) (notabene)

Wir wären versucht, die Möglichkeit, daß Gott solche Menschen erschafft, zu verneinen, denn wir verstehen nicht, wie ihre Berufung ins Dasein mit Gottes Güte zu vereinen wäre. (Fs)

Es sei denn, man würde, näher betrachtet, sowieso von vornherein verneinen, daß es die Möglichkeit überhaupt gibt, daß ein Mensch nicht am Ende doch noch das Gute wählt. Beides aber würde bedeuten, dem Menschen in Wahrheit die Möglichkeit abzusprechen, über sein Schicksal zu entscheiden. (Fs)

238b Darum ist die konkrete Möglichkeit der Verdammnis notwendig, wenn man weiterhin die geschaffene Freiheit ihrem wahren Wesen nach zugestehen will. Denn die Freiheit des Menschen darf sich ihrem Wesen nach nicht auf die Möglichkeit beschränken, zwischen dem einen oder dem anderen Urlaubsort oder zwischen einer gestreiften oder einer getupften Krawatte wählen zu dürfen; auch nicht darauf, eine Ehefrau oder eine politische Partei zu wählen. Unsere Freiheit ist im eigentlichen Sinn das erschreckende und herrliche Vorrecht, unsere ewige Bestimmung aufbauen zu können. Soll es nicht nur dem Namen nach ein Vorrecht sein, muß es notwendigerweise die reale und konkrete Möglichkeit, sich für die Verdammnis zu entscheiden, einschließen. (Fs) (notabene)

239a Offensichtlich ist das Geheimnis der Verdammnis grundsätzlich mit dem Geheimnis der Freiheit verbunden, das vielleicht das einzige wahre Geheimnis des geschaffenen Universums ist. Kierkegaard sagte: "Daß Gott vor seinem Angesicht freiseiende Geschöpfe erschaffen kann, ist das Kreuz, das die Philosophie nicht zu tragen vermag, aber sie ist daran festgenagelt" (Tagebuch, Brescia 1948, Bd. I, S. 121). (Fs)

Kann man sich nicht vorstellen, daß möglicherweise alle gerettet werden? Genügt es nicht, die Existenz der Hölle zuzugeben? Ist unbedingt anzunehmen, daß auch jemand dort sein muß? Die geoffenbarte Lehre, die uns aufgibt, an die Möglichkeit unserer eigenen Verdammnis zu glauben, macht uns keine Zahlenangabe über die Verdammten. Ja, streng genommen, zwingt sie uns nicht einmal dazu, für wahr zu halten, daß einige Menschen tatsächlich hinkommen. Aber die Behauptung, die Hölle sei völlig leer, ist dennoch unvorsichtig und entbehrt jeder Grundlage. (Fs)

In erster Linie ist nicht zu erkennen, mit welchen Beweisführungen man diese Voraussicht tatsächlich für wahrscheinlich halten könnte. Da man keinen Beweisgrund "a posteriori" hat (auf den man wegen einer mangelnder Offenbarung eine direkte Untersuchung gründen könnte), stützt sich eine solche Ansicht mehr oder weniger unbewußt auf Beweisgründe "a priori" (wie die Barmherzigkeit Gottes, die Unmöglichkeit, eine wirkliche Todsünde zu begehen). Die Argumente "a priori" würden gegebenenfalls nicht nur die Nichtexistenz, sondern auch die Unmöglichkeit beweisen. Was wiederum mit der geoffenbarten Lehre unvereinbar ist. (Fs) (notabene)

239b Weil die Offenbarung so oft den Gedanken an die ewige Strafe in Erinnerung ruft, wird es besser sein, sich auf diese göttliche Pädagogik zu verlassen und sie nicht durch Vermutungen zu verwässern, die, so weit uns bekannt, nicht fundiert sind (vgl. G. Biffi, Linee di escatobgia cristiana, Mailand 1990, S. 60-61). (Fs)

Zusammenfassung

240a Selten wird uns so wie in diesem Fall unsere Unfähigkeit bewußt, den Knäuel zu entwirren, auf den wir unvermeidlich stoßen, und gerade in Bezug auf ein Thema, das uns auf existentieller Ebene ganz besonders interessiert. (Fs)

Aus unserer Untersuchung geht ganz klar hervor, daß die Wirklichkeit des Bösen jeden Menschen vor eine Entscheidung stellt: Entweder stützt er sich nur auf sich selbst und seine natürlichen Fähigkeiten, oder er öffnet sich der Glaubenserkenntnis und der geschöpflichen Zustimmung zu Gott. (Fs)
Im ersten Fall kann der Mensch keinen vernünftigen Grund für seine Befindlichkeit erkennen, aber er sieht ganz klar die vollkommene Unvernünftigkeit dessen. Und der Zustand einer Menschheit, die einem oft ungerechten, grundlosen und nutzlosen Leiden überlassen ist, kann nur als wirkliche Sinnlosigkeit gewertet werden. (Fs)

Im zweiten Fall wird die Verwirrung unseres Herzens gewiß nicht aufgehoben angesichts so vielen Leidens, so vieler Tränen, so vieler Bosheit, die die Unschuldigen überfällt. Aber es ist doch zu erwarten, daß alles einen Sinn und einen Zweck innerhalb einer höheren Ordnung hat, die wir nur erahnen können. Oder man hat es mit einem Gott zu tun, dessen Absichten zweifellos originell und unerklärlich sind und der für seine Welt einen Plan entworfen hat, den wir schwerlich verstehen können. (Kann man sich denn darüber wundern, daß Gott der Unendliche ist, weit entfernt von unserem Denken? "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken" (Jes 55,8), ließ er uns mitteilen. Aber dieses verstandesmäßige Unbehagen kann und soll verschwinden, das heißt, es soll in der lebendigen Gewißheit münden, daß wir eine höhere Gerechtigkeit erfahren werden und daß uns eine erfahrbare, zukünftige Glückseligkeit geschenkt wird). (Fs)

Es sei denn, man will es überhaupt nicht mit Gott zu tun haben. Dann droht das Böse in der Welt mit bedrückender Undurchsichtigkeit: Das bedeutet eine Verstümmelung des Verstandes, die mit der Verstümmelung des Lebens einhergeht, und das ist einfach eine Sinnlosigkeit. (Fs)

240b Ohne Gott ist das Böse ein quälendes Rätsel, das uns unerbittlich festhält. (Fs)


241a In Gott, in Christus, ist es Geheimnis, das heißt, es findet Raum in einem ewigen Plan, der uns staunen läßt und unser Begriffsvermögen übersteigt. Aber gerade weil er über uns hinausgeht, läßt er uns auf eine transzendente Rettung hoffen. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christliche Moral (allgemein) - Vernunft; Dostojewskij (Brüder Karamasow) Gottesfrage; Gott als Herr über Gut und Böse - der Mensch als "Maß aller Dinge"

Kurzinhalt: Wenn Gott nicht existiert, öffnet sich im Dasein ein Abgrund, der alles unrettbar verschlingt und zunichte macht: alles, auch die Prinzipien, die Ideale... die Selbstlosigkeit, die Werte... Wenn dagegen Gott existiert, kann nur er über Gut und Böse ...

Textausschnitt: ANSATZ ZUR CHRISTLICHEN MORAL

Vorbemerkung

Ein aktuelles Thema

242a Die moralische Frage ist immer aktuell und von großer Bedeutung. Aber heute ist sie in unserem Bewußtsein ganz besonders lebendig, wie es sich auch während der jüngsten Ereignisse im öffentlichen Leben und in den daraus folgenden allgemeinen emotionalen Reaktionen gezeigt hat. Zumindest hinsichtlich unseres Gebarens sind wir ein Volk von Moralaposteln
Johannes Paul II. hat gleichsam als Antwort auf diese wiedererwachte Frage die Morallehre der Kirche in der Enzyklika Veritatis splendor neu dargelegt: Das außerordentliche Echo, das sie in der ganzen Welt gefunden hat, beweist, wie stark das Bedürfnis ist, in diesem Bereich feste Bezugspunkte zu haben. (Fs)

242b Es ist deshalb verständlich, daß auch ich mich veranlaßt sehe, gerade diese Problematik zum Thema einer Reflexion zu machen. Im Gegensatz zum päpstlichen Dokument - das menschlich und kulturell sehr reichhaltig, aber nicht leicht zu kommentieren ist - ziehe ich es vor, die Grundzüge der traditionellen Ethik einfach systematisch darzustellen. Wer sie annimmt, ist eher in der Lage - so hoffe ich -, den eigentlichen Gehalt der Lehre des Papstes zu erfassen. (Fs)

Wie das moralische Problem entsteht

243a Wie soll man sich verhalten? Welches Tun ist recht, und welches Tun ist unrecht? Welche Handlungen sind unbedingt zu vermeiden, was kann und was muß man tun?
Das ist das moralische Problem, das im Menschen, einem bewußten und freien Geschöpf, unvermeidlich ist. Wer zu dem Schluß käme, daß man alles tun kann, was man will, hat deshalb noch nicht das moralische Problem gelöst. Er beweist höchstens, daß er es schlecht gelöst hat. (Fs)

Eine "christliche" Moral

243b Das Verhalten eines Geschöpfes hängt von seiner Natur ab. Man handelt — man muß handeln — gemäß dem, was man ist. Man kann das Tier nicht tadeln, weil es als Tier handelt, und man kann den Menschen nicht loben, wenn er nicht als Mensch handelt. Das konkrete Subjekt dieser Untersuchung, von der Theologie her betrachtet, ist der Christ: Wir fragen uns, wie sich der Mensch verhalten muß, damit er tatsächlich Bild des Herrn Jesus Christus, des gekreuzigten und auferstandenen Gottes und Menschen, ist; damit er wie Jesus Sohn des Vaters, des Ursprungs und Ziels unseres Daseins, ist; der Mensch, der wie Jesus vom Heiligen Geist getrieben wird, der in uns und mit uns Prinzip unseres Handelns als Christen ist. "Denn alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes" (Röm 8,14). (Fs)

Um also zu wissen, wie ein Christ handeln soll, müssen wir das Leben und Handeln Christi, unseres "Hauptes" und Vorbilds, näher betrachten. Wir müssen versuchen, den von Christus erlösten "neuen Menschen" zu erfassen (d. h. die übernatürliche Anthropologie ihrem Inhalt und ihrer Dynamik nach zu erkennen). Wir müssen herausfinden, was das letzte und wahre Ziel ist, das uns gesteckt wurde. Das alles natürlich im Licht des Glaubens, und das heißt, die Wirklichkeit immer mit den Augen des Sohnes Gottes zu sehen. (Fs)

243c Das heißt aber auch, daß das moralische Problem des Christen nur als Ergebnis und Anwendung dessen, was uns von der ganzen Offenbarung mitgeteilt wird und was Studienobjekt der gesamten Theologie ist, hinreichend gelöst werden kann. Daraus ergibt sich, daß wir keine angemessene Antwort auf die von uns gestellte Frage finden können, weil wir hier und jetzt keine so eingehende und anspruchsvolle Untersuchung durchführen können. (Fs)

Christliche Moral und Vernunft

244a Trotzdem ist uns eine etwas bescheidenere und in gewisser Weise vorläufige Erforschung möglich. (Fs)

Der Mensch wurde auch als Mensch vom Vater von Anfang an in Christus erdacht und ihm nachgebildet. So ist auch die Überlegung auf geschöpflicher Ebene - das heißt die Prüfung dessen, was wir mit dem anfechtbaren Ausdruck "natürlich" nennen können -schon eine erste Erkenntnis, die einer ganzheitlichen christlichen Sicht dient. Wir werden uns mit diesem Ansatz der christlichen Ethik begnügen, der immer mit der Einfühlsamkeit des Glaubenden durchgeführt werden soll. (Fs)

Und obwohl das ein rein vernunftmäßiger Diskurs zu sein scheint, der auch dem vernünftig denkenden Nichtglaubenden zugänglich ist, bleiben wir immer im Rahmen der "Glaubenslehre". Im übrigen ist auch die Vernunft eine notwendige Voraussetzung für den Glaubensakt, für seine Reifung und Entwicklung. (Fs)

Die Moral und die Gottesfrage

244b Die Diskussionen, die auf die Enzyklika folgten, haben vielfach ein positives Echo, aber auch seltsame Reaktionen gezeitigt. Viele scheinen nicht zu merken, daß auch in Bezug auf die Moral die entscheidende und vorrangige Frage die Gottesfrage ist. Und vom Papst kann man keineswegs verlangen, das zu vergessen. (Fs)

244c In der jüngsten Zeit wurden dicke Bücher zur Verteidigung einer Ethik geschrieben, die ganz von der religiösen Sicht losgelöst ist. Die teuflische Halluzination des Iwan Karamasow hatte es schon vorhergesehen: "Wenn die ganze Menschheit Gott leugnet, geht die alte Moral unter, und alles wird neu" (Die Brüder Karamasow 1,XI, c. IX), Aber wie kann man ernstlich bezweifeln, was Dostojewskij ganz klar sagt: "Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt." Wenn alles erlaubt ist, gibt es keine moralische Frage mehr. Wenn alles erlaubt ist, dann ist alles sinnlos. (Fs)

245a Wenn Gott nicht existiert, öffnet sich im Dasein ein Abgrund, der alles unrettbar verschlingt und zunichte macht: alles, auch die Prinzipien, die Ideale, eventuell vorhandene Lebensregeln, selbst die Menschenliebe und die Selbstlosigkeit, die Werte. Wenn Gott nicht existiert, gibt es nichts, was den einzelnen konkreten Menschen daran hindern könnte, die Moralität seinem tatsächlichen Verhalten anzugleichen und auf kein Gesetz zu achten, das seinem Willen und seinem Vergnügen entgegenstünde. (Fs)

Wenn dagegen Gott existiert, kann nur er über Gut und Böse entscheiden. Wir können über unsere Handlungen bestimmen - die wir der objektiven Norm entsprechend oder abweichend von ihr vollbringen können - , aber nicht über die Norm, die uns vorausgeht, wie der Herr des Universums vor uns vorausgeht. (Fs)

245b Das ist dem Menschen unangenehm, der gern selbst " das Maß aller Dinge" sein möchte (wie Protagoras es sein wollte). Daher die Versuchung, die göttlichen Eigenschaften zu erlangen, wie es schon so wunderbar in der Erzählung der Genesis beschrieben wird: "Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse" (Gen 3,5); das heißt (gemäß der semitischen Akzentuierung des Wortes) "ihr werdet über Gut und Böse verfügen". (Fs)

Schema des Diskurses

245c Unsere Reflexion - die für das ethische Problem anfängliche Schwerpunkte setzen will — wird drei verschiedene Themenkreise behandeln:
1. Die Freiheit, das heißt die "menschlichen" Akte.
2. Das Gesetz. (Fs)
3. Das Gewissen. (Fs)

245d Die schematische Behandlung wird den Eindruck einer gewissen Trockenheit ergeben. Daneben kann die Lektüre der Enzyklika Veritatis splendor eine Betrachtung mit mehr Würze, mehr existentiellem Nachhall und mehr Aufmerksamkeit für die Gefühle und Ängste des Menschen von heute vermitteln. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Moral, menschliche Handlungen (Analyse); Ziel, Mittel; Freiheit, Verstand, Wille; nihil volitum quin praecognitum; Wille - Glück (keine Wahl); universales Gut, Ersturteil, freier Wille

Kurzinhalt: Wenn man eine endgültige Bestimmung des menschlichen Daseins und die Freiheit des Menschen ausschließt und verneint, ist Moral nicht möglich... Der Wille ist für das universale Gute (das "Glück") gemacht. Deshalb hat der menschliche Wille angesichts ...

Textausschnitt: I. DIE MENSCHLICHEN HANDLUNGEN

246a Als "menschliche" Handlungen bezeichnet man jene Akte, die vom Menschen absichtlich ausgehen, das heißt, die im Verstand und freien Willen ihren Ursprung haben. (Fs)

1. Analyse der menschlichen Handlung

Der menschliche Akt und die Freiheit
Das moralische Problem betrifft das Handeln, das selbst Ergebnis einer Entscheidung und einer Wahl ist. (Fs)

Stellen wir uns einen Autofahrer vor, der in einer ihm unbekannten Gegend fährt. Er hat darauf zu achten, welchen Weg er nehmen muß und folglich darauf, daß er die Wegweiser und Verkehrsschilder lesen muß, aber nur in dem Fall, daß sich gleichzeitig zwei Bedingungen ergeben, das heißt, daß er ein ganz bestimmtes Ziel hat und daß es mehrere befahrbare Straßen gibt. Wenn der Fahrer spazierenfährt oder wenn er weder eine Kreuzung noch Abzweigung antrifft, ergibt sich das Problem, daß er auf die Wegweiser achten muß, nicht. (Fs)

Abgesehen vom bisher Gesagten und vorausgesetzt, das Leben des Menschen hätte kein Ziel, das heißt keine endgültige Bestimmung, die durch ein rechtes Verhalten zu erreichen ist, dann bestünde das moralische Problem, das heißt das Problem, was man tun soll, nicht. Das moralische Problem ergibt sich auch nur in Bezug auf freie Handlungen. Die lebensnotwendigen Handlungen (z. B. der Kreislauf des Blutes) schließen jede Wahl aus und erlauben die Fragestellung nicht: Für was muß ich mich entscheiden? Aber die freien Handlungen (z. B. in die Schule oder ins Kino gehen?) bringen die Wahl und die Frage mit sich: Was muß ich tun? Und das ist die moralische Frage. (Fs)

Widerstände gegen moralisches Handeln

246b Wenn man eine endgültige Bestimmung des menschlichen Daseins und die Freiheit des Menschen ausschließt und verneint, ist Moral nicht möglich. (Fs)

247a Heute ist die Moral allerseits gefährdet: Es wird kein Ziel mehr anerkannt, und oft wird dem Menschen, der handelt, keine wahre Freiheit mehr zuerkannt. Daraus ergibt sich die Bedeutungslosigkeit allen menschlichen Handelns, der Mangel an Lebenslust (wie man keine Lust hat, ohne Regeln und ohne Gewinn zu spielen), und am Ende steht die Verzweiflung. (Fs)

"Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt." Aber wenn alles erlaubt ist, wird alles banal, sowohl die Verneinung der Freiheit als auch die Bekräftigung der ziel- und regellosen Freiheit, so daß das moralische Problem zunichte gemacht wird. (Fs)

Der Mechanismus des menschlichen Handelns

247b Wer "menschlich" handelt, betrachtet das Ziel des Handelns, dann die Mittel, um das Ziel zu erreichen. (Fs)

Dabei sind grundsätzlich drei psychologische Vorgänge im Hinblick auf das Ziel zu unterscheiden:
- das Ziel ist bekannt;
- inwieweit das Ziel erstrebenswert ist, wird geprüft;
- der Entschluß wird gefaßt, es zu erreichen. (Fs)

Und drei psychologische Vorgänge, die die Mittel betreffen: . (Fs)

- unterschiedliche Mittel zur Erreichung des Ziels sind bekannt;
- die Mittel werden überprüft, inwiefern sie erstrebenswert sind;
- die Entscheidung für die entsprechende Auswahl. (Fs)

Wir stellen fest, daß Ziele und Mittel gewöhnlich vielfach verknüpft sind, und das, was Mittel ist für das, was nachher kommt, Ziel ist für das, was vorausgeht. Zum Beispiel: Nach Florenz fahren, mit dem Zug fahren, den Fahrschein kaufen, mit dem Bus zum Bahnhof fahren, die Fahrkarte für den Bus kaufen. (Fs)

Wir stellen auch fest, daß das, was in der Absicht an erster Stelle kommt, das letzte in der Durchführung ist. (Fs)

Beziehung zwischen Verstand und Willen

247b Der "menschliche" Akt entsteht aus dem Zusammenwirken zweier Fähigkeiten, die das Leben des Geistes wesentlich gestalten: Verstand und Wille. Ihre Interaktion und ihre Beziehungen sind weitgehend unbekannt. Wir halten uns bei unserer Reflexion an das Grundprinzip, daß der Wille im Verstand gründet: Man kann nichts wollen, was man nicht zuvor erkannt hat ("nihil volitum quin praecognitum", sagten die Scholastiker). Und wir sind der Überzeugung, daß die Verstehbarkeit eines Gegenstandes nicht auszuschöpfen ist, wenn er nicht zugleich geliebt wird. (Fs)

248a Die verstandesmäßige Erkenntnis hat das Universale (die Wahrheit) zum Ziel. Infolgedessen ist das vom Verstand (Willen) angestrebte Ziel das universale Gute. Der Wille ist für das universale Gute (das "Glück") gemacht. Deshalb hat der menschliche Wille angesichts des Glücks nicht die Freiheit, zu wollen oder nicht zu wollen. Philosophisch wird hier das ausgedrückt, was Augustinus zu Beginn seiner Bekenntnisse in frommen Worten schreibt: "Du hast uns zu dir geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis daß es Ruhe findet in dir" ("Fecisti nos, Domine, ad te; et inquietum est cor nostrum do-nec requiescat in te"). (Fs)

Das universale Gute ist das Ziel. Deshalb erlaubt es keine unentschiedene Beurteilung, sondern drängt sich mit Notwendigkeit dem Verstand auf. Es erlaubt auch keine freie Wahl, sondern drängt sich mit Notwendigkeit dem Willen auf. Zum Beispiel ist die beseligende Anschauung Gottes für die Himmelsgeschöpfe zwar ein "verstandesmäßiger" und "willensmäßiger", aber kein freier Akt, weil es die Anschauung des universalen Guten ist. Deshalb können die Seligen nicht sündigen. (Fs)

Aber in diesem Leben werden die menschlichen Handlungen, die auszuführen sind, nie als universal gut empfunden: Sie sind immer endliche Wirklichkeiten und erscheinen immer als einerseits gut und anderseits böse. Zum Beispiel: Viele Süßigkeiten essen kann gleichzeitig als etwas Gutes (weil Süßigkeiten angenehm sind) und als etwas Böses erscheinen (weil Bauchschmerzen danach unange-nehm sind). (Fs)

Deshalb wird das unmittelbare erste Urteil, das in Bezug auf diese Handlungen durch die fühlbare Erkenntnis erwächst, seinerseits in Bezug auf ein umfassenderes Gutes und letztlich auf das universale Gute beurteilt werden müssen. Und es wird bekräftigt oder korrigiert, je nach dem, ob der Wille seine Aufmerksamkeit auf die positiven oder negativen Aspekte richtet. (Fs)

248b In dieser Möglichkeit, das Ersturteil zu beurteilen, das aus einer vorhandenen universalen Erkenntnis erwächst (die deshalb die erfahrbare Erkenntnis übersteigt, die für sich auschließlich mit der machbaren Einzelheit verknüpft ist), wurzelt der freie Wille. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Moral; Verantwortung, Wirkung, freier Entschluss; Anrechenbarkeit der unvorhergesehenen Wirkungen, der vorauszusehenden und nichtbeabsichtigten Wirkungen (Bedingungen); Prinzip der Doppelwirkung

Kurzinhalt: ... Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung: Es ist erlaubt, eine Handlung auszuführen, aus der zwei getrennte Wirkungen hervorgehen, eine gute und eine schlechte, vorausgesetzt, das Ziel des Handelnden ist ehrenhaft und die schlechte Wirkung ist nicht ...

Textausschnitt: 2. Die Anrechenbarkeit

249a Kann ein Akt oder die Wirkung eines Aktes auf jemanden bezogen werden, der hier als Verantwortlicher gehandelt hat, ist er diesem zuzurechnen. (Fs)

Anrechenbarkeit der Akte und Wirkungen

Das Maß der Verantwortung ist der Entschluß. Ein Akt ist dem handelnden Subjekt zuzuschreiben in dem Maß, in dem er vom ihm frei ausgeht. (Fs)

Aber das Handeln ist nie etwas in sich Abgeschlossenes. Die Akte haben immer Folgen: Kaum entstehen sie, rufen sie selbst Wirkungen hervor, und diese Wirkungen haben andere Wirkungen und so fort. Das heißt: Eigentlich erzeugt jede Handlung von uns im Wirklichkeitssystem, an dem sie teilhat, eine Störung, die theoretisch ins Unendliche geht, wie die Kreise, die ein Stein erzeugt, wenn er ins Meer geworfen wird. Es ergibt sich also das Problem, wer für diese Wirkungen verantwortlich ist: Inwieweit hat der Handelnde die mehr oder weniger weitreichenden Wirkungen seiner Handlungen zu verantworten?

249b Dieses Problem hat eine einfache und offensichtliche Lösung in den Fällen von unmittelbar beabsichtigten Wirkungen: jede Wirkung, die nicht nur vorhergesehen, sondern auch von dem, der handelt, beabsichtigt ist, ist der Verantwortung des Handelnden zuzuschreiben, und zwar aus dem Grund, weil nach der genannten Grundregel auch die Wirkung, wenn beabsichtigt, zu verantworten ist. Zum Beispiel: Wenn jemand in das Boot ein Loch bohrt, um seine Ehefrau, die nicht schwimmen kann, zu ertränken, ist er nicht nur für den Schaden, der dem Boot zugefügt wurde, verantwortlich, sondern auch für den Tod seiner Frau. (Fs)

Anrechenbarkeit der unvorhergesehenen Wirkungen

250a Wenn die Wirkung eines Aktes nicht beabsichtigt und keineswegs vorauszusehen war, ist sie nicht anzurechnen, weil sie nicht auf einen freien Entschluß des Handelnden zurückzuführen ist. Zum Beispiel: Wenn der Lehrer den Schüler zurechtweist, und dieser sich aus dem Fenster stürzt, ist der Lehrer nicht für den Tod des Schülers verantwortlich zu machen, weil man nicht voraussehen konnte, daß die Zurechtweisung eine solche Wirkung haben würde. (Fs)

Anrechenbarkeit der vorauszusehenden und nichtbeabsichtigten Wirkungen
Schwieriger und komplizierter ist es, die Zurechenbarkeit festzustellen, wenn es sich um vorauszusehende, aber keineswegs beabsichtigte Wirkungen geht. Die moralische Problematik bezieht sich hauptsächlich auf die Frage der Verantwortlichkeit für diese Art von Wirkungen. (Fs)

Beispiel: Sieht man den wirtschaftlichen Ruin des Mitbewerbers voraus, wenn man ein Geschäft eröffnet? Sieht man die Unannehmlichkeiten, ja den Tod von Patienten voraus, wenn man einen Streik des Krankenhauspersonals ausruft?

Sieht man die Arbeitslosigkeit vieler Arbeitnehmer vorher, wenn aus Gründen einer Optimierung eigener Investitionen eine Werksniederlassung schließen muß?

250b Bei guten Wirkungen ist das Problem einfach: Eine gute Wirkung ist nur in dem Fall anrechenbar, wenn sie unmittelbar beabsichtigt ist: Die reine Voraussicht genügt nicht, weil das Gute, um konkret vom Handelnden als solches betrachtet zu werden, ausdrücklich gewollt sein muß. (Fs)

Beispiel: Ein Sozialarbeiter, der seine Arbeit gut macht und dem Nächsten große Hilfe und Erleichterung bringt, es aber nur um seines Monatsgehaltes wegen und nicht aus Liebe zum Nächsten tut, hat Anrecht auf den Monatslohn, aber kein Anrecht auf den Verdienst des vollbrachten Guten. (Fs)

251a Eine böse Wirkung ist hingegen anrechenbar, wenn gleichzeitig zwei Bedingungen vorliegen:
— wenn die Wirkung in irgendeiner Weise vorauszusehen war;
- wenn der hervorrufende Akt zu vermeiden ist oder - sollte er schon durchgeführt sein - wenigstens die schlechte Wirkung aufgehalten werden kann. (Fs)

Der Grund der ersten Bedingung ist, daß die fehlende Vorausschau dem Akt die "menschliche" Wirkung entzieht, weil jede Erkenntnis fehlt. Der Grund für die zweite Bedingung ist, daß das, was man nicht vermeiden kann, nicht anrechenbar ist; und das, was nicht Gegenstand der freien Entscheidung ist, kann nicht Gegenstand der Anrechenbarkeit sein. (Fs)

Das Prinzip der Doppelwirkung

251b Aber ist eine schlechte Wirkung immer anrechenbar, wenn sich die beiden obengenannten Bedingungen zusammen ergeben? Mit anderen Worten: Ist man verpflichtet, alle Handlungen zu vermeiden, bei denen vorauszusehen ist, daß sich schlechte Wirkungen ergeben?
Wäre die Antwort im absoluten Sinn bejahend, müßte man daraus schließen, daß es praktisch unmöglich ist, etwas zu tun, denn es gibt kaum eine Handlung, die unter vielen Wirkungen nicht auch eine vorhersehbare Wirkung hat, die nicht gut ist. Da fragt man sich: Wann ist man verpflichtet und wann nicht, von einem Akt abzusehen, der eine vorhersehbare, aber nicht beabsichtigte schlechte Wirkung hat?
Damit ein Akt dieser Art ausgeführt werden darf, ist es unerläßlich, folgende Bedingungen zu prüfen:

251c
1. Der Wille muß völlig getrennt vom Bösen der Wirkung bleiben. Das bedeutet, man darf die schlechte Wirkung keinesfalls anstreben, diese darf auch nicht der schlichten Befriedigung während der Durchführung des ursächlichen Aktes dienen; und auch nicht in dem Augenblick Zustimmung erfahren, wenn sie als Wirkung nachfolgt. (Fs)

252a
2. Der ursächliche Akt muß in sich selbst gut sein, andernfalls darf er nicht durchgeführt werden, auch wenn er eine gute Wirkung hätte, die vom Willen als Ziel beabsichtigt ist. (Fs)

3. Wenn der ursächliche Akt nur eine schlechte Wirkung hat, darf er nicht durchgeführt werden, weil in diesem Fall der Wille sich nicht als unbeteiligt an der schlechten Wirkung betrachten darf; die Handlung endet ja mit einer einzigen Wirkung. (Fs)

4. Wenn zwei verschiedene Wirkungen - eine gute und eine schlechte - vorausgesetzt werden, ist es für die erlaubte Durchführung des Aktes notwendig, daß die gute Wirkung, die zu spüren ist, nicht aus der schlechten erwächst, sondern von ihr unabhängig ist; sonst muß der Wille, um die gute Wirkung zu erlangen, in seine Absicht auch die schlechte Wirkung einschließen, weil derjenige, der ein Ziel anstrebt, auch alle Mittel will, die zum Ziel führen. (Fs)

5. Wird die Unabhängigkeit der Wirkungen vorausgesetzt, müssen sie zueinander im rechten Verhältnis stehen. Mit anderen Worten, es muß ein schwerwiegender Beweggrund vorliegen, damit der ursächliche Akt durchgeführt werden darf, trotz des vorauszusehenden Bösen, das daraus erwächst. Diese Bedingung ist die am schwersten abwägbare, weil eine konkrete Situation je nach Meinung unterschiedlich bewertet werden kann. (Fs)

252B Wir können nun eine sittliche Grundregel aufstellen, das bekannte Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung:

Es ist erlaubt, eine Handlung auszuführen, aus der zwei getrennte Wirkungen hervorgehen, eine gute und eine schlechte, vorausgesetzt, das Ziel des Handelnden ist ehrenhaft und die schlechte Wirkung ist nicht beabsichtigt; die Handlung in sich selbst ist gut oder indifferent; die gute Wirkung erwächst nicht aus der schlechten Wirkung, und es besteht ein schwerwiegender Grund zu handeln. (Fs) (notabene)

252d Bei der praktischen Anwendung des Prinzips ist zu achten:

- auf die zwei Wirkungen selbst; je schwerer das vorauszusehende Übel ist, um so wichtiger muß das zu erwartende Gute sein;

253a
- auf die eventuelle Unterschiedlichkeit der beiden Wirkungen; eine gute, weniger wichtige, aber sichere Wirkung kann eine schwerere böse, aber unwahrscheinliche Wirkung ausgleichen;
- auf die Intensität der Verbindung zwischen den Wirkungen und dem ursächlichen Akt: eine schlechte Wirkung, die nur ganz entfernt mit dem Akt verbunden ist, erfordert einen weniger schwerwiegenden Grund als eine Wirkung, die beinahe Teil des Aktes ist. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Moralität; 3 Gundregeln (Prinzipien) des Handelns; ontologisches Fundament; Objekt, Umstände, Ziel; bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu

Kurzinhalt: Gut und Böse sind nur der Transfer der Begriffe Sein oder Nichtsein in den Bereich der Willensäußerung...

Textausschnitt: 3. Die Moralität

253b Aus dem Gesagten können wir drei Gundregeln des Handelns ableiten:
I Man muß das Gute tun (nicht alles und nicht immer).
II Man muß das Böse vermeiden (alles und immer).
III. Regel der Doppelwirkung. (Fs)

Um diese Regeln anwenden zu können, muß man natürlich beurteilen können, wann ein Akt gut und wann ein Akt schlecht ist; das heißt, man muß die Moralität eines Aktes beurteilen können. Uns zu befähigen, die Moralität eines Aktes zu beurteilen, ist Aufgabe der gesamten Moralwissenschaft. Wir können hier nur einige Überlegungen allgemeiner Natur vorwegnehmen, damit wir unterscheiden können, wann ein Akt der Norm der Aufrichtigkeit entspricht oder nicht, das heißt, wann er gut oder wann er schlecht ist. (Fs)

Das ontologische Fundament

Gut und Böse sind nur der Transfer der Begriffe Sein oder Nichtsein in den Bereich der Willensäußerung: Das Gute ist Sein, das Böse ist Nichtsein. Was positiv existiert, ist nur das Gute. Das Böse kann nur als mangelndes Sein gedacht werden, oder, genauer, als mangelnde notwendige Vollkommenheit. (Fs) (notabene)

253c Das grundlegende Kriterium zur Beurteilung der Moralität eines Aktes ist die Berücksichtigung seiner ontologischen Vollkommenheit: Eine ihrer Art entsprechend vollendete Handlung ist gut zu nennen; eine ihrer Art nach mangelhafte Handlung ist böse zu nennen (vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q.18, a. 1). Damit eine Handlung als Handlung vollendet ist, ist es notwendig, daß sie das entsprechende Objekt, die entsprechenden Umstände und die rechte Zielsetzung hat. Fehlt eines dieser Elemente, ist der Akt unvollendet, das heißt schlecht. (Fs)

Das Objekt

254a Die allgemeine Handlung wird spezifiziert durch ihr Objekt. Ein Akt ist deshalb gut oder schlecht, je nachdem, ob er ein angemessenes Objekt hat. Beispiel: Die allgemeine Handlung, das Auto zu benützen, erweist sich als gut, wenn ich mein Auto benütze, als schlecht, wenn ich ein gestohlenes Auto benütze. (Fs)

Die Umstände

Eine Handlung wird schlecht, obwohl sie sich vom rechten Objekt her als gut erwiesen hat, wenn sie einer für sie erforderlichen Bedingung beraubt wird. Beispiel: das eigene Auto benützen, aber mit zu hoher Geschwindigkeit oder auf der falschen Straßenseite fahren. (Fs)

Das Ziel

Ein weiteres Element, das in Bezug auf die moralische Beurteilung zu berücksichtigen ist, ist das Ziel. Das Ziel ist eigentlich das Objekt der Willensäußerung, die der innere Antrieb der Handlung ist. Das Ziel bestimmt deshalb die Willensäußerung, die ihrerseits den äußeren Akt bestimmt. (Fs)

254b Wir können auch sagen: Eine Handlung unterliegt der moralischen Beurteilung, insofern sie beabsichtigt ist; aber die Absicht ist gut oder schlecht, je nach ihrem Objekt, das man erlangen will, und das ist das "Ziel" oder der "Zweck". Deshalb bestimmt das beabsichtigte Ziel die Moralität des ganzen Aktes. Beispiel: zur Sonntagsmesse gehen, um den Ehemann zu ärgern. Hier ist die an sich und von den Umständen her gute Handlung durch die böse Absicht verdorben. (Fs)

Integralität des Guten

255a Aus dem Begriff von Gut und Böse selbst folgt, daß ein Akt dann gut ist, wenn alle notwendigen Vollkommenheiten mitwirken, wohingegen das Fehlen eines einzigen Prärogativs genügt, daß er nicht gut ist. Ein Akt muß in Ordnung sein wie ein Strumpf: er muß ganz in Ordnung sein; eine einzige Laufmasche genügt, daß aus ihm ein zerrissener Strumpf wird. (Fs)

Die früheren Moralisten drückten diese einfache und grundlegende Idee mit dem Aphorismus aus: "bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu". (Fs)

255b Zum Beispiel sind folgende Handlungen schlecht, weil jeder Handlung etwas Erforderliches fehlt: Psalmen unmanierlich singen; während der Unterhaltung im Gasthaus den Rosenkranz beten; in der Kirche die Melodie der "Lustigen Witwe" pfeifen; an der Anbetung nur deshalb teilnehmen, damit man vom Pfarrer gesehen wird. (Fs)

255c Selbstverständlich ist es beinahe unmöglich, daß ein Akt alle erforderlichen, auch die allerfeinsten Vollkommenheiten besitzt. Wenn wir nur dann handeln würden, nachdem wir der absoluten Vollkommenheit unserer Handlungen sicher sind, würden wir überhaupt nicht mehr handeln. Aber alles, was hier ohne Umschweife gesagt wurde, soll uns lehren, daß wir ehrlich die erforderliche Vollständigkeit anstreben sollen, indem wir versuchen, der Vollkommenheit möglichst näher zu kommen, die der Mensch als Pilger hier auf Erden in seinem Verhalten nur sehr schwer erreichen kann. Das meint Jesus, wenn er sagt: "Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5,48). (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Ist die menschliche Seele etwas Selbständiges? Schluss auf Selbstständigkeit durch Analyse des Verstandes (körperlos, Erkenntnis ohne Organ)

Kurzinhalt: Somit hat der Urgrund des Verstehens, den wir Geist oder Verstand nennen, eine Tätigkeit für sich, an der der Körper nicht teilnimmt. Nichts kann aber für sich tätig sein, wenn es nicht für sich besteht.

Textausschnitt: ANTWORT: Man muß notwendig sagen: das, was Grund der Verstehtätigkeit ist — wir nennen so die Seele des Menschen —, ist ein unkörperlicher und selbständiger Grund. Es ist nämlich offensichtlich, daß der Mensch durch den Verstand die Natur aller Körper erkennen kann. Was aber etwas erkennen kann, darf nichts davon in seiner Natur haben, weil das, was naturhaft in ihm wäre, die Erkenntnis anderer Dinge hindern würde. So sehen wir, daß die Zunge des Kranken, die mit einer galligen und bittern Feuchtigkeit behaftet ist, nicht imstande ist, etwas Süßes zu schmecken, sondern alles kommt ihr bitter vor. Wenn nun der Urgrund des Verstehens die Natur irgendeines Körpers in sich trüge, könnte er nicht alle Körper erkennen. Jeder Körper hat aber eine bestimmte Natur. Es ist somit unmöglich, daß der Grund des Verstehens ein Körper ist. (Fs) (notabene)

Desgleichen ist es unmöglich, daß er durch ein körperliches Organ erkenne. Denn auch die bestimmte Natur dieses körperlichen Organs würde die Erkenntnis aller Körper verhindern. Wenn z. B. eine bestimmte Farbe nicht bloß im Auge, sondern auch am Glasgefäß ist, erscheint die eingegossene Flüssigkeit in derselben Farbe [6]. (Fs)

Somit hat der Urgrund des Verstehens, den wir Geist oder Verstand nennen, eine Tätigkeit für sich, an der der Körper nicht teilnimmt. Nichts kann aber für sich tätig sein, wenn es nicht für sich besteht. Denn tätig sein ist nur Sache eines in Wirklichkeit Seienden. Daher ist etwas in der Weise tätig, in der es ist. Deshalb sagen wir auch nicht: die Wärme wärmt, sondern das Warme.1 — Es ergibt sich also, daß die menschliche Seele, die Verstand oder Geist genannt wird, etwas Unkörperliches und Selbständiges ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gesetz (als ratio); ewiges G. - Naturgesetz - positives G.; Norm d. Handelns: Vernunft; Gemeinwohl; Epikie, Dispens

Kurzinhalt: ... ist das Gesetz wesentlich eine "ratio" und hilft dem Subjekt, das [in seiner Vernunft] ein Maß hat, sich in seiner Wahrheit zu erkennen ...

Textausschnitt: II. DAS GESETZ

1. Gesetzesbegriff

256a Wir versuchen, uns eine Vorstellung vom Gesetz zu machen, die einfach, umfassend, allgemeingültig ist und auch über den juridischen Rahmen hinausgeht. (Fs)

Maßstab des Handelns

Weil das Gesetz etwas ist, das das gebietet, was zu tun ist, stellt man sich in erster Linie einen Befehl darunter vor. Das heißt, das Gesetz scheint hauptsächlich ein Befehl, ein Gebot zu sein, etwas zu tun oder nicht zu tun. Es hat also den Anschein, daß das Gesetz hauptsächlich ein Akt in Bezug auf den Willen ist. Und das ist eine weitverbreitete Meinung. (Fs)

Wenn wir eingehender nachdenken, ändern wir diese Meinung. Durch das Gesetz ist uns eine Norm, das heißt eine "Regel" gegeben. Und eine Regel ist hauptsächlich ein "Maßstab" für die Akte: Jeder Akt, gemessen an dem "Maßstab", erscheint angemessen oder unangemessen, das heißt "recht" oder "unrecht". (Fs)

Das Steuergesetz zum Beispiel sagt uns, wie die Steuern zu zahlen sind. Der Vergleich des Steuerbescheids mit dem zugrundeliegenden Gesetz zeigt, ob Berechnung und Steuersatz überzogen oder zu niedrig sind. (Fs)

Der einzig mögliche Maßstab menschlicher Handlungen ist die Vernunft, weil nur sie die Handlungen des Menschen zu ihrem Ziel in Beziehung setzen und folglich ihrer wahren Natur nach beurteilen kann. Deshalb ist das Gesetz hauptsächlich und formal ein Akt der Vernunft; zweifellos ein Akt der praktischen Vernunft, der die Mitwirkung des Willens voraussetzt. Aber wo es kein vernünftiger Akt mehr ist, dort ist es kein Gesetz mehr, sondern Willkür (vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae I—II, q. 90, a. 1, ad 3). (Fs)

256b Dieses Verständnis von Gesetz steht im Widerspruch zur nominalistischen Auffassung, die in die ganze moderne juridische Mentalität und mehr oder weniger unbewußt in viele kirchliche und nichtkirchliche Haltungen unserer Zeit eingedrungen ist. Nach der nominalistischen Auffassung ist das Gesetz hauptsächlich ein Willensakt: Es erwächst aus einem Entschluß, der zur Natur der Dinge und Situationen hinzukommt und von außen auferlegt wird. Das so verstandene Gesetz kann leicht den Anschein von etwas Einschränkendem und Abtötendem haben, auch wenn es ein gutes Gesetz ist. Daher die Geringschätzung dessen, was "Juridismus" genannt wird. (Fs) (notabene)

257a In dem Begriff jedoch, den wir in Abwandlung des hl. Thomas vorlegen, ist das Gesetz wesentlich eine "ratio" und hilft dem Subjekt, das [in seiner Vernunft] ein Maß hat, sich in seiner Wahrheit zu erkennen und sich seiner Natur entsprechend zu verhalten. (Fs)

Wie zum Beispiel die Gebrauchsanweisung für ein Auto, die von der Autofirma geliefert wird, nicht als ein Übergriff und eine Freiheitsbeschränkung gewertet werden kann: Die Gebrauchsanweisung ist ein Mittel, damit wir die wahre Natur des Autos kennenlernen und achten. (Fs) (notabene)

Das Gemeinwohl

257b Zweck des Gesetzes ist, den Menschen zum Ziel zu führen, das heißt zur Vollkommenheit, die seiner wahren Natur entspricht. Und weil der Mensch wesentlich ein "Gemeinschaftswesen" ist, ist auch das Ziel des Menschen ein gemeinschaftliches. Mit anderen Worten, der Mensch erscheint wirklich so, wie er ist, wenn er in seiner sozialen Dimension berücksichtigt wird. Deshalb kann das tatsächliche Wohl des Menschen nur das soziale Wohl sein, das heißt das "Gemeinwohl". Das Gesetz muß also seiner Natur nach das Gemeinwohl betreffen. (Fs)

257c Das Gesetz kann nicht darauf abzielen, das Wohl des Einzelnen zu verwirklichen oder ein gelegentliches Übel zu verhindern, sondern auf das, was im Durchschnitt geschieht: "ut in pluribus". (Fs)

Zum Beispiel können die Gehsteige, weil eine alte Frau dort gestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat, nicht abgeschafft werden; dagegen müssen Regelungen für die Diskotheken eingerührt werden, weil am Wochenende viele Jugendliche unter den Verkehrstoten sind. (Fs)
Wem steht es zu, Gesetze zu erlassen?

258a Die Akte müssen auf ein Ziel hingeordnet werden. Weil das Gesetz Hinordnung der Akte auf das Gemeinwohl bedeutet, ist der natürliche Gesetzgeber der Sitz des Gemeinwohls, das heißt:
- Gott für das Gesetz, das die Geschöpfe als solche betrifft;
— die menschliche Gemeinschaft (unmittelbar oder durch ihren rechtmäßigen Vertreter) für die Gesetze, die das Gemeinwohl im menschlichen Zusammenleben auf Erden betrifft. (Fs)

Das Inkraftsetzen

Ein Maß ist nur konkret, wenn es tatsächlich auf das zu messende Objekt angewandt wird. Das Gesetz - das Maß des Menschen, insofern er als Mensch handelt - hat also nur gesetzmäßigen Wert, wenn es wirklich auf den handelnden Menschen angewandt wird. Diese "Anwendung" geschieht im Grunde genommen durch die Kenntnis des Gesetzes bei denjenigen, die ihm unterstellt sind. Sie erlangen Kenntnis durch den "Erlaß" des Gesetzes, der insofern auch zu dessen wesentlichen Grundlagen gehört. (Fs)

Das Naturgesetz wird vom Gewissen erlassen, mit dem wir uns noch befassen werden. (Fs)

Eine feste Norm

258b Aus seiner Natur als "Maßstab", die dem Gesetz eigen ist, erwächst die Notwendigkeit, daß sich das Gesetz nicht nur auf einzelne, sondern auf eine Vielzahl von Subjekten bezieht, und daß es möglichst konkrete Stabilität besitzt. Denn ein ständig veränderlicher Maßstab würde seinen Zweck nicht erfüllen und nur ein großes Durcheinander hervorrufen. (Fs)

Was ist das Gesetz?

259a Wir können jetzt versuchen, das Ergebnis unserer Reflexion zusammenzufassen:
Das Gesetz ist eine vernünftige, dauerhafte, vom Vertreter der Gemeinschaft festgelegte und erlassene Norm, die die menschlichen Handlungen im Hinblick auf das Gemeinwohl regelt. (Fs)

2. Das Gesetz und die Gesetze

259b Wir müssen zugeben, daß der Begriff des Gesetzes, bei dem wir gelandet sind, sich in univokem Sinn nur auf das "positive menschliche Gesetz" bezieht. Aber die Verstehbarkeit des positiven menschlichen Gesetzes ist noch nicht erschöpft und auch nicht wahrhaft zu rechtfertigen, wenn wir in den Diskurs nicht andere Gesetze miteinbeziehen, die ihm vorausgehen und auf die das bisher Gesagte nur annähernd anwendbar ist. (Fs)

Das ewige Gesetz

In der gesamten Wirklichkeit sind zwei Seinsweisen zu unterscheiden:
- auf der einen Seite gibt es das ungeschaffene und erschaffende Absolute;
— auf der anderen Seite alles, was nicht absolut ist, das heißt die relativen Lebewesen, die Geschöpfe. (Fs)

Weil aber letztere nur reine Abhängigkeiten vom Absoluten sind, sowohl in Bezug auf ihr Dasein als auch in bezug auf ihren Wesenskern, wird das Absolute als einzige und immerwährende Quelle alles Wirklichen sowohl statisch als auch dynamisch verstanden. Mit anderen Worten, Gott hält das Universum am Leben und lenkt es in seiner Geschichte. (Fs)

259b Diese Herrschaft Gottes ist nicht blind und zufällig; in ihr gibt es eine "ratio" - das heißt einen Plan -, durch den Gott alles zu einem letzten Ziel führt. (Fs)

260a Diese "ratio" ist die Norm aller Dinge und fällt mit dem Begriff der "Vorsehung" zusammen, so wie auf ontologischer Ebene mit der Wesenheit Gottes selbst. Sie ist ewig, weil alles, was in Gott ist, ewig ist. So kommen wir zur Idee des ewigen Gesetzes, des "Regierungsprogrammes", wie es Gott für das ganze Universum im Sinn hat (vgl. Summa Theologiae I—II, q. 51, a. 11: "ratio gubernativa totius universi in mente divina existens"). (Fs)

Es ist natürlich das oberste Gesetz, das für alle Geschöpfe zu allen Zeiten und an allen Orten gilt. Alle anderen Gesetze sind es tatsächlich nur in dem Maß, in dem sie von dem obersten Gesetz abhängen und es sozusagen inkarnieren. Aber dieses Gesetz, Ur- und Vorbild jedes anderen, das sich mit der göttlichen Wesenheit als Norm und Ziel von allem identifiziert, kann selbst nicht erkannt werden, solange wir hier auf Erden leben (vgl. Summa Theologiae I—II, q. 93, a. 2). (Fs)

Die Situation ist ungewohnt: Der menschliche Gesetzgeber soll sich das göttliche Gesetz vor Augen halten, sonst läuft er Gefahr, von der rechten Ordnung der Dinge abzuweichen; aber sein Inspirationsmodell ist unsichtbar. (Fs)

Das Naturgesetz

Der Stand der Dinge würde ans Absurde grenzen, gäbe es das Naturgesetz nicht, um gleichsam zwischen dem ewigen Gesetz und dem positiven menschlichen Gesetz zu vermitteln. Weil alle Dinge dem ewigen Gesetz unterstellt sind und von ihm geregelt werden, findet sich im Wesenskern von allem eine Inkarnation des ewigen Gesetzes, das heißt eine Norm; gemäß dieser Norm ist jedem Geschöpf, seiner Natur entsprechend, eine Neigung zu seinem Ziel und zu den besonderen Akten, mit denen das Ziel zu erreichen ist, zugewiesen. Diese Norm ist die Natur selbst, sofern sie am ewigen Gesetz gemessen wird, das heißt, insofern sie dem Plan Gottes entspricht. (Fs)

260b In den vernunftbegabten Lebewesen wird die Natur, die ihr Selbstbewußtsein erlangt hat, nicht mehr am Gestz bemessen, sondern selbst zum Maßstab, das heißt zur Richtschnur der Handlungen. Und so hat man das Naturgesetz, das jedem vernunftbegabten Geschöpf als Teilhabe am ewigen Gesetz eingeschrieben ist. (Fs)

Das positive Gesetz

261a Aber das Naturgesetz bietet nicht alle Mittel und Bedingungen, um seine eigenen Gebote zu erfüllen. Deshalb ist es notwendig, daß es näher definiert wird. So entsteht die Grundlage für das positive Gesetz, d.h. das Gesetz, das vom göttlichen und menschlichen Gesetzgeber zusätzlich zur Anwendung des Naturgesetzes festgelegt wird. Wir beobachten, daß es in der Hierarchie der Gesetze sozusagen eine fortschreitende Inkarnation des ewigen Gesetzes gibt. Die Norm verzweigt sich allmählich immer mehr ins Einzelne und Zufällige; sie wird zugleich weniger absolut und Variationen unterworfen. Das ewige Gesetz gilt für alle Geschöpfe. Das Naturgesetz gilt nur für die Natur, auf die es sich bezieht. Das positive Gesetz kann der Zeit und dem Ort entsprechend verschieden sein. Seine Veränderbarkeit ist um so größer, je weiter entfernt vom ewigen Gesetz seine Anordnungen sind. (Fs)

Erstes Beispiel: Das Geschöpf soll den Schöpfer (das ewige Gesetz) anbeten; der Mensch soll den Schöpfer auch in äußerer und gemeinschaftlicher Kultform verehren (Naturgesetz); der Mensch soll den Sabbat dem Gottesdienst widmen (positives jüdisches Gesetz). (Fs)
Zweites Beispiel: Man soll das Böse meiden (ewiges Gesetz); der Inzest ist böse und zu vermeiden (Naturgesetz); die Eheschließung zwischen Cousin und Cousine ist unerlaubt (positives Gesetz). (Fs)

261b Wie zu sehen ist, geht die Handlungsnorm in den verschiedenen Gesetzen vom Allgemeinen ins einzelne über nach einer syllogistischen Methode, die das grundlegende Instrument zur Ausübung der menschlichen Vernunft ist. (Fs)

Beispiel: Man soll das Böse meiden (ewiges Gesetz), töten ist böse, also darf man nicht töten (Naturgesetz); man vermeidet es, zu töten, wenn man sich im Straßenverkehr auf der rechten Seite hält (positives Gesetz, das auch wie z. B. in England anders sein kann). (Fs)
262a Das positive menschliche Gesetz deckt sich nicht unbedingt mit dem Naturgesetz, darf aber deshalb nicht für unbegründet und willkürlich gehalten werden. Obwohl es oft durchaus diskutierbar ist, wurzelt es im ewigen Gesetz, weil es die konkrete Spezifizierung des Naturgesetzes ist, das seinerseits den ewigen Plan Gottes spezifiziert. (Fs)

3. Endlichkeit des Gesetzes

262b Das ewige Gesetz hat natürlich kein Ende, und das Naturrecht endet mit dem Ende der Natur, auf die es sich bezieht. Anders ist es beim positiven Gesetz, das sich ändern kann und, auch wenn es unverändert bleibt, nicht unbedingt zur Pflicht gemacht werden kann. (Fs)

Änderung des Gesetzes

Das positive Gesetz darf in zwei Fällen verändert werden: Wenn man eine weitere Vertiefung der "ratio" erreicht hat, die sich in ihm ausdrückt, ober weil sich die konkreten Bedingungen des menschlichen Handelns, die das Gesetz regeln sollte, geändert haben. Es ist gut, festzuhalten, daß die Änderung angebracht und vernünftig ist, wenn das von der größeren Vernünftigkeit und der größeren Angemessenheit des menschlichen Gesetzes beigetragene Gute den unweigerlich durch die Veränderung hervorgerufenen Nachteil dementsprechend ausgleicht (eine Änderung bedeutet immer eine Verletzung des Ansehens der Norm). Der beste Gesetzgeber ist nicht derjenige, der ständig seine Gesetze ändert in der Hoffnung, sie zu vervollkommnen, sondern derjenige, der sie so klug aufbaut, daß sie dem Zeitenwandel auf Dauer standhalten. (Fs)

Keine dringende Notwendigkeit des Gesetzs

262c Wir zählen hier drei Fälle auf, in denen das Gesetz im Einzelfall nicht verpflichtend sein muß. Alle drei Fälle gehören zum Kirchenrecht, das im allgemeinen flexibler und menschlicher als das Zivilrecht ist. (Fs)

- die Epikie: die Auslegung des Gesetzes gegen dessen klare Textaussage, aber nach dem plausiblen Sinn des Gesetzgebers und die Übertragung des Gesetzes mit klugem Urteil auf die jeweiligen Umstände; unerläßliche Bedingungen: es besteht eine wahre Notwendigkeit; es ist schwierig, den Gesetzgeber direkt zu konsultieren; es handelt sich um ein positives menschliches Gesetz. (Fs)

263a
- die Entschuldigung: Aussetzung der Pflicht, das Gesetz zu befolgen, auf Grund eines schweren Schadens oder einer ernsthaften Beschwerlichkeit, die in diesem Fall mit seiner Beachtung verbunden ist;
- die Dispens: eine vom Gesetzgeber oder seinem Delegierten bewilligte momentane Enthebung von der Pflicht, ein bestimmtes Gesetz zu befolgen, dem man aber weiterhin unterstellt bleibt. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gewissen, Norm; syllogistischer Erkenntnisprozess - G.; Erfordernis der "Wahrheit"; ignorantia iuris, i. facti

Kurzinhalt: Das Gewissen ist das verinnerlichte Urteil des handelnden Subjekts über die Sittlichkeit der Handlungen, die als eigene betrachtet werden.

Textausschnitt: III. DAS GEWISSEN

263b Wir wollen jetzt einige Fragen beantworten, die entscheidend sind für eine rechte Lösung der moralischen Frage: Was versteht man eigentlich in diesem Zusammenhang unter "Gewissen"? Welche Wesensmerkmale muß das Gewissen besitzen, damit es das Handeln erleuchten kann? Wie bildet man sein rechtes Gewissen?

1. Das moralische Gewissen

Die verinnerlichte Norm

Das Gesetz ist - wie wir gesehen haben - die objektive Norm des Handelns; objektiv, weil sie außerhalb des ihr unterstellten Subjekts besteht; sie ist unabhängig vom Subjekt; sie hat ihren Ursprung im Absoluten Gottes und in seinem Plan (ewiges Gesetz). (Fs)

264b Weil aber die Freiheit der menschlichen Akte, die vom Gesetz geregelt werden müssen, in der Möglichkeit wurzelt, das Handeln unterschiedlich zu beurteilen, ist die objektive Norm der freien Akte nur dann wirklich Richtschnur, wenn sie im persönlichen Urteil des handelnden Subjektes deutlich wird. (Fs)

264a Mit anderen Worten, das Gesetz des Handelns wird wirklich Gesetz, wenn es von einem Subjekt angewandt wird; zugleich wird das Gesetz, das bisher ein von der Natur der Dinge oder der Absicht des Gesetzgebers her gegebenes Urteil war, subjektives Urteil dessen, von dem es angewandt wird. (Fs)

Das heißt, das, was das Handeln an das Gesetz des Handelns bindet, ist die Kenntnis des Gesetzes seitens des Handelnden. Die dem Handeln nächststehende Norm ist das Gesetz, welches vom Subjekt im Inneren wahrgenommen wird. Und das Gesetz, das vom Subjekt im Innern wahrgenommen wird, ist das moralische Gewissen. (Fs)

Mißverständnisse vermeiden

Es gilt hier genau zu unterscheiden zwischen der Bedeutung, die hier der Terminus "Gewissen" hat, und allen übrigen Bedeutungen des Wortes. Es handelt sich hier nicht um das Selbstbewußtsein oder das Sich-seiner-Handlungen-bewußt-Sein (psychologisches Bewußtsein): Das psychologische Bewußtsein wird vom moralischen Bewußtsein (dem Gewissen) vorausgesetzt, aber es ist nicht identisch mit ihm. Manchmal verwendet man das Wort "Gewissen", um rechtes Verhalten zu bezeichnen; so sprechen wir zum Beispiel von einem "gewissenlosen" Geschäftsmann. (Fs)

Wir wollen damit sagen, daß hier das Gewissen - weil es Handlungsmaßstab ist - wie das Gesetz im wesentlichen eine "ratio" ist, ein Akt der Vernunft, das heißt ein Urteil. Aber weil es eine subjektive Norm ist - und deshalb offensichtlich individuell und konkret - unterscheidet es sich vom Gesetz und von den allgemeinen Schlußfolgerungen der Morallehre: Mein Gewissen spricht nur in Bezug auf meine eigenen Handlungen. (Fs)

Begriff des moralischen Gewissens

264b Jetzt können wir den Begriff des Gewissens formulieren, der für unsere Reflexion wichtig ist. (Fs)

265a Das Gewissen ist das verinnerlichte Urteil des handelnden Subjekts über die Sittlichkeit der Handlungen, die als eigene betrachtet werden. (Fs)

Weil es ein Urteil ist, erwächst es aus einem syllogistischen Erkenntnisprozeß, der von den absoluten Prinzipien ausgehen und bis zu den konkreten und persönlichen Schlußfolgerungen gelangen muß. (Fs)

Beispiel:
I. Das Böse ist zu meiden; Diebstahl ist böse; also ist der Diebstahl zu meiden (wir befinden uns hier noch innerhalb der Morallehre, die zu einem abstrakten und unpersönlichen Schluß kommt). (Fs)

II. Diebstahl muß vermieden werden; Busfahren ohne Fahrschein ist Diebstahl; also darf man ohne Fahrschein nicht Bus fahren (wir befinden uns innerhalb der angewandten oder kasuistischen Moral, die zu einem konkreten und unpersönlichen Schluß führt). (Fs)
III. Ohne Fahrschein darf man nicht Bus fahren; ich darf das nicht tun, was man nicht tun soll; also darf ich ohne Fahrschein nicht Bus fahren (konkretes und persönliches Urteil des Gewissens). (Fs)

Klarstellungen

265b Einige nützliche Hinweise
1. Der Gewissenspruch ist nicht identisch mit dem praktischen Urteil, das die konkrete Entscheidung bestimmt, so daß Widersprüche auftreten können wie im Fall dessen, der eine sündhafte Handlung begeht und sie als solche erkennt. Beispiel: Nachdem mir mein Gewissen gesagt hatte, daß ich den Fahrschein lösen muß, beschließe ich, trotzdem keinen Fahrschein zu lösen. (Fs)

2. Das Gewissen ist niemals ein Urteil über die Taten anderer, sondern über die eigenen. Ein Mensch mit tiefem Gewissen ist nicht derjenige, der sehr empfindsam ist für das Unbehagen, das aus den von anderen begangenen Ungerechtigkeiten entstanden ist, sondern der Mensch, der deutlich das Unbehagen der eigenen Ungerechtigkeiten spürt. Der Wahrhaftigkeit des Gewissens nützt es nichts, dem Nachbarn das "mea culpa" an die Brust zu klopfen. (Fs)
266a

3. Es ist unwahrscheinlich, daß das letzte Urteil der apersonalen allgemeinen Vernunft (theoretische oder angewandte Morallehre) vom Gewissenspruch abweicht. Aber es nicht nicht auszuschließen: Man begegnet manchmal seltsamen Spaltungen, so daß ein Mensch eine Situation klar beurteilt, wenn sie sich auf andere bezieht, aber jedes ojektive Urteilsvermögen verliert, wenn er die eigene Lebensführung prüft. Beispiel: Wenn jemand theoretisch (und als Arbeitnehmer) das Problem der gleichen Behandlung der Arbeitnehmer prüft, und wenn er (als Arbeitgeber) die eigene Behandlungsweise der Untergebenen beurteilt. (Fs)

2. Wesensmerkmale des Gewissens

266b Die Wahrheit und die Sicherheit sind notwendige Voraussetzungen dazu, daß das Gewissen die Rolle als inneres Gesetz recht wahrnehmen kann. (Fs)

Erfordernis der "Wahrheit"

Weil es der "Maßstab" der Akte ist, scheint das Grunderfordernis des Gewissens die "Wahrheit" zu sein, das heißt seine Übereinstimmung mit der objektiven Norm, deren innere Umsetzung es ist. Wie ein Metermaß, das sich nicht vom Richtmaß unterscheiden darf, wenn es recht messen will. (Fs)

266c Weil aber der Gewissenspruch, wie wir gesehen haben, die Schlußfolgerung einer Reihe zusammenhängender Syllogismen ist, läuft er wie alle Gedankengänge Gefahr, einem Irrtum zu unterliegen, auf Grund unrichtiger Voraussetzungen oder ungeordneter Folgerungen. (Fs)
Beispiel: Muß ich, wenn ich in gutem Glaubem eine falsche Banknote erhalten habe, den Schaden selbst tragen, oder kann ich sie meinerseits jemandem andern zustecken? Häufig ist in diesem Fall die Überlegung durch Unwissenheit getrübt: entweder durch die ignorantia iuris, so daß man die Unmoral nicht wahrnimmt, wenn man den erlittenen eigenen Schaden auf Kosten eines Unschuldigen wiedergutzumachen versucht; oder durch die ignorantia facti, wenn man nicht weiß, daß es Falschgeld ist. (Fs)

267a Dann ergibt sich das Problem: Bleibt ein Gewissen, das im Widerspruch zur objektiven Norm steht, noch rechtmäßige Handlungsnorm? Um diese Frage gut zu beantworten, sind zwei mögliche Fälle zu unterscheiden, je nachdem, ob sich der Irrtum in den Gedankengang mit voller Verantwortung des Subjekts oder völlig unfreiwillig eingeschlichen hat. (Fs)

Zu verantwortender Irrtum

Wenn der Irrtum auf Grund mangelnder aufrichtiger Wahrheitssuche entstanden ist, durch Trägheit oder Leichtfertigkeit oder unter dem Einfluß egoistischer Neigungen hervorgerufen
wurde, die das Denkvermögen trüben, kann das sich daraus resultierende Gewissen nicht als dem Handeln nächststehende Norm betrachtet werden, denn ein irrtümliches durch einen freiwilligen Fehler bestimmtes Urteil kann keinesfalls "wahr" genannt werden. (Fs)

Beispiel: Im Fall der falschen Banknote verändert die ignorantia iuris das Gewissen, wenn es die Frucht eines gewollten Versäumnisses ist, die Frage ehrlich und gelassen zu prüfen. In gleicher Weise ändert die ignorantia facti das Gewissen, wenn ein Bankkassierer aus Trägheit sich nicht über die Merkmale von Falschgeld unterrichtet hat und es nicht erkennen kann. (Fs)

Nicht zu verantwortender Irrtum

267b Wenn der Irrtum völlig unfreiwillig ist, muß der Gewissensspruch als Norm des Handelns betrachtet werden, auch wenn er mit der objektiven Norm nicht überstimmt, in gewissem Sinn ein "wahres" Urteil ist. (Fs)

268a Denn wir können das objektive moralische Handeln nur beurteilen, indem wir uns auf die subjektive Erkenntnis, die wir davon haben, stützen. Deshalb lautet der konkrete Ausgangspunkt der Überlegung, die zum Gewissenspruch gelangt, nicht so sehr: "Ich muß das Böse meiden", sondern: "Ich muß das meiden, was mir nach ernsthafter Prüfung böse zu sein scheint." Also macht die "ernsthafte Prüfung", wenn es sie gibt, den ganzen Syllogismus auch in dem Fall korrekt, wo bedauernswerterweise die Schlußfolgerung mit der Norm der Moralität nicht übereinstimmt. (Fs)

Die erforderliche Eigenschaft, die ein Gewissen als rechtmäßige Handlungsnorm besitzen muß, ist die "Wahrheit", aber nicht so sehr im Sinn der absoluten Übereinstimmung mit der objektiven Norm, sondern im Sinn ehrlicher subjektiver Zustimmung zur objektiven Norm, so weit sie erkannt wird; einer Zustimmung, die das Bemühen einschließt, die Norm entsprechend den eigenen konkreten Möglichkeiten zu erkennen. (Fs)

268b Weil diese Art von "Wahrheit" im allgemeinen "Rechtschaffenheit" genannt wird, können wir sagen, daß die erste Grundbedingung des Gewissens darin besteht, daß es rechtschaffen ist. (Fs)

Notwendige Sicherheit

Die aufrichtige Liebe zur objektiven Norm — das heißt zur Rechtschaffenheit — verhindert es, daß man Gefahr läuft, sie zu verletzen. Denn wenn man aus guten Gründen Zweifel hegt über die Rechtmäßigkeit einer durchzuführenden Handlung, bei der man höchstwahrscheinlich die objektive Norm verletzt, darf man nicht im Zustand begründeten Zweifels handeln, wenn man das rechtschaffene Gewissen bewahren will. (Fs)

268c Mit anderen Worten, das Gewissen muß, um Richtschnur des Handelns zu sein, nicht nur rechtschaffen, sondern auch sicher sein; oder besser, es muß auch sicher sein, damit es rechtschaffen bleibt.

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gewissen: Grundregeln, Bildung (2 Gefahren); Liebe zu: Wahrheit, Gerechtigkeit; Sicherheiten (metaphysische, moralische), Zweifel, Meinung; Anwendung der sogenannten "Rechtsprinzipien"; Prinzipien in der Moral

Kurzinhalt: Mit anderen sollte man über das eigene Gewissen und über das, was es uns sagt, nie sprechen ... Die moralische Wahrheit zu suchen ist also die erste Voraussetzung für ein moralisches Leben

Textausschnitt: 3. Grundregeln für das Gewissen

269a Aus den Eigenschaften des Gewissens, die wir untersucht haben, erwachsen Grundsätze, die es regeln. (Fs)

1. Der Mangel an rechtschaffenem Gewissen untergräbt das moralische Leben. (Fs)

2. Der Mangel an sicherem Gewissen untersagt normalerweise das Handeln; wer deshalb im Zweifel handelt, lädt dieselbe Schuld auf sich wie bei der objektiven Verletzung des Gesetzes, das Objekt des Zweifels ist. (Fs)

3. Dem rechtschaffenen und sicheren Gewissen ist immer Folge zu leisten, was immer es befiehlt oder verbietet, und es darf immer befolgt werden, was immer es anregt oder erlaubt. (Fs)

4. Die Verletzung des Gewissens ruft gleiche Schuldhaftigkeit hervor: sowohl im Falle, daß sie tatsächlich auch gegen die objektive Norm verstößt, als auch in dem Falle, daß sie in Wirklichkeit keine Verletzung der objektiven Norm ist. (Fs)

5. Die Rechtschaffenheit des Gewissens wird durch volle Fügsamkeit gegenüber der objektiven Norm bewahrt, die ständig zu suchen und sich anzueignen ist. (Fs)

6. Mit anderen sollte man über das eigene Gewissen und über das, was es uns sagt, nie sprechen, weil seine Befehle von den anderen nicht wahrzunehmen sind und weil es nur für den Betroffenen die höchste Autorität darstellt, aber keinerlei Autorität gegenüber Dritten besitzt. (Fs) (notabene)

4. Bildung des rechtschaffenen Gewissens

269b Weil die Grundeigenschaft, die das Gewissen zur rechtmäßigen Handlungsnorm macht, seine Rechtschaffenheit ist, muß sich der Mensch, der ein wahrhaftes moralisches Leben führen will, sich um eine rechte Gewissensbildung bemühen. (Fs)

270a Dabei sind zwei Gefahren zu nennen:

- Trägheit bei der Wahrheitssuche;
- schlechtes Verhalten, das immer ein wenig den Verstand trübt, während Jesus sagt: "Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht" (M 3,21). (Fs)

Notwendige Voraussetzungen für eine rechte Gewissensbildung sind:
- tätige und selbstlose Wahrheitsliebe;
- die ehrliche Absicht, das Gute zu tun. (Fs)

Liebe zur Wahrheit

270b Die tätige Liebe zur Wahrheit leitet dazu an, diese ständig zu suchen. Die moralische Wahrheit zu suchen ist also die erste Voraussetzung für ein moralisches Leben. Diese Suche soll mit den gewohnten Mitteln durchgeführt werden, die man verwendet, um zur Wahrheit zu gelangen, und die den konkreten Möglichkeiten des Suchenden entsprechen. (Fs)
Weil es sich um moralische Wahrheit handelt - einen Bereich, wo einem, wenn man allein über die Probleme nachdenkt, so mancher Aspekt leicht entgehen kann -, ist neben der vernünftigen Überlegung und Reflexion aufmerksam auf die Meinung ehrbarer, weiser und erfahrener Menschen (kluges Urteil) zu achten. (Fs)

Selbstverständlich können Meinungen von mehreren Personen und Autoren eingeholt werden, solange man es in der Absicht tut, zur Wahrheit zu gelangen, und nicht in der Hoffnung, die Meinungsvielfalt erlaube uns, das zu tun, was uns beliebt. (Fs)

Liebe zur Gerechtigkeit

Die Liebe zur Gerechtigkeit ist notwendig, damit der Verstand in einer Suche unterstützt wird, die manchmal zu unbequemen Schlußfolgerungen für den Suchenden führen kann. (Fs)
270c Zu beachten ist auch, daß die Erkenntnis der lebendigen Wahrheiten - und das sind die moralischen Wahrheiten - vor allem eine natürliche innere Erfahrung ist. Zum Beispiel wird ein Dieb schwerlich die Vernünftigkeit der Ehrbarkeit verstehen; ein Lügner hält die Wahheit nicht einmal für möglich; usw. Wo diese innere Erfahrung des Guten nicht gegeben ist, kann kein Urteil von Natur aus gebildet werden, und das Gewissen kann nur mit Mühe "recht" gebildet werden. (Fs)

271a Zu bedenken ist auch, daß die Psychologie des Menschen von Natur aus dazu tendiert, den inneren Zwiespalt zu überwinden und ein so weit wie möglich integrales Dasein zu führen. Deshalb gilt: Entweder man bildet die Handlungen entsprechend den Überzeugungen oder man bildet die Überzeugungen nach dem Verhalten. Wer häufig und lange Zeit im Widerspruch zu seinen Überzeugungen handelt, denkt am Ende in Übereinstimmung mit seinen Handlungen. Wer schlecht handelt, urteilt am Ende ohne Wahrheit und bildet sich ein falsches Gewissen. (Fs) (notabene)

5. Bildung des sicheren Gewissens

Sicherheiten, Zweifel, Meinungen

271b Zur Einleitung ist es gut, einige Begriffsinhalte zu klären.
Sicherheit: Sie ist die feste innere Zustimmung des Menschen zu einer Wahrheit, die als solche erkannt wurde. Ein Mensch in dieser Verfassung wird kaum ernsthaft zweifeln oder befürchten, sich zu täuschen. Es gibt verschiedene Sicherheiten:

- Metaphysische (oder mathematische) Sicherheit: Sie betrifft in jedem Fall absolut gültige Wahrheiten und duldet nicht einmal die theoretische Möglichkeit des Gegenteils. Besispiel: die philosophischen Grundprinzipien und die mathematischen Axiome. (Fs)

- Physische Sicherheit: Sie hat zum Gegenstand die physikalischen Gesetze, die immer gültig sind, außer im Fall eines hypothetischen, umwälzenden Naturereignisses. Beispiel: Ich bin sicher, daß morgen früh die Sonne aufgehen wird. (Fs)

- Moralische (oder statistische) Sicherheit: Sie schließt nicht unbedingt das Gegenteil aus, aber mit einer ganz geringen nicht besorgniserregenden Wahrscheinlichkeit. Auf dieser Sicherheit beruht das ganze Dasein der Menschen und damit auch das moralische Leben. (Fs)

272a Beispiele: Ich habe die moralische (nicht physische oder metaphysische) Sicherheit,
- daß diese Zimmerdecke innerhalb der nächsten fünf Minuten nicht einstürzen wird;
- daß der Espresso, den ich an der Bar trinke, kein Strichnin enthält;
- daß der Busfahrer im nächsten Augenblick nicht irrsinnig wird;
- daß meine Eltern wirklich meine Eltern sind;
- daß ich gültig getauft wurde;
- daß der Barbier mich rasiert und mir nicht die Kehle durchschneidet; usw. (Fs)

Absolute Unsicherheit (oder negativer Zweifel): Es ist die innere Verfassung des Menschen, der angesichts einer Nachricht oder eines Vorschlags keinen wahren Grund hat, zuzustimmen oder abzulehnen. (Fs)

Zweifel (oder positiver Zweifel): Es ist der Zustand des Menschen, der angesichts einer Nachricht oder eines Vorschlags nicht imstande ist, ein Urteil für oder dagegen zu bilden, weil die Gründe für die Zustimmung ungefähr die Gründe zur Ablehnung ausgleichen. Auch das ist ein Zustand der Unsicherheit wie der vorhergehende mit dem Unterschied, daß er nicht durch die Abwesenheit gegensätzlicher Beweggründe, sondern durch ihr Gleichgewicht hervorgerufen wird. (Fs)

Meinungen: Darunter versteht man heute (wie im Altertum Aristoteles und im Mittelalter Albertus Magnus und Thomas von Aquin) den geistigen Zustand, der einer Aussage völlig zustimmt, aber mit der begründeten Furcht, sich zu irren. Bei diesem Begriff wird die Wahrscheinlichkeit der Überzeugung von den Beweisgründen bestimmt, die sie stützen; diese müssen ernsthaft und stärker sein als die gegenteiligen Beweisgründe, obwohl sie nicht zur Sicherheit führen können. (Fs) (notabene)

272b Hingegen halten die Moraltheologen nach dem Konzil von Trient eine Überzeugung für wahrscheinlich, die auf ernsthaften Gründen beruht, auch wenn ebenso ernsthafte Gründe für die gegenteilige Meinung sprechen. Nach dieser letzteren Auffassung kann man zwei verschiedene Urteile für die einzelnen Argumente, die sie stützen, für sehr wahrscheinlich halten (auch wenn sie von den "Autoren" abgeleitet sind), obwohl man persönlich dazu neigt, eine der beiden für wahr zu halten. (Fs)

Wie man die Zweifel beheben kann

273a Um rechtschaffen zu handeln, ist die moralische Sicherheit der Rechtmäßigkeit der Handlung erforderlich. Wie soll sich dann jemand verhalten, der nicht zu dieser Sicherheit gelangen kann? Die Antwort liegt nach dem bereits Gesagten auf der Hand: Erste Pflicht eines Menschen, der nicht die moralische Sicherheit der Rechtmäßigkeit einer Handlung hat, ist es, sie sich zu verschaffen, bevor er handelt; er muß sich entsprechend der Schwere des Problems und seiner konkreten Möglichkeiten darum bemühen, die Sicherheit zu gewinnen. (Fs)
Wenn er die Sicherheit erlangt hat (oder zumindest wenn er sich wenigstens eine "Meinung" bilden konnte gemäß der mittelalterlichen Bedeutung des Wortes), dann kann er im Einklang mit der gewonnenen Überzeugung handeln. (Fs)

273b Wenn aber trotz aller Mühe Zweifel bestehen bleiben, was ist dann zu tun? Man muß auf alle Fälle einen Weg finden, so daß man nach Überwindung der theoretischen Unsicherheit eine Sicherheit im Handeln erlangt, die die Haltung moralisch rechtfertigt, die man einnehmen soll. Dieser Weg besteht in der Anwendung der sogenannten "Rechtsprinzipien". (Fs)
Beispiel: Ein Richter weiß genau, daß für ein bestimmtes Verbrechen eine bestimmte Strafe zu verhängen ist; aber er ist sich nicht sicher, ob das Verbrechen tatsächlich von dem Angeklagten begangen wurde. Infolgedessen hegt er gewisse Zweifel, ob er die Strafe verhängen soll oder nicht. Ein Richter darf aber keine Zweifel hinterlassen, weil das Gerichtsverfahren in jedem Fall mit einem Urteil enden muß. Er nimmt also ein allgemein anerkanntes juristisches Prinzip zu Hilfe, das lautet: Wenn Zweifel an der Schuldhaftigkeit bestehen, ist der Angeklagte freizusprechen. (Fs)

Der Richter hat weiterhin Zweifel an der Schuldhaftigkeit, aber der Zweifel wird durch dieses Prinzip sozusagen umgangen. Es ist ein Rechtsprinzip ["In dubio pro reo" - "Im Zweifel für den Angeklagten"], das es dem Richter erlaubt, eine "Sicherheit im Handeln" zu erlangen. (Fs)
Oder: Der Richter weiß genau, daß der Angeklagte eine bestimmte Tat begangen hat; aber er ist sich nicht sicher, ob das Gesetz diese Tat verbietet. Was ist zu tun? Er wendet auch hier ein allgemein anerkanntes Prinzip an, das lautet: "Lex dubia non obligat" ("Das Gesetz verpflichtet nicht im Zweifelsfall"). Und durch dieses Rechtsprinzip kann er zur ausführenden Sicherheit über den Freispruch gelangen, obwohl ihm der theoretische Zweifel über die Gesetzesauslegung bleibt. (Fs)

Die Prinzipien in der Moral

274a Wir haben einige Prinzipien juristischer Natur betrachtet. Sind im moralischen Leben vergleichbare Prinzipien anzuwenden? Es gibt zwei grundlegende Prinzipien, die in entsprechenden Situationen anzuwenden sind. (Fs)

Erste Situation

Wenn das objektive Gute auf dem Spiel steht (das nicht von der subjektiven Moralität des Handelnden abhängt), lautet das moraltheologische Prinzip: "pars tutior est sequenda". Das heißt: Besteht tatsächlich Zweifel, ob ein objektiver Wert gefährdet ist, muß man sich an eine wahrscheinliche Lösung halten, wobei die sicherste Möglichkeit gewählt wird, um das betreffende Gute zu schützen. (Fs)

Beispiele: Ich darf keine schweren Gegenstände aus dem Fenster werfen und so tun, als ob "unten sowieso niemand vorbeiginge". Diese Tat ist unmoralisch, denn es genügt die Möglichkeit, daß jemand getroffen werden könnte.
Ein Chirurg hält einen bestimmten Eingriff für notwendig, um den Patienten zu retten, aber er kann das Risiko des negativen Ausgangs nicht ausschließen; der Chirurg darf diesen Eingriff nicht vornehmen, wenn es einen andern mit sichererem Ausgang gibt. (Fs)

Zweite Situation

275a Wenn kein objektiver Wert (im vorgenannten Sinn) auf dem Spiel steht, lautet das moraltheologische Prinzip: Wenn eine Verpflichtung nicht sicher feststeht, bedeutet das, daß sie nicht existiert. Das heißt, daß das juridische Prinzip: "Lex dubia non obligat", auch im moralischen Bereich anwendbar ist. Wenn der Zweifel trotz aller Suche nicht geschwunden und man sich über über die moralische Unerlaubtheit einer Tat nicht im klaren ist, steht es frei, zu handeln, wie man will. (Fs)

Es bleibt eine letzte Frage.

Darf ich mich, wenn über eine unsichere Frage zwei Meinungen (das heißt zwei verschiedene Ansichten von "auctores probati") vorliegen, und ich mir kein sicheres persönliches Urteil bilden kann, an die eine halten, auch wenn mir die Beweisgründe der anderen einsichtiger erscheinen?

275b Die Antwort lautet: Wenn ich anhand der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit zu einer moralischen Sicherheit (oder wenigstens zu einer im mittelalterlichen Sinn festen "Meinung") gelangt bin, darf ich ehrlicherweise dem gegenteiligen Urteil nicht Folge leisten, auch wenn es von "erfahrenen" Leuten unterstützt wird. Wenn ich aber zu keiner persönlichen begründeten Meinung gelangt bin, wird die Unsicherheit der Verpflichtung durch das moralische Prinzip in die Sicherheit der Nichtverpflichtung übersetzt, und ich darf auch der Meinung der Leute folgen, die in meinen Augen weniger wahrscheinlich ist. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christliche Kultur; Grundbedeutungen; Begriffswandel: Kultivierung des Menschen -> Interpretation d. Wirklichkeit

Kurzinhalt: Gibt es eine "christliche Kultur"? Ist sie möglich und notwendig?; Beinahe unmerklich geht man dann dazu über, unter "Kultur" nicht nur die Tätigkeit der "Kultivierung des Menschen", sondern auch ihr Ergebnis zu verstehen ...

Textausschnitt: II. FÜR EINE "CHRISTLICHE KULTUR"

Vorbemerkungen

279b
1. Es scheint mir angezeigt, daß wir dieses Thema anschneiden, für das die Christen seit einigen Jahren lebhaftes Interesse zeigen. Meine Reflexion soll eine klare pastorale Ausrichtung haben. Sie wendet sich in erster Linie an die Gläubigen und will unser kirchliches Leben erleuchten und stärken. Sie kann aber auch bei denjenigen Interesse wecken, die davon überzeugt sind, daß die exakte Bestimmung der Begriffe unerläßliche Bedingung für einen fruchtbaren Dialog unter freien, aufrechten, denkenden Menschen mit unterschiedlichen Idealen ist. (Fs)

280a
2. Der ausdrücklich pastorale Charakter der Reflexion läßt es geraten scheinen, daß ich mich auf die in gewissem Sinn vorläufige, aber für die möglichen Implikationen entscheidende Frage beschränke: Gibt es eine "christliche Kultur"? Ist sie möglich und notwendig? Viele Gläubige vermeiden es, von christlicher Kultur zu sprechen in der lobenswerten Absicht, meine ich, die sich zum Evangelium bekennenden Literaten, Philosophen, Künstler, Musiker und allgemein die Freischaffenden nicht in Verlegenheit zu bringen, daß sie sich von der vielfarbigen Komplexität der modernen Kulturwelt ausgrenzen und in das kirchliche und konfessionelle Abseits flüchten. Also spricht man bestenfalls von einer "Kultur der Christen". Dagegen mahnt Johannes Paul II. wiederholt, "es nicht an einer starken, ernsthaften und wirksamen kulturellen Präsenz der Katholiken fehlen zu lassen". "Die katholische Kultur - sagt er - darf nicht fehlen" (1). (Fs)

Und das ist nicht nur und ausschließlich ein Gedanke des polnischen Papstes. Paul VI. war derselben Meinung, denn er verwandte "ohne Umschweife - wie Enzo Giammancheri in einer ausführlichen Abhandlung hervorhebt - den Ausdruck 'christliche Kultur', ja 'katholische Kultur', wobei er nachdrücklich betonte, daß es sich um 'unsere' Kultur handelt, die sich von den anderen unterscheidet und Denken und Handeln der Gläubigen unverkennbar zum Ausdruck bringt. Er hegte darüber keine Zweifel" (2). (Fs)

3. Mir scheint, daß es sich nicht um reine Wortklauberei handelt. In diesem Fall ist es wahrscheinlich ein sicheres Zeichen für die gegensätzliche Sicht vom Wesen der Dinge. Dieses Problem erfordert also eine ernsthafte Prüfung. (Fs)

Feststeht, daß auch hier ohne exakte Bestimmung der Begriffe und Termini unweigerlich Beiläufigkeit, Mißverständnis und Mehrdeutigkeit herrschen. (Fs)

280b Diese Überlegungen hier sollen ein wenig zur Klärung beitragen in der Überzeugung, daß Klarheit und Unterscheidung der Ideen die unumgängliche Voraussetzung zu jeder wünschenswerten Eintracht und wachsenden Lebenskraft sind und daß, wenn man unbedingt unter Christen diskutieren und streiten will, das Streitobjekt zumindest von allen gleicherweise verstanden werden sollte. (Fs)

I. Die Grundbedeutungen von "Kultur"

281a Kultur ist heute ein vielbenutztes, geradezu mythisches Wort, wie es in früheren Zeiten das Wort "Fortschritt" war. Es ist in aller Munde und wird hoch gehandelt, und alle meinen damit einen "Wert". Aber welchen Wert, das sagt kaum jemand. Ja, die Vokabel drückt je nach dem unterschiedlichen Zusammenhang und Gebrauch ganz verschiedene Inhalte aus. Manchmal wechselt ihre Bedeutung sogar in ein und derselben Rede, auf derselben Seite, in demselben Satz. Meist merkt man die semantische Schwankung überhaupt nicht, so daß das Ergebnis ein ganz schönes Durcheinander ist. (Fs)

Der geschichtliche Hintergrund dieser unkontrollierten und fast unbewußten Pluralität ist die Tatsache, daß das Wort im Lauf einiger Jahrhunderte einen Bedeutungswandel erfahren hat, ohne daß die bereits bekannten Bedeutungen aus dem allgemeinen Bewußtsein verschwunden sind. Mittlerweise sind die Definitionen von "Kultur" nicht mehr zu zählen, jede hat ihre Besonderheit und einen eigenen Akzent. Zum Glück ist es hier nicht unsere Aufgabe, sie alle aufzuzählen. Wir beschränken uns darauf, nur die wichtigsten Grundbegriffe herauszustellen, die ausreichen, um ein wenig Ordnung und Klarheit zu schaffen, damit keine Mißverständnisse entstehen. Für uns hier scheinen zumindest drei grundlegende Bedeutungen von "Kultur" nützlich; diese weitgehend diskutable Unterscheidung scheint uns für die gewünschte Klarstellung zweckmäßig. Diese drei Begriffe werden im ersten Teil unserer Reflexion behandelt (3). (Fs)

1. Die "Kultivierung des Menschen"
a) Die erste Bedeutung oder, wenn man will, die erste Reihe von Bedeutungen ist bäuerlichen Ursprungs und wird gewandelt, um einen geistigen Vorgang auszudrücken: Kultur ist die "Kultur des menschlichen Innenlebens" (4). (Fs)

281b In der antiken Welt, wo diese Idee entsteht und sich verbreitet, ist man auch allgemein davon überzeugt, daß diese Pflege mit Hilfe von "absoluten Werten" verwirklicht werden kann und muß: Pflege des Menschen mit Hilfe des Wahren, des Guten, des Gerechten und des Schönen. Nur die Wahrheit, die Güte, die Gerechtigkeit und die Schönheit können den Menschen kräftigen, ihm helfen, sich zu entwickeln und alle Tugenden zu entfalten. (Fs)

282a Diese Pflege umfaßt auch die "paideia", das heißt die ganzheitliche Bildung des Menschen in seinem ersten Lebensalter, endet aber damit nicht, sondern setzt sich das ganze Leben lang fort. Sie schließt nicht aus, ja setzt eigentlich die Möglichkeit voraus, daß der Mensch für diese Pflege der Selbstbildung sorgt (5). (Fs)

b) Beinahe unmerklich geht man dann dazu über, unter "Kultur" nicht nur die Tätigkeit der "Kultivierung des Menschen", sondern auch ihr Ergebnis zu verstehen. Das Wort bezeichnete also forthin das erworbene geistige Gut, mit dem eine Person ausgerüstet war. Dem klassischen Bild entsprechend verstand man unter diesem Gut die erworbenen Werte des Intellekts, der Moral und Ästhetik, mit denen der Geist durch die "Kultivierung" bereichert worden war (6). (Fs)

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts sind keine anderen Inhalte der Vokabel bekannt. Sie bezieht sich, wie man sieht, bis dahin immer auf das persönliche Leben des Einzelnen. (Fs)

c) Mit der ideellen Verherrlichung des Volkes und der Nation bekommt das Wort "Kultur" sozusagen eine "soziale" Dimension. Man beginnt von der Kultur eines Landes, eines Volkes, einer menschlichen Gemeinschaft zu sprechen. (Fs)

In diesem Sinn wird die Kultur einer Gesellschaft nach den "sozialen" Kultivierungsmitteln des Menschen und den "sozialen" Ergebnissen gemessen; das heißt, vor allem nach seinen Schulen, seinen Forschungseinrichtungen, seinen Kommunikations- und Verbreitungsmitteln der Ideen; dann nach seinen literarischen, künstlerischen und musikalischen Erzeugnissen und weitgehend und tieferreichend nach dem "sozialen" Besitz der "Werte" der Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit (7). (Fs)

2. Der "Begriffswandel durch den Menschen"

Von der zweiten Hälfte des vergangenen 19. Jahrhunderts an vollzieht sich durch die Fachausdrücke der anthropologischen und ethnologischen Wissenschaften eine entscheidender Bedeutungswandel von "Kultur". (Fs)

282b Der Mensch gehört noch dazu als Grundelement des Begriffs, aber nicht mehr als Empfänger und als Ziel einer Tätigkeit, sondern als Subjekt und Ausgangspunkt. Die objektiven absoluten Werte, die in der antiken Bedeutung immer eingeschlossen waren, verlieren an Gewicht und werden schließlich ausgeschieden: Es genügt der menschliche Ursprung, um mit der so verstandenen "Kultur" in Zusammenhang zu stehen. (Fs) (notabene)

283a Das Wort bezeichnet allmählich alles, was durch die soziale Tätigkeit einer Gruppe oder eines Volkes entstanden und sein eigener kollektiver Besitz geworden ist. (Fs)

So zeigt sich der Gegensatz zwischen "Kultur" und "Natur". "Natur" wird von dem gegeben, wovon man ausgeht und was dem Eingreifen des Menschen zuvorkommt; "Kultur" ist die "Humanisierung", die das Gegebene verändert. (Fs)

"Kultur" einer menschlichen Gruppe ist die Gesamtheit der Bildung und Verhaltensweisen in allen Bereichen, das sie als gemeinsames Gut besitzt. (Fs)

Der objektive "Wert" des Produkts ist nebensächlich: Die Hütten, die Jagd Werkzeuge, die Sitten und Bräuche, die Märchen der Pygmäen sind mit demselben Recht ihre "Kultur", wie es der Parthenon, die Statue von Phidias, die Werke von Platon in der "Kultur" der Athener in der Antike waren. (Fs)

Dann wird es verständlich, daß das Wort in der Mehrzahl gebraucht wird: Man kann von ebenso vielen "Kulturen" sprechen, wie es charakteristische und erkennbare Menschengruppen gibt (8). (Fs)

3. Die "Werteskala"

Seit über einem halben Jahrhundert taucht eine ganz andere Bedeutung auf. Nachdem der soziokulturelle Relativismus, der den "ethnologischen" Wortinhalt bezeichnet, überholt war, wird die "Kultur" ganz einfach als Interpretation der Wirklichkeit und als Verhaltensprinzip verwendet. (Fs)

"Kultur" bezeichnet somit ein kollektives Wertsystem von Ideen, Taten, Ereignissen und folglich auch eine Gesamtheit von "Lebensmodellen", die gesellschaftlich ausgewählt oder zumindest gesellschaftlich akzeptiert werden. Eine so verstandene "Kultur" bringt also eine "Werteskala" mit sich, die innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft angeboten und angenommen wird. Und weil diese "Skala" oftmals frei und sogar willkürlich festgelegt wird, gibt es in unserer Gesellschaft viele und unterschiedliche "Kulturen", von denen jede einzelne an den Werten zu erkennen ist, die sie für vorrangig hält. (Fs)

283b Hier ist es angebracht, auf die Wurzel einer schweren und häufigen Untat hin zuweisen. Wenn man die "Kultur" mit ihrer Wertehierarchie identifiziert, gerät man leicht in Versuchung, denjenigen, der sich ihr nicht anpassen will, als ungebildet, primitiv, unkultiviert zu bezeichnen. So verbreitet sich die zweifelhafte Verwendung des Wortes "Kultur" und die unterschwellige Wiederaufnahme ihrer klassischen Bedeutung, aber als Verurteilung, Disqualifizierung oder sogar Beleidigung. (Fs)

284a In gleicher Weise kann es oft geschehen, daß jemand verächtlich als "Dogmatiker" oder "Integralist" bezeichnet wird, weil er eine seinen Grundsätzen entsprechende Haltung einnimmt, wenn diese Grundsätze verschieden sind von denen, aufgrund derer der andere sich anmaßt zu verurteilen. Tatsächlich ist geschichtlich nachweisbar, daß die jeweils vorherrschenden Kulturen durch Annahme und Ablehnung von "Primärwerten", die ohne jede Beweisführung jeweils akzeptiert und ebenso widerspruchslos wieder abglegt werden, aufeinanderfolgen. So konnte man auf der italienischen Bühne des 20. Jahrhunderts nach und nach die Überhandnahme einer positivistischen Kultur, einer idealistischen Kultur, einer marxistischen und radikalistischen Kultur bewundern. Alle ihre Anhänger vertraten die Überzeugung, sehr "kritisch" zu sein unter gleichzeitiger Beteuerung von "anfänglichen Sicherheiten", die für unbestreitbar gehalten und als Glaubensdogmen vorgelegt wurden, als könnten sie von irgendeiner göttlichen Offenbarung abgleitet werden, von der wir Unerfahrenen nie etwas gehört haben. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kultur - Glaube; neuer Mensch - neue Welt; Kirche - W.

Kurzinhalt: Wenn der Mensch Christus aufnimmt und Gesprächsparter Gottes, des Erlösers, wird, wandelt er sich von Grund auf... Die "neue Menschheit" ist niemals die ganze Menschheit. Die Kirche und die "Welt" ... bekämpfen einander ...

Textausschnitt: II. Der richtige Begriff vom Glauben

284b Auch der andere Terminus des Wortpaares, das uns interessiert, der Glaube, setzt eine kurze Erklärung voraus. Hier geht es aber nicht um die Erfassung und Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen wie bei dem Wort "Kultur", dessen vielfältige Verwendung voll gerechtfertigt ist. Hier muß man zu verstehen suchen, was der Glaube in wahrhaft christlicher Sicht tatsächlich ist. Jedes abweichende Verständnis, das heute unter den Menschen verbreitet ist, muß als das beurteilt werden, was es ist: eine Entstellung, eine Verfälschung oder eine Verstümmelung der ursprünglichen Idee. In der Tat handelt es sich meist um eine Verstümmelung. Manchmal wird der Glaube mit der Gesamtheit der Riten und Gebräuche ohne jede innere Teilnahme identifiziert. Oder er läuft auf das religiöse Gefühl hinaus, das von keiner stichhaltigen Vernünftigkeit erleuchtet ist. (Fs)

285a Eine Verstümmelung ist es auch, wenn man den Glauben für einen reinen Erkenntnisakt hält, der nur das Denkvermögen beansprucht; und es ist eine Verstümmelung, ihn als Ergebnis eines reinen Willensaktes zu betrachten. (Fs)

1. Eine ganzheitliche Antwort

Die Offenbarung lehrt uns, daß der Glaube eine Antwort ist und nur dann verstanden wird, wenn er auf das heilbringende Eingreifen des Schöpfers in unsere Geschichte bezogen wird. Glauben heißt, den Herrn aufnehmen, der uns nicht nur dazu beruft, seine Empfänger, sondern auch seine Gesprächspartner und in gewisser Weise Teilhaber zu sein; es ist die persönliche Aufnahme eines Gottes, der in das Schicksal nicht mit der Begrenztheit des Geschöpfes, sondern in Fülle und Ganzheit, die der Gottheit eigen sind, eintritt: Gott, der alles ist, fordert ein volles Ja. Im Glauben öffnet sich deshalb der ganze Mensch - Vernunft, Wille, Gefühl, Mentalität, Kultur, Leben - für Christus, den gekreuzigten und auferstandenen Herrn, in dem die ganze göttliche Heilsdynamik enthalten ist. (Fs)

2. Eine verwandelnde Antwort

Wenn der Mensch Christus aufnimmt und Gesprächsparter Gottes, des Erlösers, wird, wandelt er sich von Grund auf. Sein Denkvermögen wandelt und erhebt sich, weil glauben eigentlich bedeutet, Gott, den Menschen und die Dinge mit Christi Augen zu sehen. Im Glauben erwacht mit der Hoffung eine neue Fähigkeit, zuversichtlich die Fülle des Lebens und der Freude zu erstreben. Ihm wird nach dem Wort des Propheten, ein "neues Herz" gegeben, das heißt eine ganz andere, neue Liebesfähigkeit: den Vater zu lieben, die Brüder und Schwestern zu lieben und jedes Geschöpf zu lieben. Das ist die göttliche Tugend der Liebe, die uns mit dem Herrn Jesus verbindet und ihm ähnlich macht, der das lebendige Bild des Vaters ist, der Archetyp jedes Menschen, die Summe aller Schönheit und aller Werte, die sich in der Vielfalt der Dinge offenbart.

285b Der Mensch, der glaubt, ist also ein "neuer Mensch": "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung" (2 Kor 5,17). (Fs)

3. Eine Antwort zur Umgestaltung der Welt
286a Der Glaube, der den "neuen Menschen" erschafft, ist die Voraussetzung für eine neue Welt. (Fs)

Der "neue Mensch" ist natürlich das Grundprinzip einer anderen, in allen Bereichen neuen Verhaltensweise: es ist eine neue Weise zu leben, zu arbeiten, zu leiden, sich zu freuen, Gemeinschaft zu bilden und sich um die Humanisierung der Natur zu bemühen. Der Mensch entfaltet seine Menschlichkeit nur dann, wenn er sich nicht in sein Inneres einkapselt; deshalb bleibt auch der Glaube, der Akt des ganzen Menschen ist, nicht im tiefsten Herzen verborgen, sondern strahlt seine Neuheit in das ganze Universum aus. Der Mensch hat den natürlichen, inneren Impuls, eine neue Gesellschaft, eine neue Geschichte, eine neue Kultur aufzubauen. (Fs)
4. Eine kirchliche Antwort

Weder der Glaube noch der daraus entstandene "neue Mensch" sind verständlich, wenn man nicht berücksichtigt, daß die christliche "Neuheit" zwar ein persönliches Ereignis ist, das jeder Gläubige auf seine Weise in sich aufnimmt, aber zugleich der Anfang und der Grund eines Gefüges ist, das einen Organismus bildet. Der Gläubige, der sich lebendig mit Christus verbindet, verbindet sich auch lebendig mit seinen Brüdern und Schwestern im Glauben. So entsteht das, was Paulus in einem kühnen Vergleich den "Leib Christi" nennt; so beginnt das Geheimnis der Kirche in der Geschichte zu leben und zu wirken. (Fs)

Die passende Antwort auf das heilbringende Eingreifen Gottes ist eine Kirche, das heißt eine neue Menschheit. Jede rein persönliche Auslegung der christlichen Tatsache verfälscht sie in einem ihrer wesentlichen Aspekte. (Fs)

5. Eine Antwort, der widersprochen wird

Die göttliche Initiative stößt seit je auf unerklärlichen Widerstand und Ablehnung. "Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf (Joh 1,11). (Fs)

286b Der Glaube lebt mit dem Unglauben zusammen. Der alte Mensch und der neue Mensch koexistieren in ein und demselben Herzen. Die "neue Menschheit" ist niemals die ganze Menschheit. Die Kirche und die "Welt" (in jenem negativen Sinne, welchen das Wort in den neutestamentlichen Schriften oftmals annimmt) sind einander entgegengesetzt, sie bekämpfen einander mit wechselndem Ausgang. (Fs)

287a Der Gläubige weiß, daß Christus schon gesiegt hat. Aber er weiß auch, daß die volle Offenbarung dieses Sieges ein eschatologisches Geschenk sein wird. Das entmutigt ihn nicht: Um er selbst zu sein und um Gottes Heil in der Wahrheit ganz aufhzunehmen, bemüht er sich ständig, eine neue Gesellschaft, eine neue Geschichte, eine neue Kultur ins Leben zu rufen. (Fs)

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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Glaube wird Kultur; "christliche Kultivierung des Menschen"; theologische Anthropologie; Erbe der Christen; Subsidiaritätsprinzip - Allmacht des Staates; Regierung - Regime (Zwang zu staatlicher Werteskala)

Kurzinhalt: Jede andere "Kultur", wenn sie nicht wenigstens objektiv und anfänglich Ausdruck und Verwirklichung der Kultur des Vaters ist, wird leicht Willkür und Manipulation... Gegenüber einem Staat, der immer stärker die Lebensbereiche besetzt und die Mittel ...

Textausschnitt: III. Der Glaube wird Kultur

287b Will man nun hier die kurz angeschnittene Glaubensidee den verschiedenen heute gebräuchlichen Kulturbegriffen annähern, merkt man sofort, daß die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer christlichen Kultur zu bejahen ist, welche der vielen "Kulturen" man auch in Betracht ziehen mag. Und damit wäre das Kapitel eigentlich abgeschlossen. (Fs)
Aber unsere Reflexion drängt uns, die Konkretheit von wirksamen Beispielen und Angeboten aufzuzeigen und der christlichen Gemeinschaft vorzulegen. Es genügt, wenn wir Schritt für Schritt die inhaltliche Reihenfolge wiederholen, wie wir es im ersten Teil unserer Untersuchung getan haben. (Fs)

1. Die "christliche Kultivierung des Menschen"

Der christliche Glaube gibt uns neben einer "anthropologischen Theologie" die auf der Offenbarung Christi, des Menschen und vollkommenen Ebenbildes Gottes, gründet, auch eine "theologische Anthropologie", die im Gott-Menschen den Archetyp jeder wahren Menschlichkeit findet. Ja, nur in diesem Glanz der Wahrheit erhellen sich unsere Befindlichkeit und unsere Bestimmung vollständig: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf (GS 22). (Fs) (notabene)

287b So wird deutlich, daß die wahre und vollkommene "Kultivierung des Menschen" die "christliche Kultivierung des Menschen" ist. Wir alle müssen uns vor Augen halten, daß nach einem Wort Jesu der Vater der erste wahre und einzige "Winzer" des Menschen ist (vgl. Joh 15,1): Jede andere "Kultur", wenn sie nicht wenigstens objektiv und anfänglich Ausdruck und Verwirklichung der Kultur des Vaters ist, wird leicht Willkür und Manipulation. (Fs) (notabene)

288a Auch die "christliche Kultivierung" wird sich, wie schon der klassische Begriff von Kultur verrät, des Wahren, des Gerechten und des Schönen bedienen. Ja, diese Werte können und müssen vom Gläubigen gesucht und gepflegt werden, ohne unnütze Verherrlichung, aber in der Gewißheit, daß sie, wenn sie wahrhaftig sind, uns Christus immer näher bringen und uns ihm ähnlich machen. Er ist die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Erbarmen, die Schönheit; in ihm sind sie geheimnisvollerweise faßbare und lebendige, menschliche Gestalt und Wirklichkeit geworden. (Fs)

2. Das "geistliche Erbe der Christen"

In unserer zweitausendjährigen Geschichte wurden entscheidende Beiträge zur inneren Erhebung des Menschen geleistet. Viele edle und wertvolle Früchte des Geistes in allen Bereichen (der Literatur, der bildenden Künste, der Musik, der Rechtsordnung, dem Volkstum usw.) tragen unauslöschlich die Merkmale ihrer Herkunft aus dem christlichen Weltbild. (Fs)

Das ist unser "Familienerbe". Zweifellos gehört es als Werk des Menschen ebenso zum Erbe der ganzen Menschheit. Aber was aus dem Glauben entstanden ist, gehört besonders und noch mehr denen, die dieselbe Weltanschauung und Lebenserfahrung teilen. Unser Problem ist es, daß wir uns unseres Reichtums erst wieder bewußt werden müssen. Unsere "Großen" müssen wieder wahre, zeitgemäße Lehrer werden und wieder "unsere" Lehrer werden. Unsere Meisterwerke müssen für uns die unerschöpliche Lebensquelle der Seele darstellen. Die christliche Gemeinschaft muß das Bewußtsein dieser höchsten Werte wiedergewinnen, die im Laufe ihrer langen Geschichte aus ihrem Schoß hervorgegangen sind und immer lebendig bleiben. (Fs)

Weiter ist festzuhalten — um jedes Mißverständnis und jeden Versuch von Engstirnigkeit zu vermeiden -, daß wir als Nahrung der Seele jede erhebende Tatsache des Geistes hochschätzen und hervorheben, in der ein Funken von Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit glänzt, wo immer er aufscheint und wie immer er sich kundtut. (Fs)

288b In voller Achtung der immanenten Anschauungen und der ausdrücklichen Absichten ihrer Autoren, auch der unserem Glauben fernstehenden, wissen wir und wollen wir immer daran denken, daß jede Wahrheit, jede Gerechtigkeit, jede Schönheit - insofern sie tatsächlicher Widerschein des Lichtes Christi sind, der die Summe aller Werte ist - auch die unsere ist und in die authentische christliche Kultur harmonisch einfließen kann und soll. (Fs)

289a Bei unserem Auszug aus dem Ägypten der "Welt" können und sollen wir, wie es die Israeliten in der Stunde des Exodus taten, das Silber und Gold der Ägypter mitnehmen (vgl. Ex 12,35) (9). (Fs)

3. Mittel zur "christlichen Kultivierung des Menschen"

289b Die "christliche Kultivierung des Menschen" muß sich geeigneter Mittel bedienen, um ihr Ziel zu erreichen, andernfalls bleibt sie nur ein theoretisch festgelegtes Prinzip. (Fs)

Gegenüber einem Staat, der immer stärker die Lebensbereiche besetzt und die Mittel der Kommunikation und Sozialisierung beherrscht (in deutlichem Widerspruch zum "Subsidiaritätsprinzip", das eine der Grundlagen einer Anschauung ist, die auf der Freiheit und Verantwortlichkeit der Person gründen will), hat dieses Thema ganz besonderes Gewicht und sollte eingehend behandelt werden. Wir beschränken uns auf einige wenige und einfache Bemerkungen. (Fs) (notabene)

a) Der Staat ist unermüdlich auf seine Pflicht hinzuweisen, daß er allen Bürgergruppen (unter ihnen die christliche Gemeinschaft) tatsächlich die Möglichkeit bietet, ihre Kinder gemäß den eigenen Grundüberzeugungen zu erziehen und zu bilden. Wer das Leben gegeben hat, hat auch das unveräußerliche Recht, seine verstandesmäßige und moralische Entwicklung zu leiten. Seit je versäumt der italienische Staat diese seine Pflicht, vor allem aufgrund seines weitgehend gesetzlich verankerten, staatlichen Bildungswesens. (Fs)

b) In einer wirklich freien Gesellschaft, deren Regierung kein Regime werden soll, darf die öffentliche Gewalt nicht so sehr eine eigene Kultur aufzwingen, sondern so weit wie möglich die Kulturen aller freien Gruppierungen unterstützen und fördern. (Fs)

c) Die christlichen Gemeinschaften müssen sich, auch wenn sie mittellos sind, für den Unterhalt, die Entwicklung und Förderung ihrer Kultur in jeder Weise bemühen, die ihre vom Glauben angeregte Phantasie entfalten kann. (Fs)

289c In der Welt von heute haben wir deutlich vor Augen, wie fruchtbar ein lebendiger und starker Geist sein kann, auch wenn er unterdrückt, entwürdigt und in den ungünstigsten Verhältnissen lebt. Es genügt, an das staunenswerte Phänomen der russischen "Samisdat" zu erinnern (10). (Fs)

4. Die Leistungen der Christenheit

290a Eine "Kultur" im sogenannten anthropologisch-ethnologischen Sinn - das heißt als Gesamtheit der menschlichen Leistungen - muß jeder Personengruppe, die als solche erkennbar ist, zuerkannt werden. Zu dieser Kultur gehören die Traditionen, die Sitten und Bräuche, die Bildungseinrichtungen, die Arbeits- und Lebensformen, das Volkstum und die eigenen handwerklichen und kunstgewerblichen Erzeugnisse einer bestimmten Gruppe. Gibt es eine in diesem Sinn verstandene "christliche Kultur"? Die Antwort auf diese Frage hängt von einer vorausgegangenen Frage ab: Gibt es ein wahrnehmbares und erkennbares christliches Volk? Oder, was dasselbe ist, existiert eine "Christenheit"? Schon vor mehr als dreißig Jahren wurde die Christenheit für tot erklärt. Sie sei, so hieß es, "konstantinischen" Ursprungs gewesen, habe im Mittelalter ihren Höhepunkt erreicht und sei im 20. Jahrhundert vollständig versiegt. (Fs)

Man behauptete, jenes Denkprinzip sei längst überholt, ja sogar unrechtmäßig oder zumindest unangemessen. Heute sei der Begriff "Christenheit" unhaltbar, und die Kirche dürfe nicht versuchen, durch besondere Strukturen eine eigene Gemeinschaftlichkeit hervorrufen, die sie zu einem Fremdkörper in der Welt machen würde. Sie solle nur den persönlichen, bewußten und von allen äußeren Zwängen unabhängigen Einsatz fördern und unterstützen. Und man sprach von "gestreuter Präsenz" als der einzigen annehmbaren und wünschenswerten Form für die Christen, sich in der Gesellschaft festzusetzen. (Fs)

290b Dazu ist zu sagen, daß dieser Begriff einerseits etwas Wahres bekräftigt, aber unhaltbar ist in dem, was er verneint. Ja, es ist notwendig, starke christliche Persönlichkeiten heranzubilden, die imstande sind, sich in der Gesellschaft von heute zu behaupten. Und es ist wahr, daß es Christen geben kann, die die "gestreute Präsenz" zu ihrem Lebensprogramm machen, vorausgesetzt, sie bewahren ihr Selbstbewußtsein als Gläubige und ihre Ursprünglichkeit als Zeugen des Evangeliums. Aber es stimmt nicht, daß das die einzige wünschenswerte Weise von Präsenz ist, und daß der Versuch, eine auch soziologisch erkennbare christliche Gemeinschaft ins Leben zu rufen, zu verdammen ist. (Fs)

291a Zumindest sind drei verschiedene Einwände zugunsten des Begriffs eines Volkes Gottes, das — wenn auch nur "sui generis" — wahrzunehmen ist, den christlichen Anschwärzern der Christenheit entgegenzuhalten. (Fs)

291b Der erste Einwand ist geschichtlicher Natur. Der Zusammenschluß der Gläubigen nach einem besonderen und äußerlich erkennbaren Modell des engen und wirksamen Zusammenlebens ist eine Tatsache, die man die ganze Kirchengeschichte hindurch und von den allerersten Anfängen an verfolgen kann. Die Gemeinde von Jerusalem, wie sie in der Apostelgeschichte erscheint, und die paulinischen Gemeinden, wie sie den Apostelbriefen entnommen werden können, sind zweifellos wahre und echte, wenn auch minderheitliche "Christenheiten". In diesen Gemeinden lebten die Jünger Jesu in vieler Hinsicht "abseits" vom Rest ihrer Landsleute und besaßen typische und unverwechselbare Formen, um Gemeinschaft zu bilden. (Fs)

Die Kirche hat zu allen Zeiten immer neue Arten von "Gemeinschaft" unter ihren Gliedern entstehen lassen. Hierzu noch eine psychologisch-pastorale Bemerkung. Der Mensch neigt auf Grund seiner Natur notwendigerweise dazu, in Gemeinschaft zu leben. Was nicht gemeinschaftsfähig ist, verliert nach und nach im Bewußtsein der meisten Menschen an Bedeutung und erlischt schließlich ganz. (Fs)

Vielleicht gibt es einen Intellektuellen, der meint, seinen Idealen rein persönlich, im Innern verborgen treu bleiben zu können. Aber im allgemeinen müssen die Menschen, wenn sie an ihren Überzeugungen festhalten wollen, diese nach außen hin und gemeinschaftlich in einer Form ausdrücken, die letztlich dann auch die Aufmerksamkeit der anderen weckt. (Fs)
Es gibt noch einen entscheidenden theologischen Grund. Das christliche Ereignis fordert von Natur aus, daß die "Communio" - die persönlich, transzendent und ewig ist - ständig und unermüdlich "Gemeinschaft" wird, das heißt eine kollektive, kontingente und geschichtlich fest umrissene "Gemeinschaft". (Fs)

291c Der Glaubensakt will durch den ihm innewohnenden Dynamismus den ganzen Menschen in seiner persönlichen, familiären und sozialen Dimension erfassen und umwandeln. (Fs)

292a Die Kirche darf nie darauf verzichten, eine "Christenheit" zu bilden in der Form, die sich je nach Zeit und Ort verändern mag, aber keineswegs fehlen darf. Das wahre Problem besteht darin, die Form zu finden, die am besten unserer Zeit entspricht (11). (Fs)

Unsere "Christenheit" mag anders als vor einigen Jahrhunderten sein, in der Minderheit, aber deshalb nicht weniger lebendig und weniger deutlich zu erkennen. Sie wird um so lebendiger und "überzeugender" sein, je mehr sie nicht nur von den ewigen Prinzipien des Evangeliums, sondern auch vom immerwährenden Gedächtnis seiner Vergangenheit gestützt und inspiriert wird. (Fs)

Wie man sieht, erfordert die Erneuerung einer so verstandenen "christlichen Kultur", daß die Existenz eines "christlichen Volkes" mit seiner Geschichte, seinen Gepflogenheiten, seinen Festen, seinen Werken und seinen vielfältigen Erscheinungsformen immer stärker ins Bewußtsein gerückt wird (12). (Fs)

5. Die "christliche Werteskala"

Der Mensch, der nicht ganz oberflächlich lebt, kann nicht umhin, sich die Frage nach den "Werten" zu stellen. Ja, er muß wenigstens in der Wirklichkeit seiner Lebensentscheidungen bestimmen, welche "Werte" für ihn von Bedeutung sind und wie sie hierarchisch geordnet sind. Wenn diese Überzeugungen von einer ganzen Menschengruppe geteilt werden, die zur Anerkennung einer allgemein akzeptierten Werteskala gelangt, entsteht nach und nach eine "Kultur" in dem Sinn, der sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat. (Fs)

Nachdem nun diese Bedeutung des Wortes geklärt wurde, darf kein Gläubiger mehr die Existenz und Notwendigkeit einer "christlichen Kultur" bestreiten, will er nicht das Christentum auf eine rein folkloristische Äußerlichkeit oder eine Sache des Gewissens ohne jedes Echo außerhalb des Privatlebens des Einzelnen verkürzen. Der Jünger Jesu muß sich vielmehr auf Konflikte und Auseinandersetzungen in diesem Bereich gefaßt machen. (Fs)

292d Manchmal darf er sich freuen über die unerwartete Einmütigkeit mit dem Nichtglaubenden im Hinblick auf die Würdigung mancher Werte. Aber meist muß er - ohne Überraschung und ohne Panik — die krassesten Unstimmigkeiten verbuchen. Im Hinblick auf dieselbe Werteskala kann es kaum eine Übereinstimmung geben zwischen denjenigen, die einen göttlichen Plan als Ursprung von allem anerkennen und denjenigen, die das verneinen; zwischen denjenigen, die ein ewiges Leben nach dem Tod bekräftigen, und denjenigen, die es verneinen; zwischen denjenigen, die die Existenz einer unsichtbaren Welt über die vielfarbige und flüchtige Bühne des Scheinbaren hinaus bekräftigen, und denjenigen, die sie verneinen; zwischen denjenigen, die an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus, unsern Herrn, den eingeborenen wahren Sohn des lebendigen Gottes, Erlöser des Universums, glauben, und denjenigen, die nicht glauben. (Fs)

293a Die christlichen Gemeinschaften müssen gelassen und in der Kraft des Geistes die unvermeidlichen Spannungen zwischen den verschiedenen "Kulturen" auf sich nehmen, die innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft auftreten. (Fs)

Wir dürfen und wollen niemandem mit Zwang oder List unsere "Kultur", d.h. unsere Wertehierarchie aufdrängen. Aber wir können und wollen nicht dulden, daß uns mit Zwang oder mit List eine fremde "Kultur" auferlegt wird, die uns entstellt und daran hindert, als durch das Blut Christi erlöstes Volk Gottes zu leben und zu wachsen entsprechend der Lebensauffassung, die wir frei und bewußt im Gaubensakt annehmen. (Fs)

Schluß

"Kultur" ist, wie wir gesehen haben, ein Wort mit unterschiedlichen Inhalten, die alle gleichermaßen im Sprachgebrauch und in der Mentalität unserer Zeit gegenwärtig und wirksam sind. Unsere Untersuchung führt uns zu dem Schluß, daß in all diesen Fällen der unterschiedlichen Bedeutung die Richtigkeit, die Rechtmäßigkeit und die Notwendigkeit einer "christlichen Kultur" anerkannt werden muß. (Fs)

Mit anderen Worten: Die Beziehung zwischen Glaube und Kultur ist nicht äußerlich, an die geschichtliche Situation gebunden oder je nach Fall veränderlich, sondern innerlich, wesentlich und in gewisser Weise transzendent. (Fs)

293b Der Glaube, wenn er Glaube bleiben will, muß Kultur werden. Das ist er sich selbst schuldig, und das fordert die grundlegende radikale Erneuerung, die er im Menschen und damit im Universum bewirkt. (Fs)

294a Der Glaube löscht keinen der wahren Werte aus, den er bei seiner Entfaltung in der Geschichte und in der Welt vorfindet, und er verringert und vernachlässigt keinen dieser Werte. Aber er nimmt sie auf, reinigt sie, erhöht sie, verwandelt sie in eine "Kultur", die neu und anders ist, die immer von neuem entsteht und reichhaltiger wird, indem sie ihre Eigenart und Unverkürzbarkeit beibehält. Der Glaube nimmt die wahren Werte auf, er reinigt sie, er erhöht sie, und er verwandelt sie in "christliche Kultur". (Fs)

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