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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus; Fundamentalisten (Protestanten, Levebre, Islam); Sokrates; Orthodoxie

Kurzinhalt: Was ist ein Fundamentalist? "Ein Diskursverweigerer, ein Fanatiker, der nicht mit sich reden läßt", ... "Ein Mensch, dem etwas heilig ist, das er nicht bereit ist, zur Disposition zu stellen."

Textausschnitt: 177a Was ist ein Fundamentalist? "Ein Diskursverweigerer, ein Fanatiker, der nicht mit sich reden läßt", so etwa würde eine Definition in fundamentalismuskritischer Absicht lauten. Eine apologetische Selbstdefinition wäre vielleicht die: "Ein Mensch, dem etwas heilig ist, das er nicht bereit ist, zur Disposition zu stellen." Mit diesen beiden Definitionen mag das Problem umrissen sein, das sich in unserer Zivilisation unter dem Schlagwort "Fundamentalismus" verbirgt. Der Begriff hat längst seinen Ursprungsbereich verlassen, und was mich im folgenden beschäftigt, ist eben diese Tatsache. Die Phänomene, die unter diesem Begriff zusammengefaßt werden, sind sehr disparat. Wer sie unter einem einheitlichen Oberbegriff zusammenfaßt, sagt damit vermutlich mehr über die eigene Position als über die, die er mit diesem Wort treffen möchte. Es ist ja eine in der Geschichte der Menschheit sehr solitäre Erscheinung, daß erwartet wird, Menschen sollten prinzipiell, was ihre Überzeugungen betrifft, grenzenlos disponibel sein. Und nur von dieser Erwartung her wird ja verständlich, warum alle Menschen, die dieser Erwartung nicht entsprechen, unter dem Oberbegriff "Fundamentalisten" zusammengefaßt werden. (Fs)

177b Es ist daher wichtig, sich zunächst den Ursprungsbereich des Begriffs zu vergegenwärtigen, um das zu verstehen, was mit seiner Ausweitung geschieht. Aber man muß sich diesen Bereich vergegenwärtigen, um das universelle Phänomen zu verstehen. "Fundamentalisten" hießen zunächst jene amerikanischen Protestanten, die - entgegen naturwissenschaftlicher Aufklärung und theologischer Hermeneutik - darauf bestanden, die Bibel, und zwar den biblischen Schöpfungsbericht, wörtlich zu nehmen und die deshalb die moderne Evolutionstheorie ablehnten. Politisch relevant wurde das Problem vor allem, wo es um die Frage ging, ob der staatliche Schulunterricht eine dieser beiden Sichtweisen, nämlich die Evolutionstheorie, privilegieren dürfe. (Fs)

178a Der christliche Fundamentalismus ist zunächst im wesentlichen ein protestantisches Phänomen. "Das Wort sie sollen lassen stan und keinen Dank dazu haben" - dieser Luthervers weist die Reformation selbst als eine fundamentalistische Bewegung aus, eine Bewegung des Zurück zu den Ursprüngen, und das heißt vor allem: zur Heiligen Schrift. Hinter dieser Bewegung stand die Überzeugung von der mangelnden Authentizität des Stromes, der aus dieser Quelle hervorgegangen war und der mangelnden Kompetenz der Interpretationsinstanz, die die Entwicklung des Christentums mit ihrem Ursprung ständig zu vermitteln beanspruchte. Alle Tradition ist ja zugleich Interpretationsgeschichte. Sokrates, gefragt, warum er kein Buch schreibe, antwortete: "Ein Buch ist wehrlos, es hat immer seinen Vater nötig, der ihm zu Hilfe kommt." Wo dieses Zuhilfekommen nicht durch die Ermächtigung einer Interpretationsinstanz geschieht - "der euch hört, der hört mich" - da ist die Legitimität einer Lehrentwicklung immer fraglich. Sie kann und muß stets neu von jedem einzelnen überprüft werden. Letzte Uberprüfungsinstanz kann aber nur der Text selbst sein, und dieser wiederum ist doch stets nur als interpretierter gegeben, denn Lesen selbst ist schon Interpretation. Diesem hermeneutischen Zirkel, der schließlich alles in der Beliebigkeit enden und alles - bis hin zum Atheismus - mit der Bibel vereinbar zu machen scheint, glaubt der Fundamentalismus entkommen zu können durch ein anscheinend interpretationsfreies Wörtlichnehmen des Textes: "Das Wort sie sollen lassen stan." (Luther selbst war von diesem Wörtlichnehmen übrigens insofern weit entfernt, als er tatsächlich selbst einige neutestamentliche Texte als Schlüsseltexte für die Interpretation des Restes der Bibel betrachtete.)

178a Die Geschichte lehrt, daß von solchem Wörtlichnehmen immer wieder Impulse der Relativierung und Erneuerung von Traditionen ausgegangen sind. Als Beispiel mag der hl. Franziskus mit seinem Wörtlichnehmen einiger auf die Armut bezogener Texte des Evangeliums genügen. Aber ebenso klar ist, daß jede dieser Reformationen wieder so etwas wie eine Orthodoxie ausbilden mußte, d. h. eine verbindliche, identitätstiftende Auslegungstradition. Im Protestantismus hat freilich Orthodoxie stets einen prekären Status, weil die reformatorischen Bekenntnisschriften, auf denen sie basiert, sich ihrerseits nicht auf eine spezifische, in der Schrift begründete Interpretationsautorität stützen können. So war die protestantische Orthodoxie seit jeher von zwei Seiten gefährdet: von der Seite der historischen Kritik bzw. der szientistischen Aufklärung und von der Seite des Schwärmertums, das sich jeweils unmittelbar auf das Zeugnis des Heiligen Geistes im erleuchteten Leser der Schrift beruft. Orthodoxie ist dem gegenüber eine katholische Geistesverfassung. Sie setzt eine die Lehrentwicklung legitimierende, d. h. an den Ursprung und die Tradition zurückbindende Instanz voraus. Der Fundamentalismus ist sozusagen ihr "protestantisches" Pendant. (Fs)

179a Die Gegenprobe auf diese These ist der katholische Traditionalismus des chismatischen Erzbischofs Lefebvre. Er bezieht eine fundamentalistische Position nicht mit Bezug auf die Bibel, sondern mit Bezug auf frühere kirchliche Lehräußerungen, die mit den Deklarationen des II. Vatikanischen Konzils, vor allem derjenigen über Religionsfreiheit schwer vereinbar scheinen. Zwar hat das Konzil erklärt, daß "die überlieferte Lehre von der moralischen Pflicht des Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Jesu Christi unangetastet bleibt", aber es hat keinen Versuch gemacht, die Kontinuität der Tradition und damit die eigene Legitimität dadurch zu wahren, daß es die neuen Äußerungen in ein re-interpretierendes Verhältnis zu den früheren setzte. So war der fundamentalistische Rekurs auf scheinbar interpretationsunbedürftige "wörtliche" Geltung - nicht zwar der Bibel, aber früherer kirchlicher Lehräußerungen - vorauszusehen. Freilich ist katholischer Fundamentalismus in einer ebenso tragisch-paradoxen Lage wie protestantische Orthodoxie. Setzt diese tatsächlich ein authentisches Lehramt voraus, so jener das "libre examen" kanonischer Texte, also ein protestantisches Prinzip. (Fs)

179b Das Wort "sie sollen lassen stan" könnte auch als Schlachtruf derjenigen Moslems gelten, die man heute im Westen gern als islamische Fundamentalisten bezeichnet. Auch der islamische Fundamentalismus ist die Reaktion auf einen Traditionsbruch und auf die Krise einer entwicklungslegitimierenden Identität. Damit kulturelle Veränderungen als Fortschritt begriffen werden können, muß man Maßstäbe haben, die es erlauben, Verbesserungen von Verschlechterungen zu unterscheiden. Solche Maßstäbe sichern die Identität, indem sie Entwicklungen mit den eigenen Ursprüngen verbinden, sie als "Erfüllung" des von Anfang an eigentlich Gemeinten begreifen lassen. In seinen großen Zeiten hat der Islam ein gewaltiges kulturschöpferisches, philosophisches und wissenschaftlich-künstlerisches Potential entfaltet, das zeitweise dem des christlichen Westens überlegen war. Die moderne wissenschaftlich-technische Revolution ist dennoch nicht auf islamischem Boden entstanden, sondern von außen in die islamische Welt eingebrochen - meist unter kolonialistischen Vorzeichen. Es ist nicht von ungefähr, daß der düstere und blutige Fundamentalismus in dem Land sein Zentrum fand, in dem zuvor ein aufgeklärter Despot westliche Ideen von Bodenreform, Technokratie, Frauenemanzipation und Alphabetisierung importiert hatte. Die Blutrünstigkeit des persischen Regimes und die Herausforderung der zivilisierten Staatengemeinschaft durch den Mordaufruf gegen einen Schriftsteller darf nicht über die Ernsthaftigkeit des Phänomens hinwegtäuschen. Gefährlichkeit ist nur die andere Seite eines ernsten Anliegens. Ein westlicher Durchschnittsbürger, wenn er sich überhaupt vorstellen kann, daß es jemandem mit etwas ernst ist, kann sich jedenfalls schwer vorstellen, daß es jemandem mit der Ehre Gottes ernst ist und mit dem Respekt vor dem, was dem Gläubigen als göttliche Offenbarung gilt. Daß diese Offenbarung für den Islam die Form der Übergabe eines Buches und nicht - wie im Christentum - die der Erscheinung eines Menschen hat, macht den Fundamentalismus der "Wörtlichkeit", des "sola scriptura" zu einem genuin islamischen Phänomen, und die Frage, wie "der Vater dem Buch zu Hilfe kommen kann", zu einer offenen Frage. Erst ein wiedergewonnenes, erstarktes Selbstbewußtsein könnte den islamischen Völkern die Gelassenheit geben, die allein eigene schöpferische Antworten ermöglicht. (Fs)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fanatismus; Menschenrechte - Funktionalismus; Skinner; G. Picht

Kurzinhalt: Das Resultat dieser Selbstauflösung ist ein systemtheoretischer Rationalitätsbegriff, der nur noch auf die Funktionalität von Systemelementen reflektiert und auf die eventuellen Evolutionsschübe, die durch Dysfunktionalitäten bewirkt werden.

Textausschnitt: 180a Die westliche Zivilisation hatte seit dem 17. Jahrhundert für unbedingte, sich dem universellen Diskurs entziehende Überzeugungen die absprechende Vokabel "Fanatismus" bereit. Das Wort wurde zunächst von Katholiken gegen Protestanten verwendet, später von orthodoxen Protestanten gegen das Schwärmertum und schließlich von den Protagonisten der Aufklärung gegen jede Form von Offenbarungsglauben. Der Islam galt dabei als die gegen eine Transformation in "natürliche Religion" besonders resistente Form des Offenbarungsglaubens und deshalb - so für Voltaire - als Prototyp des Fanatismus. (Fs)

181a Fanatismus war der Gegenbegriff zum Ideal der Vernunftherrschaft, also des voraussetzungslosen, rationalen, universalen Diskurses über das Wahre und das Falsche, das Gute und das Schlechte. Ein solcher Diskurs sollte deshalb möglich und ergiebig sein, weil Vernunft, wie Descartes schrieb, die am gleichmäßigsten verteilte Sache der Welt ist. Vernunftherrschaft und Menschenrechte schienen nahezu synonym zu sein. Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat bewußt gemacht, daß Vernunftuniversalismus, Menschenrechte und Wissenschaft selbst nur auf dem Boden einer bestimmten Kultur mit sehr spezifischen Voraussetzungen entstehen konnten. Der Kulturrelativismus des 20. Jahrhunderts behauptet, daß diese Postulate an ihre geschichtlichen Voraussetzungen gebunden bleiben, also gerade nicht universelle Geltung beanspruchen können. In diesem Sinne trat vor einigen Jahren Georg Picht dem Menschenrechtsuniversalismus als dem verspäteten Ausdruck einer in Europa zusammengebrochenen Metaphysik entgegen. Er zog nicht in Erwägung, daß die Evidenz der Menschenrechte für jeden, der ihrer beraubt ist, vielleicht umgekehrt ein Argument für die in ihnen implizierte Metaphysik sein könnte. Indem der europäische Universalismus sich so von seinen eigenen Fundamenten emanzipiert, löst er sich selbst auf. Das Resultat dieser Selbstauflösung ist ein systemtheoretischer Rationalitätsbegriff, der nur noch auf die Funktionalität von Systemelementen reflektiert und auf die eventuellen Evolutionsschübe, die durch Dysfunktionalitäten bewirkt werden. Funktionalismus ist eine Denkweise, die, indem sie alle Inhalte als Funktionen begreift, prinzipiell alle Inhalte durch funktionale Äquivalente ersetzbar macht. Eine funktionalistische Zivilisation ist eine hypothetische Zivilisation. Dogmatische Überzeugungen, unbedingte moralische Verdikte - z. B. gegenüber Folter oder Abtreibung -, unwiderrufliche persönliche Bindungen sind in einer solchen Zivilisation Fremdkörper. Sie kann moralische Probleme - z. B. solche der Gentechnologie - nur als Akzeptanzprobleme begreifen, selbst aber nichts dazu beitragen, Akzeptanz zu legitimieren oder zu verhindern. "Freiheit und Würde" erscheinen einem szientistischen Aufklärer wie Skinner als fundamentalistische Relikte, die bei der Konstruktion einer befriedeten und funktionsfähigen Gesellschaft nur hinderlich sein können, ähnlich hinderlich wie schon für den modernen Souveränitätstheoretiker Thomas Hobbes das biblische "Man muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen". (Fs) (notabene)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus: biologisch, biologistisch; Nationalsozialismus; grüne Fundamentalismus: Delegitimierung; Kategorie der "Betroffenheit"


Kurzinhalt: Der Nationalsozialismus war die erstmalige Machtergreifung des naturalistischen Fundamentalismus der, obgleich selbst Kind der szientistischen Aufklärung, deren Vernunft- und Menschenrechtsuniversalismus noch als Teil des zu überwindenden ...

Textausschnitt: 182a Eine mit ihrer Herkunft so radikal brechende Zivilisation treibt einen ebenso radikalen, hinter alle geschichtliche Tradition Europas zurückgehenden Fundamentalismus hervor, nämlich den biologistischen. Das beginnt bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Christentum hatte den Völkern Europas zugemutet, sich als "Heiden" in eine neue Genealogie adoptieren zu lassen, Abraham "unseren Vater" zu nennen und auf ihren Königskronen David und Salomon abzubilden. Das Reich der Deutschen war nicht ein deutsches, sondern das Römische Reich. Vom Abschütteln dieser "überfremdenden", "kolonialistischen" Geschichte erwartete der biologische Naturalismus die Entfaltung des genuinen Potentials der keltischen bzw. germanischen Rasse. Der Nationalsozialismus war die erstmalige Machtergreifung des naturalistischen Fundamentalismus der, obgleich selbst Kind der szientistischen Aufklärung, deren Vernunft- und Menschenrechtsuniversalismus noch als Teil des zu überwindenden jüdisch-römischen Erbes betrachtete. (Fs) (notabene)

182b Übrigens war der Nationalsozialismus ein Lehrstück für das Schicksal jedes Fundamentalismus, der die politische Macht ergreift: Er muß aufhören, Fundamentalismus zu sein. (Das gilt auch für den Islam.) Nicht von ungefähr ließ Hitler in der zweiten, imperialistischen Hälfte seiner Regierungszeit die Geschichte noch einmal umschreiben: Karl, der "Sachsenschlächter", wurde wieder "der Große", und ausgerechnet die Nationalsozialisten waren es, die die alte deutsche Druck- und Schreibschrift abschafften und durch die in Europa sonst übliche lateinische ersetzten, so daß heute die Kinder nicht mehr die Jugendbriefe ihrer Großeltern lesen können. (Fs)

182c Der biologische Fundamentalismus hat indessen seine nationale, staatsterroristische Variante überlebt und neue Motive in sich aufgenommen. So ist etwa auch der grüne Fundamentalismus eine Rewegung der Delegitimierung. Delegitimiert wird eine zivilisatorische Entwicklung im Namen eines Ursprünglichen, Elementaren, das in dieser Entwicklung nicht zur Entfaltung kam, sondern unterdrückt und verleugnet wurde. Dieses Ursprüngliche sind nun nicht mehr die menschlichen Rassen, sondern die natürlichen Arten der Erde und darunter die Spezies homo sapiens und deren gefährdete, natürliche Uber-lebensbedingungen. Fundamentalistisch ist die Rewegung dort, wo sie jede gesellschaftlich-geschichtlich-rechtliche Vermittlung ihrer Maßstäbe ablehnt. Das soziale System der bisherigen Hochkulturen beruhte, so sieht das aus dieser Optik aus, auf Unterdrückung der Natur und - sozusagen als Stellvertreterin der Natur innerhalb des sozialen Systems - der Frau. Der europäische Rationalismus ist in dieser Sicht nur die Vollendung einer solchen Unterdrückungsgeschichte, die schon unsere Sprachstrukturen sexistisch geprägt und vergiftet hat. (Fs) (notabene)

183a Die Stärke dieses neuen Fundamentalismus liegt in einer unbestreitbaren Tatsache und in einer ebenso unbestreitbaren Einsicht. Die Tatsache: Das industrielle System hat an den Rand der Belastbarkeit unserer natürlichen Lebensbedingungen geführt. Dadurch werden diese erstmals thematisch, und es wird bewußt, daß hinsichtlich dieser Gefährdung erstmals alle Menschen in einem Boot sitzen. Die Einsicht: Das Gute und das Schlechte in dieser Hinsicht ist eine mehr oder weniger feste Größe. Es ist, wie es ist, unabhängig von Konsens und Akzeptanz. Wenn mit Bezug auf die Uberlebensbedingungen das Falsche Konsens und Akzeptanz findet, dann ist es möglicherweise zu spät, um aus diesem Irrtum noch zu lernen. Insoweit handelt es sich um eine der vielen unvermeidlichen Renaissancen des Naturrechts, d. h. des "von Natur" Richtigen und Falschen. Der Fundamentalist kann es nicht zur Disposition stellen, weil es auch nicht zu seiner Disposition steht. Rousseau hatte geschrieben, wenn Staaten gegen dieses Recht verstießen, so würden sie solange in chaotischen Zustand geraten, bis "die unbesiegbare Natur der Dinge die Macht wieder an sich genommen hat". Rousseau dachte dabei an soziales und politisches Chaos. Für den grünen Fundamentalisten ist das soziale Chaos unter Umständen einer sozialen Ordnung vorzuziehen, die um so mehr externes Chaos erzeugt, je perfekter sie intern organisiert ist. Zwar wird auch hier "die imbesiegbare Natur der Dinge" schließlich siegen, aber dann unter Umständen durch das Verschwinden des homo sapiens von der Erde. (Fs)

183b Aus der Tatsache, daß Uberlebensbedingungen nicht zu unserer Disposition stehen, folgert der Fundamentalist nun allerdings zu Unrecht, daß auch seine diesbezüglichen Ansichten nicht zur Disposition für Belehrung eines Besseren stehen dürften; und aus der Tatsache, daß die Wahrheit keine Kompromisse kennt, folgert er, daß auch in der Durchsetzung des als richtig Erkannten Kompromisse immer vom Übel seien. Das gilt jedoch nur in dem seltenen Fall, wo das Ganze unmittelbar auf dem Spiel steht und nur auf eine einzige Weise Rettung möglich ist. (Fs)

184a Lehrreich ist auch das Menschenrechtsverständnis des grünen Fundamentalismus. Es ist erstens durch die Tendenz bestimmt, den Unterschied zwischen Bürgerrechten und Menschenrechten zum Verschwinden zu bringen. Nicht geschichtlich bedingte Zusammengehörigkeit, nicht Sprachgemeinschaft usw., nicht die Bereitschaft, in eine langfristig angelegte Solidargemeinschaft einzutreten, definieren die relevante politische Einheit, sondern die rein naturale Kategorie aktualer gemeinsamer "Betroffenheit". Explosiv wird diese Auffassung, wenn sie sich verbindet mit jenem Verständnis, das Menschenrechte nicht als Abwehrrechte, sondern als unbedingte, unmittelbar exekutierbare Anspruchsrechte jedes Menschen versteht, z. B. das Recht in unser - prinzipiell in jedes - Gemeinwesen aufgenommen zu werden, solange die Aufnahme den "Betroffenen" als eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erscheint, d. h. solange, bis jedes geschichtlich und geographisch bedingte Gefälle an Lebenschancen aufgehoben ist und das Entropiegesetz alle Strukturen des "guten Lebens" rückgängig gemacht hat. (Fs)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus: politisch; M. Weber: Gesinnungsethik - Verantwortungsethik; Hobbes, Zivilreligion; Orestie, Antigone (Aischylos, Sophokles)

Kurzinhalt: Jeder Totalitarismus ist - obgleich oft fundamentalistischen Ursprungs - antifundamentalistisch. Sein Antifundamentalismus aber ist Nihilismus. Denn für die "normale" Menschheit gilt: Jeder ist Fundamentalist von irgend etwas.

Textausschnitt: 184b Politischer Fundamentalismus berührt sich eng mit dem, was Max Weber als "Gesinnungsethik" bezeichnet hat. Allerdings macht er auch deutlich, daß die Unterscheidung "Gesinnungsethik - Verantwortungsethik" nicht wirklich greift. Eigentlich versteht Weber unter dem Verantwortungsethiker den Politiker, der mittelfristig in einem begrenzten, ihm anvertrauten Bereich Zustände erhalten oder herbeiführen will, die er für wünschenswert hält. Der Gesinnungsethiker ist der, der die Verantwortung entweder kurzfristiger und begrenzter betrachtet, d. h. der sich für das unmittelbare Resultat einer einzelnen Handlung verantwortlich fühlt, oder aber derjenige, dessen Handlungen im Dienste einer langfristigen Strategie mit Bezug auf eine globale Zivilisation stehen und deren Rechtfertigung deshalb der Beurteilung des Common sense entzogen ist. Dem Gesinnungsethiker im ersten Sinne zollte Weber hohen Respekt. Nur wies er darauf hin, daß dessen Ethik gerade keine politische Ethik ist. Die zweite will politische Ethik sein, ist es aber auch nicht, weil sie schließlich nur darauf hinausläuft, private politische Weltanschauungen der diskursiven Überprüfung zu entziehen und in ihrem Dienste unbegrenzte Handlungsfreiheit zu beanspruchen. Sie entspricht also der Definition des Fanatismus. (Fs)

184c Die Unterscheidung zwischen den beiden Formen von "Gesinnungsethik" erlaubt uns auch, zwischen zwei Formen des Fundamentalismus zu unterscheiden. Fundamentalismus ist eine wesentlich unpolitische Haltung, denn der Raum des Politischen ist der Raum der Vermittlung, der funktionalen Relativierung, der Brechung aller Unbedingtheitsansprüche. Die Verabsolutierung des politischen Gesichtspunkts, die Definition aller menschlichen Lebensvollzüge durch ihre positive oder negative politische Funktion ist das Kennzeichen des Totalitarismus. Jeder Totalitarismus ist - obgleich oft fundamentalistischen Ursprungs - antifundamentalistisch. Sein Antifundamentalismus aber ist Nihilismus. Denn für die "normale" Menschheit gilt: Jeder ist Fundamentalist von irgend etwas. Es gibt Symbole des Unbedingten, die, obwohl selbst endlicher Natur, doch für endliche Wesen einen unbedingten Anspruch enthalten. Ohne solche Symbole wird Unbedingtheit zu einem leeren Wort und der Mensch zu einem verächtlichen Wesen, dem nichts "heilig", das heißt, das zu allem fähig ist. Das Unbedingte selbst kann überhaupt nur respektiert, es kann nicht "durchgesetzt" werden. Eine Politik zur Durchsetzung der Menschenrechte kann nie die gleiche Unbedingtheit besitzen wie das Gebot, diese Rechte zu achten. (Fs) (notabene)

185a Die Einsicht in diesen Sachverhalt ist alt. Sie ist unübertrefflich ausgesprochen in zwei griechischen Tragödien, in der "Antigone" des Sophokles und in der "Orestie" des Äschylos. Antigone ist der unübertreffliche Typus einer fundamentalistischen Diskursverweigerin. Ihre Pflicht, den Bruder zu begraben, gründet in einem unvordenklichen Gesetz der Götter, das zugleich dem Gesetz des Herzens entspricht: "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da." Kreon, der König, hat für sein Verbot Gründe, Gründe der Staatsraison, Gründe der politischen Friedenssicherung. Seine Verblendung und seine Hybris bestehen darin, daß er in der Durchsetzung seines rationalen Kalküls nicht dasjenige als Grenze respektiert, das älter und "fundamentaler" ist als das politische System. Er ist noch nicht auf den Kunstgriff des Hobbes verfallen, den Satz "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" dadurch zu entschärfen, daß er sich selbst als Souverän zum einzigen authentischen Interpreten eben jenes göttlichen Gebotes erklärte. Nun ist aber der Fundamentalismus dieses Satzes ebenso wie derjenige Antigones insofern politisch nicht unmittelbar bedrohlich, als er zwar Ungehorsam, nicht jedoch politische Aktionen, aktiven Widerstand, Rebellion begründet. Er begründet nicht einmal aktive Organisation des Ungehorsams. Antigone rät ihrer Schwester Ismene sogar ab, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Aktives politisches Handeln kann nur effizient sein, wenn es den Gesetzen der politischen Logik folgt, sich also aus der uneinnehmbaren Festung des Fundamentalismus herausbegibt. Aber auch über den legitimen politischen Umgang mit dem Fundamentalismus enthält die antike Tragödie ein Lehrstück: die Orestie. Die politische, die polisstiftende Friedensmacht erscheint hier in Gestalt der Athene, die vor dem Areopag ihre Stimme zugunsten des Muttermörders Orest in die Waagschale wirft. Der Kette des Tötens soll ein Ende gesetzt werden. Die Erinnyen aber toben. Sie wollen ihren fundamentalistischen und feministischen Anspruch auf Sühnung des Muttermords nicht der neuen Friedenslogik opfern. Athene aber setzt sich über den Anspruch der Erinnyen nicht souverän hinweg, sondern versucht mit Erfolg, diese zu begütigen. Sie lädt sie ein, als "Eumeniden", als Segensgöttinnen, sozusagen "entpolitisiert, in der Stadt zu bleiben, und knüpft das Wohlergehen der Stadt daran, daß diese Göttinnen, die älter sind als die Stadt, in ihr stets einen geheiligten Platz haben werden. Indem sie politisch entmachtet werden, wird doch ihre Gegenwart zu einem Garanten dafür, daß das Politische nicht Maß und Orientierung an dem "Heiligen" verliert, das aller Politik vorausliegt und das sie selbst doch nicht hervorbringen kann. (Fs)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Freiheit der Gesellschaft: abhängig von vorgängigen Inhalten; F. als Identität mich sich selbst; K. Popper, offene Gesellschaft; H. Albert: ethische Aussagen als Hypothesen; Spaemann: Hypothetisierung des Daseins beseitigt den Ernstfall; Totalitarismus

Kurzinhalt: Die christliche Tradition, auf die sich Popper als letzte Instanz beruft, ist Albert suspekt, weil sie die Tradition einer nichthypothetischen Überzeugung ist. So steht Albert in Wahrheit näher bei Skinner, der "Freiheit und Menschenwürde" als ...

Textausschnitt: 186a Warum ist das Wohlergehen der Stadt davon abhängig? Warum die Freiheit der Gesellschaft von der Geltung von Inhalten, die der Freiheit der Gesellschaft vorhergehen? Weil Freiheit heißt: mit sich identisch-sein-können. Diese Identität aber ist nicht abstrakte, von allen Inhalten abgelöste Subjektivität. Freiheit ist nur ein Wert um der Inhalte willen, für die sie in Anspruch genommen wird und die ohne Freiheit nicht zu haben sind. Die Vergegenwärtigung und gesellschaftliche Reproduktion solcher sinnstiftender Inhalte ist nicht möglich, wenn die hypothetische Denk- und Lebensform ohne Widerlager bleibt, wenn sie tendenziell zur universellen Lebensform wird. Diese Tendenz findet ihren theoretischen Ausdruck im kritischen Rationalismus, insbesondere in der Form, wie ihn in Deutschland Hans Albert vertritt. Zwar hat schon Popper in aller Breite die These enfaltet, der Anspruch auf nichthypothetisches Wissen sei mit einer freien, einer offenen Gesellschaft unvereinbar. Er führe zur Zementierung von Sozialordnungen, zu revolutionärer Totalplanung und zu einem unkritisierbaren Herrschaftsprivileg der Wissenden. Auf die Frage, warum dies alles nicht wünschenswert, unsere offene Gesellschaft hingegen die beste aller bisherigen Gesellschaftsformen sei, antwortet Popper mit dem Hinweis auf eine eindeutige und selbst nicht hypothetisierte Wertentscheidung. Er beruft sich auf "die Standards und Werte, die bis auf uns gekommen sind durch Vermittlung des Christentums, aus Griechenland und aus dem Heiligen Land, von Sokrates und vom Alten und Neuen Testament".1 Die Unbedingtheit solcher Wertentscheidungen ist für Popper allerdings nur subjektiv, sie hat nichts mit Erkenntnis zu tun, und solche Entscheidungen können daher auch nicht Gegenstand einer rationalen Mitteilung sein. Anders Poppers Apologet in Deutschland, Hans Albert. Er hält ethische Entscheidungen nicht für irrationale Optionen, sondern für mögliche Gegenstände eines rationalen Diskurses. Aber eben deshalb, so glaubt er, müssen sie ihren Charakter als Überzeugungen aufgeben. Albert verlangt, auch ethische Aussagen als Hypothesen, als "prinzipiell kritisierbare Annahmen" zu betrachten und für sie jeweils nach Alternativen Ausschau zu halten. Glaubensüberzeugungen sind ebenso zu liquidierende Widerstände gegen die Hypothetisierung des Daseins wie die immunisierende Berufung auf so etwas wie Gewissen. Die christliche Tradition, auf die sich Popper als letzte Instanz beruft, ist Albert suspekt, weil sie die Tradition einer nichthypothetischen Überzeugung ist. So steht Albert in Wahrheit näher bei Skinner, der "Freiheit und Menschenwürde" als dogmatische Vorurteile ansieht, die demjenigen im Wege stehen, was ihm, ebenso wie Albert, als oberster Maßstab des richtigen Lebens gilt: "rationales Problemlösungsverhalten ". (Fs; tblVrw) (notabene)

187a Was ich behaupte ist, daß die hier vorgeschlagene Verwandlung aller Überzeugungen in Hypothesen zur Selbstaufhebung einer freien Gesellschaft führen würde, und daß eine humane, eine sinnvolle Lebensführung nichthypothetische Zugänge zur Wirklichkeit zur Voraussetzung hat. Die offene Gesellschaft kann nur Bestand haben, wenn ihre Offenheit auf Überzeugungen gründet, die ihrerseits nicht zur Disposition stehen. Der Kampf der freien Staaten gegen den Nationalsozialismus war kein Kampf für Hypothesen - ebensowenig wie der Widerstand der sowjetischen Dissidenten. Für Hypothesen stirbt man nicht. Man hat nur ein Leben. Ohne die feste Überzeugung, daß das, wofür man es riskiert, sinnvoll ist, riskiert man es eben nicht. Die Hypothetisierung des Daseins beseitigt den Ernstfall. Und das heißt in Wirklichkeit nur: Sie überliefert die Welt dem, der Überzeugungen hat. Auch Richard Rortys Ironie als Lebensform ist wesentlich parasitär. (Fs)

188a Die Bundesrepublik Deutschland hat, belehrt durch das Schicksal der Weimarer Republik, in ihrer Verfassung gewisse Grundsätze festgeschrieben, die durch Mehrheitsbeschlüsse nicht veränderbar sind. Sie hat darauf verzichtet, die Verfassung so zu gestalten, daß sie für beliebige Änderungen offen ist. Sie hat auf das post-histoire eines nicht mehr revolutionierbaren, weil nur noch hypothetischen Formalismus verzichtet. Wer die Grundrechte beseitigen will, muß tatsächlich Revolution machen. (Fs)

188b Es ist ein Irrtum, der Verzicht auf nichtdisponible Gewißheiten beseitige die Voraussetzung des Totalitarismus. Man kann nämlich den Totalitarismus als Großexperiment betrachten. Daß das langfristige Wohlbefinden der Menschen, daß die Lösungen gewisser Probleme der modernen Massengesellschaft am besten durch streng hierarchisch gegliederte und totalitär durchorganisierte Staatsverfassungen gewährleistet werden, kann man als eine Hypothese betrachten, ebenso wie die gegenteilige Behauptung. Das Experiment, das diese These falsifiziert, hat als sowjetisches System siebzig Jahre lang gewährt. Es gibt Menschen, die dies für einen zu kurzen Zeitraum halten. Vielleicht sind einige hundert Jahre erforderlich. Es mag sein, daß zu diesem Experiment auch gehört, daß die Massen von Gewißheit durchdrungen sind. Diese Menschen werden allerdings nicht als Subjekte, sondern als Objekte dieses Experiments betrachtet. Daß die Massen in ideologischem Dogmatismus gehalten werden, schließt nicht aus, daß die Herrschenden intern kritische Rationalisten sind. Die Überzeugung, die solchen Experimenten prinzipiell entgegensteht, hat nicht den Charakter einer zur Disposition stehenden Gegenhypothese, sondern den einer dogmatischen Überzeugung. Sie ist "fundamentalistisch". (Fs)

188c Überzeugungen dieser Art müssen tradierbar sein. Popper selbst hat in einem Aufsatz die Bedeutung der Tradition für eine liberale Gesellschaft hervorgehoben. Kritik an Tradition ist nämlich selbst eine Tradition. Ohne tradierte Kultur von Kritik und Toleranz kann eine freie Gesellschaft sich nicht behaupten. Aber die Haltung von Kritik und Toleranz läßt sich nicht kontextfrei tradieren. Um zur Kritik und Toleranz geneigt zu sein, bedarf es bereits gewisser konstitutiver Sinnerfahrungen. Es muß einen positiven Grund haben, daß ich den anderen tolerieren soll. Solche Sinnerfahrungen, die in einer Bildungstradition vermittelt werden, sind von der Art, daß mit ihnen erst die Identität von Subjekten sich bildet. Kritik und Toleranz sind voraussetzungsvolle Haltungen. Sie setzen eine Kultur der Selbstbeherrschung voraus, eine Kultur des Nachdenkens, des uneigennützigen Interesses an Wahrheit, eine Kultur der unbedingten Achtung der Würde des Menschen und bestimmte Überzeugungen, durch welche diese Achtung im Konfliktfall gestützt wird. Wo alle Maßstäbe der Kritik unter der Hand selbst immer nur zu Hypothesen gerinnen, kann eine Erziehung zu kritischem Denken gar nicht gelingen. (Fs)

189a Die Tatsache, daß Überzeugungen und Gewißheiten enttäuschbar sind, ändert nichts daran. Gewißheit ist nicht Unfehlbarkeit. John Henry Newman hat in seinem "Grammar of assent" dazu tiefsinnige Ausführungen gemacht. Niemand von uns verbietet sich Gewißheiten, weil Gewißheiten gelegentlich auch enttäuschen. Daraus kann man höchstens lernen vorsichtig zu sein, seine Meinungen nicht vorschnell in Überzeugungen zu verwandeln, seine Gründe zu prüfen, ob sie gute Gründe sind. Es ist dazu aber keineswegs immer so etwas wie eine Letztbegründung notwendig. Irgendwo ist der Punkt erreicht, wo Plausibilität in Gewißheit übergeht. William James unterschied zwischen lebendigen und toten Hypothesen. Tote Hypothesen nannte er solche, von deren kontradiktorischem Gegenteil wir - aus welchem Grunde auch immer - überzeugt sind. Solche Überzeugungen sind nicht eine zu überwindende Voreiligkeit und Schwäche des Menschen. Sie sind ein Lebenselement, ohne welches auch die Wissenschaft keinen Schritt tun könnte. (Fs)

189b Die Forderung, alle Gewißheit in Hypothesen aufzulösen, hängt zusammen mit der Verwissenschaftlichung des Daseins. Diese Tendenz ist analog zu der Tendenz, die Kriterien der privaten Lebensführung den Maßstäben ökonomischen Verhaltens zu unterwerfen. In der ökonomischen Sphäre ist das Festhalten an einem bestimmten Besitz irrational. Wenn die Veräußerung eines Betriebsgeländes vorteilhaft ist, dann ist die NichtVeräußerung ein Fehler. Entgangener Gewinn ist Verlust. Wer aber nötigt mich, das Haus, in dem vielleicht schon meine Eltern lebten, unter solchen Gesichstpunkten zu betrachten und es in dem Augenblick zu veräußern, wo ich dies mit Vorteil tun kann? Wer nötigt mich, die fiktive Verzinsung des Kapitals, das ich durch den Verkauf erlösen würde, als Unkosten zu verbuchen? Im Gegensatz zur Sphäre der Ökonomie gibt es im privaten Bereich keine Begründungspflicht dafür, etwas so zu lassen, wie es ist. (Fs)

190a Der Gedanke einer totalen Verwissenschaftlichung des Daseins bedenkt nicht, daß das Subjekt der Wissenschaft unendlich, aber fiktiv ist, der einzelne Mensch aber endlich und wirklich. Descartes hat daraus die Folgerung gezogen, der handelnde Mensch könne die Rechtfertigung seines Handelns nicht auf eine hypothetische Wissenschaft gründen, da er zum Handeln jederzeit einer moralischen Gewißheit bedürfe. Die Endlichkeit unseres Lebens erlaubt es nicht, alle möglichen Lebensweisen durchzuprobieren. Was wir tun, muß einen nichthypothetischen Sinn haben, oder wir riskieren, ein absurdes Leben geführt zu haben. Risiken, Experimente können sinnvoll und gerechtfertigt sein. Es kann sogar sinnvoll sein, sein Leben für etwas zu riskieren, von dessen Wert man überzeugt ist. Aber das Leben als ganzes unter eine hypothetische Option stellen, macht das Leben zu einem gleichgültigen Faktum. Rationale Problemlösungen haben Sinn im Kontext bestimmter Ziele und Inhalte des Lebens. Die Wahl solcher Ziele und Inhalte kann selbst nicht als "Problemlösung" betrachtet werden, und in Wahrheit handelt es sich auch gar nicht um eine Wahl. Es gibt Gewißheiten, die wir solange haben, bis sich uns eine größere Gewißheit aufdrängt, die jene erste verdrängt. (Fs) (notabene)

190b Das gilt nun erst recht für die Religion. Der Gläubige ist durch nichts, was der Fall ist, widerlegbar. Der Glaube ist so wenig eine Hypothese, daß er vielmehr über eine perfekte Immunisierungsstrategie verfügt. Aber ist das ein Einwand? Gesetzt den Fall, Gott ist so, wie der Glaube ihn denkt - wie sollte dann nach Ansicht des kritischen Rationalisten die Hypothese aussehen, die diesen Glauben testet? Fortschrittliche Theologen pflegen zwar heute zu sagen, der Test des Glaubens finde im Leben statt. Die Verifizierung des Glaubens bestehe darin, daß es sich mit ihm leben lasse. Aber das ist ein schlechtes Argument. Auch mit falschen Überzeugungen läßt sich leben. Der Test des religiösen Glaubens, wenigstens sofern er die Überzeugung von einem Leben nach dem Tode in sich schließt, kann einleuchtenderweise erst nach dem Tode stattfinden. Und da ist der Ungläubige natürlich, falls er recht hat, in der ärgerlichen Lage, die Verifizierung seiner These nicht erleben zu können. Der Gläubige hingegen kann die Bestätigung seines Glaubens wohl erleben, nicht jedoch die Falsifikation. Das sind keine Argumente für oder gegen die Wahrheit des religiösen Glaubens. Es sind aber Argumente gegen die Forderung, religiöse Gewißheit müsse sich in überprüfbare Hypothesen verwandeln lassen oder aber verschwinden. Sollen wir etwas außer Betracht lassen, weil, wenn es falsch wäre, der Natur der Sache nach die Falschheit nicht zu Tage kommen könnte, während doch die Wahrheit sehr wohl zu Tage kommen kann? In Wirklichkeit führt die Privilegierung hypothetisierbarer Auffassungen nicht zur Beseitigung von Überzeugungen. Sie führt nur zu einer Privilegierung ganz bestimmter Überzeugungen, nämlich materialistischer, und zwar deshalb, weil die Hypothesen unvermeidlich den sozialen und psychologischen Platz jener Überzeugungen einnehmen, die man zuvor unter dem Vorwand eliminiert hat, sie ließen sich nicht in testbare Hypothesen verwandeln. Auch materialistische Überzeugungen sind natürlich nicht testbar. Sie sind nur die Folge eines Entschlusses, die Wirklichkeit auf das zu beschränken, was testbaren Hypothesen zugänglich ist. Dabei könnte es jedoch sein, daß sich, wie Hegel sagt, dasjenige, was sich als Furcht vor dem Irrtum gibt, als Furcht vor der Wahrheit erweist. (Fs)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Nicht-hypothetische Voraussetzungen - Statt; Toleranz, Aufhebung; Zusatz: Menschenrechtsparagraphen der Verfassungen;

Kurzinhalt: Der Staat kann solche Überzeugungen nicht verordnen, er kann sie aber begünstigen. Hier beginnen jedoch sofort die Probleme. Diese für den Staat sozusagen "transzendentalen" Überzeugungen von der Würde der Person, den Rechten des Menschen, ...

Textausschnitt: 191a Was die nichthypothetischen Überzeugungen betrifft, so gibt es solche, an denen der liberale Staat ein positives Interesse haben muß, und andere, denen er, ohne zu ihnen Stellung zu nehmen, freie Entfaltung ermöglichen muß. Die ersteren sind jene, die die Grundlagen der Freiheit selbst betreffen. Der Staat kann solche Überzeugungen nicht verordnen, er kann sie aber begünstigen. Hier beginnen jedoch sofort die Probleme. Diese für den Staat sozusagen "transzendentalen" Überzeugungen von der Würde der Person, den Rechten des Menschen, der Pflicht zur Toleranz usw. treten ja nicht in philosophischer Reinform auf. Sie sind eingebettet in verschiedenartige philosophische und vor allem religiöse Kontexte. Und es mag sein, daß das, woran der liberale Staat ausschließlich positiv interessiert ist, für die Religion ein Nebenprodukt ist, eine Konsequenz, die sich aus Überzeugungen ergibt, deren Schwerpunkt ganz woanders liegt. Das wäre harmlos, wenn dieses "Nebenprodukt" immer das gleiche wäre. Das ist aber nicht der Fall. Tatsächlich ist der liberale Staat nicht ein übergeordnetes Medium, das die weltanschaulichen Gegensätze wenigstens in praktischer Hinsicht neutralisierte. Die Gegensätze beziehen sich nämlich unter Umständen gerade auf die Grundlagen des freien Staates selbst. Ich nenne nur zwei Beispiele: die Debatte um die Abtreibung und die beginnende Debatte um die Euthanasie. Es klingt schön zu sagen, alle Überzeugungen seien zu achten, sofern sie die Subjektstellung jedes einzelnen Menschen begründen oder respektieren. Tatsächlich aber gilt vielen Liberalen heute die Ansicht, jeder Mensch sei Person und habe daher eine solche Subjektstellung zu beanspruchen, als Sondermeinung einer bestimmten Weltanschauungsgruppe. Und sie wehren sich dagegen, daß diese Weltanschauungsgruppe anderen ihre Auffassung aufnötigt. Sie betrachten die Rechtsgemeinschaft als einen closed shop, dessen Eintritts- und Ausschlußbedingungen durch die Mehrheit der Mitglieder festgesetzt werden. Die Menschenrechtsparagraphen der Verfassungen müßten also jeweils ergänzt werden durch den Zusatz: "wer Mensch im Sinne dieser Verfassung ist, bestimmt ein Gesetz". Nach Auffassung jener "Weltanschauungsgruppe" wäre dies freilich das Ende der Menschenrechte. (Fs) (notabene)
192a Obgleich meine Parteilichkeit in dieser Debatte klar ist, will ich doch hier diese Debatte nicht führen, sondern nur darauf hinweisen, daß es sich hier nicht um Fragen handelt, deren Entscheidung von allen Beteiligten akzeptiert wird, falls nur die Entscheidung in juristisch einwandfreien Verfahren zustande gekommen ist. Es gibt kein Recht noch so großer Mehrheiten, über das Existenzrecht einer Minderheit zu entscheiden. Und wo eine Gruppe der Überzeugung ist, es handle sich hier um eine solche Minderheit, da handelt es sich um eine Situation, die näher beim Bürgerkrieg als bei einem geordneten Verfahren liegt. (Fs)

192b Anders liegen die Dinge, wenn es nicht um die sozusagen transzendentalen Voraussetzungen jeder freien Gesellschaft geht, sondern um bestimmte Formen des guten Lebens. Die Auseinandersetzungen hierüber betreffen nicht die Prämissen der Verfassung und können sich deshalb in deren Rahmen und in Unterordnung unter sie abspielen. Der liberale Staat ist hier allerdings oft in der Versuchung, jene Formen des guten Lebens zu benachteiligen, die zu ihrer Realisierung auf Gemeinschaftlichkeit angewiesen sind. Das aber bedeutet tendenziell einen Abbau der Sinnstrukturen, die sich mit überlieferten Lebensformen verbinden. Damit verknüpft sich von selbst eine Privilegierung individualistischer Lebenskonzepte. Ich wähle als Beispiel den Sonntag als öffentlichen Feiertag. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht er ausdrücklich unter dem Schutz der Verfassung. Ich will hier auf die zahlreichen Vorteile eines solchen gemeinsamen Feiertags gegenüber der flexiblen Freizeit nicht eingehen. Die von der Industrie immer wieder gestellte Frage: "Was kostet uns der Sonntag?" enthält eine petitio principii. Sie geht davon aus, daß der Sonntag überhaupt zur Disposition steht und fragt nach dem Gewinn, der durch das Festhalten an ihm entgeht. Entgangener Gewinn wird als Verlust gebucht. Wenn man eine Institution wie den Sonntag in eine solche Rechnung einbezieht, ist sie natürlich verloren. Nutznießer eines solchen gemeinsamen Feiertags ist die große Mehrheit des Volkes, auch wenn nur eine Minderheit es ist, die seine kultische Mitte vergegenwärtigt und verteidigt. In einer Zivilisation, die durch eine bestimmte religiöse Tradition geprägt ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, unter Hinweis auf religiöse Minderheiten den Vorrang des Sonntags bzw. des Sabbat in Israel oder des Freitag in islamischen Ländern in Frage zu stellen, vorausgesetzt, den jeweiligen Minderheiten wird für die Ausübung ihrer religiösen Praxis ein entsprechender Toleranzraum eingeräumt. (Fs)

193a Und hier komme ich zu einem letzten Punkt, dem Problem der Toleranz. Die liberale Gesellschaft tendiert dahin, Toleranz gänzlich abzuschaffen. Es gibt nur die Alternative zwischen Verbot und Gleichberechtigung. Toleranzrechte werden sukzessive in Gleichberechtigung verwandelt. So gewährt die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland den Kriegsdienstverweigerern durch ihr Grundgesetz prinzipiell Toleranz für ihre Gewissensüberzeugung. Im Lauf der Jahre ist daraus faktisch ein freie Option zwischen zwei gleichberechtigten Möglichkeiten geworden, dem Militärdienst und dem Wehrersatzdienst. Und auch die öffentliche Propagierung der Kriegsdienstverweigerung ist ebenso geschützt wie diese selbst. Als weiteres Beispiel nenne ich die Homosexualität. Es ist eine Errungenschaft der liberalen Staaten, daß sie die praktizierte Homosexualität unter Erwachsenen nicht mehr unter Strafe stellt. Eine mächtige Tendenz geht aber nun dahin, sogar in Gesetzestexten von zwei möglichen "sexuellen Orientierungen" zu sprechen und diejenige Form der Sexualität, die mit der Reproduktion des Menschengeschlechtes verbunden ist, in keiner Weise mehr als "Normalität" auszuzeichnen und eine Institution wie die Ehe nicht mehr unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen. So können im Namen von Individualrechten gerade diejenigen Güter systematisch destruiert werden, an denen zwar die meisten Individuen partizipieren, die aber nur deshalb einen Teil dessen ausmachen, was "gutes Leben" zu heißen verdient, weil und insofern sie gemeinsame Güter sind. Institutionalisierte Toleranz und Toleranz als Tugend ist die einzig mögliche Weise, die gemeinsamen Güter einer Gesellschaft mit den unveräußerlichen Rechten jedes Individuums in Einklang zu bringen. (E10; 29.04.2010)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus; Geschichte (Proestanten); Islam (dschihad)

Kurzinhalt: Den muslimischen Fundamentalisten geht es in erster Linie weder um den Koran noch um die Theologie, sondern um das islamische Recht und den islamischen Staat. Sie meinen, daß die muslimische Gemeinschaft durch fremdstämmige Ungläubige und muslimische ...

Textausschnitt: 218d Der Begriff "Fundamentalismus" geht auf eine Reihe protestantischer Traktate zurück, die "The Fundamentals" hießen und um das Jahr 1910 herum in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurden. Dieser Begriff wurde ursprünglich in Amerika und später auch in anderen protestantischen Ländern zur Bezeichnung bestimmter Gruppen verwandt, die sich abspalteten, indem sie die kritische Theologie (liberal theology) und Bibelwissenschaft ablehnten und statt dessen den göttlichen Ursprung des Wortes sowie die Unfehlbarkeit der Bibel verfochten. Wenn mit demselben Wort auch muslimische Bewegungen bezeichnet werden, beruht das allenfalls auf einer vagen Analogie, die zudem noch sehr in die Irre führen kann. Die Reformierung der Theologie war für die Muslime zwar in der Vergangenheit zeitweilig ein Thema, heute ist sie jedoch keines mehr, und die sogenannten muslimischen Fundamentalisten haben ganz andere Sorgen. (Fs)
219a Das zweite Anliegen der amerikanischen protestantischen Fundamentalisten, der göttliche Ursprung und die Unfehlbarkeit der Schrift, ist im Islam kein Streitpunkt, da der göttliche Ursprung und die Unfehlbarkeit des Koran ohnehin keinen Zweifel dulden. Dennoch hat sich die Bezeichnung bestimmter muslimischer Gruppen als "Fundamentalisten" eingebürgert, indem das englische Wort nicht nur in andere europäische Sprachen, sondern auch ins Arabische, Türkische und andere von Muslimen gesprochene Sprachen übernommen wurde, wo neuerdings Begriffe mit derselben Etymologie für diese Gruppen verwandt werden. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, kann man also gar nicht umhin, diesen Begriff zu akzeptieren bzw. anzuwenden. (Fs)

219b Den muslimischen Fundamentalisten geht es in erster Linie weder um den Koran noch um die Theologie, sondern um das islamische Recht und den islamischen Staat. Sie meinen, daß die muslimische Gemeinschaft durch fremdstämmige Ungläubige und muslimische Apostaten in den Irrglauben geführt wurde, wobei die letzteren als die schlimmeren und unheilvolleren Verführer gelten. Unter ihrer Führung oder ihrem Zwang gaben die Muslime die Gesetze und Grundsätze ihres Glaubens auf und begannen, statt dessen säkulare und damit heidnische Gesetze und Werte zu übernehmen. Alle ausländischen Ideologien wie der Liberalismus, der Sozialismus und sogar der Nationalismus, spalten die Muslime und sind daher schlecht. Die muslimische Welt leidet nunmehr unter den unausweichlichen Folgen der Tatsache, daß sie das Gesetz und die Lebensweise, die ihr von Gott zugedacht wurden, aufgegeben hat, um stattdessen den heidnischen Lebensstil der ungläubigen Feinde nachzuahmen. Die Antwort darauf kann nur die alte muslimische Verpflichtung zum dschihad, zum heiligen Krieg sein. Erst muß er gegen die pseudo-muslimischen Apostaten geführt werden, die daheim herrschen, und wenn diese abgesetzt sind und die Gesellschaft reislamisiert ist, kann der Islam auch seine angestammte Rolle in der Welt übernehmen. Die Forderung nach Rückkehr zu den Wurzeln, zum wahren Ursprung, hat stets etwas Anziehendes. Sie spricht umso mehr diejenigen Menschen an, die alltäglich unter den Folgen der importierten, mißglückten Neuerungen zu leiden haben. (Fs)

220a Die islamischen Fundamentalisten halten die Demokratie offenkundig für etwas vollkommen Belangloses, und im Unterschied zum Sprachgebrauch des kommunistischen Totalitarismus kommt das Wort bei ihnen kaum, ja nicht einmal in mißbräuchlicher Verwendung vor. Hingegen lehnen sie es nicht ab, die Vorteile, die ein selbsternanntes demokratisches System ihnen per definitionem anbieten muß, einzufordern und für ihre Zwecke auszunutzen. Zugleich machen sie keinen Hehl daraus, daß sie die politischen Verfahrensweisen der Demokratie verachten und durch islamische Spielregeln ersetzen würden, sollten sie einmal die Macht übernehmen. Man hat ihre Einstellung zu demokratischen Wahlen umschrieben als "ein Mann, eine Stimme, das eine Mal". Zumindest in Iran liegt der Fall jedoch ein bißchen anders. Die Islamische Republik Iran schreibt Kandidatenwahlen aus und läßt in der Presse und im Parlament mehr an Diskussion und Kritik zu, als in den meisten muslimischen Ländern üblich ist. Gleichzeitig gibt es genaue und strikt eingehaltene Bestimmungen dafür, wer als Kandidat aufgestellt werden kann, welche Art Gruppenbildung erlaubt ist und was überhaupt geäußert werden darf. Selbstverständlich ist es verboten, die Grundsätze der Islamischen Revolution oder Republik infrage zu stellen. (Fs)

220b Diejenigen, die für eine demokratische Reform in den arabischen und den übrigen muslimischen Ländern eintreten und kämpfen, nehmen für sich in Anspruch, eine wirkungsvollere und glaubwürdigere Demokratie im Sinn zu haben als ihre gescheiterten Vorgänger. Sie fordern eine unumschränkte Demokratie, die nicht von irgendwelchem störenden Beiwerk verfälscht, von religiösen oder ideologischen Vorbehalten zunichte gemacht und von einer Region, Religionsgemeinschaft oder sonst einer Gruppe mißbraucht wird. Einerseits gehört diese Bewegung zu der Demokratisierungswelle, die bereits viele Länder in Südeuropa und Lateinamerika erfaßt hat; andererseits ist sie eine Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und darauf, daß das siegreiche Abschneiden der Demokratie im Kalten Krieg ihre Überlegenheit nur ein weiteres Mal bestätigt hat. In nicht geringem Maß ist der Ruf nach Demokratie eine Folge der Tatsache, daß die amerikanische Demokratie und die amerikanische Alltagskultur immer stärker auf die islamischen Länder einwirken. (Fs)

221a Lange Zeit wurde Amerika lediglich als Anhängsel Westeuropas betrachtet. Es gehörte zur selben Zivilisation, sprach dieselbe Sprache, hatte dieselbe Religion und war von denselben verhängnisvollen Schwächen heimgesucht wie das größte europäische Imperium. Als das Wissen über Amerika zunahm, entdeckte man jedoch, daß es ein ganz anderes demokratisches System als Europa besaß, und die Unterschiede verliehen der amerikanischen Demokratie eine größere Anziehungskraft, als die europäische je ausgeübt hatte. (Fs)

221b Ein offenkundiger Unterschied bestand natürlich darin, daß die Vereinigten Staaten niemals eine imperialistische Herrschaft über ein arabisches Land ausgeübt hatten. Daraus folgte ein zwar weniger offenkundiger, aber auf lange Sicht weit wichtigerer Unterschied. Von Ausnahmen abgesehen, hatten sich die Amerikaner im allgemeinen nicht jenes Herrschaftsgebaren angewöhnt, das die Beziehungen zwischen den Briten und Franzosen einerseits und den Völkern ihrer ehemaligen Besitzungen andererseits immer trübte und in gewissem Umfang auch heute noch trübt. Dieser Umstand versetzte die Amerikaner in die Lage, zu den Menschen im Mittleren Osten informelle, gleichberechtigte und persönliche Beziehungen herzustellen, was den Europäern bis heute nur selten gelingt. (Fs)

221c Die amerikanische Alltagskultur hat die Gesellschaft des Mittleren Ostens binnen kurzer Zeit viel tiefer durchdrungen, als das den elitären Kulturen Englands und Frankreichs jemals möglich war. Die vielen Menschen aus dem Mittleren Osten, die in Amerika eingewandert sind, verstärken diese Tendenz noch. Es gibt zwar inzwischen unzählige Briten südasiatischer und Franzosen nordafrikanischer Herkunft, aber es wird möglicherweise noch sehr lange dauern, bis sie sich so integriert und anerkannt fühlen, wie es die Neuamerikaner aus dem Mittleren Osten schon heute tun. In der amerikanischen Politik sind sie bereits jetzt ein gewichtiger Faktor, und es ist gut möglich, daß sie einmal eine wichtige Rolle in der politischen Entwicklung ihrer Herkunftsländer spielen werden. (Fs)

221d Gerade diese Universalität der amerikanischen Kultur, die auf die einen so assimilierend und anziehend wirkt, löst bei den selbsternannten Hütern des reinen und unverfälschten Islam Angst und Haß aus. Menschen ihrer Denkart sehen im Amerikanismus eine so tödliche Gefahr für die alten Werte, die sie in Ehren halten und durch die sie Macht und Einfluß besitzen, wie sie noch von keiner anderen Kultur ausging. Die letzte Koransure, die zusammen mit der ersten zu den bekanntesten und meist zitierten Suren gehört, verlangt von den Gläubigen, bei Gott vor dem "Verderb, den einem der heimtückische Verführer einflüstert", Zuflucht zu suchen. Der Satan des Koran ist der Gegner, der Betrüger, vor allem jedoch der Aufwiegler und Anstifter, der die Menschheit vom wahren Glauben wegzulocken sucht. Gewiß war es das, was Khomeini im Sinn hatte, als er die Vereinigten Staaten den Großen Satan nannte. Natürlich dachte er an den Satan als Feind, aber er meinte ganz konkret den Verführer und Versucher, und das wird auch seinem Volk eingeleuchtet haben. (Fs)

222a Heutzutage, wo Unzufriedenheit und Enttäuschung, Wut und Frustration herrschen, haben die Vermächtnisse des 19. und 20. Jahrhunderts, wie der Nationalismus, der Sozialismus und der Nationalsozialismus, für den Mittleren Osten viel von ihrer Anziehungskraft verloren. Dort berufen sich nur noch die Befürworter der Demokratie und die islamischen Fundamentalisten auf etwas, das mehr ist als Loyalität gegenüber einer Person oder Sekte. Beide können begrenzte Erfolge vorweisen, teils, indem sie bestehende Regime quasi unterwandert, öfter jedoch, indem sie diese Regime vorab zu einigen Konzessionen genötigt haben. Diese Strategien sind in der Regel nur bezüglich der traditionellen autoritären Regime erfolgreich, die den Anhängern der Demokratie oder den Fundamentalisten oder beiden mit einigen symbolischen Gesten entgegenkommen. Selbst die extremen Diktaturen, die das Modell der liberalen Demokratie gänzlich ablehnen, finden sich, wenn sie in Not geraten, zu einem Versöhnungsangebot an die Fundamentalisten bereit oder machen sich islamische Gefühle zunutze. (Fs)

222b Ein gutes Beispiel dafür ist, was sich während des Golfkriegs abspielte. Damals geschah es, daß der säkularistische, sozialistische und nationalistische Diktator des Irak, der sich eben noch der Region und der ganzen Welt als Verteidiger des säkularen Modernismus gegen die religiösen Fanatiker Irans empfohlen hatte, im Augenblick der Krise die Fahne des Islam hißte und den dschihad gegen die Ungläubigen ausrief. Seine Kehrtwende stieß zwar nicht bei allen Muslimen auf Zustimmung, fand jedoch weithin ein positives Echo. Bestimmt ließen sich nur wenige muslimische Fundamentalisten von dem Aufruf täuschen oder machten sich irgendeine Illusion darüber, was Saddam Hussein von ihnen und ihrer Sache wirklich denkt. Trotzdem hielten sich viele anscheinend an die alte Maxime, daß der schlimmste Muslim immer noch besser ist als der beste Ungläubige. (Fs)

223a Wenn die Ausrufung des heiligen Krieges auch ein positives Echo erhielt, so gab es doch keine ungeteilte Zustimmung. In den arabischen Ländern und besonders in Diktaturen wie dem Irak existiert eine erkleckliche und weiter wachsende Zahl von Menschen, die in der Demokratie die größte Hoffnung für ihr Land sehen und häufig mit beträchtlichem Mut zum persönlichen Risiko für eine Durchsetzung der Demokratie kämpfen. Aber alle, die Betroffenen in der Region wie die Beobachter draußen, stellen sich die Frage, ob eine Demokratie, die aus der Sicht der demokratischen Welt diese Bezeichnung verdient, im Mittleren Osten und anderen islamischen Ländern überhaupt funktionieren kann. (Fs)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Islam - Demokratie, liberale Gesellschaft; liberale Demokratie: Kind des Westens

Kurzinhalt: Die Frage lautet also: Sind die islamischen Völker in der Lage, ein politisches System zu entwickeln, das sich einerseits mit ihrer eigenen historischen, kulturellen und religiösen Tradition vereinbaren läßt, das jedoch andererseits dem Volk ...

Textausschnitt: 223b Rein äußerlich hat sich die Demokratie überall im Mittleren Orient durchgesetzt. Von der Arabischen Halbinsel abgesehen, besitzt praktisch jedes muslimische Land, wie immer seine Regierung sonst aussehen mag, eine Art Verfassung und eine Art Parlament, das durch den einen oder anderen Wahlmodus gebildet wird. Mit der Verfassung und ihrem Drumherum ist es wie mit einem perfekt geschneiderten Anzug nach westlichem Muster: Ohne sie kann sich kein moderner Staat, der etwas auf sich hält, mehr blicken lassen. (Fs)

223c Manchmal sind die Parlamente bloß groteske Karikaturen eines frei gewählten Abgeordnetenhauses. Dann ähneln sie weniger irgendeiner Form von liberaler Demokratie als den Ansammlungen von Jasagern, die einstmals die Hauptstädte der europäischen Achsenmächte verschandelten. In anderen Fällen besteht innerhalb fest umrissener Grenzen eine gewisse Freiheit der öffentlichen Rede. Aber auch sie ist weniger ein Bestandteil des politischen Entscheidungsprozesses, geschweige denn ein Mittel, um die Regierung zu kontrollieren oder abzulösen, als ein harmloses Ventil für Unzufriedenheit und Meinungsverschiedenheiten. (Fs)

223d Im Zentrum der heutigen Diskussion über die Demokratie in der islamischen Welt steht die bohrende Frage, ob sich die liberale Demokratie überhaupt mit dem Islam vereinbaren läßt. Vielleicht kann man von autokratischen Regimen nicht mehr verlangen, als daß sie wenigstens in gewissem Umfang die Gesetze achten und Kritik ertragen. In der demokratischen Welt gibt es viele verschiedene politische Systeme, wie Republiken und Monarchien, Präsidentschaftssysteme und parlamentarische Demokratien, Staaten mit oder ohne Staatskirche und schließlich eine Vielzahl von Wahlsystemen. Allen gemeinsam sind jedoch bestimmte Grundvoraussetzungen und Verfahrensweisen, die den Unterschied zwischen demokratischen und undemokratischen Regimen ausmachen. Die Frage lautet also: Sind die islamischen Völker in der Lage, ein politisches System zu entwickeln, das sich einerseits mit ihrer eigenen historischen, kulturellen und religiösen Tradition vereinbaren läßt, das jedoch andererseits dem Volk individuelle Rechte und die Einhaltung der Menschenrechte garantiert, so wie diese Begriffe in den freiheitlichen Demokratien des Westens verstanden werden? (Fs) (notabene)

224a Niemand, am wenigsten die islamischen Fundamentalisten selbst, wird behaupten wollen, daß ihr Credo und ihr politisches Programm mit den Prinzipien der liberalen Demokratie vereinbar seien. Aber der islamische Fundamentalismus ist nicht der ganze Islam, sondern nur eine unter vielen islamischen Strömungen. Seitdem vor vierzehnhundert Jahren der Prophet seine Mission verkündete, hat es eine Reihe von Bewegungen gegeben, die ebenso fanatisch, intolerant, aggressiv und gewalttätig waren wie der islamische Fundamentalismus. Sie entstanden, wenn Personen mit einem religiösen Charisma, die jedoch Außenseiter waren, eine Anhängerschaft um sich scharten, indem sie die Verdorbenheit der muslimischen Herrscher und einflußreichen Notabein ihrer Zeit anprangerten und sie für die Verfälschung der Religion und den Niedergang der Gesellschaft verantwortlich machten. Manchmal gelang es der herrschenden Elite, solche Bewegungen aufzuhalten und niederzuschlagen. Von Zeit zu Zeit gelangten solche Bewegungen jedoch auch an die Macht und bedienten sich ihrer, um den heiligen Krieg zu führen, zuerst gegen die vermeintlichen Abtrünnigen und Apostaten im eigenen Land und dann gegen die übrigen Feinde der wahren Religion. Wenn diese Regime nicht wieder abgesetzt wurden, entwickelten sie meist schon nach ziemlich kurzer Zeit Eigenschaften, die kaum angenehmer, in mancher Hinsicht sogar unangenehmer als diejenigen ihrer Vorgänger waren. Etwas in dieser Art läßt sich bereits jetzt in der Islamischen Republik Iran beobachten. (Fs)

225a Alle derartigen Bewegungen in der islamischen Geschichte hatten ihren je eigenen, unverwechselbaren Charakter und ihre eigene Ideologie, die allerdings normalerweise viel mehr von nichtislamischen Gedanken und Gewohnheiten beeinflußt war, als ihren Anhängern lieb sein konnte. Das trifft mit Sicherheit auch auf den heutigen Fundamentalismus zu; selbst wenn er den reinen Islam für sich in Anspruch nimmt, verdankt er uneingestandenermaßen dem christlichen Klerikalismus, der hierarchischen Kirchenverfassung und den mitteleuropäischen absolutistischen Philosophien Wesentliches. Niemand kann über Erfolg oder Mißerfolg der fundamentalistischen Bewegungen Voraussagen treffen. Niemand weiß, ob sie die Macht ergreifen, und wenn ja, in welchen Ländern, wie sie sich dieser Macht bedienen und wie lange sie sich an der Macht halten können. Unzweifelhaft ist nur, daß es mit ihrer ideologischen Reinheit bald vorbei sein wird, wenn sie erst einmal Machtpositionen eingenommen haben. (Fs) (notabene)

225b Die Frage kann also nicht lauten, ob sich die liberale Demokratie mit dem islamischen Fundamentalismus verträgt, denn das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Zur Debatte steht vielmehr, ob sich die liberale Demokratie überhaupt mit dem Islam vereinbaren läßt oder, anders gesagt, ob sie sich in einer Gesellschaft verwirklichen kann, die von islamischen Überzeugungen und Grundsätzen geleitet wird und von der islamischen Lebenspraxis und Tradition geformt ist. Natürlich ist es zuerst und vielleicht ausschließlich die Sache der Muslime, die ursprüngliche, unverfälschte Botschaft ihres Glaubens im einen oder anderen Sinn zu deuten. Darüber hinaus müssen sie entscheiden, was mit dem reichen Erbe geschehen soll, das sich in vierzehnhundert Jahren islamischer Geschichte und Kultur angesammelt hat. Auf diese Fragen geben die Muslime unterschiedliche Antworten, aber wichtig ist vor allem, welche Antwort sich am Ende durchsetzt. (Fs)

225c Ihrem Ursprung nach ist die liberale Demokratie ein Kind des Westens, auch wenn sie weit herumgekommen ist und dabei ihr Gesicht verändert hat. Geprägt wurde sie von tausend Jahren europäischer Geschichte und darüber hinaus von dem doppelten Erbe, das Europa zugefallen war, der jüdisch-christlichen Religion und Ethik sowie der griechisch-römischen Tradition von Staatskunst und Recht. Einzig die europäische Kulturtradition brachte ein politisches System wie die liberale Demokratie hervor, und es bleibt abzuwarten, ob sie sich lange am Leben erhalten könnte, wenn sie in eine andere Kultur verpflanzt und dieser angepaßt würde. (Fs)

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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Islam, Demokratie; Körperschaft, juristische Person (römisches Recht); waqf; islamischer Staat, Stadt: an Personen gebunden; Legislative, Repräsentationsprinzip; Theokratie im wörtlichen Sinn

Kurzinhalt: Es gibt einige Anzeichen dafür, daß im vorislamischen Arabien solche Körperschaften existierten. Mit dem Aufkommen des Islam verschwanden sie jedoch, und vom Frühislam bis zur Übernahme westlicher Institutionen gab es in der islamischen Welt keine ...

Textausschnitt: 226a Unter historischen Gesichtspunkten kann man zu der Ansicht kommen, daß von allen außerwestlichen Zivilisationen der Islam am besten für die liberale Demokratie geeignet ist. Seine Geschichte, Kultur und Religion stehen dem Christentum am nächsten, da er ebenfalls, wenn auch nicht in vollem Umfang, aus dem Fundus des jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Erbes schöpft, das bei der Entstehung unserer modernen Zivilisation Pate stand. Unter politischen Aspekten scheint es allerdings, als hätte die liberale Demokratie im Islam die schlechtesten Aussichten. Von den 46 unabhängigen Staaten, die zusammen die internationale Islamische Konferenz bilden, ist eigentlich nur die Türkische Republik eine Demokratie im westlichen Sinn, und selbst dort ist der Weg zur Freiheit voller Stolpersteine. Von den übrigen Staaten haben es einige noch nie mit der Demokratie versucht, und einige andere sind mit ihrem Versuch gescheitert. Neueren Datums sind die Versuche in einigen wenigen Staaten, mehrere Gruppen an der Macht zu beteiligen, allerdings ohne ein wirklich freies Spiel der Kräfte zuzulassen. (Fs)

226b In der islamischen Welt und außerhalb wird in jüngster Zeit häufiger die Frage erörtert, welche Elemente in der islamischen Vergangenheit und Gegenwart für die Entwicklung der liberalen Demokratie günstig oder ungünstig sind. Abgesehen von der polemischen und apologetischen Behauptung, daß nicht der westliche Liberalismus, sondern der Islam das wahre demokratische System sei bzw. daß der westliche Liberalismus auf einen islamischen Ursprung zurückgehe, hat sich die Diskussion auf einige wenige Punkte konzentriert. (Fs)

226c Jede Zivilisation hat ihre eigenen Vorstellungen vom idealen Staat und schafft sich Institutionen, die mehr oder weniger erfolgreich versuchen, die betreffenden Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Seit den Tagen der klassischen Antike gehörte zu diesen Institutionen gewöhnlich auch eine Ratsversammlung oder ein ähnliches Gremium. Es wurde geschaffen, damit Männer, die über die erforderliche Eignung verfügten, auf die Bildung, die Politik und gegebenenfalls auch auf die Absetzung der Regierung Einfluß nehmen konnten. Das Gemeinwesen ließ sich unterschiedlich organisieren, und dasselbe trifft auf die Eignung zu, die ein Mitglied des Gemeinwesens zur Teilhabe an seiner Führung berechtigte. Wie in der griechischen Polis war die Teilhabe manchmal direkt und persönlich, häufiger jedoch wählten die geeigneten Personen nach einem Verfahren, das die Zustimmung aller gefunden hatte und in regelmäßigen Abständen wiederholt wurde, aus ihrer Mitte eine begrenzte Anzahl von Repräsentanten. Es gab verschiedene Formen der Ratsversammlung, die von unterschiedlichen Gremien gewählt wurden und unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen, so etwa, wenn politische Entscheidungen zu treffen, Gesetze zu erlassen und Steuern zu erheben waren. (Fs)

227a Daß diese Gremien in der Praxis funktionierten, verdankten sie einem Grundsatz, der im Römischen Recht verankert war und auch in die späteren, von ihm abgeleiteten Rechtssysteme einging. Dabei handelt es sich um die Konstruktion der juristischen Person, d. h. daß eine Körperschaft vor dem Gesetz als Person gilt und infolgedessen Eigentum besitzen, kaufen oder verkaufen, Verträge oder Verbindlichkeiten eingehen und in Zivil- oder Strafrechtsverfahren als Kläger oder Beklagter auftreten kann. Es gibt einige Anzeichen dafür, daß im vorislamischen Arabien solche Körperschaften existierten. Mit dem Aufkommen des Islam verschwanden sie jedoch, und vom Frühislam bis zur Übernahme westlicher Institutionen gab es in der islamischen Welt keine Einrichtung, die mit der griechischen Bule, dem römischen Senat, dem jüdischen Sanhedrin, bis hin zum isländischen Althing, dem angelsächsischen Witenagemot oder einem der zahllosen Parlamente, Ratsversammlungen, Konzile, Synoden und Reichstage in der christlichen Welt vergleichbar wäre. (Fs) (notabene)
227b Die Bildung solcher Gremien bei den muslimischen Völkern wurde durch den Umstand behindert, daß das islamische Recht keine juristischen Personen anerkennt. Zwar sind Ansätze dazu vorhanden: Das islamische Handelsrecht erkennt verschiedene Arten der Partnerschaft zum Zweck begrenzter geschäftlicher Abmachungen an, und wenn ein waqf, eine fromme Stiftung, erst eingerichtet ist, dann besteht er unabhängig von seinem Gründer und kann im Prinzip unbegrenzt Eigentum besitzen, erwerben und veräußern. Aber diese Ansätze blieben immer an ihren ursprünglichen Zweck gebunden und erreichten daher auch niemals jenen Grad von Allgemeinheit, der für die staatlichen, kirchlichen und privaten Körperschaften des Westens kennzeichnend ist. (Fs) (notabene)

228a Das Fehlen von Körperschaften erklärt, warum der muslimische Staat in fast jeder Hinsicht an wirkliche Personen gebunden ist. Auch wenn es manchmal anders aussieht, gibt es eigentlich keinen Staat, sondern nur einen Herrscher, auch keinen Gerichtshof, sondern nur einen Richter, nicht einmal eine Stadt, die über bestimmte Hoheitsrechte verfügte, ein bestimmtes Areal beanspruchte und bestimmte Funktionen ausübte. Die islamische Stadt ist eine Ansammlung von Nachbarschaftsverbänden, die sich nach Kriterien wie Familie, Stamm, Ethnie oder Religionsgemeinschaft definieren, und wird von Beamten verwaltet, die meist Militärangehörige sind und von der obersten Staatsmacht entsandt werden. Sogar der berühmte großherrscherliche osmanische Diwan, der divan-i hümayun, der sich in der Schilderung vieler westlicher Besucher des Osmanischen Reiches wie eine Ratsversammlung ausnimmt, war eher eine Versammlung hoher Beamter aus Politik und Verwaltung, dem Rechts- und Finanzwesen sowie dem Militär, die an bestimmten Wochentagen stattfand und anfangs vom Sultan persönlich, später von seinem Großwesir geleitet wurde. Die anstehenden Fälle wurden dem jeweils zuständigen Mitglied des Diwan vorgelegt, der eine Empfehlung aussprechen konnte, aber letzten Endes trugen der Sultan oder der Großwesir die Verantwortung und hatten daher auch das letzte Wort. (Fs) (notabene)

228b Eine Hauptaufgabe der oben beschriebenen westlichen Gremien war die Gesetzgebung, deren Bedeutung mit den Jahrhunderten immer mehr zunahm. Im islamischen Staat gibt es nach muslimischer Lehre jedoch keine gesetzgeberische Tätigkeit, und so besteht auch kein Bedarf an legislativen Institutionen. Im Prinzip war der islamische Staat eine Theokratie, aber nicht im westlichen Sinne. Er war kein von Kirche und Geistlichkeit regierter Staat, denn beide gab es nicht in der islamischen Welt. Der islamische Staat war vielmehr eine Theokratie im wortwörtlichen Sinn, ein Gemeinwesen, das von Gott regiert wird. Für einen gläubigen Muslim kann alleine Gott Autorität verleihen, und der Herrscher verdankt seine Macht weder seinem Volk noch seinen Vorfahren, sondern Gott und dem heiligen Gesetz. In Wirklichkeit wurde ungeachtet dieses Glaubensgrundsatzes die dynamische Erbfolge zur Regel, aber sie wurde niemals vom heiligen Gesetz sanktioniert. In Wirklichkeit erließen Herrscher auch Vorschriften, aber diese galten zumindest theoretisch nur als Ausführung und Darstellung des geoffenbarten Gottesgesetzes. Im Grunde war der Staat Gottes Staat, sein Volk war Gottes Volk, sein Gesetz Gottes Gesetz, seine Armee Gottes Armee und sein Feind natürlich auch Gottes Feind. (Fs) (notabene)

229a Da die islamische Welt keine Legislative oder eine andere Art der Körperschaft besaß, hatte sie keinen Anlaß, sich auf das Repräsentationsprinzip zu berufen oder Verfahren für die Auswahl von Repräsentanten zu entwickeln. Auch Abstimmungen fanden nicht statt, und mit Ausnahme des Konsensus gab es keine Möglichkeit, eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen und geltend zu machen. Kernprobleme der politischen Entwicklung des Westens, wie die Frage nach dem Wahlmodus oder nach der Festlegung und Ausdehnung des Wahlrechts, waren für die politische Entwicklung des Islam unerheblich. (Fs) (notabene) (notabene)
229b Angesichts dieser Unterschiede kann es n
icht verwundern, daß die Geschichte der islamischen Staaten eine nahezu ununterbrochene Folge von Autokratien ist. Daß einem legitimen muslimischen Herrscher Gehorsam gebührt, ist ein religiöses Gebot, und infolgedessen ist Ungehorsam nicht nur ein Verbrechen, sondern auch eine Sünde. (Fs)

229c Weit davon entfernt, der Autokratie den Stachel zu nehmen, leistete ihr die Modernisierung im 19. und 20.Jahrhundert Vorschub. Zum einen gaben die moderne Technologie, die neuen Kommunikationsmittel und die verbesserten Waffensysteme dem Herrscher zusätzliche Mittel in die Hand, den Uberwachungs-, Propaganda- und Unterdrük-kungsapparat auszubauen. Zum anderen führte die sozio-ökonomische Modernisierung zu einer Schwächung oder sogar Ausschaltung der religiösen Autorität, die in früheren Zeiten als Vermittlungsinstanz aufgetreten war und der Autokratie mit unterschiedlichen Mitteln Grenzen gesetzt hatte. Kein arabischer Kalif oder türkischer Sultan hätte sich in der Vergangenheit erlauben können, eine solche omni-präsente Willkürherrschaft auszuüben wie heute schon der mickrigste Diktator. (Fs)

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