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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Neuzeit - Person; Objektivierung, Dämonisierung der Macht; Kultur

Kurzinhalt: Mehr: die Entwicklung macht den Eindruck, als ob die Macht sich objektiviere; als ob sie im Grunde überhaupt nicht mehr vom Menschen innegehabt und gebraucht werde, sondern ... Viele ahnen, daß »Kultur« etwas anderes ist, als die Neuzeit gemeint hat: ...

Textausschnitt: 88a Den Menschen der neuzeitlichen Anschauung gibt es nicht. Immerfort macht sie den Versuch, ihn in Kategorien einzuschließen, in die er nicht gehört: mechanische, biologische, psychologische, soziologische - alles Variationen des Grundwillens, aus ihm ein Wesen zu machen, das »Natur« ist, und sei es Geistnatur. Nur eines sieht sie nicht, was er doch zuerst und unbedingt ist: endliche Person, die als solche existiert, auch wenn sie es nicht will, auch wenn sie ihr eigenes Wesen leugnet. Angerufen von Gott, in Begegnung mit den Dingen und mit den anderen Personen. Person, welche die herrliche und furchtbare Freiheit hat, die Welt bewahren oder zerstören, ja sich selbst behaupten und erfüllen, oder preisgeben und zugrunde richten zu können. Und letzteres nicht als notwendiges Element in einem überpersönlichen Prozeß, sondern als etwas wirklich Negatives, vermeidbar und zutiefst sinnlos. (Fs)

88b Wäre die Kultur, als was die Neuzeit sie gesehen hat, dann hätte sie den Menschen nie in einer solchen Weise verfehlen, ihn nie derart aus dem Blick und den Ordnungen verlieren können, wie sie es getan hat. Das gleiche zeigt sich an der immer größer und dringlicher werdenden Gefahr, die sich aus der Kultur selbst erhebt - sowohl für sie, wie auch für den Menschen, der sie trägt. (Fs)

89a Diese Gefahr kommt aus verschiedenen Quellen: besonders aber aus dem, was die Grundlage alles Kulturschaffens bildet, nämlich der Macht über das Seiende. Der neuzeitliche Mensch ist der Meinung, jede Zunahme an Macht sei einfachhin »Fortschritt«; Erhöhung von Sicherheit, Nutzen, Wohlfahrt, Lebenskraft, Wertsättigung. In Wahrheit ist die Macht etwas durchaus Mehrdeutiges; kann Gutes wirken wie Böses, aufbauen wie zerstören. Zu was sie tatsächlich wird, hängt davon ab, wie die Gesinnung ist, die sie regiert, und der Zweck, zu dem sie gebraucht wird. Bei genauer Prüfung zeigt sich aber, daß im Laufe der Neuzeit zwar die Macht über das Seiende, Dinge wie Menschen, in einem immer ungeheuerlicheren Maße ansteigt, der Ernst der Verantwortlichkeit aber, die Klarheit des Gewissens, die Kraft des Charakters mit diesem Anstieg durchaus nicht Schritt halten. Es zeigt sich, daß der moderne Mensch nicht zum richtigen Gebrauch der Macht erzogen wird; ja daß weithin sogar das Bewußtsein des Problems fehlt, oder sich doch auf gewisse äußere Gefahren beschränkt, wie sie im Kriege deutlich geworden sind und durch die Publizistik erörtert werden. (Fs)

89b Das bedeutet, daß die Möglichkeit, der Mensch werde die Macht falsch gebrauchen, beständig wächst. Da es ein wirkliches und wirksames Ethos des Machtgebrauchs noch nicht gibt, wird die Neigung immer größer, diesen Gebrauch als einen Naturvorgang anzusehen, für welchen keine Freiheitsnormen, sondern nur angebliche Notwendigkeiten des Nutzens und der Sicherheit bestehen. Mehr: die Entwicklung macht den Eindruck, als ob die Macht sich objektiviere; als ob sie im Grunde überhaupt nicht mehr vom Menschen innegehabt und gebraucht werde, sondern sich selbständig aus der Logik der wissenschaftlichen Fragestellungen, der technischen Probleme, der politischen Spannungen weiterentfalte und zur Aktion bestimme. (Fs) (notabene)

90a Ja, das bedeutet, daß die Macht sich dämonisiert. Das Wort ist zerredet und zerschrieben, wie alle für das Dasein des Menschen wichtigen Worte; so muß man sich, bevor man es braucht, auf seinen Ernst besinnen. Es gibt kein Seiendes, das herrenlos wäre. Sofern es Natur ist - das Wort im Sinn der nicht-personalen Schöpfung gemeint - gehört es Gott, dessen Wille sich in den Gesetzen ausdrückt, nach welchen diese Natur besteht. Sofern es im Freiheitsbereich des Menschen erscheint, muß es einem Menschen gehören und von ihm verantwortet werden. Geschieht das nicht, dann wird es nicht wieder zu »Natur« - fahrlässige Annahme, mit welcher, mehr oder weniger bewußt, die Neuzeit sich tröstet; es bleibt nicht einfach disponibel, auf Vorrat gleichsam, sondern etwas Anonymes ergreift von ihm Besitz. Drücken wir es psychologisch aus: es wird vom Unbewußtsein her regiert, und das ist etwas Chaotisches, in welchem die Möglichkeiten des Zerstörens mindestens ebenso stark sind wie die des Heilens und Aufbauens. Das ist aber noch nicht das Letzte. Von der Macht des Menschen, die nicht durch sein Gewissen verantwortet wird, ergreifen die Dämonen Besitz. Und mit dem Wort meinen wir kein Requisit der augenblicklichen Journalistik, sondern genau das, was die Offenbarung meint: geistige Wesen, die von Gott gut geschaffen sind, aber von Ihm abgefallen; die sich für das Böse entschieden haben und nun entschlossen sind, Seine Schöpfung zu verderben. Diese Dämonen sind es, welche dann die Macht des Menschen regieren: durch seine scheinbar natürlichen, in Wahrheit so widersprüchigen Instinkte; durch seine scheinbar folgerichtige, in Wahrheit so leicht beeinflußbare Logik; durch seine unter aller Gewalttätigkeit so hilflose Selbstsucht. Wenn man ohne rationalistische und naturalistische Vorentscheidungen das Geschehen der letzten Jahre betrachtet, dann, reden seine Art des Verhaltens und seine geistig-seelische Stimmung deutlich genug. (Fs) (notabene)

91a Das alles hat die Neuzeit vergessen, weil der Empörungsglaube des Autonomismus sie blind gemacht hat. Sie hat gemeint, der Mensch könne einfachhin Macht haben und in deren Gebrauch sicher sein - durch irgendwelche Logik der Dinge, die sich im Bereich seiner Freiheit ebenso zuverlässig benehmen müßten, wie in dem der Natur. So ist es aber nicht. Sobald eine Energie, ein Material, eine Struktur, was es auch sei, in den Bereich des Menschen gelangt, bekommt es darin einen neuen Charakter. Es ist nicht mehr einfach Natur, sondern wird zu einem Element der menschlichen Umwelt. Es gewinnt Anteil an der Freiheit, aber auch an der Ungeschütztheit des Menschen, und wird dadurch selbst vieldeutig, Träger von Möglichkeiten positiver wie negativer Art. Die gleiche chemische Substanz ist im Organismus etwas anderes als im Mineral, weil der Organismus sie in eine neue Struktur und Funktionsform aufnimmt. Es wäre nicht wissenschaftlich, sondern primitiv gedacht, wenn man sagte, Sauerstoff sei Sauerstoff. Abstrakt genommen ist es so, konkret aber nicht, denn zur konkreten Bestimmung des Sauerstoffs gehört der Zusammenhang, in dem er steht. Ein Organ ist im Körper des Tieres etwas anderes als im Körper des Menschen, denn da gelangt es in die Lebensformen des Geistes, seiner Affekte, seiner rationalen und ethischen Erlebnisse, und gewinnt so neue Möglichkeiten der Leistung wie der Zerstörung; wir brauchen nur zu vergleichen, was »dem Herzen« in einem Menschen mit dem, was ihm in einem Tier zugemutet wird. Das nicht zu sehen, wäre materialistische Primitivität. Die nämliche Primitivität kehrt im neuzeitlichen Optimismus wieder, der meint, »Kultur« sei etwas in sich Gesichertes. In Wahrheit bedeutet sie, daß die Naturwirklichkeiten in den Bereich der Freiheit treten und dort eine Potentialität neuer Art erhalten. An ihnen werden ganz neue Wirkungsmöglichkeiten freigesetzt - ebendadurch werden sie aber auch gefährdet und richten Unheil an, wenn sie nicht von Menschen in die nun geforderte Ordnung, nämlich die sittlich-personale, gebracht werden. Hätten sonst mitten in der europäischen Kultur Dinge geschehen können, wie sie in den letzten Jahrzehnten geschehen sind? All das Furchtbare ist doch nicht vom Himmel gefallen - sagen wir richtiger, aus der Hölle heraufgestiegen! All die unfaßlichen Systeme der Entehrung und Zerstörung sind doch nicht ersonnen worden, nachdem vorher alles in Ordnung war. Ungeheuerlichkeiten von solcher Bewußtheit gehen doch nicht nur auf Rechnung entarteter Einzelner, oder kleiner Gruppen, sondern kommen aus Verstörungen und Vergiftungen, die seit langem am Werk sind. Was sittliche Norm, Verantwortung, Ehre, Wachheit des Gewissens heißt, verschwindet nicht in solcher Weise aus einem Gesamtleben, wenn es nicht schon längst entwertet war. Das könnte aber nicht geschehen, wenn Kultur wäre, was die Neuzeit in ihr sieht. (Fs)

93a Sie tut, als ob der Weltstoff, sobald er in den Bereich der Freiheit kommt, ebenso gesichert bliebe wie in dem der Natur. Als ob eine Natur zweiten Grades entstünde, auf die man sich, wenn auch in komplizierterer und labilerer Weise, doch ebenso verlassen könne, wie auf die erste. Dadurch entsteht eine Fahrlässigkeit, ja eine Gewissenlosigkeit in der Handhabung des Seienden, welche dem Betrachtenden immer unbegreiflicher wird, je genauer er den Gang des Kulturgeschehens untersucht. Und daraus erhebt sich eine immer größer werdende Gefahr, materiell wie geistig, für den Menschen wie für sein Werk, für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Diese Erkenntnis bricht sich allmählich Bahn - ob rasch genug, um ein die ganze Erde treffendes, weit über einen Krieg hinausgehendes Unheil aufzuhalten, ist eine andere Frage. Jedenfalls ist der bourgeoise Aberglaube an die innere Zuverlässigkeit des Fortschritts erschüttert. Viele ahnen, daß »Kultur« etwas anderes ist, als die Neuzeit gemeint hat: keine schöne Sicherheit, sondern ein Wagnis auf Leben und Tod, von dem niemand weiß, wie es ausgehen wird. (Fs)

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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Neuzeit; Freiheit - Macht (neuer Abschnitt der Geschichte);

Kurzinhalt: Das Kernproblem, um das die künftige Kulturarbeit kreisen, und von dessen Lösung alles, nicht nur Wohlfahrt oder Not, sondern Leben oder Untergang abhängen wird, ist die Macht.

Textausschnitt: 96a Der Mensch ist frei und kann seine Macht brauchen, wie er will. Ebendarin aber liegt die Möglichkeit, sie falsch zu brauchen; falsch im Sinne des Bösen wie des Zerstörenden. Was garantiert den rechten Gebrauch? Nichts. Es gibt keine Garantie dafür, daß die Freiheit sich richtig entscheide. Was es geben kann, ist nur eine Wahrscheinlichkeit, und sie liegt darin, daß der gute Wille zur Gesinnung, zur Haltung, zum Charakter wird. Die vorurteilslose Prüfung muß aber - wir haben es bereits bemerkt - feststellen, daß eine Charakterbildung, welche den richtigen Gebrauch der Macht wahrscheinlich machte, fehlt. Der neuzeitliche Mensch ist auf den ungeheuren Aufstieg seiner Macht nicht vorbereitet. Es gibt noch keine richtig durchdachte und wirksam geprägte Ethik des Machtgebrauchs; noch weniger eine Erziehung dazu, weder einer Elite noch der Gesamtheit. (Fs)

96b Mit alledem hat die konstitutive Gefahr, die in der Freiheit liegt, eine dringliche Form angenommen. Wissenschaft und Technik haben die Energien der Natur wie des Menschen selbst derart zur Verfügung gestellt, daß Zerstörungen schlechthin unabsehbaren Ausmaßes, akute wie chronische, eintreten können. Mit genauestem Recht kann man sagen, daß von jetzt an ein neuer Abschnitt der Geschichte beginnt. Von jetzt an und für immer wird der Mensch am Rande einer sein ganzes Dasein betreffenden, immer stärker anwachsenden Gefahr leben. Nimmt man dann noch die oben beschriebene, einschläfernde Vorstellung einer in sich gesicherten und Sicherheit schaffenden Kultur hinzu, so sieht man, wie wenig die heutige Menschheit vorbereitet ist, das Erbe des bisherigen Machterwerbs zu verwalten. Jederzeit kann die Situation sie überrennen. Und nicht nur die schlaffen Elemente in ihr, sondern auch, nein gerade die aktiven, die Eroberer, Organisatoren, Führer. Das erste ungeheure Beispiel dafür haben wir in den beiden vergangenen Jahrzehnten erlebt. Die Dinge sehen aber nicht so aus, als ob es wirklich und von hinreichend Vielen verstanden worden sei. Immer wieder gewinnt man den Eindruck, als ob das Mittel, mit welchem die flutartig ansteigenden Probleme bewältigt werden, im Letzten doch die Gewalt sei. Das hieße aber, daß der falsche Gebrauch der Macht zur Regel wird. (Fs)

97a Das Kernproblem, um das die künftige Kulturarbeit kreisen, und von dessen Lösung alles, nicht nur Wohlfahrt oder Not, sondern Leben oder Untergang abhängen wird, ist die Macht. Nicht ihre Steigerung, die geht von selbst vor sich; wohl aber ihre Bändigung, ihr rechter Gebrauch. Die Wildnis in ihrer ersten Form ist bezwungen: die unmittelbare Natur gehorcht. Sie kehrt aber innerhalb der Kultur selbst wieder, und ihr Element ist eben das, was die erste Wildnis bezwungen hat: die Macht selbst. In dieser zweiten Wildnis haben, sich alle Abgründe der Urzeit wieder geöffnet. Alles wuchernde und erwürgende Wachstum der Wälder dringt wieder vor. Alle Ungeheuer der Einöden, alle Schrecken der Finsternis sind wieder da. Der Mensch steht wieder vor dem Chaos; und das ist um so furchtbarer, als die meisten es gar nicht sehen, weil überall wissenschaftlich gebildete Leute reden, Maschinen laufen und Behörden funktionieren. (Fs)

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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Kirche der Zukunft: Wahrheit, Tapferkeit, Askese

Kurzinhalt: Die zweite Tugend wird die Tapferkeit sein ... und hat, wie alle wirklich große Tapferkeit, die Vielen gegen sich, die Öffentlichkeit, die in Parolen und Organisationen verdichtete Unwahrheit.

Textausschnitt: 98a Vielleicht ist durch das Gesagte deutlicher geworden, warum wir erwogen haben, ob wir nicht die Bezeichnung der »nicht-kulturellen Kultur« anwenden sollten. Wenn das, was der Mensch der vergangenen Jahrhunderte hervorbrachte und worin er wohnte, Kultur war, dann ist das, womit wir es heute zu tun haben, tatsächlich etwas anderes. Der existentielle Raum, in dem es steht, ist ein anderer; anders ist sein Charakter und anders, was von ihm abhängt. (Fs)

Die tragende Tugend wird vor allem der Ernst sein, der die Wahrheit will. Vielleicht dürfen wir in der Sachlichkeit, die ja in vielem zu spüren ist, eine Vorbereitung auf ihn sehen. Dieser Ernst will wissen, worum es wirklich geht, durch alles Gerede von Fortschritt und Naturerschließung hindurch, und übernimmt die Verantwortung, welche die neue Situation ihm auferlegt. (Fs)

98b Die zweite Tugend wird die Tapferkeit sein. Eine unpathetische, geistige, personale Tapferkeit, welche sich dem heraufdrohenden Chaos entgegenstellt. Sie muß reiner und stärker sein, als die vor Atombomben und Bakterienstreuern, denn sie hat den universellen Feind, das im Menschenwerk selbst aufsteigende Chaos zu bestehen - und hat, wie alle wirklich große Tapferkeit, die Vielen gegen sich, die Öffentlichkeit, die in Parolen und Organisationen verdichtete Unwahrheit. Und ein Drittes muß hinzukommen: die Askese. Für die Neuzeit war Askese etwas, vor dem ihr ganzes Gefühl zurückscheute; ein Inbegriff alles dessen, von dem sie sich lösen wollte. Ebendadurch ist sie aber innerlich eingeschlafen, sich selbst verfallen. Der Mensch muß lernen, durch Überwindung und Entsagung Herr über sich selbst zu werden - und dadurch auch Herr zu werden über seine eigene Macht. Die so gewonnene Freiheit wird den Ernst auf die wirklichen Entscheidungen richten, während wir heute eine schier metaphysische Gravität an Lächerlichkeiten gewandt sehen. Sie wird den bloßen Mut zur wirklichen Tapferkeit machen, und die Schein-Heroismen entlarven, in denen der heutige Mensch, von Schein-Absolutheiten gebannt, sich opfern läßt. Aus alledem muß schließlich eine geistige Regierungskunst hervorgehen, in welcher Macht über die Macht ausgeübt wird. Sie unterscheidet Recht und Unrecht, Ziel und Mittel. Sie findet das Maß und schafft in den Anstrengungen der Arbeit und des Kampfes Raum für den Menschen, daß er in Würde und Freude leben könne. Das erst wird die eigentliche Macht sein. (Fs)

99a Ich habe wohl deutlich machen können, daß hier kein Pessimismus verkündet werden soll. Besser gesagt, kein falscher Pessimismus, denn es gibt auch einen richtigen, und ohne ihn wird nichts Großes. Er ist die bittere Kraft, die das tapfere Herz und den schaffensfähigen Geist zum dauernden Werk befähigt. Dieser sollte allerdings vertreten - und es sollte auf die eine und eigentliche Entscheidung hingewiesen werden, die hinter den vielen Einzelentscheidungen liegt, wie sie sich überall aufdrängen. Ihre Möglichkeiten lauten: Untergang in einer inneren wie äußeren Zerstörung - oder aber eine neue Weltgestalt als Raum für eine ihres Sinnes bewußte und zukunftsfähige Menschlichkeit. (Fs)

100a Auf die Frage nach dem Wesen und dem Charakter dieser Weltgestalt soll hier nicht eingegangen werden. Wenn man die an vielen Stellen sich zeigenden Ansätze miteinander in Verbindung brächte; die Eigenart der werdenden Formen und Ordnungen untersuchte und sich bemühte, die wirkenden Motive und Haltungen zu verstehen, wäre wohl manches zu sagen. Es würde aber den Rahmen dieser kleinen Schrift überschreiten; so muß es für eine andere Gelegenheit zurückgestellt sein. (Fs)

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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Religiosität der kommenden Zeit; Gegensatz, Nachahmung: Kirche - Kultur; Abnahme der religiösen Empfänglichkeit; Offenbarung: Person - Kultur; deutsche Klassik (fehlende Wahrheitswurzel)

Kurzinhalt: Die Folge ist, daß auf der einen Seite ein von direkten christlichen Einflüssen abgelöstes autonomes Weltdasein entsteht: auf der anderen Seite eine Christlichkeit, die in eigentümlicherweise diese »Autonomie« nachahmt.

Textausschnitt: 100b Vom Dargelegten her öffnet sich auch die Möglichkeit, etwas über die Religiosität der kommenden Zeit zu sagen - mit all den Vorbehalten, welche die Situation einer solchen Aussage auferlegt. Blicken wir noch einmal zurück. (Fs)

100c Im Mittelalter war das Leben in all seinen Schichtungen und Verzweigungen religiös durchwirkt. Der christliche Glaube bildete die allgemein angenommene Wahrheit. Gesetzgebung, soziale Ordnung, öffentliches wie privates Ethos, philosophisches Denken, künstlerische Arbeit, geschichtlich bewegende Ideen - alles war in irgendeinem Sinne christlich-kirchlich charakterisiert. Damit ist noch nichts über den menschlichen und kulturellen Wert der betreffenden Persönlichkeit oder Leistung gesagt; aber selbst die Weise, wie ein Unrecht geschah, stand noch, unter christlichem Maßstab. Die Kirche war aufs engste mit dem Staat verwachsen; und auch da, wo Kaiser und Papst, Fürst und Bischof auf gespanntem Fuße standen, einander anklagten und unter Verruf setzten, wurde die Kirche als solche nicht in Frage gestellt1. Im Laufe der Neuzeit erfährt der ganze Zustand eine tiefe Veränderung. (Fs)

102a Die Wahrheit der christlichen Offenbarung wird immer tiefer in Frage gestellt; ihre Gültigkeit für die Formung und Führung des Lebens immer entschiedener bestritten. Zur Kirche vollends tritt die kulturelle Gesinnung in immer schärferen Gegensatz. Der neue Anspruch, die verschiedenen Bereiche des Lebens und Schaffens: Politik, Wirtschaft, Sozialordnung, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Erziehung usw. müßten rein aus ihren immanenten Maßstäben heraus entfaltet werden, erscheint als immer selbstverständlicher. So bildet sich eine nichtchristliche, vielfach widerchristliche Lebensform heraus. Sie setzt sich so konsequent durch, daß sie als das Normale einfachhin erscheint, und die Forderung, das Leben müsse von der Offenbarung her bestimmt werden, den Charakter kirchlichen Übergriffs bekommt. Selbst der Gläubige nimmt diesen Zustand weithin an, indem er denkt, die religiösen Dinge seien eine Sache für sich, und die weltlichen ebenfalls; jeder Dereich solle sich aus dem eigenen Wesen heraus gestalten, und es müsse dem Einzelnen überlassen bleiben, wie weit er in beiden zu leben wünsche. (Fs)

102b Die Folge ist, daß auf der einen Seite ein von direkten christlichen Einflüssen abgelöstes autonomes Weltdasein entsteht: auf der anderen Seite eine Christlichkeit, die in eigentümlicherweise diese »Autonomie« nachahmt. Wie sich eine rein wissenschaftliche Wissenschaft, eine rein wirtschaftliche Wirtschaft, eine rein politische Politik herausbildet, so auch eine rein religiöse Religiosität. Diese verliert immer mehr die unmittelbare Beziehung zum konkreten Leben, wird immer ärmer an Weltgehalt, beschränkt sich immer ausschließlicher auf »rein religiöse« Lehre und Praxis und hat für viele nur noch die Bedeutung, gewissen Kulminationspunkten des Daseins, wie Geburt, Eheschließung und Tod, eine religiöse Weihe zu geben. (Fs)

Anmerkung:

103a In der Regel ist es dieser Sachverhalt, an den man denkt, wenn von einer religiösen Situation der Neuzeit gesprochen wird. Aber auch etwas anderes trifft zu, nämlich die Abnahme jener unmittelbar-religiösen Empfänglichkeit, von welcher die Rede war. Die Natur wird immer mehr experimentell und rational durchdrungen; die Politik als ein bloßes Spiel von Mächten und Interessen begriffen; die Wirtschaft aus der Logik des Nutzens und der Wohlfahrt abgeleitet; die Technik als eine große, jedem Zweck zur Verfügung stehende Apparatur gehandhabt; die Kunst als eine Gestaltung nach ästhetischen Gesichtspunkten und die Pädagogik als Heranbildung jenes Menschen angesehen, der imstande ist, diesen Staat und diese Kultur zu tragen. Im Maße das geschieht, sinkt die religiöse Empfänglichkeit. Darunter verstehen wir, noch einmal gesagt, nicht den Glauben an die christliche Offenbarung und die Führung eines von ihr her bestimmten Lebens, sondern das unmittelbare Ansprechen auf den religiösen Gehalt der Dinge; das Erfaßtwerden von der Geheimnisströmung der Welt, wie es sich bei allen Völkern und zu allen Zeiten findet. Das heißt aber: der neuzeitliche Mensch verliert weithin nicht nur den Glauben an die christliche Offenbarung, sondern erfährt auch eine Schwächung seines natürlichen religiösen Organs, so daß er die Welt immer mehr als profane Wirklichkeit sieht. Das hat aber weittragende Konsequenzen. (Fs)

So erscheint zum Beispiel der Zusammenhang der Ereignisse, aus denen das Leben besteht, nicht mehr als die Vorsehung, von welcher Jesus gesprochen, aber auch nicht einmal als jenes Schicksalsgeheimnis, das die Antike erlebt hat, sondern als eine bloße Folge empirischer Ursachen und Wirkungen, welche durchschaut und gelenkt werden kann. Das drückt sich in vielerlei Weise aus; eine mag für alle stehen, nämlich das moderne Versicherungswesen. Betrachtet man es in jener letzten Ausbildung, die es bereits in manchen Ländern erfahren hat, so erscheint es geradezu als Beseitigung jeglichen religiösen Hintergrundes. Alle Eventualitäten des Lebens werden »vorgesehen«, nach Häufigkeit und Wichtigkeit berechnet und unschädlich gemacht. (Fs)

Die entscheidenden Geschehnisse des menschlichen Lebenslaufs: Empfängnis, Geburt, Krankheit und Tod verlieren ihren Geheimnischarakter. Sie werden zu biologisch-sozialen Vorgängen, um die sich eine immer sicherer werdende medizinische Wissenschaft und Technik kümmert. Soweit sie aber Tatsachen darstellen, die nicht gemeistert werden können, werden sie »anaesthesiert«, unerheblich gemacht - wobei bereits am Rande, und nicht nur am Rande des Kulturfeldes die Ergänzungstechnik zur rationalen Überwindung von Krankheit und Tod erscheint, nämlich die Beseitigung jenes Lebens, das dem Leben selbst als nicht mehr lebenswert, oder aber dem Staate als nicht mehr seinen Zwecken entsprechend erscheint. Der religiöse Akzent, der früher auf dem Staate ruhte; der Charakter der Hoheit, welcher aus einer irgendwie gedachten göttlichen Weihe entsprang, verschwindet. Der moderne Staat leitet alle Gewalt vom Volke ab. Eine Weile wird versucht, dem Volk selbst Hoheitscharakter zu geben - siehe die Anschauungen der Romantik, des .Nationalismus und der frühen Demokratie. Die Idee entleert sich aber bald und bedeutet nur noch, daß »das Volk«, will sagen, die zum Staat gehörigen Vielen, in irgendeiner Form der Willensäußerung die letzte Instanz für den Gang von dessen Maßnahmen bilden - soweit es nicht in Wahrheit eine handlungskräftige Sondergruppe ist, welche das Regiment führt. (Fs)

105a So wäre noch vieles zu sagen. Überall bilden sich Weisen des Existierens, die sich nur vom Empirischen herleiten. Daraus erhebt sich aber die Frage, ob ein so gebautes Leben auf die Dauer möglich sei? Hat es den Sinngehalt, dessen es bedarf, um Leben von Menschen bleiben zu können? Ja vermag es auch nur die Zwecke zu erfüllen, die jeweils erfüllt werden sollen?

Verlieren die Ordnungen nicht ihre Kraft, wenn sie nur in ihrem empirischen Bestand genommen werden? Der Staat bedarf zum Beispiel des Eides. Er ist die verbindlichste Form, in welcher der Mensch eine Aussage macht oder sich zu einem Tun verpflichtet. Das geschieht, indem der Schwörende seine Erklärung ausdrücklich und feierlich auf Gott bezieht. Wenn aber - wohin die neuzeitliche Tendenz ja doch geht - der Eid diese Beziehung auf Gott nicht mehr enthält? Dann bedeutet er nur noch die Erklärung des Schwörenden, er nehme zu Kenntnis, daß er mit Zuchthaus bestraft werde, wenn er die Wahrheit nicht sage - eine Formel, die nur noch wenig Sinn und sicher keine Wirkung mehr hat. (Fs)

Jedes Seiende ist mehr als es selbst. Jedes Geschehnis bedeutet mehr als seinen dürren Vollzug. Alles bezieht sich auf etwas, das über oder hinter ihm liegt. Erst von dort aus wird es voll. Verschwindet das, dann entleeren sich Dinge wie Ordnungen. Sie verlieren ihre Sinnkraft, überzeugen nicht mehr. Das Gesetz des Staates ist mehr als nur ein Gefüge von Regeln öffentlich gebilligten Verhaltens; hinter ihm steht ein Unantastbares, das sich, wenn das Gesetz gebrochen wird, im Gewissen zur Geltung bringt. Die soziale Ordnung ist mehr als nur Gewähr für reibungsloses Zusammenleben; hinter ihr steht etwas, das ihre Verletzung in irgendeinem Sinn zum Frevel macht. Dieses religiöse Element bewirkt, daß die verschiedenen, für das menschliche Dasein nötigen Verhaltungsweisen auch ohne äußeren Druck, »von selber« verwirklicht werden; daß seine verschiedenen Elemente aufeinander bezogen bleiben und eine Einheit bilden. Die bloße weltliche Welt gibt es nicht; soweit es aber einem hartnäckigen Wollen gelingt, etwas Derartiges herzustellen, funktioniert es nicht. Es ist ein Artefakt ohne Sinnmächtigkeit. Die Lebensvernunft, welche unter der rationalistischen Vernunft liegt, wird von ihm nicht überzeugt. Das Herz hat nicht mehr das Gefühl, daß eine solche Welt »lohnt«. (Fs)

Ohne das religiöse Element wird das Leben wie ein Motor, der kein Öl mehr hat. Es läuft sich heiß. Alle Augenblicke verbrennt etwas. Überall sperren sich Teile, die genau ineinander greifen müßten. Mitte und Bindung gehen verloren. Das Dasein desorganisiert sich - und dann tritt jener Kurzschluß ein, der sich seit dreißig Jahren in immer steigendem Maße vollzieht: es wird Gewalt geübt. Durch sie sucht sich die Ratlosigkeit einen Ausweg. Wenn die Menschen sich nicht mehr vom Innern her gebunden fühlen, werden sie äußerlich organisiert; und damit die Organisation arbeitet, setzt der Staat seinen Zwang dahinter. Kann aber auf die Dauer aus Zwang existiert werden?

Ende der Anmerkung

104a Wir haben gesehen, daß sich vom Beginn der Neuzeit an eine nicht-christliche Kultur herausarbeitet. Die Negation richtet sich lange Zeit hindurch nur auf den Offenbarungsgehalt selbst; nicht auf die ethischen, sei es individuellen, sei es sozialen Werte, die sich unter seinem Einfluß entwickelt haben. Im Gegenteil, die neuzeitliche Kultur behauptet, gerade auf diesen Werten zu ruhen. Dieser weithin von der Geschichtsbetrachtung angenommenen Ansicht nach sind z. B. die Werte der Personalität, der individuellen Freiheit, Verantwortung und Würde, der gegenseitigen Achtung und Hilfsbereitschaft im Menschen angelegte Möglichkeiten, welche von der Neuzeit entdeckt und entwickelt worden sind. Wohl habe die Menschenbildung der christlichen Frühzeit ihr Keimen gefördert, ebenso wie die religiöse Pflege des Innenlebens und der Liebestätigkeit während des Mittelalters sie weiter entwickelt habe. Dann aber sei die personale Autonomie ins Bewußtsein getreten und zu einer vom Christentum unabhängigen, natürlichen Errungenschaft geworden. Diese Ansicht findet vielfachen Ausdruck; einen besonders repräsentativen in den Menschenrechten der französischen Revolution. (Fs)

107a In Wahrheit sind diese Werte und Haltungen an die Offenbarung gebunden. Letztere steht nämlich zum Unmittelbar-Menschlichen in einem eigentümlichen Verhältnis. Sie kommt aus der Gnadenfreiheit Gottes, zieht aber das Menschliche in ihren Zusammenhang, und es entsteht die christliche Lebensordnung. Dadurch werden im Menschen Kräfte frei, die an sich »natürlich« sind, sich aber außerhalb jenes Zusammenhanges nicht entwickeln würden. Werte treten ins Bewußtsein, die an sich evident sind, aber nur unter jener Überwölbung sichtbar werden. Die Meinung, diese Werte und Haltungen gehörten einfachhin der sich entwickelnden Menschennatur an, verkennt also den wirklichen Sinnverhalt; ja sie führt - man muß es geradeheraus sagen dürfen - zu einer Unredlichkeit, die denn auch für den genauer Blickenden zum Bilde der Neuzeit gehört. (Fs) (notabene)

Kommentar (20.03.10): Zu oben: "Dadurch werden im Menschen Kräfte frei, die an sich »natürlich« sind, sich aber außerhalb jenes Zusammenhanges nicht entwickeln würden. Werte treten ins Bewußtsein, die an sich evident sind, aber nur unter jener Überwölbung sichtbar werden." Ein Beispiel dazu lässt sich im Bereich der Philosophie erkennen. Die tiefsten und letzten Einsichten in die Struktur des Seins haben die Kraft zu einer Denktradition nur in einer christlichen Philosophie, ein Philosophie, die sich ganz aus den Vernunftgründen her versteht, diese Gründe aber nur dann ganz entfalten kann, wenn sie den Halt in einer Offenbarung nicht ablehnt.

107b Die Personalität ist dem Menschen wesentlich; sie wird aber dem Blick erst deutlich und dem sittlichen Willen bejahbar, wenn sich durch die Offenbarung in Gotteskindschaft und Vorsehung das Verhältnis zum lebendig-personalen Gott erschließt. Geschieht das nicht, dann gibt es wohl ein Bewußtsein vom wohlgeratenen, vornehmen, schöpferischen Individuum, nicht aber von der eigentlichen Person, die eine absolute Bestimmung jedes Menschen jenseits aller psychologischen oder kulturellen Qualitäten ist. So bleibt das Wissen um die Person mit dem christlichen Glauben verbunden. Ihre Bejahung und ihre Pflege überdauern wohl eine Weile das Erlöschen dieses Glaubens, gehen aber dann allmählich verloren. (Fs) (notabene)

108a Entsprechendes gilt von den Werten, in denen sich das Personbewußtsein entfaltet. So z. B. von jener Ehrfurcht, die sich nicht auf besondere Begabung oder soziale Stellung, sondern auf die Tatsache der Person als solche richtet: auf ihre qualitative Einzigkeit, Unvertretbarkeit und Unverdrängbarkeit in jedem Menschen, er sei im übrigen geartet und gemessen wie immer ... Oder von jener Freiheit, welche nicht die Möglichkeit bedeutet, sich zu entwickeln und auszuleben, und daher dem seinsmäßig oder sozial Bevorzugten vorbehalten ist, sondern die Fähigkeit jedes Menschen, sich zu entscheiden, und darin seine Tat und in der Tat sich selbst zu besitzen ... Oder von jener Liebe zum anderen Menschen, welche nicht Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, soziale Verpflichtung oder was immer, sondern die Fähigkeit bedeutet, im Andern das »Du« zu bejahen und darin »Ich« zu sein. Das alles bleibt nur so lange wach, als das Wissen um die Person lebendig bleibt. Sobald dieses aber mit dem Glauben an die christliche Gottesbeziehung verblaßt, verschwinden auch jene Werte und Haltungen. (Fs)

108b Daß dieses Verhältnis nicht anerkannt wurde; daß die Neuzeit Personalität und personale Wertwelt für sich in Anspruch genommen, aber deren Garanten, die christliche Offenbarung, weggetan hat, hat jene innere Unredlichkeit erzeugt, von welcher die Rede war. Der Zusammenhang hat sich denn auch allmählich enthüllt. Die deutsche Klassik wird von Werten und Haltungen getragen, welche sich bereits in der Schwebe befinden. Ihre edle Menschlichkeit ist schön, aber ohne die letzte Wahrheitswurzel, denn sie lehnt die Offenbarung ab, von deren Wirkung sie überall zehrt. So beginnt denn auch ihre menschliche Haltung schon in der nächsten Generation zu verblassen. Und nicht, weil diese weniger hoch stünde, sondern weil dem durchbrechenden Positivismus gegenüber die von ihren Wurzeln gelöste Personalkultur sich als ohnmächtig erweist. (Fs) (notabene)

109a Der Vorgang hat sich weiter fortgesetzt; und wenn dann plötzlich das aller neuzeitlichen Kulturtradition so schroff widersprechende Wertbild der letzten beiden Jahrzehnte hervorbrach, so waren Plötzlichkeit wie Widerspruch nur scheinbar: in Wahrheit hat sich da eine Leere kundgetan, die schon lange vorher bestanden hatte. Die echte Personalität mitsamt ihrer Welt von Werten und Haltungen war mit der Absage an die Offenbarung aus dem Bewußtsein verschwunden. (Fs)

109b Die kommende Zeit wird in diesen Dingen eine furchtbare, aber heilende Klarheit schaffen. Kein Christ kann sich freuen, wenn die radikale Unchristlichkeit hervortritt. Denn die Offenbarung ist ja kein subjektives Erlebnis, sondern die Wahrheit einfachhin, kundgetan durch Den, der auch die Welt geschaffen hat; und jede Stunde der Geschichte, welche die Möglichkeit des Einflusses dieser Wahrheit ausschließt, ist im Innersten bedroht. Aber es ist gut, daß jene Unredlichkeit enthüllt werde. Dann wird sich zeigen, wie das in Wirklichkeit aussieht, wenn der Mensch sich von der Offenbarung gelöst hat, und die Nutznießungen aufhören. (Fs)

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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Religiosität der kommenden Zeit 2; neues Heidentum; Erneuerung des Mythos; Nationalsozialismus; Rilke

Kurzinhalt: Je entschiedener der Nicht-Glaubende seine Absage an die Offenbarung vollzieht und je konsequenter er sie praktisch durchführt, desto deutlicher wird daran, was das Christliche ist.

Textausschnitt: 110a Immer noch bleibt aber die Frage zu beantworten, von welcher Art die Religiosität der kommenden Zeit sein werde? Nicht ihr offenbarter Inhalt, der ist ewig; aber seine geschichtliche Verwirklichungsform, seine menschliche Struktur? Hier wäre manches zu sagen und zu vermuten. Wir müssen uns aber beschränken. Wichtig wird vor allem sein, worauf zuletzt hingewiesen wurde: das scharfe Hervortreten der nicht-christlichen Existenz. Je entschiedener der Nicht-Glaubende seine Absage an die Offenbarung vollzieht und je konsequenter er sie praktisch durchführt, desto deutlicher wird daran, was das Christliche ist. Der Nicht-Glaubende muß aus dem Nebel der Säkularisation heraus. Er muß das Nutz-nießertum aufgeben, welches die Offenbarung verneint, sich aber die von ihr entwickelten Werte und Kräfte angeeignet hat. Er muß das Dasein ohne Christus und ohne den durch Ihn offenbarten Gott ehrlich vollziehen und erfahren, was das heißt. Schon Nietzsche hat gewarnt, der neuzeitliche Nicht-Christ habe noch gar nicht erkannt, was es in Wahrheit bedeute, ein solcher zu sein. Die vergangenen Jahrzehnte haben eine Ahnung davon vermittelt, und sie waren erst der Anfang. (Fs)

110b Ein neues Heidentum wird sich entwickeln, aber von anderer Art als das erste. Auch hier besteht eine Unklarheit, die sich unter anderem im Verhältnis zur Antike zeigt. Der heutige Nicht-Christ ist vielfach der Meinung, er könne das Christentum ausstreichen und von der Antike aus einen neuen religiösen Weg suchen. Darin irrt er aber. Man kann die Geschichte nicht zurückdrehen. Als Form des Existierens ist die Antike endgültig vorbei. Wenn der heutige Mensch Heide wird, wird er es in einem ganz anderen Sinne, als der Mensch vor Christus es war. Dessen religiöse Haltung hatte, bei aller Größe des Lebens wie des Werkes, etwas Jugendlich-Naives. Er stand noch vor jener Entscheidung, die sich an Christus vollzieht. Durch diese - sie mag ausfallen, wie sie will - tritt der Mensch auf eine andere existentielle Ebene; Sören Kierkegaard hat das ein für allemal klargestellt. Sein Dasein gewinnt einen Ernst, den die Antike nicht gekannt hat, weil sie ihn nicht kennen konnte. Er stammt nicht aus einer eigenmenschlichen Reife, sondern aus dem Anruf, den die Person durch Christus von Gott her erfährt: sie schlägt die Augen auf und ist nun wach, ob sie will oder nicht. Er stammt aus dem jahrhundertlangen Mitvollzug der Christus-Existenz; aus dem Miterleben jener furchtbaren Klarheit, mit welcher Er »gewußt hat, was im Menschen ist« und jenes übermenschlichen Mutes, womit Er das Dasein durchgestanden hat. Daher der seltsame Eindruck von Unerwachsensein, der einen so oft angesichts antichristlicher Antike-Gläubigkeit überkommt. (Fs)

111a Von der Erneuerung des nordischen Mythos gilt das gleiche. Sofern sie nicht, wie im Nationalsozialismus, nur Tarnung reiner Machtziele war, ist sie ebenso wesenlos wie jene des antiken Mythos. Auch das nordische Heidentum stand noch vor jener Entscheidung, die es zwang, aus dem geborgenen und zugleich gebannten Leben des unmittelbaren Daseins mit seinen Rhythmen und Bildern in den Ernst der Person zu treten - wie immer auch die Entscheidung ausfallen mochte. (Fs)

112a Abermals das gleiche ist von all den Versuchen zu sagen, durch Säkularisierung christlicher Gedanken und Haltungen einen neuen Mythus hervorzubringen, wie das etwa in der Dichtung des späten Rilke geschieht1. Was aber darin ursprünglich ist, nämlich der Wille, die Jenseitigkeit der Offenbarung abzustreifen und das Dasein rein auf die Erde zu begründen, zeigt seine Ohnmacht schon an der Unfähigkeit, sich in das neu Anbrechende hineinzustellen. Die Versuche, welche etwa die »Sonette an Orpheus« nach dieser Richtung machen, sind von einer rührenden und, bei dem Anspruch der »Elegien«, befremdenden Hilflosigkeit. (Fs)

112b Was endlich Anschauungen, wie die des französischen Existentialismus betrifft, so ist deren Verneinung des Daseinssinnes derart gewaltsam, daß man sich fragt, ob sie nicht eine besonders verzweifelte Art von Romantik bilden, welche durch die Erschütterungen der letzten Jahrzehnte möglich geworden sei. (Fs)

Ein Versuch, das Dasein nicht nur in Widerspruch zur christlichen Offenbarung zu bringen, sondern es auf eine von ihr wirklich unabhängige, welt-eigene Grundlage zu stellen, müßte einen ganz anderen Realismus haben. Es bleibt abzuwarten, wie weit der Osten ihn aufbringt, und was dabei aus dem Menschen wird. (Fs)

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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Religiosität der kommenden Zeit 3; neuzeitliche Unredlichkeit; Bedeutung: Altes Testament; Einsamkeit im Glauben


Kurzinhalt: Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24, 12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht ...

Textausschnitt: 112c Der christliche Glaube selbst aber wird eine neue Entschiedenheit gewinnen müssen. Auch er muß aus den Säkularisationen, den Ähnlichkeiten, Halbheiten und Vermengungen heraus. Und hier ist, scheint mir, ein starkes Vertrauen erlaubt. (Fs)

113a Es ist dem Christen immer eigentümlich schwer gefallen, sich mit der Neuzeit abzufinden. Damit wird ein Problem angeschnitten, das einer genaueren Erörterung bedürfte. Es ist nicht gemeint, das Mittelalter sei als geschichtliche Epoche einfachhin christlich, die Neuzeit hingegen unchristlich gewesen. Das wäre jene Romantik, die schon so viel Verwirrung angerichtet hat. Das Mittelalter wurde von einer Struktur des Denkens, Empfindens und Handelns getragen, die zunächst und als solche der Glaubensentscheidung gegenüber - soweit man dergleichen sagen kann - neutral war. Für die Neuzeit gilt das Nämliche. In ihr trat der abendländische Mensch in die Haltung individueller Selbständigkeit ein, womit über den sittlich-religiösen Gebrauch, den er von dieser Selbständigkeit machte, noch nichts gesagt ist. Christ zu sein ruht auf einer Stellungnahme zur Offenbarung, die in jedem Abschnitt der geschichtlichen Entwicklung vollzogen werden kann. Mit Bezug auf sie ist die Offenbarung jeder Epoche gleich nah und gleich fern. So hat es denn auch im Mittelalter Unglauben in allen Graden der Entschiedenheit gegeben - ebenso wie es in der Neuzeit eine vollwertige christliche Gläubigkeit gegeben hat. Diese hatte aber einen anderen Charakter als jene des Mittelalters. Dem Christen der Neuzeit war aufgegeben, seinen Glauben aus den geschichtlichen Voraussetzungen der individuellen Selbständigkeit heraus zu verwirklichen, und er hat das oft in einer Weise getan, welche der mittelalterlichen durchaus ebenbürtig war. Dabei begegnete er aber Hindernissen, die es ihm schwer machten, seine Zeit so einfach hinzunehmen, wie die voraufgellende Epoche es gekonnt hatte. Die Erinnerung an ihre Auflehnung gegen Gott war zu lebendig; die Art, wie sie alle Bereiche des kulturellen Schaffens in Widerspruch zum Glauben gebracht, und diesen selbst in eine Situation der Minderwertigkeit gedrängt hatte, war zu fragwürdig. Außerdem gab es das, was wir die neuzeitliche Unredlichkeit genannt haben: jenes Doppelspiel, welches auf der einen Seite die christliche Lehre und Lebensordnung ablehnte, auf der anderen aber deren menschlich-kulturelle Wirkungen für sich in Anspruch nahm. Das machte den Christen in seinem Verhältnis zur Neuzeit unsicher. Überall fand er in ihr Ideen und Werte, deren christliche Herkunft deutlich war, die aber für allgemeines Eigentum erklärt wurden. Überall stieß er auf Christlich-Eigenes, das aber gegen ihn gekehrt wurde. Wie hätte er da vertrauen sollen? Diese Undurchsichtigkeiten werden aufhören. Wo die kommende Zeit sich gegen das Christentum stellt, wird sie damit ernst machen. Sie wird die säkularisierten Christlichkeiten für Sentimentalitäten erklären, und die Luft wird klar werden. Voll Feindschaft und Gefahr, aber sauber und offen1. (Fs)

114a Was oben über die Situation der Gefahr gesagt worden ist, gilt auch für die christliche Haltung. Sie wird in besonderer Weise den Charakter des Vertrauens und der Tapferkeit tragen müssen. (Fs)

115a Man hat dem Christentum oft vorgeworfen, in ihm berge sich der Mensch vor der Ausgesetztheit der modernen Situation. Daran war manches richtig - und nicht nur deshalb, weil das Dogma in seiner Objektivität eine feste Ordnung des Denkens und Lebens schafft, sondern auch, weil in der Kirche noch eine Fülle kultureller Traditionen lebt, die sonst weggestorben sind. Der Vorwurf wird in der kommenden Zeit immer weniger Anlaß haben. (Fs)

115b Der Kulturbesitz der Kirche wird sich dem allgemeinen Zerfall des Überlieferten nicht entziehen können, und wo er noch fortdauert, wird er von vielen Problemen erschüttert sein. Was aber das Dogma angeht, so liegt es zwar in seinem Wesen, jede Zeitwende zu überdauern, da es ja im Überzeitlichen begründet ist; doch darf man vermuten, an ihm werde der Charakter der Lebensweisung besonders deutlich empfunden werden. Je genauer das Christentum sich wieder als das Nicht-Selbstverständliche bezeugt; je schärfer es sich von einer herrschenden nicht-christlichen Anschauung unterscheiden muß, desto stärker wird im Dogma neben dem theoretischen das praktisch-existentielle Moment hervortreten. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß damit keine »Modernisierung« gemeint ist; keinerlei Abschwächung weder des Inhalts noch der Geltung. Im Gegenteil, der Charakter der Absolutheit, die Unbedingtheit der Aussage wie der Forderung werden sich schärfer betonen. Aber in dieser Absolutheit wird, vermute ich, die Definition der Existenz und die Orientierung des Verhaltens besonders fühlbar werden. (Fs)

116a So wird der Glaube fähig, in der Gefahr zu bestehen. Im Verhältnis zu Gott wird das Element des Gehorsams stark hervortreten. Reiner Gehorsam, wissend, daß es um jenes Letzte geht, das nur durch ihn verwirklicht werden kann. Nicht, weil der Mensch »heteronom« wäre, sondern weil Gott heilig-absolut ist. Eine ganz unliberale Haltung also, mit Unbedingtheit auf das Unbedingte gerichtet, aber - und hier zeigt sich der Unterschied gegen alles Gewaltwesen - in Freiheit. Diese Unbedingtheit ist keine Preisgabe an die physische und psychische Macht des Befehls; sondern der Mensch nimmt durch sie die Qualität der Gottesforderung in seinen Akt auf. Das aber setzt Mündigkeit des Urteils und Freiheit der Entscheidung voraus. (Fs)

116b Und ein nur hier mögliches Vertrauen. Nicht auf eine allgemeine Vernunftordnung, oder auf ein optimistisches Prinzip des Wohlmeinens, sondern auf Gott, der wirklich und wirkend ist; nein, mehr, der am Werk ist und handelt. Wenn ich recht sehe, gewinnt das Alte Testament eine besondere Bedeutung. Es zeigt den Lebendigen Gott, der den mythischen Weltbann ebenso durchbricht wie die heidnisch-politischen Weltmächte, und den glaubenden Menschen, der, im Einvernehmen des Bundes, sich auf dieses Handeln Gottes bezieht. Das wird wichtig werden. Je stärker die Es-Mächte anwachsen, desto entschiedener besteht die »Weltüberwindung« des Glaubens in der Realisation der Freiheit; im Einvernehmen der geschenkten Freiheit des Menschen mit der schöpferischen Freiheit Gottes. Und im Vertrauen auf das, was Gott tut. Nicht nur wirkt, sondern tut. Es ist seltsam, welch eine Ahnung heiliger Möglichkeit mitten im Anwachsen des Welt-Zwanges aufsteigt!

117a Diese Beziehung von Absolutheit und Personalität, von Unbedingtheit und Freiheit wird den Glaubenden fähig machen, im Ortlosen und Ungeschützten zu stehen und Richtung zu wissen. Sie wird ihn fähig machen, in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott zu treten, quer durch alle Situationen des Zwanges und der Gefahr hindurch; und in der wachsenden Einsamkeit der kommenden Welt - einer Einsamkeit gerade unter den Massen und in den Organisationen - lebendige Person zu bleiben. (Fs) (notabene)

Wenn wir die eschatologischen Texte der Heiligen Schrift richtig verstehen, werden Vertrauen und Tapferkeit überhaupt den Charakter der Endzeit bilden. Was umgebende christliche Kultur und bestätigende Tradition heißt, wird an Kraft verlieren. Das wird zu jener Gefahr des Ärgernisses gehören, von welcher gesagt ist, daß ihr, »wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten erliegen würden« (Mt 24, 24). (Fs)

117b Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24, 12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht; Tapferkeit des Herzens aus der Unmittelbarkeit zur Liebe Gottes, wie sie in Christus kund geworden ist. Vielleicht wird man diese Liebe ganz neu erfahren: die Souveränität ihrer Ursprünglichkeit, ihre Unabhängigkeit von der Welt, das Geheimnis ihres letzten Warum. Vielleicht wird die Liebe eine Innigkeit des Einvernehmens gewinnen, die noch nicht war. Etwas von dem, was in den Schlüsselworten für das Verständnis der Vorsehungsbotschaft Jesu liegt: daß um den Menschen, der Gottes Willen über Sein Reich zu seiner ersten Sorge macht, die Dinge sich wandeln (Mt 6, 33). (Fs)

118a Dieser eschatologische Charakter wird sich, scheint mir, in der kommenden religiösen Haltung anzeigen. Damit soll keine wohlfeile Apokalyptik verkündet werden. Niemand hat das Recht zu sagen, das Ende komme, wenn Christus selbst erklärt hat, die Dinge des Endes wisse der Vater allein (Mt 24, 36). Wird also hier von einer Nähe des Endes gesprochen, dann ist das nicht zeithaft, sondern wesensmäßig gemeint: daß unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Ronsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren. (Fs; E10 20.03.2010)

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