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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Würde des Menschen; Verfinsterung: Gewissen

Kurzinhalt: Der Umstand, daß die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, ... ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall:

Textausschnitt: 4. Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses beunruhigende Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen. (Fs)

Das alles bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, daß die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen, ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall: Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet. Selbst die Medizin, die auf die Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender für die Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all derer, die sie ausüben. In einem solchen kulturellen und gesetzlichen Kontext sehen sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen, sozialen oder familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt lasten und eine verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der nationalen und internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und illusorischen Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl der Menschen und der Nationen im Widerspruch stehen. (Fs) (notabene)

Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Kain, Abel - Sünde; Logik des Bösen

Kurzinhalt: Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der »Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« ...

Textausschnitt: 8. Kain »überlief es ganz heiß« und sein Blick »senkte sich», weil »der Herr auf Abel und sein Opfer schaute« (Gen 4, 4). Der biblische Text enthüllt zwar nicht, aus welchem Grund Gott das Opfer Abels jenem Kains vorzieht; er weist jedoch mit aller Klarheit darauf hin, daß Gott trotz der Bevorzugung von Abels Gabe den Dialog mit Kain nicht abbricht. Er ermahnt ihn, indem er ihn an seine Freiheit gegenüber dem Bösen erinnert: der Mensch ist keineswegs für das Böse vorherbestimmt. Sicherlich wird er, wie schon Adam, von der verderblichen Macht der Sünde in Versuchung geführt, die, einer wilden Bestie gleich, an der Pforte seines Herzens lauert und darauf wartet, über die Beute herzufallen. Aber Kain bleibt der Sünde gegenüber frei. Er kann und er soll Herr über sie sein: »Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!« (Gen 4, 7). (Fs)

Eifersucht und Zorn gewinnen Oberhand über die Mahnung des Herrn, und so greift Kain seinen eigenen Bruder an und erschlägt ihn. Im Katechismus der katholischen Kirche lesen wir: »Im Bericht über die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain offenbart die Schrift, daß im Menschen schon von Anfang seiner Geschichte an Zorn und Eifersucht als Folgen der Erbsünde wirksam sind. Der Mensch ist zum Feind des Mitmenschen geworden«.1

Der Bruder tötet den Bruder. Wie beim ersten Brudermord wird bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet, die die Menschen zu einer einzigen großen Familie vereinigt,2 da sie alle an demselben grundlegenden Gut teilhaben: der gleichen Personwürde. Nicht selten wird auch die Verwandtschaft »des Fleisches und Blutes« geschändet, wenn zum Beispiel die Bedrohungen des Lebens im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ausbrechen, wie es bei der Abtreibung geschieht, oder wenn im weitesten Familien- und Verwandtenkreis die Euthanasie befürwortet oder dazu angestiftet wird. (Fs)

Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der »Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12). Die Ermordung des Bruders ist also von Beginn der Geschichte an das traurige Zeugnis dafür, wie das Böse mit beeindruckender Geschwindigkeit voranschreitet: zum Aufbegehren des Menschen gegen Gott im irdischen Paradies gesellt sich der tödliche Kampf des Menschen gegen den Menschen. (Fs)

Nach dem Verbrechen greift Gott ein, um den Ermordeten zu rächen. Gott gegenüber, der sich nach dem Schicksal Abels erkundigt, weicht Kain in Überheblichkeit der Frage aus, statt sich verlegen zu zeigen und um Verzeihung zu bitten: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9). »Ich weiß es nicht«: mit der Lüge versucht Kain das Verbrechen zu verdecken. So ist es oft geschehen und geschieht es, wenn Ideologien verschiedenster Art dazu dienen, um die schrecklichsten Verbrechen gegen die Person zu rechtfertigen und zu bemänteln. »Bin ich der Hüter meines Bruders?«: Kain will nicht an den Bruder denken und lehnt es ab, jene Verantwortung, die jeder Mensch gegenüber dem anderen hat, zu leben. Das läßt uns unwillkürlich an heutige Bestrebungen denken, die den Menschen seiner Verantwortung gegenüber seinem Mitmenschen entheben wollen; Anzeichen dafür sind unter anderem das Nachlassen der Solidarität gegenüber den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, wie den Alten, den Kranken, den Einwanderern, den Kindern gegenüber, und die häufig zu bemerkende Gleichgültigkeit in den Beziehungen der Völker untereinander, selbst dann, wenn fundamentale Werte wie das Überleben, die Freiheit und der Friede auf dem Spiel stehen. (Fs)

9. Doch Gott kann das Verbrechen nicht ungestraft lassen: vom Ackerboden, auf dem es vergossen wurde, verlangt das Blut des Erschlagenen, daß Er Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Gen 37, 26; Jes 26, 21; Ez 24, 7f). Aus diesem Text hat die Kirche die Bezeichnung »himmelschreiende Sünden« abgeleitet und in diese vor allem den beabsichtigten Mord einbezogen.3 Für die Juden ist, wie für viele Völker der Antike, das Blut der Sitz des Lebens, ja »das Blut ist Lebenskraft« (Dtn 12, 23), und das Leben, besonders das menschliche Leben, gehört allein Gott: wer daher nach dem Leben des Menschen trachtet, trachtet Gott selbst nach dem Leben. (Fs)

Kain ist von Gott und ebenso vom Ackerboden, der ihm seinen Ertrag verweigert, verflucht (vgl. Gen 4, 11-12). Und er wird bestraft: er soll in der Steppe und in der Wüste wohnen. Die mörderische Gewalttätigkeit verändert das Lebensmilieu des Menschen tiefgreifend. Aus dem »Garten von Eden« (Gen 2, 15), einem Ort des Überflusses, der unbeschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen und der Freundschaft mit Gott, wird die Erde zum »Land Nod« (Gen 4, 16), Ort des »Elends», der Einsamkeit und der Gottferne. Kain wird »rastlos und ruhelos auf der Erde« sein (Gen 4, 14): Unsicherheit und Unbeständigkeit werden ihn immer begleiten. (Fs)

Gott jedoch, der stets Barmherzige, auch wenn Er straft, »machte dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde« (Gen 4, 15): Er versieht ihn also mit einem Zeichen, das nicht den Zweck hat, ihn zur Verabscheuung durch die anderen Menschen zu verdammen, sondern ihn vor allen zu schützen und zu verteidigen, die ihn töten wollen, und wäre es auch, um den Tod Abels zu rächen. Nicht einmal der Mörder verliert seine Personwürde, und Gott selber leistet dafür Gewähr. Tatsächlich offenbart sich hier das paradoxe Geheimnis von der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes, wie der hl. Ambrosius schreibt: »Nachdem in dem Augenblick, als sich die Sünde eingeschlichen hatte, ein Brudermord, also das größte Verbrechen, begangen worden war, mußte sofort das Gesetz von der göttlichen Barmherzigkeit erweitert werden; damit es nicht geschähe, daß die Menschen, obwohl die Strafe den Schuldigen unmittelbar getroffen hatte, beim Bestrafen weder Toleranz noch Milde walten lassen, sondern die Schuldigen unverzüglich der Strafe ausliefern würden. (...) Gott verstieß Kain von seinem Angesicht und verbannte den von seinen Eltern Abtrünnigen an einen anderen Wohnort, weil er von der menschlichen Zahmheit zur tierischen Wildheit übergegangen war. Doch Gott wollte den Mörder nicht durch einen Mord bestrafen, da Er mehr die Reue des Sünders will als seinen Tod«.4

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Enzyklika Veritatis Splendor - Gegenstand; Krise

Kurzinhalt: Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen.

Textausschnitt: 4. Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar.1 (Fs)

Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird. (Fs)

Hervorgehoben werden muß im besonderen die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den Priesterseminaren und an den theologischen Fakultäten verbreiteten theologischen Einstellungen zu Fragen, die für die Kirche und für das Glaubensleben der Christen, ja für das menschliche Zusammenleben überhaupt, von allergrößter Bedeutung sind. Hier wird insbesondere gefragt: Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen. (Fs)

5. In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am 1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. Alfonso Maria von Liguori veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe - "umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der Moraltheologie betreffen",1 behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen Moraltheologie angegriffen werden. (Fs)
Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4,3) zu bewahren, mit der Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muß, so ernst sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches soziales Leben folgen. (Fs)

Wenn diese seit langem erwartete Enzyklika erst jetzt veröffentlicht wird, dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den Katechismus der katholischen Kirche vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen vielfältigen Inhalten als Leben der "Kinder Gottes" vor: "Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, ,wie es dem Evangelium Christi entspricht' (Phil 1,27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die Sakramente und das Gebet erhalten".2 Indem sie auf den Katechismus äls sicheren und maßgebenden Text für die Unterweisung in der katholischen Lehre"3 verweist, wird sich die Enzyklika darauf beschränken, sich mit einigen grundlegenden Fragen der Morallehre der Kirche auseinanderzusetzen, und dies in Form einer notwendigen Klärung von Problemen, die unter den Ethikern und Moraltheologen umstritten sind. Das ist das spezifische Thema der vorliegenden Enzyklika, der es darum geht, hinsichtlich der erläuterten Probleme die Erfordernisse einer auf die Heilige Schrift und die lebendige apostolische Überlieferung gegründeten Morallehre darzulegen4 und zugleich die Voraussetzungen und Folgen der Entgegnungen aufzuzeigen, die sich gegen diese Lehre richteten. (Fs)


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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Mathäus Kapitel 19 (Mt 19,16): der reiche Jüngling; Freiheit - Gebote, Gesetz; Augustinus: Freiheit - Knechtschaft

Kurzinhalt:
Wer "nach dem Fleische" lebt, empfindet das Gesetz Gottes als eine Last, ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung der eigenen Freiheit.

Textausschnitt: 17. Wir wissen nicht, wie weit der junge Mann des Evangeliums den tiefen und anspruchsvollen Inhalt der ersten Antwort verstanden hat, die ihm von Jesus gegeben wurde: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!"; es ist jedoch gewiß, daß der Eifer, den der junge Mann angesichts der sittlichen Forderungen der Gebote erkennen läßt, den unentbehrlichen Boden darstellt, auf dem das Verlangen nach Vollkommenheit keimen und reifen kann, also nach der Verwirklichung ihres Sinngehaltes in der Nachfolge Christi. Das Gespräch Jesu mit dem jungen Mann hilft uns, die Voraussetzungen für das sittliche Wachstum des zur Vollkommenheit berufenen Menschen zu begreifen: der junge Mann, der alle Gebote befolgt hat, erweist sich als unfähig, aus eigener Kraft den nächsten Schritt zu tun. Um ihn zu tun, bedarf es einer reifen menschlichen Freiheit: "Wenn du willst", und des göttlichen Geschenkes der Gnade: "Komm und folge mir nach". (Fs)

Die Vollkommenheit erfordert jene Reife in der Selbsthingabe, zu der die Freiheit des Menschen berufen ist. Jesus weist den jungen Mann auf die Gebote als die erste, unverzichtbare Voraussetzung hin, um das ewige Leben zu erlangen; die Aufgabe all dessen, was der junge Mann besitzt, und die Nachfolge des Herrn nehmen hingegen den Charakter eines Angebots an: "Wenn du willst". Das Wort Jesu enthüllt die besondere Dynamik des Wachstums der Freiheit zur Reife und bezeugt zugleich die fundamentale Beziehung der Freiheit zum göttlichen Gesetz. Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes widersprechen sich nicht, sondern im Gegenteil, sie fordern einander. Der Jünger Christi weiß, daß seine Berufung eine Berufung zur Freiheit ist. "Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder" (Gal 5,13), verkündet der Apostel Paulus mit Freude und Stolz. Aber sogleich präzisiert er: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!" (ebd.). Die Festigkeit, mit der sich der Apostel dem widersetzt, der seine Rechtfertigung dem Gesetz anvertraut, hat nichts gemein mit der "Befreiung" des Menschen von den Geboten, die im Gegenteil im Dienst der praktisch geübten Liebe stehen: "Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren! und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Röm 13,8-9). Nachdem der hl. Augustinus von der Befolgung der Gebote als der ersten unvollkommenen Freiheit gesprochen hat, fährt er fort: "Warum noch nicht vollkommen?, wird mancher fragen. Weil 'ich spüre, daß in meinen Gliedern ein anderes Gesetz im Konflikt mit dem Gesetz meiner Vernunft steht'. Teils Freiheit, teils Knechtschaft: noch nicht vollkommen, noch nicht rein, noch nicht voll ist die Freiheit, weil wir noch nicht in der Ewigkeit sind. Zum Teil bewahren wir die Schwäche und zum Teil haben wir die Freiheit erlangt. Alle unsere Sünden sind bei der Taufe getilgt worden, aber ist etwa die Schwachheit verschwunden, nachdem die Ungerechtigkeit ausgemerzt worden ist? Wäre sie verschwunden, würde man auf Erden ohne Sünde leben. Wer wird das zu behaupten wagen, außer einer, der anmaßend und daher der Barmherzigkeit des Befreiers unwürdig ist?... Da also eine Schwäche in uns geblieben ist, wage ich zu sagen, daß wir in dem Maße, in dem wir Gott dienen, frei sind, während wir in dem Maße, in dem wir dem Gesetz der Sünde folgen, Sklaven sind"1. (Fs)

18. Wer "nach dem Fleische" lebt, empfindet das Gesetz Gottes als eine Last, ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung der eigenen Freiheit. Wer hingegen von der Liebe beseelt ist und "sich vom Geist leiten läßt" (Gal 5,16) und den anderen dienen will, findet im Gesetz Gottes den grundlegenden und notwendigen Weg zur praktischen Übung der frei gewählten und gelebten Liebe. Ja, er spürt den inneren Drang - ein echtes und eigenes "Bedürfnis" und nicht etwa einen Zwang -, nicht bei den Minimalforderungen des Gesetzes stehenzubleiben, sondern sie in ihrer "Fülle" zu leben. Es ist ein noch unsicherer und brüchiger Weg, solange wir auf Erden sein werden, der aber ermöglicht wird von der Gnade, die es uns gewährt, die volle Freiheit der Kinder Gottes zu besitzen (vgl. Röm 8,21) und somit im sittlichen Leben auf die erhabene Berufung zu antworten, "Söhne im Sohn" zu sein. (Fs)

Diese Berufung zu vollkommener Liebe ist nicht ausgewählten Gruppen vorbehalten. Die Aufforderung: "Geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen", mit der Verheißung: "so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben", betrifft alle, denn sie ist eine grundlegende Erneuerung des Gebotes der Nächstenliebe, wie die folgende Einladung "Komm und folge mir nach" die neue konkrete Form des Gebotes der Gottesliebe ist. Die Gebote und die Einladung Jesu an den reichen Jüngling stehen im Dienst einer einzigen, unteilbaren Liebe, die aus eigenem Antrieb nach Vollkommenheit strebt und deren Maß allein Gott ist: "Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5,48). Im Lukasevangelium präzisiert Jesus den Sinn dieser Vollkommenheit weiter: "Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!" (Lk 6,36). (Fs)
"Komm und folge mir nach!" (Mt 19,21)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Augustinus, Paulus, Dialektik: altes Gesetz - neues Gesetz (Gnade); Thomas: das Neue Gesetz

Kurzinhalt: Diese unauflösliche Verbindung zwischen der Gnade des Herrn und der Freiheit des Menschen, zwischen der Gabe und der Aufgabe hat der hl. Augustinus mit schlichten und tiefen Worten zum Ausdruck gebracht, wenn er betet: ...

Textausschnitt: 23. "Das Gesetz des Geistes und des Lebens in Jesus Christus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes" (Röm 8,2). Mit diesen Worten leitet uns der Apostel Paulus an, das Verhältnis zwischen dem (alten) Gesetz und der Gnade (neues Gesetz) in der Perspektive der Heilsgeschichte, die sich in Christus erfüllt hat, zu betrachten. Er erkennt die erzieherische Rolle des Gesetzes an, das dem sündigen Menschen ermöglicht, sein Unvermögen zu ermessen, und ihn dadurch, daß er ihm die Anmaßung der Selbstgenügsamkeit nimmt, für die Anrufung und Annahme des "Lebens im Geiste" öffnet: in diesem neuen Leben ist die Einhaltung der Gebote Gottes möglich. Durch den Glauben an Christus sind wir gerecht geworden (vgl. Röm 3,28): die "Gerechtigkeit", die das Gesetz fordert, aber keinem zu verleihen vermag, findet jeder Gläubige vom Herrn Jesus bekundet und verliehen. So faßt der hl. Augustinus wiederum auf wunderbare Weise die paulinische Dialektik von Gesetz und Gnade zusammen: "Deswegen ist das Gesetz gegeben worden, damit man die Gnade erbitte; die Gnade wurde gegeben, damit man das Gesetz befolge".1 Die Liebe und das Leben nach dem Evangelium dürfen nicht zuerst in der Gestalt des Gebots gedacht werden, denn das, was sie verlangen, geht über die Kräfte des Menschen hinaus: sie sind nur möglich als Frucht einer Gabe Gottes, der durch seine Gnade das Herz des Menschen heil und gesund macht und es umgestaltet: "Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit kamen durch Jesus Christus" (Joh 1,17). Darum ist die Verheißung des ewigen Lebens an die Gabe der Gnade gebunden, und das Geschenk des Geistes, das wir empfangen haben, ist bereits "der erste Anteil unseres Erbes" (Eph 1,14). (Fs)

24. So offenbaren sich das Gebot der Liebe und jenes der Vollkommenheit, auf die ersteres hingeordnet ist, in ihrer authentischen Ursprünglichkeit: Es ist eine Möglichkeit, die dem Menschen ausschließlich von der Gnade, von der Gabe Gottes, von seiner Liebe, eröffnet wird. Andererseits bewirkt und trägt das Bewußtsein, in Jesus Christus die Liebe Gottes zu besitzen, die verantwortliche Antwort für eine volle Liebe zu Gott und unter den Brüdern, wie der Apostel Johannes in seinem ersten Brief eindringlich in Erinnerung bringt: "Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe ... Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben ... Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat" (1 Joh 4,7-8.11.19). (Fs)

Diese unauflösliche Verbindung zwischen der Gnade des Herrn und der Freiheit des Menschen, zwischen der Gabe und der Aufgabe hat der hl. Augustinus mit schlichten und tiefen Worten zum Ausdruck gebracht, wenn er betet: "Da quod iubes et iube quod vis" (Gib, was Du gebietest, und gebiete, was Du willst).2

Die Gabe mindert nicht, sondern vermehrt die sittlichen Forderungen der Liebe: Ünd das ist sein Gebot: Wir sollen an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, wie es seinem Gebot entspricht" (1 Joh 3,23). Nur unter der Bedingung, daß man die Gebote hält, kann man, wie Jesus sagt, in der Liebe "bleiben": "Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe" (Joh 15,10). Der hl. Thomas, der die Sinnspitze der moralischen Botschaft Jesu und der Verkündigung der Apostel erfaßte, konnte in Wiedergabe einer großartigen Zusammenschau der großen Traditionen der Kirchenväter des Ostens und des Westens, insbesondere des hl. Augustinus,3 schreiben: das Neue Gesetz ist die durch den Glauben an Christus gewährte Gnade des Heiligen Geistes.4 Die äußeren Vorschriften, von denen das Evangelium auch redet, bereiten auf diese Gnade vor oder bringen deren Wirkungen im Leben zum Tragen. Das Neue Gesetz begnügt sich nämlich nicht damit zu sagen, was man tun muß, sondern es verleiht auch die Kraft, "die Wahrheit zu tun" (vgl. Joh 3,21). Gleichzeitig hat der hl. Johannes Chrysosthomos angemerkt, daß das Neue Gesetz genau da gegeben wurde, als der Heilige Geist vom Himmel herabkam, und daß die Apostel nicht vom Berg herabstiegen "mit Steintafeln in ihren Händen wie Mose; sondern sie kamen und trugen den Heiligen Geist in ihren Herzen ..., nachdem sie durch seine Gnade zu einem lebendigen Gesetz, zu einem beseelten Buch geworden waren".5

"Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Genesis; Freiheit - Gesetz; Baum der Erkenntnis - moderne Autonomie

Kurzinhalt: Eine derart verstandene Autonomie führt natürlich auch dazu, daß eine spezifische Kompetenz der Kirche und ihres Lehramtes hinsichtlich bestimmter, das sogenannte "Humanum" betreffender sittlicher Normen geleugnet wird:

Textausschnitt: 35. Im Buch Genesis lesen wir: "Gott der Herr gebot dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben" (Gen 2,16-17). (Fs)

Mit diesem Bild lehrt uns die Offenbarung, daß die Macht, über Gut und Böse zu entscheiden, nicht dem Menschen, sondern allein Gott zusteht. Gewiß, der Mensch ist von dem Augenblick an frei, in dem er die Gebote Gottes erkennen und aufnehmen kann. Und er ist im Besitz einer sehr weitgehenden Freiheit, denn er darf "von allen Bäumen des Gartens" essen. Aber es ist keine unbegrenzte Freiheit: Sie muß vor dem "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" haltmachen, da sie dazu berufen ist, das Sittengesetz, das Gott dem Menschen gibt, anzunehmen. Tatsächlich findet gerade in dieser Annahme die Freiheit des Menschen ihre wahre und volle Verwirklichung. Gott, der allein gut ist, erkennt genau, was für den Menschen gut ist, und kraft seiner eigenen Liebe legt er ihm dies in den Geboten vor. (Fs)

Das Gesetz Gottes mindert also die Freiheit des Menschen nicht und noch weniger schaltet es sie aus, im Gegenteil, es garantiert und fördert sie. Ganz anders bilden jedoch manche der heutigen kulturellen Strömungen den Ausgangspunkt zahlreicher Richtungen der Ethik, welche einen mutmaßlichen Konflikt zwischen der Freiheit und dem Gesetz in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen. Solcher Art sind die Lehren, die den einzelnen oder sozialen Gruppen die Fähigkeit und Befugnis zuschreiben, über Gut und Böse zu entscheiden: Die menschliche Freiheit könnte "die Werte schaffen" und würde einen Primat über die Wahrheit besitzen; ja, die Wahrheit würde sogar selbst als eine Schöpfung der Freiheit angesehen. Somit würde diese also eine solche moralische Autonomie beanspruchen, die praktisch ihre absolute Souveränität bedeuten würde. (Fs)

36. Der moderne Autonomieanspruch hat natürlich seinen Einfluß auch im Bereich der katholischen Moraltheologie ausgeübt. Auch wenn diese sicher nie die menschliche Freiheit dem göttlichen Gesetz entgegensetzen noch das Vorhandensein einer letzten religiösen Grundlage der sittlichen Normen in Frage stellen wollte, wurde sie doch zu einem gründlichen Überdenken der Rolle der Vernunft und des Glaubens bei der Begründung einzelner sittlicher Normen herausgefordert, die sich auf bestimmte "innerweltliche" Verhaltensweisen gegenüber sich selbst, gegenüber den anderen und gegenüber der Sachwelt (Welt der Dinge) beziehen. (Fs)

Man muß anerkennen, daß am Beginn dieses Bemühens um Neubesinnung einige berechtigte Anliegen stehen, die allerdings zu einem guten Teil zur besten Tradition katholischen Denkens gehören. Vom II. Vatikanischen Konzil gedrängt,1 wollte man den Dialog mit der modernen Kultur dadurch fördern, daß man den rationalen - und damit universal verständlichen und mitteilbaren - Charakter der dem Bereich des natürlichen Moralgesetzes zugehörigen sittlichen Normen an den Tag legte.2 Darüber hinaus wollte man den innerlichen Charakter sittlicher Forderungen bekräftigen, die aus dem natürlichen Sittengesetz hervorgehen und sich dem Willen nur kraft ihrer vorhergehenden Anerkennung durch die menschliche Vernunft und, konkret, das persönliche Gewissen als Verpflichtung auferlegen. (Fs)

Indem jedoch die Abhängigkeit der menschlichen Vernunft von der göttlichen Weisheit und - im gegenwärtigen Zustand der gefallenen Natur - die Notwendigkeit und Tatsächlichkeit der göttlichen Offenbarung für die Kenntnis auch natürlicher sittlicher Wahrheiten3 in Vergessenheit gerieten, sind einige zu der Theorie einer vollständigen Souveränität der Vernunft im Bereich der sittlichen Normen gelangt, die sich auf die richtige Ordnung des Lebens in dieser Welt beziehen: Diese Normen stellten den Bereich einer rein "menschlichen" Moral dar, das heißt, sie wären Ausdruck eines Gesetzes, das der Mensch sich autonom selbst gibt und das seine Quelle ausschließlich in der menschlichen Vernunft hat. Als Urheber dieses Gesetzes könnte keinesfalls Gott angesehen werden, außer in dem Sinne, daß die menschliche Vernunft ihre Gesetzgebungsautonomie aufgrund einer ursprünglichen Gesamtermächtigung Gottes an den Menschen ausübt. Diese angestrebten Überlegungen haben nun dazu geführt, gegen die Heilige Schrift und die feststehende Lehre der Kirche zu leugnen, daß das natürliche Sittengesetz Gott als seinen Urheber hat und daß der Mensch durch seine Vernunft an dem ewigen Gesetz teilhat, dessen Festlegung nicht ihm zusteht. (Fs)

37. Da man jedoch das sittliche Leben in einem christlichen Rahmen erhalten wollte, wurde von einigen Moraltheologen eine scharfe, der katholischen Lehre widersprechende4 Unterscheidung eingeführt zwischen einer sittlichen Ordnung, die menschlichen Ursprungs sei und nur innerweltlichen Wert habe, und einer Heilsordnung, für die nur bestimmte Absichten und innere Haltungen im Hinblick auf Gott und den Nächsten Bedeutung hätten. Folglich gelangte man dahin, das Vorhandensein eines spezifischen und konkreten, universal gültigen und bleibenden sittlichen Gehaltes der göttlichen Offenbarung zu leugnen: Das heute bindende Wort Gottes würde sich darauf beschränken, eine Ermahnung, eine allgemeine "Paränese" anzubieten; sie mit wahrhaft öbjektiven", d.h. an die konkrete geschichtliche Situation angepaßten, normativen Bestimmungen aufzufüllen, wäre dann allein Aufgabe der autonomen Vernunft. Eine derart verstandene Autonomie führt natürlich auch dazu, daß eine spezifische Kompetenz der Kirche und ihres Lehramtes hinsichtlich bestimmter, das sogenannte "Humanum" betreffender sittlicher Normen geleugnet wird: Sie gehörten nicht zum eigentlichen Inhalt der Offenbarung und wären, als solche, im Hinblick auf das Heil nicht von Bedeutung. (Fs) (notabene)
Eine solche Auslegung der Autonomie der menschlichen Vernunft führt, wie jeder sieht, zu Thesen, die mit der katholischen Lehre unvereinbar sind. (Fs)

In einem solchen Zusammenhang müssen unbedingt die Grundbegriffe der menschlichen Freiheit und des Moralgesetzes sowie ihre tiefen, inneren Beziehungen im Lichte des Wortes Gottes und der lebendigen Überlieferung der Kirche geklärt werden. Nur so wird es möglich sein, den berechtigten Ansprüchen menschlicher Vernunft dadurch zu entsprechen, daß man die gültigen Elemente einiger Strömungen der heutigen Moraltheologie integriert, ohne das moralische Erbgut der Kirche durch Thesen zu beeinträchtigen, die aus einem falschen Autonomiebegriff herrühren. (Fs)
Gott wollte den Menschen "der Macht der eigenen Entscheidung überlassen" (Sir 15,14)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Vatikanum 2: Vernunft - Sittengesetz; Naturgesetz; partizipative Theonomie

Kurzinhalt: Das Naturgesetz ist nämlich, wie wir gesehen haben, "nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes.

Textausschnitt: 40. Die Lehre des Konzils unterstreicht einerseits die aktive Rolle der menschlichen Vernunft bei der Auffindung und Anwendung des Sittengesetzes: Das sittliche Leben erfordert die Kreativität und den Einfallsreichtum, die der Person eigen und Quelle und Grund ihres freien und bewußten Handelns sind. Andererseits schöpft die Vernunft ihre Wahrheit und ihre Autorität aus dem ewigen Gesetz, das nichts anderes als die göttliche Weisheit ist.1 Dem sittlichen Leben liegt also das Prinzip einer "richtigen Autonomie"2 des Menschen als Person und Subjekt seiner Handlungen zugrunde. Das Sittengesetz kommt von Gott und findet immer in ihm seine Quelle: Aufgrund der natürlichen Vernunft, die aus der göttlichen Weisheit stammt, ist es zugleich das dem Menschen eigene Gesetz. Das Naturgesetz ist nämlich, wie wir gesehen haben, "nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses Gesetz hat uns Gott bei der Erschaffung geschenkt".3 Die richtige Autonomie der praktischen Vernunft bedeutet, daß der Mensch ein ihm eigenes, vom Schöpfer empfangenes Gesetz als Eigenbesitz in sich trägt. Doch die Autnomie der Vernunft kann nicht die Erschaffung der Werte und sittlichen Normen durch die Vernunft bedeuten.4 Würde eine solche Autonomie die Leugnung der Teilhabe der praktischen Vernunft an der Weisheit des göttlichen Schöpfers und Gesetzgebers einschließen oder einer schöpferischen Freiheit das Wort reden, die je nach den historischen Umständen oder der Verschiedenheit von Gesellschaften und Kulturen sittliche Normen hervorbringt, dann stünde eine solchermaßen verfochtene Autonomie im Gegensatz zur Lehre der Kirche über die Wahrheit vom Menschen.5 Sie wäre der Tod der wahren Freiheit: "Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben" (Gen 2,17). (Fs)

41. Wahre sittliche Autonomie des Menschen bedeutet in der Tat nicht Ablehnung, sondern nur Annahme des Sittengesetzes, des Gebotes Gottes: "Gott der Herr gebot dem Menschen..." (Gen 2,16). Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes begegnen einander und sind aufgerufen, sich im Sinne des freien Gehorsams des Menschen gegenüber Gott und des unverdienten Wohlwollens Gottes gegenüber dem Menschen gegenseitig zu durchdringen. Der Gehorsam Gott gegenüber ist daher nicht, wie manche meinen, eine Heteronomie, so als wäre das moralische Leben dem Willen einer absoluten Allmacht außerhalb des Menschen unterworfen, die der Behauptung seiner Freiheit widerspricht. Wenn Heteronomie der Moral tatsächlich Leugnung der Selbstbestimmung des Menschen oder Auferlegung von Normen bedeutete, die mit seinem Wohl nichts zu tun haben, dann stünde sie im Gegensatz zur Offenbarung des Bundes und der erlösenden Menschwerdung Gottes. Eine solche Heteronomie wäre nur eine Form von Entfremdung, die der göttlichen Weisheit und der Würde der menschlichen Person widerspricht. (Fs)

Manche sprechen mit Recht von Theonomie oder von partizipativer Theonomie, weil der freie Gehorsam des Menschen dem Gesetz Gottes gegenüber in der Tat die Teilhabe der menschlichen Vernunft und des menschlichen Willens an der Weisheit und Vorsehung Gottes einschließt. Wenn Gott dem Menschen verbietet, "vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen", sagt er damit, daß der Mensch diese "Erkenntnis" nicht als ursprünglichen Eigenbesitz in sich trägt, sondern nur durch das Licht der natürlichen Vernunft und der göttlichen Offenbarung, die ihm die Forderungen und Appelle der ewigen Weisheit kundtun, daran teilhat. Das Gesetz muß also Ausdruck der göttlichen Weisheit genannt werden: Indem sich die Freiheit ihm unterwirft, unterwirft sie sich der Wahrheit der Schöpfung. Darum müssen wir in der Freiheit der menschlichen Person das Abbild und die Nähe Gottes anerkennen, der "in allen gegenwärtig ist" (vgl. Eph 4,6); zugleich müssen wir die Majestät des Gottes des Alls anerkennen und die Heiligkeit des Gesetzes des unendlich transzendenten Gottes verehren. Deus semper maior.6 (Fs) (notabene)

Wohl dem Mann, der Freude hat an der Weisung des Herrn (vgl. Ps 1,1-2)

42. Die der Freiheit Gottes nachgebildete Freiheit des Menschen wird durch dessen Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes nicht nur nicht verneint, sondern vielmehr bleibt sie erst durch diesen Gehorsam in der Wahrheit und entspricht der Würde des Menschen, wie das Konzil offen schreibt: "Die Würde des Menschen verlangt, daß er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt sowie sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in angestrengtem Bemühen verschafft".7 (Fs)

In seinem Streben nach Gott, dem, der "allein gut ist", muß der Mensch in freier Entscheidung das Gute tun und das Böse meiden. Aber dazu muß der Mensch das Gute vom Bösen unterscheiden können. Und das erfolgt vor allem dank des Lichtes der natürlichen Vernunft, Widerschein des Glanzes von Gottes Angesicht im Menschen. In diesem Sinne schreibt der hl. Thomas, einen Vers des 4. Psalms kommentierend: "Nachdem der Psalmist gesagt hat: Bringt rechte Opfer dar! (Ps 4,6), als ob ihn Leute nach den Werken der Gerechtigkeit gefragt hätten, fügt er hinzu: Viele sagen: 'Wer macht uns das Gute sehen?' Und als Antwort auf die Frage sagt er: Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten! Als wollte er sagen, daß das Licht der natürlichen Vernunft, mit der wir das Gute vom Bösen unterscheiden - wofür das Naturgesetz zuständig ist -, nichts anderes als ein Abdruck des göttlichen Lichtes in uns ist".8 Daraus folgt auch, warum dieses Gesetz Naturgesetz genannt wird: Es wird so genannt nicht im Blick auf die Natur der vernunftlosen Wesen, sondern weil die Vernunft, die dieses Gesetz erläßt, zur menschlichen Natur gehört.9 (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Konflikt: Freiheit - Gesetz, F. - Natur (eg: Rotter?); Kategorien psychisch-sozialer Mechanismen; Kultur als "Konstrukt" der Freiheit

Kurzinhalt: In diesem Zusammenhang werden auch die sittlichen Tatsachen, trotz ihres eigentümlichen Charakters, oft wie statistisch erfaßbare Daten, beobachtbares Verhalten oder nur mit den Kategorien psychisch-sozialer Mechanismen erklärbar behandelt.

Textausschnitt: 46. Ein vermutlicher Konflikt zwischen Freiheit und Gesetz stellt sich heute aufs neue mit außergewöhnlicher Wucht im Hinblick auf das Naturgesetz und besonders im Hinblick auf die Natur. In Wirklichkeit haben die Debatten über Natur und Freiheit die Geschichte der moralischen Reflexion immer begleitet; mit Renaissance und Reformation haben sich diese Debatten zugespitzt, wie man aus den Lehren des Konzils von Trient ersehen kann.1 Von ähnlicher Spannung ist, wenn auch in einem anderen Sinn, die Gegenwart gezeichnet: Die Vorliebe für die empirische Beobachtung, die Verfahren wissenschaftlicher Verobjektivierung, der technische Fortschritt, gewisse Formen von Liberalismus haben die zwei Begriffe einander gegenübergestellt, als wäre die Dialektik - wenn nicht gar der Konflikt - zwischen Freiheit und Natur ein Strukturmerkmal der menschlichen Geschichte. Zu anderen Zeiten schien die "Natur" den Menschen vollständig ihren Dynamismen zu unterwerfen, ja selbst ihn zu determinieren. Heute noch scheinen vielen die räumlich-zeitlichen Koordinaten der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die physisch-chemischen Konstanten, die körperlichen und seelischen Triebkräfte und die gesellschaftlichen Zwänge die einzigen wirklich entscheidenden Faktoren der menschlichen Wirklichkeit zu sein. In diesem Zusammenhang werden auch die sittlichen Tatsachen, trotz ihres eigentümlichen Charakters, oft wie statistisch erfaßbare Daten, beobachtbares Verhalten oder nur mit den Kategorien psychisch-sozialer Mechanismen erklärbar behandelt. Und so können manche Ethiker, die von Berufs wegen sich der Untersuchung der Handlungen und Haltungen des Menschen zu widmen haben, versucht sein, ihr Wissen, ja sogar ihre Verordnungen, an einer statistischen Aufarbeitung des konkreten menschlichen Verhaltens und an den Meinungen der Mehrheit in sittlichen Fragen zu messen. (Fs)

Im Gegensatz dazu behalten andere Moraltheologen, auf Werteerziehung bedacht, eine Sensibilität, die Freiheit in Ehren zu halten, verstehen sie aber oft in Widerspruch oder Gegensatz zur materiellen und biologischen Natur, der gegenüber sie sich Schritt für Schritt zu behaupten hätte. Dabei treffen sich verschiedene Auffassungen darin, daß sie die kreatürliche Dimension der Natur vergessen und in ihrer Integrität verkennen. Für einige ist die Natur nur noch zum Rohmaterial für das menschliche Handeln und Können verkürzt: Sie müßte von der Freiheit von Grund auf umgeformt, ja überwunden werden, da sie Begrenzung und Verneinung der Freiheit darstellte. Für andere entstünden im maßlosen Steigern der Macht des Menschen bzw. der Ausweitung seiner Freiheit die ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und auch sittlichen Werte: Natur würde all das bedeuten, was im Menschen und in der Welt außerhalb der Freiheit angesiedelt ist. Diese Natur enthielte an erster Stelle den menschlichen Leib, seine Verfassung und seine Triebkräfte: Im Gegensatz zu dieser physischen Gegebenheit stünde alles "Konstruierte", also die "Kultur" als Werk und Produkt der Freiheit. Die so verstandene menschliche Natur könnte reduziert und wie ein dauernd zur Verfügung stehendes biologisches oder gesellschaftliches Material behandelt werden. Das bedeutet letzten Endes, die Freiheit durch sich selbst zu bestimmen und sie zu einer schöpferischen Instanz ihrer selbst und ihrer Werte zu machen. Auf diese Weise hätte der Mensch letztlich nicht einmal eine Natur; er wäre an und für sich sein eigenes Daseinsprojekt. Der Mensch wäre nichts weiter als seine Freiheit! (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Naturgesetz, Einwand, Gegenargument: Physizismus, Naturalismus; Seele (per se et essentialiter) als Form des Leibes

Kurzinhalt: Aufgrund einer naturalistischen Auffassung des Sexualaktes wären Empfängnisverhütung, ... als sittlich unzulässig verurteilt worden ... Eine Freiheit, die den Anspruch auf Absolutheit erhebt, behandelt schließlich den menschlichen Leib wie ...


Textausschnitt: 47. In diesem Zusammenhang wurde gegen die traditionelle Auffassung vom Naturgesetz der Einwand des Physizismus und Naturalismus erhoben: Diese Auffassung würde als sittliche Gesetze behandeln, was an sich nur biologische Gesetze wären. So hätte man allzu oberflächlich manchen menschlichen Verhaltensweisen einen bleibenden, unveränderlichen Wert zugesprochen und sich angemaßt, auf dieser Grundlage allgemein gültige sittliche Normen zu formulieren. Nach Ansicht mancher Theologen würde eine solche "biologistische oder naturalistische Beweisführung" auch in einigen Dokumenten des Lehramtes der Kirche vertreten, besonders in denen, die den Bereich der Sexualethik und Ehemoral betreffen. Aufgrund einer naturalistischen Auffassung des Sexualaktes wären Empfängnisverhütung, direkte Sterilisierung, Autoerotik, voreheliche Beziehungen, homosexuelle Beziehungen sowie künstliche Befruchtung als sittlich unzulässig verurteilt worden. Doch nach Meinung dieser Theologen berücksichtigt eine moralisch negative Bewertung solcher Handlungsweisen weder den Menschen als vernünftiges und freies Wesen noch die kulturelle Bedingtheit jeder sittlichen Norm auf angemessene Weise. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen könne nicht nur, sondern müsse geradezu frei den Sinn seines Verhaltens selbst bestimmen. Dieses "den Sinn bestimmen" werde natürlich die vielfältigen Grenzen des Menschen in seinem leiblichen und geschichtlichen Daseinszustand berücksichtigen müssen. Es werde außerdem die Verhaltensmodelle und die Bedeutungen, die diese in einer bestimmten Kultur annehmen, zu beachten haben. Und vor allem wird es das grundlegende Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe respektieren. Gott jedoch - so behauptet man dann - hat den Menschen als freies Vernunftwesen geschaffen, er hat ihn "der Macht der eigenen Entscheidung" überlassen und erwartet von ihm eine eigenständige, vernünftige Gestaltung seines Lebens. Die Liebe zum Nächsten würde vor allem und ausschließlich Achtung vor seiner freien Selbstentscheidung bedeuten. Die Mechanismen der dem Menschen eigentümlichen Verhaltensweisen sowie die sogenannten "natürlichen Neigungen" würden - wie es heißt - höchstens eine allgemeine Orientierung für richtiges Verhalten festlegen, sie könnten aber nicht über die sittliche Bewertung der einzelnen, hinsichtlich der jeweiligen Situation sehr komplexen menschlichen Handlungen entscheiden. (Fs) (notabene)

48. Angesichts einer solchen Interpretation muß die wahre, zwischen Freiheit und menschlicher Natur bestehende Beziehung aufs neue aufmerksam bedacht werden, insbesondere welchen Platz der menschliche Leib in den auf das Naturgesetz sich beziehenden Fragen einnimmt. (Fs)

Eine Freiheit, die den Anspruch auf Absolutheit erhebt, behandelt schließlich den menschlichen Leib wie Rohmaterial, bar jeglichen Sinnes und moralischen Wertes, solange die Freiheit es nicht in ihr Projekt eingebracht hat. Die menschliche Natur und der Leib erscheinen folglich als für die Wahlakte der Freiheit materiell notwendige, aber der Person, dem menschlichen Subjekt und der menschlichen Handlung äußerliche Voraussetzungen oder Bedingtheiten. Ihre Dynamismen könnten nicht Bezugspunkte für die sittliche Entscheidung darstellen, da der Endzweck dieser Neigungen nur "physische" Güter wären, von einigen "vor-sittliche" Güter genannt. Wer sich auf sie bezöge, um in ihnen nach einer Vernunftorientierung für die sittliche Ordnung zu suchen, müßte des Physizismus oder des Biologismus bezichtigt werden. Unter solchen Voraussetzungen läuft die Spannung zwischen der Freiheit und einer reduktionistisch verstandenen Natur auf eine Spaltung im Menschen selbst hinaus. (Fs) (notabene)

Diese moralische Theorie entspricht nicht der Wahrheit über den Menschen und seiner Freiheit. Sie widerspricht den Lehren der Kirche über die Einheit des menschlichen Seins, dessen vernunftbegabte Seele per se et essentialiter Form des Leibes ist.1 Die geistige und unsterbliche Seele ist das einheitsstiftende Prinzip des menschlichen Seins; sie ist es, wodurch dieses - als Person - ein Ganzes - corpore et anima unus2 - ist. Diese Definitionen weisen nicht nur darauf hin, daß auch der Leib, dem die Auferstehung verheißen ist, an der Herrlichkeit teilhaben wird; sie erinnern ebenso an die Einbindung von Vernunft und freiem Willen in alle leiblichen und sinnlichen Kräfte. Die menschliche Person ist, einschließlich des Leibes, ganz sich selbst überantwortet und gerade in der Einheit von Seele und Leib ist sie das Subjekt ihrer sittlichen Akte. Durch das Licht der Vernunft und die Unterstützung der Tugend entdeckt die menschliche Person in ihrem Leib die vorwegnehmenden Zeichen, den Ausdruck und das Versprechen der Selbsthingabe in Übereinstimmung mit dem weisen Plan des Schöpfers. Im Lichte der Würde der menschlichen Person - die durch sich selbst bestätigt werden muß - erfaßt die Vernunft den besonderen sittlichen Wert einiger Güter, denen die menschliche Person von Natur her zuneigt. Und da die menschliche Person sich nicht auf ein Projekt der eigenen Freiheit reduzieren läßt, sondern eine bestimmte geistige und leibliche Struktur umfaßt, schließt die ursprüngliche sittliche Forderung, die Person als ein Endziel und niemals als bloßes Mittel zu lieben und zu achten, wesentlich auch die Achtung einiger Grundgüter ein, ohne deren Respektierung man dem Relativismus und der Willkür verfällt. (Fs)

49. Eine Lehre, welche die sittliche Handlung von den leiblichen Dimensionen ihrer Ausführung trennt, steht im Gegensatz zur Lehre der Heiligen Schrift und der Überlieferung: Eine solche Lehre läßt in neuer Form gewisse alte, von der Kirche stets bekämpfte Irrtümer wiederaufleben, die die menschliche Person auf eine "geistige", rein formale Freiheit reduzieren. Diese Verkürzung verkennt die sittliche Bedeutung des Leibes und der sich auf ihn beziehenden Verhaltensweisen (vgl. 1 Kor 6,19). Der Apostel Paulus erklärt Ünzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Habgierige, Trinker, Lästerer und Räuber" für ausgeschlossen vom Gottesreich (vgl. 1 Kor 6,9-10). Diese Verdammung - die vom Konzil von Trient aufgegriffen wurde1 - zählt als "Todsünden" oder "infame Praktiken" einige spezifische Verhaltensweisen auf, deren willentliche Annahme die Gläubigen daran hindert, am verheißenen Erbe teilzuhaben. Tatsächlich sind Leib und Seele untrennbar: in der menschlichen Person, im willentlich Handelnden und seinem frei überlegten Tun halten sie sich miteinander oder gehen miteinander unter. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Naturgesetz, Person, Einheit (Seele, Leib);

Kurzinhalt:
Das so verstandene Naturgesetz läßt keinen Raum für eine Trennung von Freiheit und Natur: Sie sind tatsächlich harmonisch miteinander verknüpft und sind einander zutiefst verbunden.

Textausschnitt: 50. Man kann nun die wahre Bedeutung des Naturgesetzes verstehen: Es bezieht sich auf die eigentliche und ursprüngliche Natur des Menschen, auf die "Natur der menschlichen Person",1 die die Person selbst in der Einheit von Seele und Leib ist, in der Einheit ihrer sowohl geistigen wie biologischen Neigungen und aller anderen spezifischen Merkmale, die für die Erreichung ihres Endzieles notwendig sind. "Das natürliche Sittengesetz drückt aus und schreibt vor die Zielsetzungen, Rechte und Pflichten, die sich auf die leibliche und geistige Natur der menschlichen Person gründen. Es kann deshalb nicht als bloß biologisch maßgebend verstanden werden, sondern muß als die Vernunftordnung definiert werden, gemäß welcher der Mensch vom Schöpfer dazu berufen ist, sein Leben und seine Handlungen zu lenken und zu regeln und im besonderen von seinem Leib Gebrauch zu machen und über ihn zu verfügen".2 Zum Beispiel finden sich Ursprung und Fundament der Verpflichtung,[eg: überflüssiges Komma] zur absoluten Achtung des menschlichen Lebens in der der menschlichen Person eigenen Würde und nicht bloß in der natürlichen Neigung, sein physisches Leben zu erhalten. So gewinnt das menschliche Leben, das ein fundamentales Gut des Menschen ist, sittliche Bedeutung im Blick auf das Wohl der Person, das stets um seiner selbst willen geltend gemacht werden muß: Während es moralisch immer unerlaubt ist, einen unschuldigen Menschen zu töten, kann es gestattet, lobenswert und sogar geboten sein, aus Nächstenliebe oder als Zeugnis für die Wahrheit das eigene Leben hinzugeben (vgl. Joh 15,13). In Wirklichkeit kann man nur in bezug auf die menschliche Person in ihrer "geeinten Ganzheit", das heißt äls Seele, die sich im Leib ausdrückt, und als Leib, der von einem unsterblichen Geist durchlebt wird",3 die spezifisch menschliche Bedeutung des Leibes erfassen. Tatsächlich gewinnen die natürlichen Neigungen nur insofern sittliche Bedeutung, als sie sich auf die menschliche Person und ihre authentische Verwirklichung beziehen, die andererseits immer und nur im Rahmen der menschlichen Natur zustande kommen kann. Wenn die Kirche Manipulationen der Leiblichkeit, die deren menschliche Bedeutung verfälschen, zurückweist, dient sie dem Menschen und zeigt ihm den Weg der wahren Liebe, auf dem allein er den wahren Gott zu finden vermag. (Fs)

Das so verstandene Naturgesetz läßt keinen Raum für eine Trennung von Freiheit und Natur: Sie sind tatsächlich harmonisch miteinander verknüpft und sind einander zutiefst verbunden. (Fs)

"Am Anfang war das nicht so" (Mt 19,8)

51. Der vermutete Konflikt zwischen Freiheit und Natur wirkt sich auch auf die Interpretation einiger besonderer Aspekte des Naturgesetzes aus, vor allem auf seine Universalität und Unveränderlichkeit. "Wo also sind diese Regeln aufgeschrieben - fragte sich der hl. Augustinus - ... wenn nicht in dem Buch von jenem Licht, das sich Wahrheit nennt? Von da wird also jedes rechte Gesetz diktiert und überträgt sich ins Herz des Menschen, der die Gerechtigkeit wirkt, wobei es ihn nicht wieder verläßt, sondern sich ihm gleichsam einprägt, wie sich das Bild vom Ring in das Wachs einprägt, ohne aber den Ring zu verlassen".4

Dank dieser "Wahrheit" schließt das Naturgesetz Universalität ein. Da es eingeschrieben ist in die Vernunftnatur der menschlichen Person, ist es jedem vernunftbegabten und in der Geschichte lebenden Geschöpf auferlegt. Um sich in seiner spezifischen Ordnung zu vervollkommnen, muß der Mensch das Gute tun und das Böse unterlassen, über die Weitergabe und Erhaltung des Lebens wachen, die Reichtümer der sinnenhaften Welt verfeinern und entfalten, das gesellschaftliche Leben pflegen, die Wahrheit suchen, das Gute tun, die Schönheit betrachten.5

Der Graben, den einige zwischen der Freiheit der Individuen und der allen gemeinsamen Natur aufgerissen haben, verschleiert die Erfahrung der Universalität des Sittengesetzes durch die Vernunft, wie dies aus manchen philosophischen Theorien, die in der modernen Kultur großen Widerhall gefunden haben, hervorgeht. Insofern aber das Naturgesetz die Würde der menschlichen Person zum Ausdruck bringt und die Grundlage für ihre fundamentalen Rechte und Pflichten legt, ist es in seinen Geboten universal, und seine Autorität erstreckt sich auf alle Menschen. Diese Universalität sieht nicht von der Einzigartigkeit der Menschen ab, noch widerspricht sie der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit jeder einzelnen menschlichen Person: Sie umfaßt im Gegenteil grundlegend jede ihrer freien Handlungen, die die Universalität des wahren Guten bezeugen müssen. Indem sie sich dem gemeinsamen Gesetz unterwerfen, bauen unsere Handlungen die wahre Gemeinschaft der Personen auf und verwirklichen mit der Gnade Gottes die Liebe, "das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht" (Kol 3,14). Wenn sie hingegen das Gesetz verkennen oder, mit oder ohne Schuld, auch nur darüber in Unkenntnis sind, so verletzen unsere Handlungen die Gemeinschaft der Personen zum Schaden jedes einzelnen. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Geschichte - Naturgesetz; Natur des Menschen: wandelbar - unwandelbar; Christus; gestern, heute, in Ewigkeit

Kurzinhalt: Es ist nicht zu leugnen, daß sich der Mensch immer und in einer bestimmten Kultur befindet, aber ebenso wenig läßt sich bestreiten, daß sich der Mensch in dieser jeweiligen Kultur auch nicht erschöpft.

Textausschnitt: 53. Die große Sensibilität des heutigen Menschen für Geschichtlichkeit und Kultur verleitet manche dazu, an der Unveränderlichkeit des Naturgesetzes und damit am Bestehen öbjektiver Normen der Sittlichkeit"1 zu zweifeln, die für alle Menschen der Gegenwart und der Zukunft gelten, wie sie bereits für jene der Vergangenheit gegolten haben: Ist es überhaupt möglich, von gewissen vernünftigen Bestimmungen, die einst in der Vergangenheit in Unkenntnis des späteren Fortschritts der Menschheit festgelegt wurden, zu behaupten, sie seien für alle von universaler und immerwährender Geltung? (Fs) (notabene)

Es ist nicht zu leugnen, daß sich der Mensch immer und in einer bestimmten Kultur befindet, aber ebenso wenig läßt sich bestreiten, daß sich der Mensch in dieser jeweiligen Kultur auch nicht erschöpft. Im übrigen beweist die Kulturentwicklung selbst, daß es im Menschen etwas gibt, das alle Kulturen transzendiert. Dieses "Etwas" ist eben die Natur des Menschen: Sie gerade ist das Maß der Kultur und die Voraussetzung dafür, daß der Mensch nicht zum Gefangenen irgendeiner seiner Kulturen wird, sondern seine Würde als Person dadurch behauptet, daß er in Übereinstimmung mit der tiefen Wahrheit seines Wesens lebt. Wer die bleibenden konstitutiven Strukturelemente des Menschen, die auch mit seiner leiblichen Dimension zusammenhängen, in Frage stellte, befände sich nicht nur im Konflikt mit der allgemeinen Erfahrung, sondern würde auch die Bezugnahme auf den Anfang unverständlich werden lassen, die Jesus eben dort machte, wo die soziale und kulturelle Zeitsituation den ursprünglichen Sinn und die Rolle einiger sittlicher Normen entstellt hatte (vgl. Mt 19,1-9). In diesem Sinne "bekennt die Kirche, daß allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit".2 Er ist der "Anfang", der, nachdem er die menschliche Natur angenommen hat, sie in ihren Grundelementen und in ihrem Dynamismus der Gottes- und der Nächstenliebe endgültig erleuchtet.3 (Fs) (notabene)

Gewiß muß für die universal und beständig geltenden sittlichen Normen die den verschiedenen kulturellen Verhältnissen angemessenste Formulierung gesucht und gefunden werden, die imstande ist, die geschichtliche Aktualität dieser Normen unablässig zum Ausdruck zu bringen und ihre Wahrheit verständlich zu machen und authentisch auszulegen. Diese Wahrheit des Sittengesetzes entfaltet sich - wie jene des Glaubensgutes ("depositum fidei") - über die Zeiten hinweg: Die Normen, die Ausdruck dieser Wahrheit sind, bleiben im wesentlichen gülig, müssen aber vom Lehramt der Kirche den jeweiligen historischen Umständen entsprechend "eodem sensu eademque sententia"4 genauer gefaßt und bestimmt werden; die Entscheidung des Lehramtes wird vorbereitet und begleitet durch das Bemühen um Verstehen und um Formulierung, wie es der Vernunft der Gläubigen und der theologischen Reflexion eigen ist.5

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Gewissen - Wahrheit; Gewissen: Urteil - Entscheidung; Spaltung: sittlicher Bereich im engen Sinn - Material dafür

Kurzinhalt: Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müßte die Ursprünglichkeit einer gewissen konkreteren existentiellen ...

Textausschnitt: 55. Nach der Meinung verschiedener Theologen habe man, zumindest in bestimmten Perioden der Vergangenheit, die Funktion des Gewissens lediglich auf die Anwendung allgemeiner sittlicher Normen auf Einzelfälle des persönlichen Lebens beschränkt gesehen. Solche Normen - heißt es - sind aber nicht in der Lage, die unwiederholbare Besonderheit aller einzelnen konkreten Akte der Personen in ihrer Gesamtheit zu umfassen und zu berücksichtigen; sie können in gewisser Weise bei einer richtigen Bewertung der Situation behilflich sein, sie können aber nicht an die Stelle der Personen treten und ihre Aufgabe übernehmen, eine persönliche Entscheidung über ihr Verhalten in bestimmten Einzelfällen zu treffen. Ja, die vorgenannte Kritik an der traditionellen Interpretation der menschlichen Natur und ihrer Bedeutung für das sittliche Leben verleitet einige Autoren zu der Behauptung, diese Normen seien nicht so sehr ein bindendes objektives Kriterium für die Urteile des Gewissens, als vielmehr eine allgemeine Orientierung, die in erster Linie dem Menschen hilft, seinem persönlichen und sozialen Leben eine geregelte Ordnung zu geben. Darüber hinaus enthüllen sie die dem Phänomen des Gewissens eigene Komplexität: Diese steht in tiefem Zusammenhang mit dem gesamten psychologischen und affektiven Bereich und mit den vielfältigen Einflüssen der gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung des Menschen. Andererseits wird der Wert des Gewissens hochgepriesen, das vom Konzil als "Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist",1 definiert wurde. Diese Stimme - so wird gesagt - veranlasse den Menschen nicht so sehr zu einer peinlich genauen Beachtung der universalen Normen, als zu einer kreativen und verantwortlichen Übernahme der persönlichen Aufgaben, die Gott ihm anvertraut. (Fs)

In dem Wunsch, den "kreativen" Charakter des Gewissens hervorzuheben, bezeichnen manche Autoren die Akte des Gewissens nicht mehr als "Urteile", sondern als "Entscheidungen": Nur dadurch, daß der Mensch "autonom" diese Entscheidungen trifft, könne er zu seiner sittlichen Reife gelangen. Einige vertreten auch die Ansicht, dieser Reifungsprozeß würde von der allzu kategorischen Haltung behindert, die in vielen moralischen Fragen das Lehramt der Kirche einnimmt, dessen Eingriffe bei den Gläubigen das Entstehen unnötiger Gewissenskonflikte verursachen würden. (Fs)

56. Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müßte die Ursprünglichkeit einer gewissen konkreteren existentiellen Betrachtungsweise anerkannt werden. Diese könnte, indem sie den Umständen und der Situation Rechnung trägt, legitimerweise Ausnahmen bezüglich der theoretischen Regel begründen und so gestatten, in der Praxis guten Gewissens das zu tun, was vom Sittengesetz als für in sich schlecht eingestuft wird. Auf diese Weise entsteht in einigen Fällen eine Trennung oder auch ein Gegensatz zwischen der Lehre von der im allgemeinen gültigen Vorschrift und der Norm des einzelnen Gewissens, das in der Tat letzten Endes über Gut und Böse entscheiden würde. Auf dieser Grundlage maßt man sich an, die Zulässigkeit sogenannter "pastoraler" Lösungen zu begründen, die im Gegensatz zur Lehre des Lehramtes stehen, und eine "kreative" Hermeneutik zu rechtfertigen, nach welcher das sittliche Gewissen durch ein partikulares negatives Gebot tatsächlich nicht in allen Fällen verpflichtet würde. (Fs)

Es gibt wohl niemanden, der nicht begreifen wird, daß mit diesen Ansätzen nichts weniger als die Identität des sittlichen Gewissens selbst gegenüber der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes in Frage gestellt wird. Erst die vorausgehende Klärung der auf die Wahrheit gegründeten Beziehung zwischen Freiheit und Gesetz macht eine Beurteilung dieser "schöpferischen" Interpretation des Gewissens möglich. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Gewissensurteil; Paulus, Bonaventura; Gewissen - Naturgesetz

Kurzinhalt: "Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, ...

Textausschnitt: 57. Derselbe Text aus dem Römerbrief, der uns das Wesen des Naturgesetzes verständlich machte, weist auch auf den biblischen Sinn des Gewissens hin, besonders in seiner spezifischen Verbindung mit dem Gesetz: "Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich" (Röm 2,14-15). (Fs)

Nach den Worten des hl. Paulus stellt das Gewissen den Menschen gewissermaßen dem Gesetz gegenüber, wodurch es selber zum "Zeugen" für den Menschen wird: Zeuge seiner Treue oder Untreue gegenüber dem Gesetz, das heißt seiner fundamentalen sittlichen Rechtschaffenheit oder Schlechtigkeit. Das Gewissen ist der einzige Zeuge: Was im Innersten der menschlichen Person vor sich geht, bleibt den Augen von jedermann draußen verborgen. Es wendet sich mit seinem Zeugnis nur an die Person selber. Und nur die Person wiederum kennt die eigene Antwort auf die Stimme des Gewissens. (Fs) (notabene)

58. Die Bedeutung dieses inneren Dialogs des Menschen mit sich selbst wird man niemals angemessen zu schätzen wissen. In Wirklichkeit ist er jedoch der Dialog des Menschen mit Gott, dem Urheber des Gesetzes, dem ersten Vorbild und letzten Ziel des Menschen. "Das Gewissen - schreibt der hl. Bonaventura - ist gleichsam der Herold Gottes und der Bote, und was es sagt, befiehlt es nicht von sich aus, sondern als Botschaft, die von Gott stammt, wie ein Herold, wenn er den Erlaß des Königs verkündet. Und daher rührt die verpflichtende Kraft des Gewissens".1 Man kann also sagen, daß das Gewissen dem Menschen selber Zeugnis gibt von der Rechtschaffenheit bzw. Schlechtigkeit des Menschen, aber zugleich, ja noch früher, ist es Zeugnis von Gott selbst, dessen Stimme und dessen Urteil das Innerste des Menschen bis an die Wurzeln seiner Seele durchdringen, wenn sie ihn fortiter et suaviter zum Gehorsam rufen: "Das sittliche Gewissen schließt den Menschen nicht in eine unüberschreitbare und undurchdringliche Einsamkeit ein, sondern öffnet ihn für den Ruf, für die Stimme Gottes. Darin und in nichts anderem besteht das ganze Geheimnis und die Würde des sittlichen Gewissens: daß es nämlich der Ort ist, der heilige Raum, in dem Gott zum Menschen spricht".2 (Fs) (notabene)

59. Der hl. Paulus beschränkt sich nicht auf die Anerkennung des Gewissens als "Zeuge", sondern er enthüllt auch, auf welche Weise es eine solche Funktion erfüllt. Es handelt sich um "Gedanken", die die Heiden in bezug auf ihre Verhaltensweisen anklagen oder verteidigen (vgl. Röm 2,15). Der Ausdruck "Gedanken" macht den eigentlichen Charakter des Gewissens offenkundig, nämlich ein sittliches Urteil über den Menschen und seine Handlungen zu sein: Es ist ein Urteil, das freispricht oder verurteilt, je nachdem, ob die menschlichen Handlungen mit dem in das Herz eingeschriebenen Gesetz Gottes übereinstimmen oder von ihm abweichen. Und genau von dem Urteil über die Handlungen, und zugleich über ihren Urheber sowie den Zeitpunkt der endgültigen Erfüllung des Urteils, spricht der Apostel Paulus in demselben Text als von "jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkündige, das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird" (Röm 2,16). (Fs)

Das Urteil des Gewissens ist ein praktisches Urteil, das heißt ein Urteil, das anordnet, was der Mensch tun oder lassen soll, oder das eine von ihm bereits ausgeführte Tat bewertet. Es ist ein Urteil, das die vernünftige Überzeugung, daß man das Gute lieben und tun und das Böse meiden soll, auf eine konkrete Situation anwendet. Dieses erste Prinzip der praktischen Vernunft gehört zum Naturgesetz, ja es stellt dessen eigentliche Grundlage dar, insofern es jenes ursprüngliche Licht zur Unterscheidung von Gut und Übel zum Ausdruck bringt, das als Widerschein der schöpferischen Weisheit Gottes wie ein unzerstörbarer Funke (scintilla animae) im Herzen jedes Menschen strahlt. Während jedoch das Naturgesetz die objektiven und universalen Ansprüche des sittlich Guten herausstellt, ist das Gewissen die Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall und wird so für den Menschen zu einem inneren Gebot, zu einem Anruf, in der konkreten Situation das Gute zu tun. Das Gewissen drückt also die sittliche Verpflichtung im Lichte des Naturgesetzes aus: Es ist die Verpflichtung, das zu tun, was der Mensch durch seinen Gewissensakt als ein Gutes erkennt, das ihm hier und jetzt aufgegeben ist. Der universale Charakter des Gesetzes und der Verpflichtung wird nicht ausgelöscht, sondern vielmehr anerkannt, wenn die Vernunft deren Anwendungen in der konkreten aktuellen Situation bestimmt. Das Urteil des Gewissens bestätigt "abschließend" die Übereinstimmung eines bestimmten konkreten Verhaltens mit dem Gesetz; es ist die nächstliegende Norm der Sittlichkeit einer willentlichen Handlung und realisiert "die Anwendung des objektiven Gesetzes auf einen Einzelfall".3

60. Wie das Naturgesetz selbst und jede praktische Erkenntnis, hat auch das Urteil des Gewissens befehlenden Charakter: Der Mensch soll in Übereinstimmung mit ihm handeln. Wenn der Mensch gegen dieses Urteil handelt oder auch wenn er bei fehlender Sicherheit über die Richtigkeit und Güte eines bestimmten Aktes diesen dennoch ausführt, wird er vom eigenen Gewissen, das die letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit ist, verurteilt. Die Würde dieser Vernunftinstanz und die Autorität ihrer Stimme und ihrer Urteile stammen aus der Wahrheit über sittlich Gut und Böse, die zu hören und auszudrücken sie gerufen ist. Auf diese Wahrheit wird vom "göttlichen Gesetz", der universalen und objektiven Norm der Sittlichkeit, hingewiesen. Das Urteil des Gewissens begründet nicht das Gesetz, aber es bestätigt die Autorität des Naturgesetzes und der praktischen Beziehung in Beziehung zum höchsten Gut, dessen Anziehungskraft die menschliche Person erfährt und dessen Gebote sie annimmt: "Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, welche die Übereinstimmung seiner Entscheidungen mit den Geboten und Verboten begründet und bedingt, die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegen."4 (Fs) (notabene)

61. Die im Gesetz der Vernunft ausgesprochene Wahrheit über das sittlich Gute wird vom Urteil des Gewissens praktisch und konkret anerkannt, was dazu führt, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das begangene Böse zu übernehmen: Wenn der Mensch Schlechtes tut, bleibt das richtige Gewissensurteil in ihm Zeuge der universalen Wahrheit des Guten wie auch der Schlechtigkeit seiner Einzelentscheidung. Aber der Spruch des Gewissens bleibt in ihm auch so etwas wie ein Unterpfand der Hoffnung und des Erbarmens: Während es das begangene Übel bestätigt, erinnert es auch daran, um Verzeihung zu bitten, das Gute zu tun und unaufhörlich mit Gottes Gnade die Tugend zu üben. (Fs)
So offenbart sich im praktischen Urteil des Gewissens, das der menschlichen Person die Verpflichtung zum Vollzug einer bestimmten Handlung auferlegt, das Band zwischen Freiheit und Wahrheit. Deshalb zeigt sich das Gewissen mit "Urteils"-Akten, die die Wahrheit über das Gute widerspiegeln, und nicht in willkürlichen "Entscheidungen". Und die Reife und Verantwortung dieser Urteile - und letztlich des Menschen, der ihr Subjekt ist - läßt sich nicht an der Befreiung des Gewissens von der objektiven Wahrheit zugunsten einer angeblichen Autonomie der eigenen Entscheidungen messen, sondern im Gegenteil am beharrlichen Suchen nach der Wahrheit und daran, daß man sich von ihr beim Handeln leiten läßt. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Grundentscheidung, Grundoption (transzendental, athematisch; eg: Rahner); zwei Ebenen der Sittlichkeit

Kurzinhalt: Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen.

Textausschnitt: 65. Das heute besonders brennende Interesse an der Freiheit veranlaßt viele Vertreter der Humanwissenschaften wie auch der Theologie, eine gründlichere Analyse ihrer Natur und ihrer Dynamik zu entwickeln. Mit Recht betont man, daß Freiheit nicht nur bedeutet, diese oder jene Einzelhandlung zu wählen, sondern sie ist, innerhalb einer solchen Wahl, auch Entscheidung über sich und Verfügung darüber, das eigene Leben für oder gegen das Gute, für oder gegen die Wahrheit, endgültig für oder gegen Gott einzusetzen. Mit Recht unterstreicht man die herausragende Bedeutung einiger Entscheidungen, die dem ganzen sittlichen Leben eines Menschen dadurch "Gestalt" verleihen, daß sie gleichsam zum Flußbett werden, in dem dann auch andere tägliche Einzelentscheidungen Platz und Entfaltung finden können. (Fs)

Einige Autoren schlagen freilich eine viel radikalere Revision der Beziehung zwischen Person und Handlung vor. Sie sprechen von einer "fundamentalen Freiheit", die tiefgründiger und anders als die Wahlfreiheit ist, und ohne deren Berücksichtigung die menschlichen Handlungen weder begriffen noch korrekt bewertet werden könnten. Nach diesen Autoren käme die Schlüsselrolle im sittlichen Leben einer "Grundoption" zu, die durch jene fundamentale Freiheit vollzogen wird, mittels der die menschliche Person über sich selbst als ganze entscheidet, und zwar nicht durch bestimmte und bewußte Wahl auf reflexer Ebene, sondern in "transzendentaler" und "athematischer" Weise. Die aus dieser Option stammenden Einzelhandlungen wären nur partiell und niemals endgültige Versuche, diese Grundoption auszudrücken; sie wären lediglich "Zeichen" oder Symptom für sie. Unmittelbarer Gegenstand dieser Handlungen ist - so heißt es - nicht das absolute Gute (dem gegenüber sich, auf transzendentaler Ebene, die Freiheit der Person äußern würde), sondern es sind die Einzelgüter (auch "kategoriale" Güter genannt). Doch nach der Meinung einiger Theologen könnte aufgrund ihrer partialen Natur keines dieser Güter die Freiheit des Menschen als Person völlig in Anspruch nehmen, auch wenn der Mensch nur durch ihre Verwirklichung bzw. ihre Zurückweisung seine Grundoption zum Ausdruck bringen kann. (Fs) (notabene)

So wird schließlich eine Unterscheidung zwischen der Grundoption und der freien Wahl konkreter Verhaltensweisen eingeführt, eine Unterscheidung, die bei einigen Autoren genau dann die Form einer Dissoziierung annimmt, wenn sie das sittlich "Gute" und "Schlechte" ausdrücklich der transzendentalen Dimension der Grundoption vorbehalten, während sie die Wahl einzelner "innerweltlicher" - das heißt die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu den anderen und zur Welt der Dinge betreffender - Verhaltensweisen als "richtig" oder "falsch" bezeichnen. Auf diese Weise scheint sich im menschlichen Handeln eine Spaltung zwischen zwei Ebenen der Sittlichkeit abzuzeichnen: die vom Willen abhängige Ordnung von Gut und Böse auf der einen und die konkreten Verhaltensweisen auf der anderen Seite, die erst infolge einer technischen Abwägung des Verhältnisses zwischen "vorsittlichen" oder "physischen" Gütern und Übeln, auf die sich die Handlung tatsächlich bezieht, als sittlich richtig oder falsch beurteilt werden. Und das geht so weit, daß ein konkretes Verhalten, obwohl frei gewählt, gleich wie ein bloßes Naturgeschehen und nicht nach den auf menschliche Handlungen zutreffenden Kriterien betrachtet wird. Das Ergebnis, zu dem man gelangt, lautet: die im eigentlichen Sinn sittliche Qualifizierung der Person hängt allein von der Grundoption ab; welche Einzelhandlungen oder konkrete Verhaltensweisen man wählt, ist für deren Ausformung ganz oder teilweise belanglos. (Fs)

66. Zweifellos anerkennt die christliche Sittenlehre in ihren eigenen biblischen Wurzeln die besondere Bedeutung einer Grundentscheidung, die das sittliche Leben kennzeichnet und die Freiheit radikal Gott gegenüber in Anspruch nimmt. Es handelt sich um die Entscheidung des Glaubens, um den Gehorsam des Glaubens (vgl. Röm 16,26), in dem "der Mensch sich als ganzer Gott in Freiheit überantwortet, indem er sich 'dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft'".1 Dieser Glaube, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6), kommt aus der Mitte des Menschen, aus seinem "Herzen" (vgl. Röm 10,10) und ist von daher berufen, Gutes hervorzubringen in den Werken (vgl. Mt 12,33-35; Lk 6,45; Röm 8,5-8; Gal 5,22). Im Dekalog steht über den einzelnen Geboten der fundamentale Satz: "Ich bin Jahwe, dein Gott ..." (Ex 20,2), der dadurch, daß er den vielfältigen und verschiedenen Einzelgeboten den ursprünglichen Sinn aufprägt, der Moral des Bundes den Charakter der Ganzheit, Einheit und Tiefe sichert. Die Grundentscheidung Israels betrifft also das grundlegende Gebot (vgl. Jos 24,14-25; Ex 19,3-8; Mich 6,8). Auch die Moral des Neuen Bundes wird von dem grundlegenden Aufruf Jesu zu seiner "Nachfolge" beherrscht - so sagt er auch zu dem jungen Mann: "Wenn du vollkommen sein willst, ... komm und folge mir nach!" (Mt 19,21) -: Auf diesen Anruf antwortet der Jünger mit einer radikalen Entscheidung. Die evangelischen Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der verlorenen Perle, für die einer seinen ganzen Besitz verkauft, sind beredte und wirkungsvolle Bilder für den radikalen und bedingungslosen Charakter der Entscheidung, die das Reich Gottes erfordert. Die Radikalität der Entscheidung, Jesus nachzufolgen, findet großartigen Ausdruck in seinen Worten: "Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten" (Mk 8,35). (Fs)

Der Aufruf Jesu "komm und folge mir nach" bezeichnet den größtmöglichen Lobpreis der Freiheit des Menschen und bestätigt gleichzeitig die Wahrheit und Verpflichtung von Glaubensakten und Entscheidungen, die man Grundoption nennen kann. Einer ähnlichen Hochschätzung der menschlichen Freiheit begegnen wir in den Worten des hl. Paulus: "Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder" (Gal 5,13). Aber der Apostel fügt sogleich eine ernste Mahnung an: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch!". In dieser Mahnung klingen seine vorausgegangenen Worte an: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und laßt euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1). Der Apostel Paulus fordert uns zur Wachsamkeit auf: Die Freiheit ist ständig von der Knechtschaft bedroht. Und genau das trifft auf einen Glaubensakt - im Sinne einer Grundoption - zu, der den oben erwähnten Tendenzen entsprechend von der Wahl der Einzelakte getrennt wird. (Fs)
67. Diese Tendenzen stehen also im Gegensatz zur biblischen Lehre, welche die Grundoption als eine echte und eigentliche Entscheidung der Freiheit versteht und diese Entscheidung zutiefst mit den konkreten Einzelhandlungen verbindet. Durch die Grundentscheidung ist der Mensch befähigt, dem göttlichen Ruf folgend sein Leben auf sein Ziel auszurichten und dies mit Hilfe der Gnade anzustreben. Aber tatsächlich ausgeübt wird diese Befähigung jeweils in der konkreten Wahl bestimmter Handlungen, durch die der Mensch sich aus freiem Entschluß nach dem Willen, der Weisheit und dem Gesetz Gottes richtet. Es muß deshalb festgehalten werden, daß sich die sogenannte Grundoption - insoweit sie sich von einer bloß generellen, bezüglich der konkret engagierten Festlegung der Freiheit noch unbestimmten Intention unterscheidet - immer durch bewußte und freie Wahlakte verwirklicht. Eben deshalb wird die Grundoption genau dann widerrufen, wenn der Mensch in sittlich schwerwiegender Materie seine Freiheit durch bewußte, in entgegengesetzte Richtung weisende Wahlakte engagiert. (Fs) (notabene)

Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen. Eine Grundoption, verstanden ohne ausdrückliche Berücksichtigung der Möglichkeiten, die sie aktualisiert, und der Konkretisierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, wird der dem Handeln des Menschen und jeder seiner freien Wahlakte innewohnenden rationalen Zielhaftigkeit nicht gerecht. In Wirklichkeit ist die sittliche Qualität der menschlichen Handlungen nicht allein aus der Absicht, der Grundorientierung oder Grundoption abzuleiten - verstanden im Sinne einer Intention ohne klar bestimmte bindende Inhalte bzw. einer Intention, die kein tatkräftiges Bemühen hinsichtlich der verschiedenen Verpflichtungen des sittlichen Lebens entspricht. Die Sittlichkeit kann nicht beurteilt werden, wenn man absieht von der Übereinstimmung bzw. dem Widerspruch der bedachten Wahl einer konkreten Verhaltensweise mit der Würde und der integralen Berufung der menschlichen Person. Jede Handlungswahl schließt immer eine Bezugnahme des freien Willens auf jene Güter und Übel ein, wie sie vom Naturgesetz als zu verfolgendes Gutes und zu meidendes Übel aufgewiesen werden. Im Falle der positiv gebietenden sittlichen Gebote ist es stets Aufgabe der Klugheit festzustellen, wie weit sie für eine bestimmte Situation zutreffen, indem man zum Beispiel andere, vielleicht wichtigere oder dringendere Verpflichtungen berücksichtigt. Die negativ formulierten sittlichen Gebote hingegen, das heißt diejenigen, die einige konkrete Handlungen oder Verhaltensweisen als in sich schlecht verbieten, lassen keine legitime Ausnahme zu; sie lassen keinerlei moralisch annehmbaren Freiraum für die "Kreativität" irgendeiner gegensätzlichen Bestimmung. Ist einmal die sittliche Artbestimmung einer von einer allgemeingültigen Regel verbotenen konkret definierten Handlung erkannt, so besteht das sittlich gute Handeln allein darin, dem Sittengesetz zu gehorchen und die Handlung, die es verbietet, zu unterlassen. (Fs) (notabene)

68. Hier gilt es, eine wichtige pastorale Überlegung anzufügen. Gemäß der Logik der oben skizzierten Positionen könnte der Mensch kraft einer Grundoption Gott treu bleiben, unabhängig davon, ob einige seiner Wahlentscheidungen und seiner konkreten Handlungen mit den spezifischen darauf bezogenen sittlichen Normen oder Regeln übereinstimmen oder nicht. Aufgrund einer anfänglichen Option für die Liebe könnte der Mensch sittlich gut bleiben, in der Gnade Gottes verharren und sein Heil erlangen, auch wenn einige seiner konkreten Verhaltensweisen aus freiem Entschluß und in schwerwiegender Sache zu den von der Kirche wieder vorgelegten Geboten Gottes entschieden und ernsthaft im Gegensatz stünden. (Fs)

In Wirklichkeit geht der Mensch nicht nur durch die Untreue gegenüber jener Grundoption verloren, durch die er sich "als ganzer Gott in Freiheit" überantwortet.1 Durch jede aus bedachtem Entschluß begangene Todsünde beleidigt er Gott, der ihm das Gesetz geschenkt hat, und macht sich daher dem ganzen Gesetz gegenüber schuldig (vgl. Jak 2,8-11); auch wenn er im Glauben bleibt, verliert er die "heiligmachende Gnade", die "Liebe" und die "ewige Seligkeit".2 "Die einmal empfangene Gnade der Rechtfertigung - so lehrt das Konzil von Trient - kann nicht nur durch die Untreue, die den Menschen um seinen Glauben bringt, sondern auch durch jede andere Todsünde verlorengehen".3

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Todsünde, lässliche Sünde; Gruntentscheidung - Materie der Sittlichkeit

Kurzinhalt: Es wäre daher notwendig - so heißt es -, die Schwere der Sünde eher am Grad zu messen, in dem sie die Freiheit der handelnden Person engagiert, als an der Materie der betreffenden Handlung.

Textausschnitt: 69. Die Erwägungen über die Grundoption haben, wie wir bemerkten, einige Theologen veranlaßt, auch die traditionelle Unterscheidung zwischen Todsünden und läßlichen Sünden einer tiefgreifenden Revision zu unterziehen. Sie unterstreichen, daß der Widerspruch zum Gesetz Gottes, der den Verlust der heiligmachenden Gnade - und, im Falle des Todes in einem solchen Zustand der Sünde, die ewige Verdammnis - verursacht, nur das Ergebnis eines Aktes sein kann, der die Person in ihrer Totalität beansprucht, das heißt eben eines Aktes der Grundoption. Nach diesen Theologen würde sich die Todsünde, die den Menschen von Gott trennt, nur in der Zurückweisung Gottes ereignen, vollzogen auf einer nicht mit einem Wahlakt identifizierbaren und nicht durch reflektierte Bewußtheit erreichbaren Ebene der Freiheit. In diesem Sinne - so fügen sie hinzu - ist es zumindest psychologisch schwierig, die Tatsache zu akzeptieren, daß ein Christ, der mit Jesus Christus und seiner Kirche vereint bleiben will, so leicht und immer wieder Todsünden begehen kann, wie dies die "Materie" seiner Taten hin und wieder vermuten ließe. Ebenso fiele es schwer anzunehmen, der Mensch sei imstande, in kurzer Zeit die Bande der Gemeinschaft mit Gott radikal zu zerbrechen und sich im nachhinein durch aufrichtige Buße zu ihm zu bekehren. Es wäre daher notwendig - so heißt es -, die Schwere der Sünde eher am Grad zu messen, in dem sie die Freiheit der handelnden Person engagiert, als an der Materie der betreffenden Handlung. (Fs)

70. Das nachsynodale Apostolische Schreiben Reconciliatio et paenitentia hat die Bedeutung und bleibende Aktualität der Unterscheidung zwischen Todsünden und läßlichen Sünden, gemäß der Tradition der Kirche, betont. Und die Bischofssynode von 1983, aus der dieses Schreiben hervorgegangen ist, "hat nicht nur die vom Tridentinischen Konzil über Existenz und Natur von Todsünde und läßlicher Sünde verkündete Lehre bekräftigt, sondern hat auch daran erinnern wollen, daß jene Sünde eine Todsünde ist, die eine schwerwiegende Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewußtsein und bedachter Zustimmung begangen wird".1

Die Aussage des Konzils von Trient hat nicht nur die "schwerwiegende Materie" der Todsünde im Auge, sondern erwähnt auch als ihre Voraussetzung "das volle Bewußtsein und die bedachte Zustimmung". Im übrigen kennt man sowohl in der Moraltheologie wie in der Seelsorgepraxis Fälle, wo ein aufgrund seiner Materie schwerwiegender Akt deshalb keine Todsünde darstellt, weil das volle Bewußtsein oder die bedachte Zustimmung dessen, der den Akt vollbrachte, nicht gegeben war. Andererseits "muß man vermeiden, die Todsünde zu beschränken auf den Akt einer Grundentscheidung oder Grundoption ("optio fundamentalis") gegen Gott, wie man heute zu sagen pflegt, unter der man dann eine ausdrückliche und formale Beleidigung Gottes oder des Nächsten oder eine mitinbegriffene und unüberlegte Zurückweisung der Liebe versteht. Es handelt sich nämlich auch um eine Todsünde, wenn sich der Mensch bewußt und frei aus irgendeinem Grunde für etwas entscheidet, was in schwerwiegender Weise sittlich ungeordnet ist. Tatsächlich ist ja in einer solchen Entscheidung bereits eine Mißachtung des göttlichen Gebotes enthalten, eine Zurückweisung der Liebe Gottes zur Menschheit und zur ganzen Schöpfung: Der Mensch entfernt sich so von Gott und verliert die Liebe. Die Grundorientierung kann also durch konkrete Einzelhandlungen völlig umgeworfen werden. Zweifellos kann es unter psychologischem Aspekt viele komplexe und dunkle Situationen geben, die auf die subjektive Schuld des Sünders Einfluß haben mögen. Aufgrund einer Betrachtung auf psychologischer Ebene kann man jedoch nicht zur Schaffung einer theologischen Kategorie, wie gerade diejenige der öptio fundamentalis" übergehen, wenn sie so verstanden wird, daß sie auf der objektiven Ebene die traditionelle Auffassung von Todsünde ändert oder in Zweifel zieht".2

Die Dissoziierung von Grundoption und bedachter, diese nicht in Frage stellender Wahl bestimmter, in sich selbst oder durch die Umstände ungeordneter Verhaltensweisen, hängt also mit der Verkennung der katholischen Lehre über die Todsünde zusammen: "Mit der ganzen Tradition der Kirche nennen wir denjenigen Akt eine Todsünde, durch den ein Mensch bewußt und frei Gott und sein Gesetz sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm anbietet, zurückweist, indem er es vorzieht, sich sich selbst zuzuwenden oder irgendeiner geschaffenen oder endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen Willen steht (conversio ad creaturam - Hinwendung zum Geschaffenen). Dies kann auf direkte und formale Weise geschehen, wie bei den Sünden der Götzenverehrung, des Abfalles von Gott und der Gottlosigkeit, oder auf gleichwertige Weise, wie in jedem Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes bei schwerwiegender Materie".3

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Teleologie, Teleologismus; Sittlichkeit - Ziel, Zielgerichtetheit

Kurzinhalt: ... und das willentliche Streben nach diesem Gut machen die Sittlichkeit aus. Das menschliche Handeln kann also nicht allein deshalb als sittlich gut bewertet werden, weil es dazu dienlich ist, dieses oder jenes verfolgte Ziel zu erreichen, ...

Textausschnitt: 71. Die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes, die ihren tiefsten und lebendigen Sitz im sittlichen Gewissen hat, äußert und verwirklicht sich in den menschlichen Handlungen. Gerade durch seine Handlungen vervollkommnet sich der Mensch als Mensch, als Mensch, der berufen ist, aus eigenem Entschluß seinen Schöpfer zu suchen und in Zugehörigkeit zu ihm frei zur vollen und seligen Vollendung zu gelangen.1

Menschliche Handlungen sind sittliche Handlungen, weil sie das Gutsein oder die Schlechtigkeit des jene Handlungen vollziehenden Menschen selbst ausdrücken und über sie entscheiden.2 Sie rufen nicht nur Veränderungen in dem Menschen äußerlichen Sachverhalten hervor, sondern als freie Wahlakte qualifizieren sie in sittlicher Hinsicht die Person selbst, die sie vollzieht, und bestimmen ihr geistiges Tiefenprofil, wie der hl. Gregor von Nyssa eindrucksvoll feststellt: "Alle dem Werden unterworfenen Wesen bleiben niemals sich selbst identisch, sondern gehen durch eine dauernd wirkende Veränderung zum Guten oder zum Schlechten ständig von einem Zustand in einen anderen über ... Der Veränderung unterworfen sein, heißt also unablässig geboren werden ... Aber die Geburt erfolgt hier nicht durch einen äußeren Eingriff, wie es bei den leiblichen Wesen der Fall ist ... Sie ist das Ergebnis freier Wahl, und so sind wir gewissermaßen unsere eigenen Erzeuger, indem wir uns so erschaffen, wie wir wollen, und uns mit unserer Wahl die Gestalt geben, die wir wollen".3

72. Die Sittlichkeit der Handlungen bestimmt sich aufgrund der Beziehung der Freiheit des Menschen zum wahrhaft Guten. Dieses Gute ist als ewiges Gesetz durch Gottes Weisheit begründet, die jedes Wesen auf sein Endziel hinordnet: Erkannt wird dieses ewige Gesetz sowohl durch die natürliche Vernunft des Menschen (so heißt es "Naturgesetz") als auch - in vollumfänglicher und vollkommener Weise - durch die übernatürliche Offenbarung Gottes (dann nennt man es "göttliches Gesetz"). Das Handeln ist sittlich gut, wenn die der Freiheit entspringenden Wahlakte mit dem wahren Gut des Menschen übereinstimmen und damit Ausdruck der willentlichen Hinordnung der Person auf ihr letztes Ziel, also Gott selber, sind: Das höchste Gut, in dem der Mensch sein volles und vollkommenes Glück findet. Die Eingangsfrage in dem Gespräch des jungen Mannes mit Jesus: "Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Mt 19,16), verdeutlicht in direkter Weise den wesenhaften Zusammenhang zwischen dem sittlichen Wert einer Handlung und dem letzten Ziel des Menschen. Jesus bestätigt in seiner Antwort die Überzeugung seines Gesprächspartners: Das Tun des Guten, wie es von dem geboten ist, der "allein der Gute" ist, stellt die unerläßliche Voraussetzung und den Weg zur ewigen Seligkeit dar: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt 19,17). Die Antwort Jesu und der Hinweis auf die Gebote machen auch offenkundig, daß der Weg zum Ziel von der Befolgung der göttlichen Gesetze, die das menschliche Wohl schützen, vorgezeichnet wird. Nur eine Handlung, die dem Guten entspricht, kann Weg zum Leben sein. (Fs)

Die vernunftgeleitete Hinordnung der menschlichen Handlungen auf das wahrhaft Gute und das willentliche Streben nach diesem Gut machen die Sittlichkeit aus. Das menschliche Handeln kann also nicht allein deshalb als sittlich gut bewertet werden, weil es dazu dienlich ist, dieses oder jenes verfolgte Ziel zu erreichen, oder einfach weil die Absicht des Handelnden gut ist.4 Das menschliche Handeln ist dann sittlich gut, wenn es die willentliche Hinordnung der menschlichen Person auf das letzte Ziel und die Übereinstimmung der konkreten Handlung mit dem wahren menschlichen Gut, wie es von der Vernunft in seiner Wahrheit erkannt wird, bestätigt und zum Ausdruck bringt. Wenn der Gegenstand der konkreten Handlung nicht mit dem wahren Gut der Person in Einklang steht, macht die Wahl dieser Handlung unseren Willen und uns selber sittlich schlecht und setzt uns damit in Gegensatz zu unserem letzten Ziel, dem höchsten Gut, das heißt Gott selber. (Fs)

73. Dank der Offenbarung Gottes und des Glaubens weiß der Christ um das "Neue", von dem die Sittlichkeit seiner Taten gekennzeichnet ist; diesen kommt es zu, bestehender oder nicht bestehender konsequenter Übereinstimmung mit jener Würde und Berufung Ausdruck zu geben, die ihm durch Gnade geschenkt worden sind: In Jesus Christus und seinem Geist ist der Christ eine "neue Schöpfung", Kind Gottes, und durch seine Handlungen bekundet er seine Übereinstimmung mit oder seine Abweichung von dem Bild des Sohnes, der der Erstgeborene unter vielen Brüdern ist (vgl. Röm 8,29), lebt er seine Treue oder Untreue gegenüber dem Geschenk des Geistes und öffnet oder verschließt er sich dem ewigen Leben, der Gemeinschaft von Schau, Liebe und Seligkeit mit Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist.5 Christus "gestaltet uns so nach seinem Bild - schreibt der hl. Kyrillos von Alexandrien -, daß durch die Heiligung und die Gerechtigkeit und das gute und tugendmäßige Leben die Züge seiner göttlichen Natur in uns zum Leuchten kommen... Die Schönheit dieses Bildes erstrahlt in uns, die wir in Christus sind, wenn wir uns in den Werken als gute Menschen erweisen".6

In diesem Sinne besitzt das sittliche Leben einen wesenhaft "teleologischen" Charakter, weil es in der freien und bewußten Hinordnung des menschlichen Handelns auf Gott, das höchste Gut und letzte Ziel (telos) des Menschen, besteht. Das bestätigt wiederum die Frage des jungen Mannes an Jesus: "Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Aber diese Hinordnung auf das letzte Ziel bewegt sich nicht in einer bloß subjektivistischen Dimension, die nur von der Absicht abhinge. Sie setzt voraus, daß diesen Handlungsweisen von sich aus die Eigenschaft zukommt, auf dieses Ziel hingeordnet werden zu können, weil sie nämlich dem durch die Gebote geschützten wahren sittlichen Gut des Menschen entsprechen. Genau das spricht Jesus in der Antwort an den reichen Jüngling an: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!" (Mt 19,17). (Fs)

Offensichtlich geht es um eine vernunftgeleitete und freie, bewußte und überlegte Hinordnung, kraft welcher der Mensch für seine Handlungen "verantwortlich" und dem Urteil Gottes unterworfen ist, des gerechten und guten Richters, der das Gute belohnt und das Böse bestraft, wie der Apostel Paulus ausführt: "Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat" (2 Kor 5,10). (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Teleologie, Teleologismus; "Quellen der Moralität"; Konsequentialismus; Proportionalismus


Kurzinhalt: Die teleologischen Ethiken (Proportionalismus, Konsequentialismus) anerkennen zwar, daß die sittlichen Werte durch Vernunft und Offenbarung aufgezeigt werden; dennoch halten sie daran fest, daß sich bezüglich konkret bestimmbarer Verhaltensweisen, ...

Textausschnitt: 74. Aber wovon hängt die moralische Bewertung des freien Handelns des Menschen ab? Wodurch wird diese Hinordnung der menschlichen Handlungen auf Gott sichergestellt? Von der Intention des handelnden Subjektes, von den Umständen - und insbesondere von den Folgen - seines Handelns, vom Objekt seines Handelns selbst?

Das ist das, traditionellerweise sogenannte, Problem der "Quellen der Moralität". Und gerade im Hinblick auf dieses Problem haben sich in den letzten Jahrzehnten neue - oder wieder erneuerte - kulturelle und theologische Strömungen offenbart, die eine sorgfältige Klärung von seiten des Lehramtes der Kirche erfordern. (Fs)

Einige als "teleologisch" bezeichnete ethische Theorien richten ihre Aufmerksamkeit auf die Übereinstimmung der menschlichen Handlungen mit den vom Handelnden verfolgten Zielen und mit den von ihm zu realisieren beabsichtigten Werten. Die Kriterien zur moralischen Beurteilung einer Handlung werden aus der Abwägung der zu erlangenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Güter und der entsprechenden zu respektierenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Werte gewonnen. Für manche wäre das konkrete Verhalten richtig bzw. falsch je nachdem, ob es für alle betroffenen Personen einen besseren Zustand hervorzubringen vermag oder nicht: Richtig wäre das Verhalten, das imstande ist, die Güter zu "maximieren" und die Übel zu "minimieren". (Fs)

Viele der katholischen Moraltheologen, die dieser Auffassung folgen, möchten nichts mit Utilitarismus und Pragmatismus zu tun haben, bei denen die Sittlichkeit der menschlichen Handlungen ohne Bezugnahme auf das wahre letzte Ziel des Menschen beurteilt werde. Zu Recht sind sie sich der Notwendigkeit bewußt, für die Vernunft einsichtige, immer stichhaltigere Argumente zu finden, um die Anforderungen des sittlichen Lebens zu rechtfertigen und die entsprechenden sittlichen Normen zu begründen. Und dieses Forschen ist gerade insofern legitim und notwendig, als ja die im Naturgesetz festgelegte sittliche Ordnung menschlicher Vernunfterkenntnis grundsätzlich zugänglich ist. Dieses Suchen entspricht im übrigen den Erfordernissen des Dialogs und der Zusammenarbeit mit den Nicht-Katholiken und den Nicht-Glaubenden, besonders in pluralistischen Gesellschaften. (Fs)


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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Sittlichkeit: "Objekt"; Perspektive der handelnden Person; intrinsece malum (Beispiele);

Kurzinhalt: Zurückgewiesen werden muß daher die für teleologische und proportionalistische Theorien typische Ansicht, es sei unmöglich, die bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen nach ihrer Spezies - ihrem "Objekt" - als sittlich schlecht ...

Textausschnitt: 78. Der sittliche Charakter der menschlichen Handlungen ist zunächst einmal und fundamental von dem durch den freien Willen vernunftgemäß gewählten Gegenstand abhängig, wie es auch die scharfsinnige, noch immer gültige Analyse des hl. Thomas aufweist.1 Um den Gegenstand einer Handlung, der sie sittlich spezifiziert, erfassen zu können, muß man sich daher in die Perspektive der handelnden Person versetzen. Das Objekt des Willensaktes ist ja ein frei gewähltes Verhalten. Insofern es mit der Vernunftordnung übereinstimmt, ist es Ursache der Güte des Willens, macht es uns sittlich vollkommener und hilft uns, unser letztes Ziel im vollkommenen Guten, der ursprünglichen Liebe, zu erkennen. Unter "Objekt" einer bestimmten sittlichen Handlung kann man daher nicht einen Prozeß oder ein Ereignis rein physischer Ordnung verstehen, die danach zu bewerten wären, daß sie einen bestimmten Zustand in der äußeren Welt hervorrufen. Das Objekt ist das unmittelbare Ziel einer freien Wahl, die den Willensakt der handelnden Person prägt. In diesem Sinne gibt es, wie der Katechismus der katholischen Kirche lehrt, "konkrete Verhaltensweisen, die zu wählen immer falsch ist, weil ihre Wahl die Ungeordnetheit des Willens einschließt, das heißt ein sittliches Übel".2 "Es geschieht nicht selten - schreibt der hl. Thomas von Aquin -, daß der Mensch in guter Absicht, aber in nichtsnutziger Weise handelt, weil ihm der gute Wille fehlt. Zum Beispiel, wenn einer stiehlt, um einen Armen zu ernähren: Obwohl in diesem Fall die Absicht recht ist, fehlt hier die Richtigkeit eines angemessenen Willens. Kurz und gut, die gute Absicht entschuldigt keineswegs die Ausführung böser Werke. 'Einige legen uns in den Mund: Laßt uns Böses tun, damit Gutes entsteht. Diese Leute werden mit Recht verurteilt' (Röm 3,8)".3

Der Grund, warum die gute Absicht nicht genügt, sondern es auch der richtigen Wahl der Werke bedarf, liegt darin, daß die menschliche Handlung von ihrem Gegenstand beziehungsweise davon abhängt, ob dieser Gegenstand auf Gott, also den, der "allein 'der Gute' ist", hingeordnet werden kann oder nicht und so die Vollkommenheit der menschlichen Person bewirkt. Eine Handlung ist daher gut, wenn ihr Gegenstand (Objekt) dem Gut der Person, unter Respektierung der für sie sittlich bedeutsamen Güter, entspricht. Die christliche Ethik, die dem Gegenstand sittlicher Handlungen eine ganz besondere Beachtung schenkt, lehnt es also nicht ab, die innere "Teleologie" des Handelns in Betracht zu ziehen, insofern auf die Förderung des wahren Gutes der Person gerichtet; sie hält aber fest, daß letzteres nur dann wahrhaftig verfolgt wird, wenn die wesentlichen Aspekte der menschlichen Natur respektiert werden. Die ihrem Gegenstand nach gute menschliche Handlung besitzt auch die Eigenschaft, auf das letzte Ziel hingeordnet werden zu können. Eben diese Handlung erlangt dann ihre letzte und entscheidende Vollkommenheit, wenn der Wille sie durch die Liebe tatsächlich auf Gott hinordnet. In diesem Sinne lehrt der Patron der Moraltheologen und Beichtväter: "Es genügt nicht, gute Werke zu tun, sie müssen gut getan werden. Damit unsere Werke gut und vollkommen sind, müssen wir sie mit dem klaren Ziel tun, daß sie Gott gefallen".4

Das "in sich Schlechte": Man darf nicht Böses tun, damit Gutes entsteht (vgl. Röm 3,8). (Fs)

79. Zurückgewiesen werden muß daher die für teleologische und proportionalistische Theorien typische Ansicht, es sei unmöglich, die bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen nach ihrer Spezies - ihrem "Objekt" - als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die Absicht, mit der diese Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit der vorhersehbaren Folgen jener Handlungen für alle betroffenen Personen zu berücksichtigen. (Fs)

Das vorrangige und entscheidende Element für das moralische Urteil ist das Objekt der menschlichen Handlung, das darüber entscheidet, ob sie auf das Gute und auf das letzte Ziel, das Gott ist, hingeordnet werden kann. Ob dies so ist, erkennt die Vernunft im Sein des Menschen selbst, verstanden in seiner vollumfänglichen Wahrheit, und damit unter Berücksichtigung seiner natürlichen Neigungen, seiner Triebkräfte und seiner Zweckbestimmtheiten, die immer auch eine geistige Dimension besitzen: Genau das sind die Inhalte des Naturgesetzes und damit die geordnete Gesamtheit der "Güter für die menschliche Person", die sich in den Dienst des "Gutes der Person" stellen, des Gutes, das sie selbst und ihre Vollendung ist. Das sind die von den Geboten (des Dekalogs) geschützten Güter, der nach dem hl. Thomas das ganze Naturgesetz enthält.1

80. Nun bezeugt die Vernunft, daß es Objekte menschlicher Handlungen gibt, die sich "nicht auf Gott hinordnen" lassen, weil sie in radikalem Widerspruch zum Gut der nach seinem Bild geschaffenen Person stehen. Es sind dies die Handlungen, die in der moralischen Überlieferung der Kirche "in sich schlecht" (intrinsece malum), genannt wurden: Sie sind immer und an und für sich schon schlecht, d.h. allein schon aufgrund ihres Objektes, unabhängig von den weiteren Absichten des Handelnden und den Umständen. Darum lehrt die Kirche - ohne im geringsten den Einfluß zu leugnen, den die Umstände und vor allem die Absichten auf die Sittlichkeit haben -, daß "es Handlungen gibt, die durch sich selbst und in sich, unabhängig von den Umständen, wegen ihres Objekts immer schwerwiegend unerlaubt sind".2 Das Zweite Vatikanische Konzil bietet im Zusammenhang mit der Achtung, die der menschlichen Person gebührt, eine ausführliche Erläuterung solcher Handlungsweisen anhand von Beispielen: "Was zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art von Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers".3

Über die in sich sittlich schlechten Handlungen und im Blick auf kontrazeptive Praktiken, mittels derer vorsätzlich unfruchtbar gemacht wird, lehrt Papst Paul VI.: "Wenn es auch in der Tat zuweilen erlaubt ist, ein sittliches Übel hinzunehmen, in der Absicht, damit ein größeres Übel zu verhindern oder ein höheres sittliches Gut zu fördern, ist es doch nicht erlaubt, nicht einmal aus sehr schwerwiegenden Gründen, das sittlich Schlechte zu tun, damit daraus das Gute hervorgehe (vgl. Röm 3,8), d.h. etwas zum Gegenstand eines positiven Willensaktes zu machen, was an sich Unordnung besagt und daher der menschlichen Person unwürdig ist, auch wenn es in der Absicht geschieht, Güter der Person, der Familie oder der Gesellschaft zu schützen oder zu fördern".4

81. Wenn die Kirche das Bestehen "in sich schlechter" Handlungen lehrt, greift sie die Lehre der Heiligen Schrift auf. Der Apostel stellt kategorisch fest: "Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben" (1 Kor 6,9-10). (Fs)

Wenn die Akte in sich schlecht sind, können eine gute Absicht oder besondere Umstände ihre Schlechtigkeit zwar abschwächen, aber nicht aufheben: Sie sind "irreparabel" schlechte Handlungen, die an und für sich und in sich nicht auf Gott und auf das Gut der menschlichen Person hinzuordnen sind: "Wer würde es im Hinblick auf die Handlungen, die durch sich selbst Sünden sind (cum iam opera ipsa peccata sunt) - schreibt der hl. Augustinus -, wie Diebstahl, Unzucht, Gotteslästerung, zu behaupten wagen, sie wären, wenn sie aus guten Motiven (causis bonis) vollbracht würden, nicht mehr Sünden oder, eine noch absurdere Schlußfolgerung, sie wären gerechtfertigte Sünden?".5
Darum können die Umstände oder die Absichten niemals einen bereits in sich durch sein Objekt sittenlosen Akt in einen "subjektiv" sittlichen oder als Wahl vertretbaren Akt verwandeln. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Sittlichkeit - letztes Ziel, Absicht

Kurzinhalt: Die Lehre vom Objekt als Quelle der Sittlichkeit ist authentische Ausdrucksform der biblischen Moral des Bundes und der Gebote, der Liebe und der Tugenden.

Textausschnitt: 82. Im übrigen ist die Absicht dann gut, wenn sie auf das wahre Gut der Person im Blick auf ihr letztes Ziel gerichtet ist. Die Handlungen aber, die sich aufgrund ihres Objektes nicht auf Gott "hinordnen" lassen und "der menschlichen Person unwürdig" sind, stehen diesem Gut immer und in jedem Fall entgegen. In diesem Sinne bedeutet die Beachtung der Normen, die solche Handlungen verbieten und semper et pro semper, das heißt ausnahmslos, verpflichten, nicht nur keine Beschränkung für die gute Absicht, sondern sie ist geradezu der fundamentale Ausdruck guter Absicht. (Fs)

Die Lehre vom Objekt als Quelle der Sittlichkeit ist authentische Ausdrucksform der biblischen Moral des Bundes und der Gebote, der Liebe und der Tugenden. Die sittliche Qualität menschlichen Handelns hängt von dieser Treue zu den Geboten ab, die Ausdruck von Gehorsam und Liebe ist. Und deshalb - wir wiederholen es noch einmal - muß die Meinung als irrig zurückgewiesen werden, es sei unmöglich, die bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen ihrer Spezies nach als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die Absicht, aufgrund welcher diese Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit der vorhersehbaren Folgen jener Handlung für alle betroffenen Personen zu berücksichtigen. Ohne diese Vernunftbestimmtheit der sittlichen Qualität menschlichen Handelns wäre es unmöglich, eine "objektive sittliche Ordnung"1 anzunehmen und irgendeine von inhaltlichen Gesichtspunkten bestimmte Norm festzulegen, die ausnahmslos verpflichtet; und das zum Schaden der Brüderlichkeit unter den Menschen und der Wahrheit über das Gute und ebenso zum Nachteil der kirchlichen Gemeinschaft. (Fs)

83. Im Problem der Sittlichkeit des menschlichen Handelns und besonders in der Frage nach der Existenz in sich schlechter Handlungen konzentriert sich, wie man sieht, gewissermaßen die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Wahrheit und den sich daraus ergebenden sittlichen Konsequenzen. Dadurch, daß die Kirche anerkennt und lehrt, daß es konkret bestimmbare menschliche Handlungen gibt, die in sich schon schlecht sind, bleibt sie der vollen Wahrheit über den Menschen treu und achtet und fördert ihn damit in seiner Würde und Berufung. Sie muß infolgedessen die oben dargelegten Theorien, die dieser Wahrheit zuwiderlaufen, zurückweisen. (Fs)

Brüder im Bischofsamt, wir dürfen uns jedoch nicht nur dabei aufhalten, die Gläubigen über die Irrtümer und Gefahren einiger ethischer Theorien zu belehren. Wir müssen vor allem den faszinierenden Glanz jener Wahrheit aufzeigen, die Jesus Christus selber ist. In ihm, der die Wahrheit ist (vgl. Joh 14,6), vermag der Mensch vermittels seiner guten Taten seine Berufung zur Freiheit im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz, das im Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe zusammengefaßt ist, voll zu begreifen und vollkommen zu leben. Und das alles geschieht durch die Gabe des Heiligen Geistes, des Geistes der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe: In ihm ist es uns gegeben, uns das Gesetz zu eigen zu machen und es als Treibkraft wahrer persönlicher Freiheit zu begreifen und zu leben. "Das vollkommene Gesetz ist das Gesetz der Freiheit" (Jak 1,25). (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Freiheit - Gesetz Gottes; Pilatus - Wahrheit

Kurzinhalt: Vernunft und Erfahrung sprechen nicht nur von der Schwäche der menschlichen Freiheit, sondern auch von ihrem Drama. Der Mensch entdeckt, daß seine Freiheit rätselhafterweise dazu neigt, diese Öffnung für das Wahre und Gute zu mißbrauchen und daß ...

Textausschnitt: 84. Die grundlegende Frage, die die oben erwähnten Moraltheorien mit besonderer Eindringlichkeit stellen, ist die nach der Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes, letztendlich die Frage nach der Beziehung zwischen Freiheit und Wahrheit. (Fs)

Gemäß christlichem Glauben und der Lehre der Kirche führt "nur die Freiheit, die sich der Wahrheit unterwirft, die menschliche Person zu ihrem wahren Wohl. Das Wohl der Person besteht darin, sich in der Wahrheit zu befinden und die Wahrheit zu tun".1

Die Konfrontation zwischen der Position der Kirche und der heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Situation deckt unmittelbar die dringende Notwendigkeit auf, daß gerade im Hinblick auf diese grundlegende Frage von seiten der Kirche selbst eine intensive Pastoralarbeit entwickelt werden muß: "Dieser wesentliche Zusammenhang zwischen der Wahrheit, dem Guten und der Freiheit ist der modernen Kultur größtenteils abhanden gekommen, und darum besteht heute eine der besonderen Forderungen an die Sendung der Kirche zur Rettung der Welt darin, den Menschen zur Wiederentdeckung dieses Zusammenhanges zu führen. Die Frage des Pilatus: "Was ist Wahrheit?" wird auch heute an der trostlosen Ratlosigkeit eines Menschen sichtbar, der häufig nicht mehr weiß, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht. Und so erleben wir nicht selten das erschreckende Abgleiten der menschlichen Person in Situationen einer fortschreitenden Selbstzerstörung. Wollte man gewissen Stimmen Gehör schenken, so scheint man nicht mehr die unzerstörbare Absolutheit auch nur eines einzigen sittlichen Wertes anerkennen zu dürfen. Allen Augen offenkundig ist die Verachtung des empfangenen und noch ungeborenen menschlichen Lebens; die ständige Verletzung der Grundrechte der Person; die ungerechte Zerstörung der für ein wirklich menschliches Leben notwendigen Güter. Ja, es ist noch viel Bedenklicheres geschehen: Der Mensch ist nicht mehr davon überzeugt, allein in der Wahrheit das Heil finden zu können. Die rettende, heilbringende Kraft des Wahren wird angefochten, und allein der - freilich jeder Objektivität beraubten - Freiheit wird die Aufgabe zugedacht, autonom zu entscheiden, was gut und was böse ist. Dieser Relativismus führt auf theologischem Gebiet zum Mißtrauen in die Weisheit Gottes, die den Menschen durch das Sittengesetz leitet. Den Geboten des Sittengesetzes stellt man die sogenannten konkreten Situationen entgegen, weil man im Grunde nicht mehr daran festhält, daß das Gesetz Gottes immer das einzige wahre Gut des Menschen ist".2 (Fs) (notabene)

85. Die Aufgabe der prüfenden Unterscheidung von seiten der Kirche angesichts dieser ethischen Theorien beschränkt sich nicht auf deren Entlarvung und Ablehnung, sondern zielt darauf ab, allen Gläubigen mit großer Liebe bei der Formung eines sittlichen Gewissens beizustehen, das zu urteilen und zu wahrheitsgemäßen Entscheidungen zu führen vermag, wie der Apostel Paulus mahnend schreibt: "Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist" (Röm 12,2). Ihren festen Halt - ihr pädagogisches "Geheimnis" - findet diese Arbeit der Kirche nicht so sehr in den Lehraussagen und pastoralen Aufrufen zur Wachsamkeit als vielmehr darin, daß sie den Blick unverwandt auf den Herrn Jesus richtet. So blickt die Kirche Tag für Tag mit unermüdlicher Liebe auf Christus, da sie sich völlig bewußt ist, daß allein bei ihm die wahre und endgültige Antwort auf die sittlichen Fragestellungen liegt. (Fs)

Besonders im gekreuzigten Jesus findet sie die Antwort auf die Frage, die heute so viele Menschen quält: Wie nur kann der Gehorsam gegenüber den allgemeinen und unveränderlichen sittlichen Normen die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit respektieren und nicht ein Angriff auf ihre Freiheit und Würde werden? Die Kirche macht sich jene Gewissensauffassung zu eigen, die der Apostel Paulus von der an ihn ergangenen Sendung hatte: "Denn Christus hat mich ... gesandt ..., das Evangelium zu verkünden, aber nicht mit gewandten und klugen Worten, damit das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht wird ... Wir verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,17.23-24). Der gekreuzigte Christus offenbart den authentischen Sinn der Freiheit, er lebt ihn in der Fülle seiner totalen Selbsthingabe und beruft die Jünger, an dieser seiner Freiheit teilzuhaben. (Fs)

86. Vernünftige Überlegung und alltägliche Erfahrung zeigen die Schwäche, von der die Freiheit des Menschen gezeichnet ist. Sie ist wirkliche, aber begrenzte Freiheit: sie hat ihren absoluten und bedingungslosen Ausgangspunkt nicht in sich selbst, sondern in der Existenz, innerhalb der sie sich findet und die für sie gleichzeitig eine Grenze und eine Möglichkeit darstellt. Es ist die Freiheit eines Geschöpfes, das heißt geschenkte Freiheit, die als Keim empfangen und verantwortungsvoll zur Reife gebracht werden soll. Sie gehört wesentlich zu jenem geschaffenen Ebenbild Gottes, das die Würde der menschlichen Person begründet: in ihr hallt die ursprüngliche Berufung wider, mit welcher der Schöpfer den Menschen zum wahren Gut und, mehr noch, mit der Offenbarung Christi dazu berufen hat, durch Teilhabe am göttlichen Leben selbst mit ihm in Freundschaft einzutreten. Sie ist zugleich unveräußerlicher Eigenbesitz und umfassende Öffnung gegenüber jedem Seienden, indem sie aus sich herausgeht, um den anderen kennenzulernen und zu lieben.3 Die Freiheit hat also ihre Wurzel in der Wahrheit vom Menschen und ihre Zielbestimmung in der Gemeinschaft. (Fs)

Vernunft und Erfahrung sprechen nicht nur von der Schwäche der menschlichen Freiheit, sondern auch von ihrem Drama. Der Mensch entdeckt, daß seine Freiheit rätselhafterweise dazu neigt, diese Öffnung für das Wahre und Gute zu mißbrauchen und daß er es zu oft tatsächlich vorzieht, endliche, begrenzte und vergängliche Güter zu wählen. Ja mehr noch, in den Irrtümern und negativen Entscheidungen spürt der Mensch den Anfang einer radikalen Auflehnung, die ihn die Wahrheit und das Gute zurückweisen läßt, um sich zum absoluten Prinzip seiner selbst aufzuwerfen: "Ihr werdet Gott" (Gen 3,5). Die Freiheit muß also befreit werden. Christus ist ihr Befreier: Er "hat uns zur Freiheit befreit" (Gal 5,1). (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Trennung: Wahrheit - Freiheit, Glaube - Moral

Kurzinhalt: Es ist nun dringend notwendig, daß die Christen die Eigenständigkeit ihres Glaubens und ihre Urteilskraft gegenüber der herrschenden, ja sich aufdrängenden Kultur wiederentdecken:

Textausschnitt: 88. Die Gegenüberstellung, ja die radikale Trennung von Freiheit und Wahrheit ist Folge, Äußerung und Vollendung einer anderen, noch schwerwiegenderen und schädlicheren Dichotomie, die den Glauben von der Moral trennt. (Fs)

Diese Trennung ist Gegenstand einer der vordringlichsten pastoralen Sorgen der Kirche im heutigen Säkularisierungsprozeß, in dem viele, allzu viele Menschen denken und leben, äls ob es Gott nicht gäbe". Wir stehen einer Mentalität gegenüber, die oft auf tiefgreifende, weitreichende Weise und bis in die letzten Winkel der Gesellschaft hinein die Haltungen und Verhaltensweisen sogar der Christen beeinflußt, deren Glaube dadurch entkräftet wird und seine Ursprünglichkeit als eigenständiger Maßstab für das eigene Selbstverständnis und das Handeln im persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Leben verliert. Die von denselben Gläubigen übernommenen Beurteilungs- und Entscheidungskriterien stellen sich im Rahmen einer entchristlichten Kultur tatsächlich oft so dar, als hätten sie mit den Kriterien des Evangeliums nichts zu tun oder stünden sogar im Widerspruch zu ihnen. (Fs) (notabene)

Es ist nun dringend notwendig, daß die Christen die Eigenständigkeit ihres Glaubens und ihre Urteilskraft gegenüber der herrschenden, ja sich aufdrängenden Kultur wiederentdecken: "Denn einst wart ihr Finsternis - so belehrt uns der Apostel Paulus -, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. Lebt als Kinder des Lichts! Das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor. Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis, die keine Frucht bringen, sondern deckt sie auf! ... Achtet also sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht töricht, sondern klug. Nutzt die Zeit, denn diese Tage sind böse" (Eph 8,8-11.15-16; vgl. 1 Thess 5,4-8). (Fs)

Es ist dringend notwendig, das wahre Antlitz des christlichen Glaubens zurückzugewinnen und wieder bekannt zu machen; dies ist ja nicht lediglich eine Summe von Aussagen, die mit dem Verstand angenommen und bestätigt werden müssen. Er ist vielmehr eine gelebte Kenntnis von Christus, ein lebendiges Gedächtnis seiner Gebote, eine Wahrheit, die gelebt werden muß. Ein Wort wird schließlich nur dann wahrhaft angenommen, wenn es in die Handlungen übergeht, wenn es in die Praxis umgesetzt wird. Der Glaube ist eine Entscheidung, die die gesamte Existenz in Anspruch nimmt. Er ist Begegnung, Dialog, Liebes- und Lebensgemeinschaft des Glaubenden mit Jesus Christus, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (vgl. Joh 14,6). Er schließt einen Akt des Vertrauens und der Hingabe an Christus ein und gewährt uns zu leben, wie er gelebt hat (vgl. Gal 2,20), das heißt in der je größeren Liebe zu Gott und zu den Brüdern. (Fs)

89. Der Glaube besitzt auch einen sittlichen Inhalt: er schafft und verlangt ein konsequentes Engagement des Lebens, er unterstützt und vollendet die Annahme und Einhaltung der göttlichen Gebote. Wie der Evangelist Johannes schreibt, "Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm. Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und doch in der Finsternis leben, lügen wir und tun nicht die Wahrheit ... Wenn wir seine Gebote halten, erkennen wir, daß wir ihn erkannt haben. Wer sagt: Ich habe ihn erkannt, aber seine Gebote nicht hält, ist ein Lügner, und die Wahrheit ist nicht in ihm. Wer sich aber an sein Wort hält, in dem ist die Gottesliebe wahrhaft vollendet. Wir erkennen daran, daß wir in ihm sind. Wer sagt, daß er in ihm bleibt, muß auch leben, wie er gelebt hat" (1 Joh 1,5-6; 2,3-6). (Fs)

Durch das sittliche Leben wird der Glaube zum "Bekenntnis", und das nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen: es wird ein Zeugnis abgelegt. "Ihr seid das Licht der Welt - hat Jesus gesagt -. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Mt 5,14-16). Das sind vor allem jene der Nächstenliebe (vgl. Mt 25,31-46) und der wahren Freiheit, die sich in der Selbsthingabe kundtut und lebt. Bis zur völligen Selbsthingabe, wie es Jesus getan hat, der am Kreuz "die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat" (Eph 5,25). Das Zeugnis Christi ist Quelle und Maß (Paradigma) für das Zeugnis des Jüngers, der aufgerufen ist, denselben Weg einzuschlagen: "Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Lk 9,23). Dem Anspruch des evangelischen Radikalismus entsprechend kann die Liebe den Glaubenden zum äußersten Zeugnis des Martyriums bringen. Über das Vorbild des am Kreuz sterbenden Jesus schreibt Paulus an die Christen von Ephesus: "Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und als Opfer, das Gott gefällt" (Eph 5,1-2). (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Moral: Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens; Totalitarismus - transzendente Wahrheit; Marxismus - nicht weniger ernste Gefahr heute (eg: Liberalismus)

Kurzinhalt: "Der Totalitarismus entsteht aus der Verneinung der Wahrheit im objektiven Sinn: Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, in deren Gefolge der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, ... zeichnet sich heute eine nicht weniger ernste Gefahr ab ...

Textausschnitt: 98. Angesichts der schwerwiegenden Formen sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und politischer Korruption, von denen ganze Völker und Nationen heimgesucht werden, wächst die Empörung unzähliger mit Füßen getretener und in ihren menschlichen Grundrechten gedemütigter Personen, und immer verbreiteter und heftiger macht sich das Verlangen nach radikaler persönlicher und gesellschaftlicher Erneuerung bemerkbar, die allein imstande ist, Gerechtigkeit, Solidarität, Wahrhaftigkeit und Transparenz zu gewährleisten. (Fs)

Sicher bleibt noch ein langer und mühsamer Weg zurückzulegen; zahlreiche, gewaltige Anstrengungen müssen unternommen werden, damit eine solche Erneuerung verwirklicht werden kann; Grund dafür sind auch die Vielfalt und Schwere der Ursachen, welche die heutigen ungerechten Zustände in der Welt erzeugen und nähren. Aber wie die Geschichte und die Erfahrung jedes einzelnen lehren, kann man unschwer an der Wurzel dieser Situationen eigentlich "kulturelle" Ursachen entdecken, das heißt Ursachen, die mit bestimmten Auffassungen vom Menschen, von der Gesellschaft und von der Welt zusammenhängen. Tatsächlich steht im Mittelpunkt der kulturellen Frage das sittliche Empfinden, das seinerseits auf dem religiösen Empfinden beruht und sich in ihm vollendet.1

99. Allein Gott, das höchste Gut, bildet die unverrückbare Grundlage und unersetzbare Voraussetzung der Sittlichkeit, also der Gebote, im besonderen jener negativen Gebote, die immer und auf jeden Fall die mit der Würde jedes Menschen als Person unvereinbaren Verhaltensweisen und Handlungen verbieten. So begegnen sich das höchste Gut und das sittlich Gute in der Wahrheit: der Wahrheit über Gott, den Schöpfer und Erlöser, und der Wahrheit über den von ihm geschaffenen und erlösten Menschen. Nur auf dem Boden dieser Wahrheit ist es möglich, eine erneuerte Gesellschaft aufzubauen und die komplizierten und drückenden Probleme, die sie erschüttern, zu lösen, zuallererst jenes Problem der Überwindung der verschiedenen Formen von Totalitarismus, um der authentischen Freiheit der Person den Weg zu ebnen. "Der Totalitarismus entsteht aus der Verneinung der Wahrheit im objektiven Sinn: Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, in deren Gefolge der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet. Ihr Klasseninteresse, Gruppeninteresse und nationales Interesse bringt sie unweigerlich in Gegensatz zueinander. Wenn die transzendente Wahrheit nicht anerkannt wird, dann triumphiert die Gewalt der Macht und jeder trachtet, bis zum Äußersten von den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch zu machen, um ohne Rücksicht auf die Rechte des anderen sein Interesse und seine Meinung durchzusetzen ... Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt darum in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist. Eben deshalb, aufgrund seiner Natur, ist er Träger von Rechten, die niemand verletzen darf: weder der einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder der Staat. Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun, indem sie gegen eine Minderheit vorgeht, sie ausgrenzt, unterdrückt, ausbeutet oder sie zu vernichten versucht".2 (Fs) (notabene)

100. So betont der Katechismus der katholischen Kirche zunächst, daß äuf wirtschaftlichem Gebiet die Achtung der Menschenwürde die Tugend der Mäßigung erfordert, um die Anhänglichkeit an die Güter dieser Welt zu zügeln; die Tugend der Gerechtigkeit, um die Rechte des Nächsten zu wahren und ihm zu geben, was ihm zusteht; und die Solidarität gemäß der Goldenen Regel und der Freigebigkeit des Herrn, denn 'er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen' (2 Kor 8,9)"1, um dann eine Reihe von Verhaltensweisen und von Handlungen, die der menschlichen Würde widersprechen, beim Namen zu nennen: Diebstahl, vorsätzliches Zurückbehalten entliehener oder abhanden gekommener Gegenstände, Geschäftsbetrug (vgl. Dtn 25,13-16), ungerechte Löhne (vgl. Dtn 24,14-15; Jak 5,4), Preiserhöhung durch Ausnützen der Unwissenheit und Not anderer (vgl. Am 8,4-6), Aneignung des Gesellschaftsvermögens eines Unternehmens zur privaten Nutzung, schlecht durchgeführte Arbeiten, Steuerbetrug, Fälschung von Schecks und Rechnungen, übermäßige Ausgaben, Verschwendung usw.2 Und weiter: "Das siebte Gebot verbietet Handlungen und Unternehmungen, die aus irgendeinem Grund - aus Egoismus, wegen einer Ideologie, aus Profitsucht oder in totalitärer Gesinnung - dazu führen, daß Menschen geknechtet, ihrer persönlichen Würde beraubt oder wie Waren gekauft, verkauft oder ausgetauscht werden. Es ist eine Sünde gegen ihre Menschenwürde und ihre Grundrechte, sie gewaltsam zur bloßen Gebrauchsware oder zur Quelle des Profits zu machen. Der hl. Paulus befahl einem christlichen Herrn, seinen christlichen Sklaven 'nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder' zu behandeln (Phlm 16)".3

101. Im politischen Bereich gilt es hervorzuheben, daß Wahrhaftigkeit in den Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, Transparenz in der öffentlichen Verwaltung, Unparteilichkeit im Dienst am Staat, Achtung der Rechte auch der politischen Gegner, Schutz der Rechte der Angeklagten gegen summarische Verfahren und Verurteilungen, richtige und gewissenhafte Verwendung der öffentlichen Gelder, Ablehnung zweifelhafter oder unerlaubter Mittel, um die Macht um jeden Preis zu erobern, festzuhalten und zu vermehren, Prinzipien sind, die ihre erste Wurzel - wie auch ihre einzigartige Dringlichkeit - im transzendenten Wert der Person und in den objektiven sittlichen Erfordernissen für das Funktionieren der Staaten haben.4 Wenn sie nicht eingehalten werden, zerbricht das Fundament des politischen Zusammenlebens, und das ganze gesellschaftliche Leben wird dadurch fortschreitend beeinträchtigt, bedroht und der Auflösung preisgegeben (vgl. Ps 14,3-4; Offb 18,2-3.9-24). Nach dem Niedergang der Ideologien in vielen Ländern, die die Politik mit einem totalitären Weltbild verbanden - unter ihnen vor allem der Marxismus -, zeichnet sich heute eine nicht weniger ernste Gefahr ab angesichts der Verneinung der Grundrechte der menschlichen Person und der Auflösung der im Herzen jedes Menschenwesens wohnenden religiösen Frage in politische Kategorien: Es ist die Gefahr der Verbindung zwischen Demokratie und ethischem Relativismus, die dem bürgerlichen Zusammenleben jeden sicheren sittlichen Bezugspunkt nimmt, ja mehr noch, es der Anerkennung von Wahrheit beraubt. Denn "wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt, dann können die Ideen und Überzeugungen leicht für Machtzwecke mißbraucht werden. Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus".5

In allen Bereichen des persönlichen, familiären, gesellschaftlichen und politischen Lebens leistet also die Moral - die sich auf die Wahrheit gründet und sich in der Wahrheit der authentischen Freiheit öffnet - nicht nur dem einzelnen Menschen und seinem Wachstum im Guten, sondern auch der Gesellschaft und ihrer wahren Entwicklung einen ursprünglichen, unersetzlichen und äußerst wertvollen Dienst. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Gnade - Wahrheit; menschliche Schwäche - Umkehrung von Gut und Böse; Pharisäer: Aufhebung der eigenen Sünde

Kurzinhalt: ... ist hingegen die Haltung eines Menschen, der seine Schwäche zum Kriterium der Wahrheit vom Guten macht, um sich von allein gerechtfertigt fühlen zu können, ohne es nötig zu haben, sich an Gott und seine Barmherzigkeit zu wenden, unannehmbar.

Textausschnitt: 103. Mit Hilfe der göttlichen Gnade und durch die Mitwirkung der menschlichen Freiheit steht dem Menschen immer der geistliche Raum der Hoffnung offen. (Fs)

Im rettenden Kreuz Jesu, in der Gabe des Heiligen Geistes, in den Sakramenten, die aus der durchbohrten Seite des Erlösers hervorgehen (vgl. Joh 19,34), findet der Glaubende die Gnade und die Kraft, das heilige Gesetz Gottes immer, auch unter größten Schwierigkeiten, zu befolgen. Wie der hl. Andreas von Kreta sagt, wurde das Gesetz "durch die Gnade neu belebt und, in harmonischer und fruchtbarer Verbindung, in ihren Dienst gestellt, ohne Vermischung und Verwirrung ihrer je besonderen Eigenschaften; und doch hat er auf göttliche Weise das früher belastende und tyrannische Gesetz in eine leichte Last und eine Quelle der Freiheit verwandelt." 1

Allein im Erlösungsgeheimnis Christi gründen die "konkreten" Möglichkeiten des Menschen. "Es wäre ein schwerwiegender Irrtum, den Schluß zu ziehen..., die von der Kirche gelehrte Norm sei an sich nur ein "Ideal", das dann, wie man sagt, den konkreten Möglichkeiten des Menschen angepaßt, angemessen und entsprechend abgestuft werden müsse: nach Äbwägen der verschiedenen in Frage stehenden Güter". Aber welches sind die "konkreten Möglichkeiten des Menschen?" Und von welchem Menschen ist die Rede? Von dem Menschen, der von der Begierde beherrscht wird, oder von dem Menschen, der von Christus erlöst wurde? Schließlich geht es um folgendes: um die Wirklichkeit der Erlösung durch Christus. Christus hat uns erlöst! Das bedeutet: Er hat uns die Möglichkeit geschenkt, die ganze Wahrheit unseres Seins zu verwirklichen; Er hat unsere Freiheit von der Herrschaft der Begierde befreit. Und auch wenn der erlöste Mensch noch sündigt, so ist das nicht der Unvollkommenheit der Erlösungstat Christi anzulasten, sondern dem Willen des Menschen, sich der jener Tat entspringenden Gnade zu entziehen. Das Gebot Gottes ist sicher den Fähigkeiten des Menschen angemessen: Aber den Fähigkeiten des Menschen, dem der Heilige Geist geschenkt wurde; des Menschen, der, wiewohl er in die Sünde verfiel, immer die Vergebung erlangen und sich der Gegenwart des Geistes erfreuen kann".2

104. Hier öffnet sich dem Erbarmen Gottes mit dem sich bekehrenden Sünder und dem Verständnis für die menschliche Schwäche der angemessene Raum. Dieses Verständnis bedeutet niemals, den Maßstab von Gut und Böse aufs Spiel zu setzen und zu verfälschen, um ihn an die Umstände anzupassen. Während es menschlich ist, daß der Mensch, nachdem er gesündigt hat, seine Schwäche erkennt und wegen seiner Schuld um Erbarmen bittet, ist hingegen die Haltung eines Menschen, der seine Schwäche zum Kriterium der Wahrheit vom Guten macht, um sich von allein gerechtfertigt fühlen zu können, ohne es nötig zu haben, sich an Gott und seine Barmherzigkeit zu wenden, unannehmbar. Eine solche Haltung verdirbt die Sittlichkeit der gesamten Gesellschaft, weil sie lehrt, an der Objektivität des Sittengesetzes im allgemeinen könne gezweifelt und die Absolutheit der sittlichen Verbote hinsichtlich bestimmter menschlicher Handlungen könne geleugnet werden, was schließlich dazu führt, daß man sämtliche Werturteile durcheinanderbringt. (Fs) (notabene)

105. Von allen wird große Wachsamkeit verlangt, sich nicht von der Haltung des Pharisäers anstecken zu lassen, die den Anspruch erhebt, das Bewußtsein von der eigenen Begrenztheit und Sünde aufzuheben, und die heute in dem Versuch, die sittliche Norm den eigenen Fähigkeiten und den eigenen Interessen anzupassen, und sogar in der Ablehnung des Normbegriffes selbst besonders zum Ausdruck kommt. Umgekehrt entfacht das Annehmen des "Mißverhältnisses" zwischen dem Gesetz und den Fähigkeiten des Menschen - d.h. den Fähigkeiten der sittlichen Kräfte des sich selbst überlassenen Menschen - die Sehnsucht nach der Gnade und bereitet den Boden für ihren Empfang. "Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?", fragt sich der Apostel Paulus. Und mit einem freudigen und dankbaren Bekenntnis antwortet er: "Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!" (Röm 7,24-25). (Fs)

Dasselbe Bewußtsein treffen wir im folgenden Gebet des hl. Ambrosius von Mailand an: "Der Mensch ist nichts wert, wenn du ihn nicht aufsuchst. Vergiß den Schwachen nicht, denke daran, daß du mich aus Staub geformt hast. Wie soll ich mich aufrecht halten können, wenn du mich nicht ununterbrochen im Blick hast, um diese Tonerde zu festigen, so daß meine Festigkeit auf deinen Blick zurückzuführen ist? Verbirgst du dein Gesicht, bin ich verstört (Ps 104,29): Wehe mir, wenn du mich anblickst! Du kannst bei mir nur Verderbtheiten durch Vergehen sehen; es ist weder von Vorteil verlassen noch gesehen zu werden, denn wenn wir gesehen werden, sind wir Grund zur Abscheu. Wir dürfen jedoch annehmen, daß Gott jene nicht zurückweist, die er sieht, denn er macht die rein, die er anblickt. Vor ihm ein alle Schuld versengendes Feuer (vgl. Joel 2,3)".3

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Moral, Neuevangelisierung

Kurzinhalt: Heute so weit verbreitete subjektivistische, utilitaristische und relativistische Tendenzen treten nicht einfach als pragmatische Positionen mit Gewohnheitscharakter auf, sondern unter theoretischem Gesichtspunkt als feste Konzeptionen ...

Textausschnitt: Moral und Neuevangelisierung

106. Die Evangelisierung ist die stärkste und aufregendste Herausforderung, der sich die Kirche von ihren Anfängen an zu stellen hat. Tatsächlich entstammt diese Herausforderung nicht so sehr den gesellschaftlichen und kulturellen Situationen, mit denen die Kirche sich im Laufe der Geschichte auseinandergesetzt hat, als vielmehr dem Auftrag des auferstandenen Jesus Christus, der den eigentlichen Grund für die Existenz der Kirche bestimmt: "Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!" (Mk 16,15). (Fs)

Was wir jedoch derzeit, wenigstens bei zahlreichen Völkern, erleben, ist eigentlich eine außerordentliche Herausforderung an die "Neu-Evangelisierung", das heißt an die Verkündigung des immer neuen und immer Neues vermittelnden Evangeliums, eine Evangelisierung, die neu sein muß, "neu in ihrem Eifer, neu in ihren Methoden und neu in ihren Aussageweisen". 1Die Entchristlichung, die auf ganzen Völkern und Gemeinschaften lastet, die einst von Glauben und christlichem Leben erfüllt waren, zieht nicht nur den Verlust des Glaubens oder zumindest seine Bedeutungslosigkeit für das Leben nach sich, sondern notgedrungen auch einen Verfall oder eine Trübung des sittlichen Empfindens: und das zum einen wegen des fehlenden Sinns für die Ursprünglichkeit der Moral des Evangliums, zum anderen wegen der Verdunkelung fundamentaler sittlicher Grundsätze und Werte. Heute so weit verbreitete subjektivistische, utilitaristische und relativistische Tendenzen treten nicht einfach als pragmatische Positionen mit Gewohnheitscharakter auf, sondern unter theoretischem Gesichtspunkt als feste Konzeptionen, die ihre volle ku1turelle und gesellschaftliche Legitimität beanspruchen. (Fs)

107. Die Evangelisierung - und damit die "Neuevangelisierung" - schließt auch die Verkündigung und das Anbieten einer Moral ein. Jesus selbst hat, als er das Reich Gottes und seine rettende Liebe verkündete, zum Glauben und zur Umkehr aufgerufen (vgl. Mk 1,15). Und mit den anderen Aposteln spricht Petrus, als er die Auferstehung des Jesus von Nazaret von den Toten verkündet, von einem neuen Leben, das es zu leben, von einem "Weg", dem es zu folgen gilt, um Jünger des Auferstandenen zu sein (vgl. Apg 2,37-41; 3,17-20). (Fs)

Wie im Falle der Glaubenswahrheiten, ja in noch höherem Maße, bekundet eine Neuevangelisierung, die Grundlagen und Inhalte der christlichen Moral darlegt, ihre Authentizität und verströmt gleichzeitig ihre ganze missionarische Kraft, wenn sie sich durch das Geschenk nicht nur des verkündeten, sondern auch des gelebten Wortes vollzieht. Insbesondere ist es das Leben in Heiligkeit, das in so vielen demütigen und oft vor den Blicken der Menschen verborgenen Gliedern des Volkes Gottes erstrahlt, was den schlichtesten und faszinierendsten Weg darstellt, auf dem man unmittelbar die Schönheit der Wahrheit, die befreiende Kraft der Liebe Gottes, den Wert der unbedingten Treue, selbst unter schwierigsten Umständen, angesichts aller Forderungen des Gesetzes des Herrn wahrzunehmen vermag. Darum hat die Kirche in ihrer weisen Moralpädagogik stets die Glaubenden eingeladen, in den heiligen Männern und Frauen und zuallererst in der Jungfrau und Gottesmutter, die "voll der Gnade" und "ganz heilig" ist, das Vorbild, die Kraft und die Freude zu suchen und zu finden, um ein Leben gemäß den Geboten Gottes und den Seligpreisungen des Evangeliums zu führen. (Fs)

Das Leben der Heiligen - es ist Spiegelbild der Güte Gottes, der "a llein der Gute ist" - stellt nicht nur ein echtes Glaubensbekenntnis und einen Impuls für seine Mitteilung an die anderen dar, sondern auch eine Verherrlichung Gottes und seiner unendlichen Heiligkeit. Das heiligmäßige Leben führt so zur Vollendung in Wort und Tat des einen und dreifachen Amtes, des munus propheticum, sacerdotale et regale, das jeder Christ bei der Wiedergeburt in der Taufe äus Wasser und Geist" (Joh 3,5) als Geschenk empfängt. Das sittliche Leben besitzt den Wert eines "Gottesdienstes" (Röm 12,1; vgl. Phil 3,3), der aus jener unerschöpflichen Quelle von Heiligkeit und Verherrlichung Gottes gespeist wird, die die Sakramente, insbesondere die Eucharistie, sind: Denn durch die Teilnahme am Kreuzesopfer hat der Christ Gemeinschaft mit der Opferliebe Christi und wird dazu befähigt und verpflichtet, dieselbe Liebe in allen seinen Lebenshaltungen und Verhaltensweisen zu leben. In der sittlichen Existenz offenbart und verwirklichtsich auch der königliche Dienst des Christen: Je mehr er mit Hilfe der Gnade dem neuen Gesetz des Heiligen Geistes gehorcht, desto mehr wächst er in der Freiheit, zu der er im Dienst der Wahrheit, der Liebe und der Gerechtigkeit berufen ist. (Fs)

108. Am Ursprung der neuen Evangelisierung und des neuen sittlichen Lebens, das sie in ihren Früchten der Heiligkeit und des missionarischen Engagements darlegt und weckt, steht der Geist Christi, Prinzip und Kraft der Fruchtbarkeit der heiligen Mutter Kirche, wie uns Paul VI. in Erinnerung bringt: "Ohne Wirken des Heiligen Geistes wird die Evangelisierung niemals möglich sein".2 Dem Geist Jesu, der vom demütigen und bereiten Herzen des Glaubenden aufgenommen wird, ist also das Erblühen und Gedeihen des sittlichen Lebens des Christen und das Zeugnis der Heiligkeit in der großen Vielfalt der Berufungen, der Gaben, der Verantwortlichkeiten und der Lebensbedingungen und -situationen zu verdanken: es ist der Heilige Geist - betonte bereits Novitian und brachte damit den authentischen Glauben der Kirche zum Ausdruck - "der den Jüngern in Herz und Geist Festigkeit verliehen hat, der ihnen die Geheimnisse des Evangeliums erschlossen hat, der ihnen Erleuchtung für die göttlichen Dinge gegeben hat; von ihm haben sie Stärkung erfahren, so daß sie weder vor Gefängnissen noch vor Ketten um des Namens des Herrn willen mehr Angst hatten; ja sie treten auf eben diese Mächte und Leiden der Erde, bewaffnet und gestärkt durch ihn; in sich tragen sie die Gaben, die eben dieser Geist spendet und der Kirche, der Braut Christi, als wertvollen Schmuck weitergibt. In der Tat ist er es, der in der Kirche Propheten erweckt, die Lehrer anleitet, die Zungen lenkt, Zeichen und Heilungen vollbringt, wunderbare Werke hervorbringt, die Unterscheidung der Geister ermöglicht, jede andere Geistesgabe zuteilt und ordnet und somit durch alles und in allem die Kirche des Herrn auf vollendete Weise zur Vollkommenheit führt".3

Im lebendigen Zusammenhang dieser Neuevangelisierung, die "den Glauben, der in der Liebe wirksam ist" (Gal 5,6), hervorbringen und fördern soll, und im Blick auf das Wirken des Heiligen Geistes können wir jetzt begreifen, welcher Platz in der Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen ist, der Reflexion über das sittliche Leben gebührt, wie es die Theologie in Gang bringen und entwickeln muß, ebenso wie wir nun den Auftrag und die eigentliche Verantwortung der Moraltheologen darlegen können. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Moraltheologie heute; Humanwissenschaften: statistisches Konzept von Normalität - Fall, Gnade

Kurzinhalt: Während die Humanwissenschaften nämlich wie alle experimentellen Wissenschaften ein empirisches und statistisches Konzept von "Normalität" entfalten, lehrt der Glaube, daß eine solche Normalität die Spuren eines Falles des Menschen aus der Höhe seines ...

Textausschnitt: 112. Der Moraltheologe muß darum im Rahmen der heute überwiegend naturwissenschaftlichen und technischen Kultur, die den Gefahren des Relativismus, des Pragmatismus und des Positivismus ausgesetzt ist, sorgfältig unterscheiden. Vom theologischen Standpunkt her sind die moralischen Prinzipien nicht vom geschichtlichen Augenblick abhängig, in dem sie entdeckt werden. Die Tatsache, daß manche Gläubige handeln, ohne die Lehren des Lehramtes zu befolgen, oder ein Verhalten zu Unrecht als sittlich richtig ansehen, das von ihren Hirten als dem Gesetz Gottes widersprechend erklärt worden ist, kann kein stichhaltiges Argument darstellen, um die Wahrheit der von der Kirche gelehrten sittlichen Normen zurückzuweisen. Die Bestätigung der sittlichen Normen fällt nicht in die Zuständigkeit der empirisch-formalen Methoden. Ohne die Gültigkeit solcher Methoden zu verneinen, aber auch ohne ihre eigene Perspektive auf diese zu beschränken, betrachtet die Moraltheologie in Treue zum übernatürlichen Sinn des Glaubens vor allem die geistliche Dimension des menschlichen Herzens und seine Berufung zur göttlichen Liebe. (Fs)

Während die Humanwissenschaften nämlich wie alle experimentellen Wissenschaften ein empirisches und statistisches Konzept von "Normalität" entfalten, lehrt der Glaube, daß eine solche Normalität die Spuren eines Falles des Menschen aus der Höhe seines ursprünglichen Zustandes in sich trägt, daß sie also von der Sünde angegriffen ist. Einzig und allein der christliche Glaube weist dem Menschen den Weg der Rückkehr zum Änfang" (vgl. Mt 19,8), ein Weg, der häufig sehr verschieden ist von dem der empirischen Normalität. So können die Humanwissenschaften unbeschadet des großen Wertes der Erkenntnisse, die sie anbieten, nicht als die entscheidenden Wegweiser für das Aufstellen sittlicher Normen angesehen werden. Es ist das Evangelium, das die ganze Wahrheit über den Menschen und über den sittlichen Weg enthüllt und so die Sünder erleuchtet und ermahnt und ihnen von der Barmherzigkeit Gottes kündet, der unablässig wirkt, um sie zu bewahren sowohl vor der Verzweiflung darüber, daß sie das göttliche Gesetz nicht erkennen und befolgen können, als auch vor der falschen Meinung, sich ohne Verdienst retten zu können. Es erinnert sie darüber hinaus an die Freude der Vergebung, die allein die Kraft dazu verleiht, im sittlichen Gesetz eine befreiende Wahrheit, eine Gnade zur Hoffnung, einen Lebensweg zu erkennen. (Fs) (notabene)

113. Die Sittenlehre schließt die bewußte Übernahme dieser intellektuellen, geistlichen und pastoralen Verantwortlichkeiten ein. Deshalb haben die Moraltheologen, die den Auftrag zur Unterweisung in der Lehre der Kirche annehmen, die schwere Aufgabe, die Gläubigen zu diesem sittlichen Unterscheidungsvermögen, zum Einsatz für das wahre Gute und zur vertrauensvollen Hinwendung zur göttlichen Gnade zu erziehen. (Fs)

Auch wenn Auseinandersetzungen und Meinungskonflikte im Rahmen einer repräsentativen Demokratie normale Ausdrucksformen des öffentlichen Lebens darstellen mögen, so kann die Sittenlehre gewiß nicht von der einfachen Befolgung eines Entscheidungsverfahrens abhängen: Sie wird überhaupt nicht durch die Befolgung von Regeln und Entscheidungsverfahren demokratischer Art bestimmt. Der von kalkuliertem Protest und Polemik bestimmte, durch die Kommunikationsmittel herbeigeführte Dissens steht im Widerspruch zur kirchlichen Gemeinschaft und zum richtigen Verständnis der hierarchischen Verfassung des Volkes Gottes. Im Widerstand gegen die Lehre der Hirten ist weder eine legitime Ausdrucksform der christlichen Freiheit noch der Vielfalt der Gaben des Geistes zu erkennen. In diesem Fall haben die Hirten die Pflicht, ihrem apostolischen Auftrag gemäß zu handeln und zu verlangen, daß das Recht der Gläubigen, die katholische Lehre rein und unverkürzt zu empfangen, immer geachtet wird: "Da er nie vergessen wird, daß auch er ein Glied des Volkes Gottes ist, muß der Theologe dieses achten und sich bemühen, ihm eine Lehre vorzutragen, die in keiner Weise der Glaubenslehre Schaden zufügt".1

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Angriff auf das Leben (vielfältige Faktoren): Kulturkrise, Anti-Solidaritätskultur; "Kultur des Todes"; Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen; Abtreibung - Empfängnisverhütung



Kurzinhalt: ... »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.

Textausschnitt: 11. Unsere Aufmerksamkeit will sich aber im besonderen auf eine andere Art von Angriffen konzentrieren, die das werdende und das zu Ende gehende Leben betreffen, Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, daß sie im Bewußtsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so daß eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird. Diese Angriffe treffen das menschliche Leben in äußerst bedenklichen Situationen, wo es völlig wehrlos ist. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, daß sie großenteils gerade in der und durch die Familie ausgetragen werden, die doch grundlegend dazu berufen ist, »Heiligtum des Lebens« zu sein. (Fs)

Wie hat es zu einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen vielfältige Faktoren in Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine tiefe Kulturkrise, die Skepsis selbst an den Fundamenten des Wissens und der Ethik hervorruft und es immer schwieriger macht, den Sinn des Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten klar zu erfassen. Dazu kommen die verschiedensten existentiellen und Beziehungsschwierigkeiten, die noch verschärft werden durch die Wirklichkeit einer komplexen Gesellschaft, in der die Personen, die Ehepaare, die Familien oft mit ihren Problemen allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von besonderer Armut, Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das Überleben, der Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von Frauen erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen. (Fs)

Das alles erklärt wenigstens zum Teil, daß der Wert des Lebens heute eine Art »Verfinsterung« erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht aufhören, ihn als heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die Tatsache beweist, daß man geneigt ist, manche Verbrechen gegen das werdende oder zu Ende gehende Leben mit medizinischen Formulierungen zu bemänteln, die den Blick von der Tatsache ablenken, daß das Existenzrecht einer konkreten menschlichen Person auf dem Spiel steht. (Fs)

12. Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, daß wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten. (Fs) (notabene)

Wenn man die Dinge von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, kann man in gewisser Hinsicht von einem Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen sprechen: das Leben, das mehr Annahme, Liebe und Fürsorge verlangen würde, wird für nutzlos gehalten oder als eine unerträgliche Last betrachtet und daher auf vielerlei Weise abgelehnt. Wer durch seine Krankheit, durch seine Behinderung oder, noch viel einfacher, durch sein bloßes Dasein den Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten derer in Frage stellt, die günstiger dastehen, wird zunehmend als Feind angesehen, gegen den man sich verteidigen bzw. den man ausschalten muß. Auf diese Weise wird eine Art »Verschwörung gegen das Leben« entfesselt. Sie involviert nicht nur die einzelnen Personen in ihren individuellen, familiären oder Gruppenbeziehungen, sondern geht darüber hinaus, um schließlich auf Weltebene den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu schaden und sie durcheinanderzubringen. (Fs)

13. Um die Verbreitung der Abtreibung zu erleichtern, wurden und werden weiterhin ungeheuere Summen investiert, die für die Abstimmung pharmazeutischer Präparate bestimmt sind, die die Tötung des Fötus im Mutterleib ermöglichen, ohne die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen zu müssen. Die diesbezügliche wissenschaftliche Forschung scheint fast ausschließlich darum bemüht zu sein, zu immer einfacheren und wirksameren Produkten gegen das Leben zu gelangen, die zugleich die Abtreibung jeder Form sozialer Kontrolle und Verantwortung entziehen sollen. (Fs)

Es wird häufig behauptet, die sichere und allen zugänglich gemachte Empfängnisverhütung sei das wirksamste Mittel gegen die Abtreibung. Sodann wird die katholische Kirche beschuldigt, de facto der Abtreibung Vorschuß zu leisten, weil sie weiter hartnäckig die moralische Unerlaubtheit der Empfängnisverhütung lehrt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Einwand tatsächlich als trügerisch. Denn es mag sein, daß viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« - die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist - innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens. In der Tat hat sich die Abtreibungskultur gerade in Kreisen besonders entwickelt, die die Lehre der Kirche über die Empfängnisverhütung ablehnen. Sicherlich sind vom moralischen Gesichtspunkt her Empfängnisverhütung und Abtreibung ihrer Art nach verschiedene Übel: die eine widerspricht der vollständigen Wahrheit des Geschlechtsaktes als Ausdruck der ehelichen Liebe, die andere zerstört das Leben eines Menschen; die erste widersetzt sich der Tugend der ehelichen Keuschheit, die zweite widersetzt sich der Tugend der Gerechtigkeit und verletzt direkt das göttliche Gebot »du sollst nicht töten«. (Fs)

Aber trotz dieses Unterschieds in ihrer Natur und moralischen Bedeutung stehen sie, als Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander. Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht. Das Leben, das aus der sexuellen Begegnung hervorgehen könnte, wird so zum Feind, das absolut vermieden werden muß, und die Abtreibung zur einzig möglichen Antwort und Lösung bei einer mißlungenen Empfängnisverhütung. (Fs)

Leider tritt der enge Zusammenhang, der mentalitätsmäßig zwischen der Praxis der Empfängnisverhütung und jener der Abtreibung besteht, immer mehr zutage; das beweisen auf alarmierende Weise auch die Anwendung chemischer Präparate, das Anbringen mechanischer Empfängnishemmer in der Gebärmutter und der Einsatz von Impfstoffen, die ebenso leicht wie Verhütungsmittel verbreitet werden und in Wirklichkeit als Abtreibungsmittel im allerersten Entwicklungsstadium des neuen menschlichen Lebens wirken. (Fs)

14. Auch die verschiedenen Techniken künstlicher Fortpflanzung, die sich anscheinend in den Dienst am Leben stellen und die auch nicht selten mit dieser Absicht gehandhabt werden, öffnen in Wirklichkeit neuen Anschlägen gegen das Leben Tür und Tor. Unabhängig von der Tatsache, daß sie vom moralischen Standpunkt aus unannehmbar sind, da sie die Zeugung von dem gesamtmenschlichen Zusammenhang des ehelichen Aktes trennen,1 verzeichnen diese Techniken hohe Prozentsätze an Mißerfolgen: das betrifft nicht so sehr die Befruchtung als die nachfolgende Entwicklung des Embryos, der der Gefahr ausgesetzt ist, meist innerhalb kürzester Zeit zu sterben. Zudem werden mitunter Embryonen in größerer Zahl erzeugt, als für die Einpflanzung in den Schoß der Frau notwendig sind, und diese sogenannten »überzähligen Embryonen« werden dann umgebracht oder für Forschungszwecke verwendet, die unter dem Vorwand des wissenschaftlichen oder medizinischen Fortschritts in Wirklichkeit das menschliche Leben zum bloßen »biologischen Material« degradieren, über das man frei verfügen könne. (Fs)

Die vorgeburtlichen Diagnosen, gegen die es keine moralischen Bedenken gibt, sofern sie vorgenommen werden, um eventuell notwendige Behandlungen an dem noch ungeborenen Kind fest- zustellen, werden allzu oft zum Anlaß, die Abtreibung anzuraten oder vorzunehmen. Die angebliche Rechtmäßigkeit der eugenischen Abtreibung entsteht in der öffentlichen Meinung aus einer Mentalität - sie wird zu Unrecht für kohärent mit den Ansprüchen der »Behandelbarkeit mit Aussicht auf Heilung« gehalten -, die das Leben nur unter bestimmten Bedingungen annimmt und Begrenztheit, Behinderung und Krankheit ablehnt. (Fs)

Infolge eben dieser Logik ist man soweit gegangen, Kindern, die mit schweren Schäden oder Krankheiten geboren wurden, die elementarsten üblichen Behandlungen und sogar die Ernährung zu verweigern. Noch bestürzender wird das moderne Szenarium darüber hinaus durch da und dort auftauchende Vorschläge, auf derselben Linie wie das Recht auf Abtreibung sogar die Kindestötung für rechtmäßig zu erklären: damit würde man in ein Stadium der Barbarei zurückfallen, das man für immer überwunden zu haben hoffte. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Angriff auf das Leben 2 (vielfältige Faktoren); Euthanasie, unheilbare Kranke, Leid als Übel; Prometheushaltung des Menschen; Bevölkerungswachstum als Alptraum der Mächtigen


Kurzinhalt: Aber es wird nicht versäumt, dem kulturellen Gesamthorizont auch eine Art Prometheushaltung des Menschen einzuprägen, der sich derart der Illusion hingibt, Herr über Leben und Tod werden zu können, daß er über sie entscheidet, während er

Textausschnitt: 15. Nicht minder schwerwiegende Bedrohungen kommen auch auf die unheilbar Kranken und auf die Sterbenden in einem Sozial- und Kulturgefüge zu, das bei einer sich immer schwieriger gestaltenden Auseinandersetzung mit dem Leiden und seinem Ertragen die Versuchung verstärkt, das Problem des Leidens dadurch zu lösen, daß man es an der Wurzel ausreibt und den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält. (Fs)

In diese Entscheidung fließen oft verschiedene Elemente ein, die leider diesem schrecklichen Ausgang zustreben. Entscheidend mag beim Kranken Angstgefühl sowie das Gespür von Verbitterung, ja Verzweiflung sein, hervorgerufen durch die Erfahrung eines intensiven und langen Schmerzes. Dies stellt das manchmal ohnehin schon ins Wanken geratene Gleichgewicht des persönlichen und familiären Lebens auf eine harte Probe, so daß der Kranke einerseits trotz der immer wirksamer werdenden Mittel medizinischer und sozialer Assistenz Gefahr läuft, sich von der eigenen Gebrechlichkeit erdrückt zu fühlen; andererseits kann bei denen, die ihm liebevoll verbunden sind, ein Gefühl verständlichen, wenn auch mißverstandenen Mitleids wirksam sein. Dies alles wird von einem kulturellen Umfeld verschlimmert, das im Leid keinerlei Bedeutung oder Wert sieht; im Gegenteil, es betrachtet das Leid als das Übel schlechthin, das es um jeden Preis auszumerzen gilt; diese Haltung tritt vor allem dann ein, wenn man keine religiöse Einstellung hat, die helfen kann, das Geheimnis des Schmerzes positiv zu deuten. (Fs) (notabene)

Aber es wird nicht versäumt, dem kulturellen Gesamthorizont auch eine Art Prometheushaltung des Menschen einzuprägen, der sich derart der Illusion hingibt, Herr über Leben und Tod werden zu können, daß er über sie entscheidet, während er in Wirklichkeit von einem Tod überwunden und erdrückt wird, der sich jeder Sinnperspektive und jeder Hoffnung unrettbar verschließt. Einem tragischen Ausdruck von alledem begegnen wir in der Verbreitung der maskiert und schleichend oder offen durchgeführten und sogar legalisierten Euthanasie. Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien. So schlägt man die Beseitigung der mißgestalteten Neugeborenen, der geistig und körperlich Schwerstbehinderten, der Leistungsunfähigen, der Alten, vor allem wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und der Kranken vor, deren Leben zu Ende geht. Und auch angesichts anderer, heimlicherer, aber nicht minder schwerwiegender und realer Formen von Euthanasie dürfen wir nicht schweigen. Sie könnten sich zum Beispiel dann ereignen, wenn man, um mehr Organe für Transplantationen zur Verfügung zu haben, die Entnahme dieser Organe vornimmt, ohne die objektiven und angemessenen Kriterien für die Feststellung des Todes des Spenders zu respektieren. (Fs)

16. Ein weiteres aktuelles Phänomen, mit dem häufig Bedrohungen und Angriffe gegen das Leben einhergehen, ist das Bevölkerungswachstum. Es stellt sich in den verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlicher Weise dar: in den reichen und entwickelten Ländern verzeichnet man einen besorgniserregenden Geburtenrückgang oder -einbruch; die armen Länder dagegen weisen im allgemeinen eine hohe Wachstumsrate der Bevölkerung auf, die auf dem Hintergrund geringer wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung oder gar schwerwiegender Unterentwicklung kaum tragbar ist. Angesichts der Überbevölkerung der armen Länder fehlt es auf internationaler Ebene an weltweiten Maßnahmen - eine ernsthafte Familien- und Sozialpolitik, Programme kultureller Entwicklung und einer gerechten Produktion und Verteilung der Ressourcen -, während weiter eine geburtenfeindliche Politik betrieben wird. (Fs)

Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung müssen gewiß zu den Ursachen gezählt werden, die zum Zustand des starken Geburtenrückganges beitragen und ihn wesentlich bestimmen. Die Versuchung, dieselben Methoden und Angriffe gegen das Leben auch in Situationen von »Bevölkerungsexplosion« anzuwenden, mag auf der Hand liegen. (Fs)

Der alte Pharao, der die Anwesenheit der Söhne Israels und ihre Vermehrung als Alptraum empfand, setzte sie jeder nur möglichen Unterdrückung aus und befahl, jedes männliche Neugeborene der jüdischen Frauen zu töten (vgl. Ex 1, 7-22). Genauso verhalten sich heutzutage viele Mächtige der Erde. Sie empfinden die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum und befürchten, daß die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. Statt diese schwerwiegenden Probleme aufzugreifen und sie unter Achtung der Würde der einzelnen und der Familien und des unantastbaren Rechtes jedes Menschen auf Leben zu lösen, fördern sie daher lieber eine massive Geburtenplanung und setzen sie mit jeglichem Mittel durch. Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht. (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Angriff auf das Leben 3; Einverständnis der Gesellschaft; 20. Jhdt.: Epoche massiver Angriffe auf das Leben; Massenmedien - Komplizen der Verschwörung

Kurzinhalt: Das 20. Jahrhundert wird als eine Epoche massiver Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von Kriegen und andauernde Vernichtung unschuldiger Menschenleben gelten. Die falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges.

Textausschnitt: 17. Die heutige Menschheit bietet uns ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel, wenn wir nicht nur an die verschiedenen Bereiche denken, in denen die Angriffe auf das Leben ausbrechen, sondern auch an ihr einzigartiges Zahlenverhältnis sowie an die mannigfache und machtvolle Unterstützung, die ihnen durch das weitgehende Einverständnis der Gesellschaft, durch die häufige gesetzliche Anerkennung, durch die Einbeziehung eines Teils des im Gesundheitswesen tätigen Personals zuteil wird. (Fs)

Wie ich anläßlich des VIII. Weltjugendtreffens in Denver mit allem Nachdruck sagen mußte, »nehmen die Bedrohungen des Lebens im Laufe der Zeit nicht ab. Im Gegenteil, sie nehmen immer größere Ausmaße an. Es handelt sich nicht nur um Bedrohungen des Lebens von außen, von den Kräften der Natur her oder von weiteren 'Kains?, die die 'Abels? töten#; nein, es handelt sich um wissenschaftlich und systematisch geplante Bedrohungen. Das 20. Jahrhundert wird als eine Epoche massiver Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von Kriegen und andauernde Vernichtung unschuldiger Menschenleben gelten. Die falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges.1 Jenseits der Absichten, die unterschiedlicher Art sein und möglicherweise sogar im Namen der Solidarität überzeugende Formen annehmen können, stehen wir tatsächlich einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben« gegenüber, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen. Schließlich läßt sich nicht leugnen, daß sich die Massenmedien häufig zu Komplizen dieser Verschwörung machen, indem sie jener Kultur, die die Anwendung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation, der Abtreibung und selbst der Euthanasie als Zeichen des Fortschritts und als Errungenschaft der Freiheit hinstellt, in der öffentlichen Meinung Ansehen verschaffen, während sie Positionen, die bedingungslos für das Leben eintreten, als freiheits- und entwicklungsfeindlich beschreibt. (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Angriff auf das Leben: Ursache - > Freiheit - entartete Vorstellung; Widerspruch: Rechte - Unterdrückung d. Person;

Kurzinhalt: ... die erwähnten Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der individuellen Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt und geschützt werden müssen.

Textausschnitt: 18. Das beschriebene Panorama macht erforderlich, daß es nicht nur in den Todeserscheinungen erkannt wird, die es kennzeichnen, sondern auch in den vielfältigen Ursachen, die es bestimmen. Die Frage des Herrn »Was hast du getan?« (Gen 4, 10) scheint gleichsam eine Aufforderung an Kain zu sein, den materiellen Charakter seiner Mordtat hinter sich zu lassen und ihre ganze Schwere in den ihr zugrunde liegenden Motivationen und in den aus ihr erwachsenden Folgen zu erfassen. (Fs)

Die Entscheidungen gegen das Leben entstehen bisweilen aus schwierigen oder geradezu dramatischen Situationen tiefen Leides, der Einsamkeit, des völligen Fehlens wirtschaftlicher Perspektiven, der Depression und Zukunftsangst. Solche Umstände können die subjektive Verantwortlichkeit und die daraus folgende Schuld derer vermindern, die diese in sich verbrecherischen Entscheidungen treffen. Trotzdem geht das Problem heute weit über die, wenn auch gebotene Anerkennung dieser persönlichen Situationen hinaus. Es stellt sich auch auf kultureller, sozialer und politischer Ebene, wo es sein subversivstes und verwirrendstes Gesicht in der immer weiter um sich greifenden Tendenz zeigt, die erwähnten Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der individuellen Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt und geschützt werden müssen. (Fs)

Auf diese Weise gelangt ein langer historischer Prozeß an einen Wendepunkt mit tragischen Folgen, ein Prozeß, der nach Entdeckung der Idee der »Menschenrechte« - als Rechte, die zu jeder Person gehören und jeder Verfassung und Gesetzgebung der Staaten vorausgehen - heute in einen überraschenden Widerspruch gerät: gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen Rechte der Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend macht, wird dasselbe Recht auf Leben, besonders in den sinnbildhaftesten Augenblicken des Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt. (Fs)

Auf der einen Seite sprechen die verschiedenen Menschenrechtserklärungen und die vielfältigen Initiativen, die von ihnen inspiriert werden, von der Durchsetzung einer moralischen Sensibilität auf Weltebene, die sorgfältiger darauf achtet, den Wert und die Würde jedes Menschen als solchen anzuerkennen, ohne jede Unterscheidung von Rasse, Nationalität, Religion, politischer Meinung und sozialem Stand. (Fs)

Auf der anderen Seite setzt man diesen edlen Proklamationen leider in den Taten ihre tragische Verneinung entgegen. Diese ist noch bestürzender, ja skandalöser, weil sie sich in einer Gesellschaft abspielt, die die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte zu ihrem Hauptziel und zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht. Wie lassen sich diese wiederholten Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen Vermehrung und verbreiteten Legalisierung der Angriffe auf das menschliche Leben in Einklang bringen? Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang bringen mit der Ablehnung des Schwächsten, des Bedürftigsten, des Alten, des soeben im Mutterschoß Empfangenen? Diese Angriffe gehen in die genau entgegengesetzte Richtung wie die Achtung vor dem Leben und stellen eine frontale Bedrohung der gesamten Kultur der Menschenrechte dar. Eine Bedrohung, die letzten Endes imstande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen: unsere Städte laufen Gefahr, aus einer Gesellschaft von »zusammenlebenden Menschen« zu einer Gesellschaft von Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten zu werden. Muß man, wenn sich der Blick dann auf einen Welthorizont ausweitet, nicht daran denken, daß selbst die Beteuerung der Rechte der Personen und der Völker, wie sie bei ranghohen internationalen Zusammenkünften erfolgt, zu fruchtloser rhetorischer Übung wird, wenn nicht der Egoismus der reichen Länder, die den armen Ländern den Zugang zur Entwicklung verschließen oder ihn an die Bedingung absurder Fortpflanzungsverbote knüpfen und so die Entwicklung gegen den Menschen richten, die Maske fallen läßt? Muß man vielleicht nicht selbst die Wirtschaftsmodelle in Frage stellen, die von den Staaten häufig auch für Druckmaßnahmen und Konditionierungen auf internationaler Ebene angewandt werden und die Unrechts- und Gewalt- situationen verursachen und fördern, in denen das menschliche Leben ganzer Völker erniedrigt und mit Füßen getreten wird?

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Wurzeln d. Widerspruchs: Rechte - Unterdrückung d. Person; Automie: Verherrlichung des Menschen als »unverfügbares« Wesen; Personwürde - Kommunikation -> Stärke zum Entscheidungs- und Handlungskriterium; Individuum als Absolutum; Freiheit - Wahrheit


Kurzinhalt: Auf einer anderen Ebene liegen die Wurzeln des Widerspruchs zwischen der feierlichen Bestätigung der Menschenrechte und ihrer tragischen Verweigerung in der Praxis in einer Auffassung von Freiheit, die das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt ...

Textausschnitt: 19. Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs?

Wir können sie in kulturellen und moralischen Gesamtbewertungen feststellen, angefangen bei jener Mentalität, die unter Verschärfung und sogar Entstellung des Subjektivitätsbegriffs nur den als Inhaber von Rechten anerkennt, der mit voller oder zumindest mit ersten Anzeichen von Autonomie auftritt und den Zustand totaler Abhängigkeit von den anderen hinter sich läßt. Aber wie läßt sich dieser Ansatz mit der Verherrlichung des Menschen als »unverfügbares« Wesen in Einklang bringen? Die Theorie der Menschenrechte beruht gerade auf der Erwägung der Tatsache, daß der Mensch zum Unterschied von den Tieren und den Sachen nicht der Herrschaft von irgend jemandem unterworfen werden kann. Es muß auch auf jene Logik hingewiesen werden, die dazu neigt, die Personwürde mit der Fähigkeit zu verbaler, ausdrücklicher, auf alle Fälle erprobbarer Kommunikation gleichzusetzen. Es ist klar, daß unter solchen Voraussetzungen in der Welt kein Raum für den ist, der, wie das ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von seiner physischen Konstitution her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb anderen Menschen ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem Kommunikation nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender Zuneigung möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs- und Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den Rechtsstaat historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die Stelle des »Rechts der Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt. (Fs) (notabene)

Auf einer anderen Ebene liegen die Wurzeln des Widerspruchs zwischen der feierlichen Bestätigung der Menschenrechte und ihrer tragischen Verweigerung in der Praxis in einer Auffassung von Freiheit, die das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt und es nicht zur Solidarität, zur vollen Annahme des anderen und zum Dienst an ihm veranlaßt. Wenn es wahr ist, daß sich die Auslöschung des ungeborenen oder zu Ende gehenden Lebens mitunter auch den Anstrich eines mißverstandenen Gefühls von Altruismus und menschlichen Erbarmens gibt, so kann man nicht bestreiten, daß eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist. (Fs)

Genau in diesem Sinn kann man die Antwort Kains auf die Frage des Herrn »Wo ist dein Bruder Abel?« auslegen: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Joh 4, 9). Jawohl, jeder Mensch ist »Hüter seines Bruders», weil Gott den Menschen dem Menschen anvertraut. Und im Hinblick auf dieses Anvertrauen schenkt Gott auch jedem Menschen die Freiheit, die eine wesentliche Beziehungsdimension besitzt. Sie ist ein großes Geschenk des Schöpfers, so sie in den Dienst der Person und ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe und die Annahme des anderen gestellt wird; wenn die Freiheit jedoch in individualistischer Weise verabsolutiert wird, wird sie ihres ursprünglichen Inhalts entleert und steht im Widerspruch zu ihrer Berufung und Würde. (Fs)

Noch einen tiefgehenderen Aspekt gilt es zu unterstreichen: die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Freiheit ohne Wahrheit; absolute Autonomie, Relativismus -> Zerstörung d. Gesellschaft; Recht auf Leben - Parlamentsabstimmung; Totalitarismus; Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie

Kurzinhalt: Es ist das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird.

Textausschnitt: 20. In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben tiefgreifend entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als absolute Autonomie verstanden wird, gelangt man unvermeidlich zur Verneinung des anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich verteidigen muß. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zu einer Gesamtheit von nebeneinanderstehenden Individuen, die aber keine gegenseitigen Beziehungen haben: ein jeder will sich unabhängig vom anderen behaupten, ja seinen eigenen Interessen Vorteil verschaffen. Angesichts gleichartiger Interessen des anderen muß man jedoch nachgeben und eine Art Kompromiß suchen, wenn man in der Gesellschaft jedem die größtmögliche Freiheit garantieren will. So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da läßt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch über das erste Grundrecht, das Recht auf Leben. (Fs) (notabene)

Das geschieht denn auch in der Tat im eigentlich politisch-staatlichen Bereich: das ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben wird auf Grund einer Parlamentsabstimmung oder des Willens eines - sei es auch mehrheitlichen - Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint. Es ist das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise beschreitet die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen Totalitarismus. Der Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit - die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger ist - über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können. (Fs) (notabene)

Alles geschieht scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität, zumindest wenn über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den sogenannten demokratischen Regeln abgestimmt wird. In Wahrheit stehen wir lediglich einem tragischen Schein von Legalität gegenüber, und das demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen selbst verraten: »Wie kann man noch von Würde jeder menschlichen Person reden, wenn die Tötung des schwächsten und unschuldigsten Menschen zugelassen wird? Im Namen welcher Gerechtigkeit begeht man unter den Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen, indem man einige von ihnen für würdig erklärt verteidigt zu werden, während anderen diese Würde abgesprochen wird?«.1 Wenn diese Zustände eintreten, sind bereits jene Dynamismen ausgelöst, die zum Zerfall eines echten menschlichen Zusammenlebens und zur Zersetzung der staatlichen Realität führen. (Fs) (notabene)

Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34). (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Verfinsterung des Sinns für Gott und Mensch 1; Mensch: ein Organismus unter andern; Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod

Kurzinhalt: Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist ...

Textausschnitt: »Ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen« (Gen 4, 14): die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen

21. Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« dürfen wir nicht bei der oben erwähnten perversen Freiheitsvorstellung stehen bleiben. Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist, der mit seinen durchdringenden Fangarmen bisweilen sogar christliche Gemeinschaften auf die Probe stellt. Wer sich von dieser Atmosphäre anstecken läßt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen. (Fs)

Und wieder können wir dem Bericht von der Ermordung Abels durch seinen Bruder folgen. Nach dem von Gott über ihn verhängten Fluch wendet sich Kain mit den Worten an den Herrn: »Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte! Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen« (Gen 4, 13-14). Kain glaubt, daß seine Sünde beim Herrn keine Vergebung erfahren kann und daß es sein unvermeidliches Schicksal sein wird, »sich vor seinem Angesicht verbergen« zu müssen. Wenn es Kain fertigbringt zu bekennen, daß seine Schuld »zu groß« ist, dann deshalb, weil er weiß, daß er Gott und seinem gerechten Richterspruch gegenübersteht. Tatsächlich vermag der Mensch nur vor dem Herrn seine Sünde zu erkennen und ihre ganze Schwere zu erfassen. Das ist die Erfahrung Davids, der, nachdem er »gegen den Herrn gesündigt hat«, auf die Vorwürfe des Propheten Natan (vgl. 2 Sam 11-12) ausruft: »Ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir mißfällt« (Ps 51 1, 5-6). (Fs)

22. Darum wird, wenn der Sinn für Gott schwindet, auch der Sinn für den Menschen bedroht und verdorben, wie das Zweite Vatikanische Konzil lapidar feststellt: »Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich«.1 Der Mensch vermag sich nicht mehr als »in geheimnisvoller Weise anders« als die verschiedenen irdischen Lebewesen wahrzunehmen; er sieht sich als eines der vielen Lebewesen, als einen Organismus, der bestenfalls eine sehr hohe Vollkommenheitsstufe erreicht hat. In den engen Horizont seiner Körperlichkeit eingeschlossen, wird er gewissermaßen zu »einer Sache« und beachtet nicht mehr den »transzendenten« Charakter seines »Existierens als Mensch«. Er sieht das Leben nicht mehr als ein großartiges Geschenk Gottes an, als eine »heilige« Wirklichkeit, die seiner Verantwortung und damit seiner liebevollen Obhut, seiner »Verehrung« anvertraut ist. Es wird einfach zu »einer Sache«, die er als sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares Eigentum beansprucht. (Fs) (notabene)
Er ist daher nicht mehr in der Lage, sich angesichts des Lebens, das geboren wird, und des Lebens, das stirbt, nach dem wahren Sinn seines Daseins fragen zu lassen, indem er diese entscheidenden Augenblicke des eigenen »Seins« in echter Freiheit annimmt. Er kümmert sich nur um das »Machen« und bemüht sich unter Zuhilfenahme jeder Art von Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod. Aus ursprünglichen Erfahrungen, die »gelebt« werden sollen, werden Geburt und Tod zu Dingen, die man sich einfach zu »besitzen« oder »abzulehnen« anmaßt. (Fs)

Wenn im übrigen einmal der Bezug zu Gott ausgeschlossen ist, überrascht es nicht, daß der Sinn aller Dinge tief entstellt zum Vorschein kommt, und die Natur selbst, nicht mehr »mater«, zu einem »Material« entwürdigt wird, das allen Manipulationen offensteht. Zu diesem Punkt scheint eine gewisse in der modernen Kultur vorherrschende technisch-wissenschaftliche Rationalität zu führen, die selbst die Vorstellung einer Wahrheit vom Schöpfer, der anzuerkennen ist, oder eines Planes Gottes vom Leben, das zu achten ist, leugnet. Und dies gilt genauso, wenn die Angst vor den Ergebnissen dieser »Freiheit ohne Gesetz« manche zur entgegengesetzten Vorstellung von einem »Gesetz ohne Freiheit« verleitet, wie es z.B. in den Ideologien der Fall ist, die die Rechtmäßigkeit eines jeden Eingriffes in die Natur gleichsam im Namen ihrer »Vergöttlichung« bestreiten; eine Vorstellung, die wiederum die Abhängigkeit vom Plan des Schöpfers mißachtet. (Fs) (notabene)

Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Verfinsterung des Sinns für Gott und Mensch 2; praktischer Materialismus, Utilitarismus; Körper, Sexualität: Funktionalisierung

Kurzinhalt: Im selben kulturellen Umfeld wird der Körper nicht mehr als für die Person typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen und Ort der Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrgenommen. Er ist auf einen rein materiellen Charakter verkürzt: ...


Textausschnitt: 23. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel schreibt: »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so daß sie tun, was sich nicht gehört« (Röm 1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die Erlangung des eigenen materiellen Wohlergehens. Die sogenannte »Lebensqualität« wird vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und Genuß des physischen Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden - beziehungsmäßigen, geistigen und religiösen - Dimensionen des Daseins in Vergessenheit geraten. (Fs)

In einem solchen Gesamtrahmen wird das Leiden, eine unvermeidbare Belastung der menschlichen Existenz, aber auch ein Faktor möglichen personalen Wachstums, »beanstandet», als unnütz zurückgewiesen, ja als immer und auf jeden Fall zu vermeidendes Übel bekämpft. Kann man es nicht überwinden und schwindet die Aussicht wenigstens auf künftiges Wohlergehen, dann scheint das Leben jede Bedeutung verloren zu haben, und im Menschen wächst die Versuchung, das Recht zu seiner Beseitigung geltend zu machen. (Fs) (notabene)

Im selben kulturellen Umfeld wird der Körper nicht mehr als für die Person typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen und Ort der Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrgenommen. Er ist auf einen rein materiellen Charakter verkürzt: er ist nur ein Komplex von Organen, Funktionen und Kräften, die nach reinen Kriterien von Genuß und Leistung zu gebrauchen sind. Infolgedessen wird auch die Sexualität entpersönlicht und instrumentalisiert: aus Zeichen, Ort und Sprache der Liebe, das heißt der Selbsthingabe und der Annahme des anderen, wie sie dem ganzen Reichtum der Person entspricht, wird sie immer mehr zu einer Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des eigenen Ich und der egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und Instinkte. So wird der ursprüngliche Inhalt der menschlichen Sexualität entstellt und verfälscht, und die zwei Bedeutungen, die das Wesen des ehelichen Aktes ausmachen, nämlich Vereinigung und Zeugung, werden künstlich getrennt: auf diese Weise wird die Vereinigung verraten, und die Fruchtbarkeit wird der Willkür des Mannes und der Frau unterworfen. Da wird die Zeugung zum »Feind«, die es bei der Ausübung der Sexualität zu vermeiden gilt: wenn man sie zuläßt, dann nur deshalb, weil sie den eigenen Wunsch oder geradezu den eigenen Willen zum Ausdruck bringt, »um jeden Preis« ein Kind zu haben, jedoch nicht, weil sie totale Annahme des anderen und damit Offenheit für die Lebensfülle besagt, deren Träger das Kind ist. (Fs) (notabene)

In der bisher beschriebenen materialistischen Sicht erfahren die zwischenmenschlichen Beziehungen eine schwerwiegende Verarmung. Die Ersten, die unter den Schäden dieser Verarmung zu leiden haben, sind die Frau, das Kind, der kranke oder leidende und der alte Mensch. An die Stelle des eigentlichen Kriteriums der Personwürde - nämlich das der Achtung, der Unentgeltlichkeit und des Dienstes - tritt das Kriterium der Leistungsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit: der andere wird nicht für das anerkannt und geschätzt, was er »ist«, sondern für das, was er »hat, tut und leistet«. Das ist die Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren. (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Verfinsterung des Sinns für Gott und Mensch 3; Gewissen

Kurzinhalt: Ein Großteil der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die Paulus im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (1, 18):

Textausschnitt: 24. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und für den Menschen mit allen ihren mannigfachen, verhängnisvollen Auswirkungen auf das Leben vollzieht sich im Innern des sittlichen Gewissens. Dabei geht es zunächst um das Gewissen jedes einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit allein mit Gott ist.1 Doch es geht in gewissem Sinne auch um das »sittliche Gewissen« der Gesellschaft: sie ist irgendwie verantwortlich, nicht nur weil sie gegen das Leben gerichtete Haltungen duldet oder unterstützt, sondern auch weil sie durch die Schaffung und Festigung regelrechter »Sündenstrukturen« gegen das Leben die »Kultur des Todes« fördert. Das sittliche Gewissen sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch wegen des aufdringlichen Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr ernsten und tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung zwischen Gut und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben. Ein Großteil der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die Paulus im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (1, 18): nachdem sie von Gott abgefallen sind und glaubten, das irdische Gemeinwesen ohne Ihn aufbauen zu können, »verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert« (1, 21); »sie behaupteten weise zu sein, und wurden zu Toren« (1, 22); sie wurden zu Urhebern todesträchtiger Werke und »tun sie nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln« (1, 32). Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23), »das Gute böse und das Böse gut« nennt (Jes 5, 20), dann ist es auf dem Weg besorgniserregender Entartung und finsterster moralischer Blindheit. (Fs) (notabene)

Doch sämtlichen Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen durchzusetzen, gelingt es nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen läßt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Würde d. Menschen; 5. Gebot

Kurzinhalt: Die absolute Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der Tat eine in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition der Kirche ständig aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig vorgetragene sittliche Wahrheit.

Textausschnitt: 57. Wenn auf die Achtung jeden Lebens, sogar des Schuldigen und des ungerechten Angreifers, so große Aufmerksamkeit verwendet wird, hat das Gebot »du sollst nicht töten« absoluten Wert, wenn es sich auf den unschuldigen Menschen bezieht. Und das umso mehr, wenn es sich um ein schwaches und schutzloses menschliches Lebewesen handelt, das einzig in der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen radikalen Schutz gegenüber der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet. (Fs) (notabene)

Die absolute Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der Tat eine in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition der Kirche ständig aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig vorgetragene sittliche Wahrheit. Diese Einmütigkeit ist sichtbare Frucht jenes vom Heiligen Geist geweckten und getragenen »übernatürlichen Glaubenssinnes«, der das Gottesvolk vor Irrtum bewahrt, wenn es »seine allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert«.1

Da im Bewußtsein der Menschen und in der Gesellschaft das Wahrnehmungsvermögen dafür, daß die direkte, d.h. vorsätzliche Tötung jedes unschuldigen Menschenlebens, besonders in seinem Anfangs- und Endstadium, ein absolutes und schweres sittliches Vergehen darstellt, zunehmend schwächer wird, hat das Lehramt der Kirche seine Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verstärkt. Mit dem besonders insistierenden päpstlichen Lehramt hat sich das bischöfliche Lehramt mit zahlreichen umfassenden Lehr- und Pastoraldokumenten der Bischofskonferenzen wie einzelner Bischöfe stets vereinigt. Und auch der feste und in seiner Kürze markante Beitrag des II. Vatikanischen Konzils blieb nicht aus.2

Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, daß die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist. Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz begründet ist, das jeder Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet (vgl. Röm 2, 14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt gelehrt.3

Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden. Sie ist in der Tat ein schwerer Ungehorsam gegen das Sittengesetz, ja gegen Gott selber, seinen Urheber und Garanten; sie widerspricht den Grundtugenden der Gerechtigkeit und der Liebe. »Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, daß ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine solche nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben«.4
Was das Recht auf Leben betrifft, ist jedes unschuldige menschliche Lebewesen allen anderen absolut gleich. Diese Gleichheit bildet die Grundlage jeder echten sozialen Beziehung, die, wenn sie wirklich eine solche sein soll, auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit gründen muß, indem sie jeden Mann und jede Frau als Person anerkennt und schützt und nicht als eine Sache betrachtet, über die man verfügen könne. Im Hinblick auf die sittliche Norm, die die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen verbietet, »gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, »Elendeste« auf Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut gleich«.5

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Abtreibung, Vatikan II: »verabscheuungswürdiges Verbrechen«; Verdunkelung d. Gewissens; zweideutiger Sprachgebruch (»Unterbrechung der Schwangerschaft«)

Kurzinhalt: Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewußtseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ...

Textausschnitt: »Deine Augen sahen, wie ich entstand« (Ps 139 4, 16): das verabscheuungswürdige Verbrechen der Abtreibung

58. Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und verwerflich machen. Das II. Vatikanische Konzil bezeichnet sie und die Tötung des Kindes als »verabscheuungswürdiges Verbrechen«.1

Doch heute hat sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des Vergehens nach und nach verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewußtseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, selbst dann, wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht. Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: »Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen« (Jes 5, 20). Gerade in bezug auf die Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen Sprachgebrauchs festzustellen, wie die Formulierung »Unterbrechung der Schwangerschaft«, die darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen und ihre Schwere in der öffentlichen Meinung abzuschwächen. Vielleicht ist dieses sprachliche Phänomen selber Symptom für ein Unbehagen des Gewissens. Doch kein Wort vermag die Realität der Dinge zu ändern: die vorsätzliche Abtreibung ist, wie auch immer sie vorgenommen werden mag, die beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz. (Fs) (notabene)

Die sittliche Schwere der vorsätzlichen Abtreibung wird in ihrer ganzen Wahrheit deutlich, wenn man erkennt, daß es sich um einen Mord handelt, und insbesondere, wenn man die spezifischen Umstände bedenkt, die ihn kennzeichnen. Getötet wird hier ein menschliches Geschöpf, das gerade erst dem Leben entgegengeht, das heißt das absolut unschuldigste Wesen, das man sich vorstellen kann: es könnte niemals als Angreifer und schon gar nicht als ungerechter Angreifer angesehen werden! Es ist schwach, wehrlos, so daß es selbst ohne jenes Minimum an Verteidigung ist, wie sie die flehende Kraft der Schreie und des Weinens des Neugeborenen darstellt. Es ist voll und ganz dem Schutz und der Sorge derjenigen anvertraut, die es im Schoß trägt. Doch manchmal ist es gerade sie, die Mutter, die seine Tötung beschließt und darum ersucht und sie sogar vornimmt. (Fs)

Gewiß nimmt der Entschluß zur Abtreibung für die Mutter sehr oft einen dramatischen und schmerzlichen Charakter an, wenn die Entscheidung, sich der Frucht der Empfängnis zu entledigen, nicht aus rein egoistischen und Bequemlichkeitsgründen gefaßt wurde, sondern weil manche wichtigen Güter, wie die eigene Gesundheit oder ein anständiges Lebensniveau für die anderen Mitglieder der Familie gewahrt werden sollten. Manchmal sind für das Ungeborene Existenzbedingungen zu befürchten, die den Gedanken aufkommen lassen, es wäre für dieses besser nicht geboren zu werden. Niemals jedoch können diese und ähnliche Gründe, mögen sie noch so ernst und dramatisch sein, die vorsätzliche Vernichtung eines unschuldigen Menschen rechtfertigen. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Abtreibung; Netz der Mittäterschaft; Gesetzgeber, Gesetz, internationale Institutionen

Kurzinhalt: Damit übersteigt die Abtreibung die Verantwortung der einzelnen Personen und den ihnen verursachten Schaden und nimmt eine stark soziale Dimension an: sie ist eine sehr schwere Verletzung, die der Gesellschaft und ihrer Kultur von denen zugefügt wird ...

Textausschnitt: 59. Den Tod des noch ungeborenen Kindes beschließen außer der Mutter häufig andere Personen. Schuldig sein kann vor allem der Vater des Kindes, nicht nur, wenn er die Frau ausdrücklich zur Abtreibung drängt, sondern auch, wenn er ihre Entscheidung dadurch indirekt begünstigt, daß er sie mit den Problemen der Schwangerschaft allein läßt:1 auf diese Weise wird die Familie tödlich verletzt und in ihrem Wesen als Liebesgemeinschaft und in ihrer Berufung, »Heiligtum des Lebens« zu sein, entwürdigt. Nicht verschwiegen werden dürfen sodann die Beeinflussungen, die aus dem weiteren Familienverband und von Freunden kommen. Nicht selten ist die Frau einem so starken Druck ausgesetzt, daß sie sich psychologisch gezwungen fühlt, in die Abtreibung einzuwilligen: ohne Zweifel lastet in diesem Fall die sittliche Verantwortung besonders auf denen, die sie direkt oder indirekt gezwungen haben, eine Abtreibung vorzunehmen. Verantwortlich sind auch die Ärzte und das Pflegepersonal, wenn sie ihre berufliche Kompetenz, die sie erworben haben, um das Leben zu fördern, in den Dienst des Todes stellen. (Fs)

Aber in die Verantwortung miteinbezogen sind auch die Gesetzgeber, die Abtreibungsgesetze gefördert und beschlossen haben, und in dem Maße, in dem die Sache von ihnen abhängt, die Verwalter der Einrichtungen des Gesundheitswesens, die für die Durchführung von Abtreibungen benutzt werden. Eine nicht minder schwere allgemeine Verantwortung betrifft sowohl alle, die die Verbreitung einer Mentalität sexueller Freizügigkeit und Geringschätzung der Mutterschaft begünstigt haben, als auch diejenigen, die wirksame familien- und sozialpolitische Maßnahmen zur Unterstützung der Familien, namentlich der kinderreichen oder mit besonderen wirtschaftlichen und erzieherischen Schwierigkeiten belasteten Familien, hätten sicherstellen müssen, dies aber nicht getan haben. Nicht unterschätzt werden darf schließlich das Netz der Mittäterschaft, das sich bis auf internationale Institutionen, Stiftungen und Vereinigungen ausdehnt, die systematisch für die Legalisierung und Verbreitung der Abtreibung in der Welt kämpfen. Damit übersteigt die Abtreibung die Verantwortung der einzelnen Personen und den ihnen verursachten Schaden und nimmt eine stark soziale Dimension an: sie ist eine sehr schwere Verletzung, die der Gesellschaft und ihrer Kultur von denen zugefügt wird, die sie aufbauen und verteidigen sollten. Wie ich in meinem Brief an die Familien schrieb, »stehen wir vor einer enormen Bedrohung des Lebens, nicht nur einzelner Individuen, sondern auch der ganzen Zivilisation«.2 Wir stehen vor dem, was als eine gegen das noch ungeborene menschliche Leben gerichtete »Sündenstruktur« definiert werden kann. (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Abtreibung; Rechtfertigung: Beginn des Lebens

Kurzinhalt: Im übrigen ist der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, daß unter dem Gesichtspunkt der moralischen Verpflichtung schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot ...

Textausschnitt: 60. Manche versuchen, die Abtreibung durch die Behauptung zu rechtfertigen, die Frucht der Empfängnis könne, wenigstens bis zu einer bestimmten Zahl von Tagen, noch nicht als ein persönliches menschliches Leben angesehen werden. In Wirklichkeit »beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter, sondern eines neuen menschlichen Geschöpfes ist, das sich eigenständig entwickelt. Es wird nie menschlich werden, wenn es das nicht von dem Augenblick an gewesen ist. Für die Augenfälligkeit dieser alten Einsicht... liefert die moderne genetische Forschung wertvolle Bestätigungen. Sie hat gezeigt, daß vom ersten Augenblick an das Programm für das, was dieses Lebewesen sein wird, festgelegt ist: eine Person, diese individuelle Person mit ihren bekannten, schon genau festgelegten Wesensmerkmalen. Bereits mit der Befruchtung hat das Abenteuer eines Menschenlebens begonnen, von dessen großen Fähigkeiten jede einzelne Zeit braucht, um sich zu organisieren und funktionsbereit zu sein«.1 Auch wenn das Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen Beobachtung ausgemacht werden kann, liefern die Schlußfolgerungen der Wissenschaft über den menschlichen Embryo »einen wertvollen Hinweis, um das Vorhandensein einer Person von diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Lebens an rational zu erkennen: sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?«2

Im übrigen ist der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, daß unter dem Gesichtspunkt der moralischen Verpflichtung schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird. Eben deshalb hat die Kirche jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und selbst der philosophischen Aussagen, auf die sich das Lehramt nicht ausdrücklich eingelassen hat, stets gelehrt und lehrt noch immer, daß der Frucht der menschlichen Zeugung vom ersten Augenblick ihrer Existenz an jene unbedingte Achtung zu gewährleisten ist, die dem Menschen in seiner leiblichen und geistigen Ganzheit und Einheit moralisch geschuldet wird: »Ein menschliches Geschöpf ist von seiner Empfängnis an als Person zu achten und zu behandeln, und deshalb sind ihm von jenem Augenblick an die Rechte einer Person zuzuerkennen, als deren erstes das unverletzliche Recht auf Leben angesehen wird, dessen sich jedwedes unschuldige menschliche Geschöpf erfreut«.3

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Abtreibung; christliche Tradition: Konfrontation mit der griechisch-römischen Welt (Didachè, Athenagoras, Kindestötung); Exkommunikation latae sententiae (Mittäter)

Kurzinhalt: Die christliche Überlieferung stimmt ... von den Anfängen bis in unsere Tage klar darin überein, daß sie die Abtreibung als besonders schwerwiegende sittliche Verwilderung einstuft. Die erste christliche Gemeinde hat sich seit der ersten Konfrontation ...

Textausschnitt: 61. Auch wenn die Texte der Heiligen Schrift nie von einer vorsätzlichen Abtreibung sprechen und deshalb keine direkten und spezifischen Verurteilungen diesbezüglich enthalten, so weisen sie doch auf eine Betrachtung des menschlichen Lebewesens im Mutterleib hin, deren logische Konsequenz die Forderung ist, daß Gottes Gebot: »du sollst nicht töten« auch auf dieses noch ungeborene Leben anzuwenden sei. (Fs)

Das menschliche Leben ist in jedem Augenblick seiner Existenz, auch in jenem Anfangsstadium, das der Geburt vorausgeht, heilig und unantastbar. Der Mensch gehört vom Mutterschoß an Gott, der alles erforscht hat und kennt, der ihn mit seinen Händen formt und gestaltet, der ihn sieht, während er noch ein kleiner formloser Embryo ist, und der in ihm bereits den Erwachsenen von morgen sieht, dessen Tage gezählt sind und dessen Berufung schon in dem »Buch des Lebens« verzeichnet ist (vgl. Ps 139 1, 1. 13-16). Auch da, wenn er sich also noch im Mutterschoß befindet, ist - wie zahlreiche Bibeltexte bezeugen1 - der Mensch das persönlichste Ziel der liebenden und väterlichen Vorsehung Gottes. (Fs)

Die christliche Überlieferung stimmt - wie die von der Kongregation für die Glaubenslehre diesbezüglich herausgegebene Erklärung gut hervorhebt2 - von den Anfängen bis in unsere Tage klar darin überein, daß sie die Abtreibung als besonders schwerwiegende sittliche Verwilderung einstuft. Die erste christliche Gemeinde hat sich seit der ersten Konfrontation mit der griechisch-römischen Welt, in der die Abtreibung und die Kindestötung weitgehend praktiziert wurden, durch ihre Lehre und ihre Praxis den in jener Gesellschaft herrschenden Gepflogenheiten radikal widersetzt, wofür die bereits zitierte Didachè ein klarer Beweis ist.3 Unter den kirchlichen Schriftstellern aus dem griechischen Raum erwähnt Athenagoras, daß die Christen Frauen, die auf medizinische Eingriffe zur Abtreibung zurückgreifen, als Mörderinnen ansehen, weil die Kinder, auch wenn sie noch im Mutterschoß sind, »bereits das Objekt der Fürsorge der göttlichen Vorsehung sind«.4 Unter den lateinischen Schriftstellern behauptet Tertullian: »Die Verhinderung der Geburt ist vorzeitiger Mord; es kommt nicht darauf an, ob man die schon geborene Seele tötet oder sie beim Zurweltkommen auslöscht. Es ist bereits der Mensch, der er später sein wird«.5

Diese selbe Lehre ist während ihrer nunmehr zweitausendjährigen Geschichte von den Vätern der Kirche, von ihren Hirten und Lehrern ständig gelehrt worden. Auch die wissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen darüber, zu welchem Zeitpunkt genau das Eingießen der Geistseele erfolge, haben nie auch nur den geringsten Zweifel an der sittlichen Verurteilung der Abtreibung aufkommen lassen. (Fs)

62. Das päpstliche Lehramt der jüngsten Zeit hat diese allgemeine Lehre mit großem Nachdruck bekräftigt. Insbesondere Pius XI. hat in der Enzyklika Casti connubii die als Vorwand dienenden Rechtfertigungen der Abtreibung zurückgewiesen;6 Pius XII. hat jede direkte Abtreibung ausgeschlossen, das heißt jede Handlung, die das noch ungeborene menschliche Leben direkt zu vernichten trachtet, »mag diese Vernichtung nun als Ziel oder nur als Mittel zum Zweck verstanden werden«;7 Johannes XXIII. hat neuerlich beteuert, daß das menschliche Leben heilig ist, denn »es erfordert von seinem Anbeginn an das Wirken Gottes, des Schöpfers«.8 Das II. Vatikanische Konzil hat, wie bereits erwähnt, die Abtreibung sehr streng verurteilt: »Das Leben ist von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen«.9

Die Rechtsordnung der Kirche hat von den ersten Jahrhunderten an über jene, die sich der Abtreibung schuldig machten, Strafsanktionen verhängt. Diese Praxis mit mehr oder weniger schweren Strafen wurde in den verschiedenen Abschnitten der Geschichte bestätigt. Der Codex des kanonischen Rechtes von 1917 drohte für die Abtreibung die Strafe der Exkommunikation an.10 Auch die erneuerte kanonische Gesetzgebung stellt sich auf diese Linie, wenn sie bekräftigt: »Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolgter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation latae sententiae zu«,11 das heißt die Strafe tritt von selbst durch Begehen der Straftat ein. (Fs)

Die Exkommunikation trifft alle, die diese Straftat in Kenntnis der Strafe begehen, somit auch jene Mittäter, ohne deren Handeln sie nicht begangen worden wäre.12 Mit dieser erneut bestätigten Sanktion stellt die Kirche diese Straftat als eines der schwersten und gefährlichsten Verbrechen hin und spornt so den, der sie begeht, an, rasch auf den Weg der Umkehr zurückzufinden. Denn in der Kirche hat die Strafe der Exkommunikation den Zweck, die Schwere einer bestimmten Sünde voll bewußt zu machen und somit eine entsprechende Umkehr und Reue zu begünstigen. (Fs)

Angesichts einer solchen Einmütigkeit in der Tradition der Lehre und Disziplin der Kirche konnte Paul VI. erklären, daß sich diese Lehre »nicht geändert hat und unveränderlich ist«.13 Mit der Autorität, die Christus Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen - die mehrfach die Abtreibung verurteilt und, obwohl sie über die Welt verstreut sind, bei der eingangs erwähnten Konsultation dieser Lehre einhellig zugestimmt haben - daß die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt.14

Kein Umstand, kein Zweck, kein Gesetz wird jemals eine Handlung für die Welt statthaft machen können, die in sich unerlaubt ist, weil sie dem Gesetz Gottes widerspricht, das jedem Menschen ins Herz geschrieben, mit Hilfe der Vernunft selbst erkennbar und von der Kirche verkündet worden ist. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Abtreibung; Eingriff, Embryo; Eugenetik-Mentalität

Kurzinhalt: Die sittliche Bewertung der Abtreibung muß auch auf die neuen Formen des Eingriffs auf menschliche Embryonen angewandt werden, die unvermeidlich mit der Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie Zwecken dienen, die an sich erlaubt sind.

Textausschnitt: 63. Die sittliche Bewertung der Abtreibung muß auch auf die neuen Formen des Eingriffs auf menschliche Embryonen angewandt werden, die unvermeidlich mit der Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie Zwecken dienen, die an sich erlaubt sind. Das ist bei der Durchführung von Versuchen an Embryonen gegeben, die auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung in wachsender Zunahme begriffen und in einigen Staaten gesetzlich erlaubt ist. Auch wenn »die Eingriffe am menschlichen Embryo unter der Bedingung als erlaubt angesehen werden 2, daß sie das Leben und die Unversehrtheit des Embryos achten und daß sie nicht Gefahren mit sich bringen, die nicht verhältnismäßig sind, sondern daß sie auf die Heilung der Krankheit, auf die Wandlung des Gesundheitszustands zum besseren hin und auf die Sicherstellung des Überlebens des einzelnen Fötus ausgerichtet sind«,1 muß man jedoch geltend machen, daß die Verwendung von Embryonen oder Föten als Versuchsobjekt ein Verbrechen darstellt gegen ihre Würde als menschliche Geschöpfe, die dasselbe Recht haben, das dem bereits geborenen Kind und jeder Person geschuldet wird.2
Aus sittlichen Gründen zu verwerfen ist ebenso auch die Vorgehensweise, die - bisweilen eigens zu diesem Zweck mit Hilfe der In-vitro-Befruchtung »erzeugte« - noch lebende menschliche Embryonen und Föten mißbraucht, sei es als zu verwertendes »biologisches Material« oder als Lieferanten von Organen oder Geweben zur Transplantation für die Behandlung bestimmter Krankheiten. Die Tötung unschuldiger menschlicher Geschöpfe, und sei es auch zum Vorteil anderer, stellt in Wirklichkeit eine absolut unannehmbare Handlung dar. (Fs)

Besondere Aufmerksamkeit muß der sittlichen Bewertung der Verfahren vorgeburtlicher Diagnose gelten, die die frühzeitige Feststellung eventueller Mißbildungen oder Krankheiten des ungeborenen Kindes erlauben. Wegen der Komplexität dieser Verfahren muß eine solche Bewertung in der Tat sorgfältiger und artikulierter erfolgen. Wenn sie ohne unverhältnismäßige Gefahren für das Kind und für die Mutter sind und zum Ziel haben, eine frühzeitige Therapie zu ermöglichen oder auch eine gefaßte und bewußte Annahme des Ungeborenen zu begünstigen, sind diese Verfahren sittlich erlaubt. Da jedoch die Behandlungsmöglichkeiten vor der Geburt heute noch recht begrenzt sind, kommt es nicht selten vor, daß diese Verfahren in den Dienst einer Eugenetik-Mentalität gestellt werden, die die selektive Abtreibung in Kauf nimmt, um die Geburt von Kindern zu verhindern, die von Mißbildungen und Krankheiten verschiedener Art betroffen sind. Eine solche Denkart ist niederträchtig und höchst verwerflich, weil sie sich anmaßt, den Wert eines menschlichen Lebens einzig und allein nach Maßstäben wie »Normalität« und physisches Wohlbefinden zu beurteilen und auf diese Weise auch der Legitimation der Kindestötung und der Euthanasie den Weg bahnt. (Fs)

In Wirklichkeit stellen jedoch gerade der Mut und die Gefaßtheit, mit denen viele unserer von schweren Gebrechen betroffenen Brüder und Schwestern ihr Dasein meistern, wenn sie von uns angenommen und geliebt werden, ein besonders wirkungsvolles Zeugnis für die echten Werte dar, die das Leben kennzeichnen und es auch unter den schwierigsten Bedingungen für sich selbst und für die anderen wertvoll machen. Die Kirche ist jenen Eheleuten nahe, die unter großer Angst und viel Schmerz bereit sind, ihre von Behinderung schwer heimgesuchten Kinder anzunehmen; und sie ist all jenen Familien dankbar, die durch Adoption Kinder aufnehmen, die wegen Behinderungen oder Krankheiten von ihren Eltern im Stich gelassen worden sind. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Euthanasie, Definition; totale Autonomie über das Leben

Kurzinhalt: ... wenn die Neigung vorherrscht, das Leben nur in dem Maße zu schätzen, wie es Vergnügen und Wohlbefinden mit sich bringt, erscheint das Leiden als eine unerträgliche Niederlage, von der man sich um jeden Preis befreien muß.

Textausschnitt: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39): das Drama der Euthanasie

64. Am anderen Ende seines Daseins steht der Mensch vor dem Geheimnis des Todes. Infolge der Fortschritte auf medizinischem Gebiet und in einem kulturellen Umfeld, das sich der Transzendenz zumeist verschließt, weist die Erfahrung des Sterbens heute einige neue Wesensmerkmale auf. Denn wenn die Neigung vorherrscht, das Leben nur in dem Maße zu schätzen, wie es Vergnügen und Wohlbefinden mit sich bringt, erscheint das Leiden als eine unerträgliche Niederlage, von der man sich um jeden Preis befreien muß. Der Tod, der als »absurd« angesehen wird, wenn er ein Leben plötzlich unterbricht, das noch für eine an möglichen interessanten Erfahrungen reiche Zukunft offen ist, wird dagegen dann zu einer »beanspruchten Befreiung«, wenn das Dasein bereits für sinnlos gehalten wird, weil es in Schmerz getaucht und unerbittlich für weiteres noch heftigeres Leiden bestimmt ist. (Fs) (notabene)

Außerdem glaubt der Mensch, der seine wesentliche Beziehung zu Gott ablehnt oder vergibt, er sei sich selber Maßstab und Norm, und maßt sich das Recht an, auch von der Gesellschaft zu verlangen, sie solle ihm Möglichkeiten und Formen garantieren, damit er in voller und vollständiger Autonomie über sein Leben entscheiden könne. Es ist besonders der Mensch in den entwickelten Ländern, der sich so verhält: veranlaßt fühlt er sich dazu auch durch die ständigen Fortschritte der Medizin und ihre immer mehr fortgeschrittenen Verfahren. Mit Hilfe äußerst spitzfindiger Systeme und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage, nicht nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern, Personen nach dem plötzlichen Zusammenbruch ihrer biologischen Grundfunktionen künstlich wiederzubeleben sowie Eingriffe vorzunehmen, um Organe für Transplantationen zu gewinnen. (Fs)

In einem solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das heißt, sich zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer »auf sanfte Weise« ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was als logisch und menschlich erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome der »Kultur des Todes«, die vor allem in den Wohlstandsgesellschaften um sich greift, die von einem Leistungsdenken gekennzeichnet sind, das die wachsende Zahl alter und geschwächter Menschen als zu belastend und unerträglich erscheinen läßt. Sie werden sehr oft von der Familie und von der Gesellschaft isoliert, deren Organisation fast ausschließlich auf Kriterien der Produktion und Leistungsfähigkeit beruht, wonach ein hoffnungslos arbeitsunfähiges Leben keinen Wert mehr hat. (Fs)

65. Für ein korrektes sittliches Urteil über die Euthanasie gilt es zunächst, diese klar zu definieren. Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewußter Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden. »Bei Euthanasie dreht es sich also wesentlich um den Vorsatz des Willens und um die Vorgehensweisen, die angewandt werden«.1 (Fs) (notabene)

Von ihr zu unterscheiden ist die Entscheidung, auf »therapeutischen Übereifer« zu verzichten, das heißt auf bestimmte ärztliche Eingriffe, die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder auch, weil sie für ihn und seine Familie zu beschwerlich sind. In diesen Situationen, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, kann man aus Gewissensgründen »auf (weitere) Heilversuche verzichten, die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne daß man jedoch die normalen Bemühungen unterläßt, die in ähnlichen Fällen dem Kranken geschuldet werden«.2 Sicherlich besteht die moralische Verpflichtung sich pflegen und behandeln zu lassen, aber diese Verpflichtung muß an den konkreten Situationen gemessen werden; das heißt, es gilt abzuschätzen, ob die zur Verfügung stehenden therapeutischen Maßnahmen objektiv in einem angemessenen Verhältnis zur Aussicht auf Besserung stehen. Der Verzicht auf außergewöhnliche oder unverhältnismäßige Heilmittel ist nicht gleichzusetzen mit Selbstmord oder Euthanasie; er ist vielmehr Ausdruck dafür, daß die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird.3
Besondere Bedeutung gewinnen in der modernen Medizin die sogenannten »palliativen Behandlungsweisen«, die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene menschliche Begleitung gewährleisten sollen. In diesem Zusammenhang erhebt sich unter anderem das Problem, inwieweit die Anwendung der verschiedenen Schmerzlinderungs- und Beruhigungsmittel, um den Kranken vom Schmerz zu befreien, erlaubt ist, wenn das die Gefahr einer Verkürzung des Lebens mit sich bringt. Auch wenn jemand, der das Leiden aus freien Stücken annimmt, indem er auf schmerzlindernde Maßnahmen verzichtet, um seine volle Geistesklarheit zu bewahren und, wenn er gläubig ist, bewußt am Leiden des Herrn teilzuhaben, in der Tat des Lobes würdig ist, so kann diese »heroische« Haltung doch nicht als für alle verpflichtend angenommen werden. Schon Pius XII. hatte gesagt, den Schmerz durch Narkotika zu unterdrücken, auch wenn das eine Trübung des Bewußtseins und die Verkürzung des Lebens zur Folge habe, sei erlaubt, »falls keine anderen Mittel vorhanden sind und unter den gegebenen Umständen dadurch nicht die Erfüllung anderer religiöser und moralischer Verpflichtungen behindert wird«.4 Denn in diesem Fall wird der Tod nicht gewollt oder gesucht, auch wenn aus berechtigten Gründen die Gefahr dazu gegeben ist: man will einfach durch Anwendung der von der Medizin zur Verfügung gestellten Analgetika den Schmerz wirksam lindern. Doch »darf man den Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner Bewußtseinsklarheit berauben«:5 die Menschen sollen vor dem herannahenden Tod in der Lage sein, ihren moralischen und familiären Verpflichtungen nachkommen zu können, und sich vor allem mit vollem Bewußtsein auf die endgültige Begegnung mit Gott vorbereiten können. (Fs)

Nach diesen Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem Lehramt meiner Vorgänger6 und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, daß die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt.7
Eine solche Handlung setzt, je nach den Umständen, die Bosheit voraus, wie sie dem Selbstmord oder dem Mord eigen ist. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Selbstmord, Euthanasie (Ärzte)

Kurzinhalt: In seinem tiefsten Kern stellt der Selbstmord eine Zurückweisung der absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod dar ...

Textausschnitt: 66. Nun ist Selbstmord immer ebenso sittlich unannehmbar wie Mord. Die Tradition der Kirche hat ihn immer als schwerwiegend böse Entscheidung zurückgewiesen.1 Obwohl bestimmte psychologische, kulturelle und soziale Gegebenheiten einen Menschen dazu bringen können, eine Tat zu begehen, die der natürlichen Neigung eines jeden zum Leben so radikal widerspricht, und dadurch die subjektive Verantwortlichkeit vermindert oder aufgehoben sein mag, ist der Selbstmord aus objektiver Sicht eine schwer unsittliche Tat, weil er verbunden ist mit der Absage an die Eigenliebe und mit der Ausschlagung der Verpflichtungen zu Gerechtigkeit und Liebe gegenüber dem Nächsten, gegenüber den verschiedenen Gemeinschaften, denen der Betreffende angehört, und gegenüber der Gesellschaft als ganzer.2 In seinem tiefsten Kern stellt der Selbstmord eine Zurückweisung der absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod dar, wie sie im Gebet des alten Weisen Israels verkündet wird: »Du hast Gewalt über Leben und Tod; du führst zu den Toren der Unterwelt hinab und wieder herauf« (Weish 16, 13; vgl. Tob 13, 2). (Fs)

Die Selbstmordabsicht eines anderen zu teilen und ihm bei der Ausführung durch die sog. »Beihilfe zum Selbstmord« behilflich zu sein heißt Mithelfer und manchmal höchstpersönlich Täter eines Unrechts zu werden, das niemals, auch nicht, wenn darum gebeten worden sein sollte, gerechtfertigt werden kann. »Es ist niemals erlaubt - schreibt mit überraschender Aktualität der hl. Augustinus -, einen anderen zu töten: auch wenn er es wollte, ja selbst, wenn er darum bitten würde, weil er, zwischen Leben und Tod schwebend, fleht, ihm zu helfen die Seele zu befreien, die gegen die Fesseln des Leibes kämpft und sich von ihnen zu lösen sucht; es ist nicht einmal dann erlaubt, wenn ein Kranker nicht mehr zu leben imstande wäre«.3 Auch wenn sie nicht durch die egoistische Weigerung motiviert ist, sich mit der Existenz des leidenden Menschen zu belasten, muß die Euthanasie als falsches Mitleid, ja als eine bedenkliche »Perversion« desselben bezeichnet werden: denn echtes »Mitleid« solidarisiert sich mit dem Schmerz des anderen, tötet nicht den, dessen Leiden unerträglich ist. Die Tat der Euthanasie erscheint um so perverser, wenn sie von denen ausgeführt wird, die - wie die Angehörigen - ihrem Verwandten mit Geduld und Liebe beistehen sollten, oder von denen, die - wie die Ärzte - auf Grund ihres besonderen Berufes den Kranken auch im leidvollsten Zustand seines zu Ende gehenden Lebens behandeln müßten. (Fs)

Schwerwiegender wird die Entscheidung für die Euthanasie, wenn sie sich als Mord herausstellt, den die anderen an einem Menschen begehen, der sie keineswegs darum gebeten und niemals seine Zustimmung dazu gegeben hat. Der Höhepunkt der Willkür und des Unrechts wird dann erreicht, wenn sich einige Ärzte oder Gesetzgeber die Macht anmaßen darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben darf. Hier zeigt sich wieder die Versuchung von Eden: werden wie Gott und »Gut und Böse erkennen« (vgl. Gen 3, 5). Doch Gott allein hat die Macht, zu töten und zum Leben zu erwecken: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39; vgl. 2 Kön 5, 7; 1 Sam 2, 6). Er verwirklicht seine Macht immer nur nach einem Plan der Weisheit und Liebe. Wenn sich der Mensch im Bann einer Logik von Torheit und Egoismus diese Macht anmaßt, benützt er sie unweigerlich zu Unrecht und Tod. So wird das Leben des Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt; in der Gesellschaft geht der Sinn für Gerechtigkeit verloren und das gegenseitige Vertrauen, Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der Wurzel untergraben. (Fs)

67. Ganz anders hingegen ist der Weg der Liebe und des echten Mitleids, den unser gemeinsames Menschsein vorschreibt und den der Glaube an Christus, den Erlöser, der gestorben und auferstanden ist, mit neuen Einsichten erhellt. Die Bitte, die bei der äußersten Konfrontation mit dem Leid und dem Tod besonders dann aus dem Herzen des Menschen kommt, wenn er versucht ist, sich in seine Verzweiflung zurückzuziehen und in ihr unterzugehen, ist vor allem Bitte um Begleitung, um Solidarität und um Beistand in der Prüfung. Sie ist flehentliche Bitte um Hilfe, um weiter hoffen zu können, wenn alle menschlichen Hoffnungen zerrinnen. Wie uns das II. Vatikanische Konzil zu bedenken gab, wird für den Menschen »angesichts des Todes das Rätsel des menschlichen Daseins am größten«; und trotzdem »urteilt er im Instinkt seines Herzens richtig, wenn er die völlige Zerstörung und den endgültigen Untergang seiner Person mit Entsetzen ablehnt. Der Keim der Ewigkeit im Menschen läßt sich nicht auf die bloße Materie zurückführen und wehrt sich gegen den Tod«.4
Erhellt und zum Abschluß gebracht werden diese natürliche Abneigung gegen den Tod und diese keimhafte Hoffnung auf Unsterblichkeit durch den christlichen Glauben, der die Teilhabe am Sieg des auferstandenen Christus verheißt und anbietet: es ist der Sieg dessen, der durch seinen Erlösungstod den Menschen vom Tod, dem »Lohn der Sünde« (Röm 6, 23), befreit und ihm den Geist, das Unterpfand für Auferstehung und Leben, geschenkt hat (vgl. Röm 8, 11). Die Gewißheit über die zukünftige Unsterblichkeit und die Hoffnung auf die verheißene Auferstehung werfen ein neues Licht auf das Geheimnis des Leidens und Sterbens und erfüllen den Gläubigen mit einer außerordentlichen Kraft, sich dem Plan Gottes anzuvertrauen. (Fs)

Der Apostel Paulus hat dieses Neue in den Worten von einer völligen Zugehörigkeit zum Herrn, der den Menschen in jeder Lage umfängt, zum Ausdruck gebracht: »Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm 14, 7-8). Sterben für den Herrn heißt den eigenen Tod als letzten Gehorsamsakt gegenüber dem Vater erleben (vgl. Phil 2, 8), indem wir die Begegnung mit dem Tod in der von Ihm gewollten und beschlossenen »Stunde« annehmen (vgl. Joh 13, 1), der allein zu sagen vermag, wann unser irdischer Weg zu Ende ist. Leben für den Herrn heißt auch anerkennen, daß das Leid, auch wenn es an sich ein Übel und eine Prüfung bleibt, immer zu einer Quelle des Guten werden kann. Das ist der Fall, wenn es aus Liebe und mit Liebe, aus freiwilliger Hingabe an Gott und aus freier persönlicher Entscheidung in der Teilhabe am Leiden des gekreuzigten Christus selber gelebt wird. Auf diese Weise wird der, der sein Leiden im Herrn lebt, Ihm vollkommener ähnlich (vgl. Phil 3, 10; 1 Petr 2, 21) und hat zutiefst teil an seinem Erlösungswerk für die Kirche und die Menschheit5 Das ist die Erfahrung des Apostels, die auch jeder leidende Mensch nachzuleben aufgerufen ist: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1, 24). (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Staatliches Gesetz und Sittengesetz; Abtreibung, Euthanasie (Forderung nach rechtlicher Legitimation); Mehrheitsentscheid (Staat - Moral); widersprüchliche Tendenzen: Entscheidungsautonomie - Verzicht auf eigene Überzeugung -> Staat

Kurzinhalt: Auf jeden Fall ist in der demokratischen Kultur unserer Zeit die Meinung weit verbreitet, wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugungen der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen ...

Textausschnitt: »Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5, 29): Staatliches Gesetz und Sittengesetz

68. Eines der Wesensmerkmale der - schon mehrmals erwähnten - derzeitigen Anschläge auf das menschliche Leben besteht in dem Bestreben, gesetzliche Legitimation für sie zu fordern, so als würde es sich um Rechte handeln, die der Staat, zumindest unter bestimmten Bedingungen, den Bürgern zuerkennen müsse, und demzufolge in dem Bestreben, die Umsetzung dieser Rechte mit dem sicheren und unentgeltlichen Beistand der Ärzte und des Pflegepersonals zu verlangen. (Fs)

Nicht selten wird behauptet, das Leben eines ungeborenen oder eines sich in völliger Schwäche befindlichen Menschen sei nur ein relatives Gut: entsprechend einer Logik der Verhältnismäßigkeit oder des kalten Kalküls sollte es mit anderen Gütern verglichen und abgewogen werden. Und es wird auch behauptet, daß nur jemand, der sich in der konkreten Situation befindet und persönlich involviert ist, eine gerechte Abwägung der Güter vornehmen könne, um die es geht: infolgedessen könnte nur er über die Sittlichkeit seiner Entscheidung bestimmen. Der Staat sollte daher im Interesse des zivilen Zusammenlebens und der sozialen Eintracht diese Entscheidung respektieren und endlich auch Abtreibung und Euthanasie zulassen. (Fs)

Bisweilen wird die Meinung vertreten, das staatliche Gesetz könne nicht verlangen, daß alle Bürger einem Sittlichkeitsgrad gemäß leben, der höher ist als jener, den sie selber anerkennen und teilen. Deshalb sollte das Gesetz immer Ausdruck der Meinung und des Willens der Mehrheit der Bürger sein und ihnen, wenigstens in bestimmten Extremfällen, auch das Recht auf Abtreibung und auf Euthanasie zuerkennen. Im übrigen würde das Verbot und die Bestrafung von Abtreibung und Euthanasie in diesen Fällen - so wird behauptet - unvermeidbar zu einer Zunahme illegaler Praktiken führen: diese wären allerdings nicht der notwendigen sozialen Kontrolle unterworfen und würden ohne die erforderliche ärztliche Sicherheit vorgenommen. Hier fragt man sich außerdem, ob das Festhalten an einem konkret nicht anwendbaren Gesetz nicht am Ende bedeute, daß auch die Glaubwürdigkeit jedes anderen Gesetzes untergraben werde. (Fs) (notabene)

Die radikalsten Meinungsäußerungen gehen schließlich soweit zu behaupten, in einer modernen und pluralistischen Gesellschaft müßte jedem Menschen volle Autonomie zuerkannt werden, über das eigene Leben und das Leben des ungeborenen Kindes zu verfügen: die Wahl und Entscheidung zwischen den verschiedenen Moralauffassungen wäre in der Tat nicht Sache des Gesetzes, und noch weniger könnte es sich die Auferlegung einer einzelnen dieser Auffassungen zum Nachteil der anderen anmaßen. (Fs)

69. Auf jeden Fall ist in der demokratischen Kultur unserer Zeit die Meinung weit verbreitet, wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugungen der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt. Wenn dann sogar die Meinung vertreten wird, eine allgemeine und objektive Wahrheit sei de facto unannehmbar, würde es die Achtung vor der Freiheit der Bürger - die in einem demokratischen System als die eigentlichen Souveräne gelten - erfordern, daß man auf Gesetzgebungsebene die Autonomie der einzelnen Gewissen anerkennt und daher bei der Festlegung jener Normen, die auf jeden Fall für das soziale Zusammenleben notwendig sind, ausschließlich dem Willen der Mehrheit, welcher Art immer sie sein mag, gerecht wird. Auf diese Weise müßte jeder Politiker in seinem Tun den Bereich des privaten Gewissens klar von dem des öffentlichen Verhaltens trennen. (Fs) (notabene)

Es lassen sich infolgedessen zwei anscheinend diametral entgegengesetzte Tendenzen feststellen. Auf der einen Seite machen die einzelnen Individuen für sich die vollständigste sittliche Entscheidungsautonomie geltend und fordern, daß sich der Staat keine ethische Auffassung zu eigen macht und diese vorschreibt, sondern sich darauf beschränkt, der Freiheit jedes einzelnen weitestmöglichen Raum zu garantieren mit der einzigen äußeren Einschränkung, den Raum von Autonomie nicht zu verletzen, auf den auch jeder andere Bürger ein Recht hat. Auf der anderen Seite vertritt man die Meinung, daß bei der Ausübung der öffentlichen und beruflichen Aufgaben die Achtung vor der Entscheidungsfreiheit des anderen es einem jedem auferlege, von den eigenen Überzeugungen abzurücken, um sich in den Dienst jeder Forderung der Bürger zu stellen, die die Gesetze anerkennen und schützen, wobei als einziges sittliches Kriterium für die Ausübung der eigenen Funktionen akzeptiert wird, was eben von diesen Gesetzen festgelegt wurde. Auf diese Weise wird unter Verzicht auf das eigene sittliche Gewissen zumindest im Bereich des öffentlichen Wirkens die Verantwortlichkeit des Menschen dem staatlichen Gesetz überlassen. (Fs) (notabene)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Gebote - Freiheit

Kurzinhalt: Die negativen sittlichen Vorschriften, also jene, die die Wahl einer bestimmten Handlung für sittlich unannehmbar erklären, haben einen absoluten Wert für die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall.

Textausschnitt: »Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst« (Lk 10, 27): »fördere« das Leben

75. Die Gebote Gottes lehren uns den Weg des Lebens. Die negativen sittlichen Vorschriften, also jene, die die Wahl einer bestimmten Handlung für sittlich unannehmbar erklären, haben einen absoluten Wert für die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie weisen darauf hin, daß die Wahl bestimmter Verhaltensweisen mit der Liebe zu Gott und mit der Würde des nach seinem Bild geschaffenen Menschen radikal unvereinbar ist: eine solche Wahl kann daher keinesfalls durch die dahinterstehende gute Absicht und die sich ergebenden guten Folgen aufgewogen werden; sie steht in unversöhnlichem Gegensatz zu der Gemeinschaft zwischen den Menschen, sie widerspricht der Grundentscheidung, sein Leben auf Gott hinzuordnen.1
Schon in diesem Sinne haben die negativen sittlichen Vorschriften eine äußerst wichtige positive Funktion: das »Nein«, das sie bedingungslos fordern, nennt die unüberschreitbare Grenze, unter die der freie Mensch nicht gehen darf, und zugleich gibt es das Minimum an, das er respektieren und von dem er ausgehen muß, um unzählige »Ja« auszusprechen, die in der Lage sind, immer mehr den Gesamthorizont des Guten zu erfassen (vgl. Mt 5, 48). Die Gebote, insbesondere die negativen sittlichen Vorschriften, sind der Anfang und die erste notwendige Etappe des Weges zur Freiheit: »Die erste Freiheit - schreibt der hl. Augustinus - besteht im Freisein von Verbrechen..., als da sind Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Betrug, Gotteslästerung usw. Wenn einer mit diesen Vergehen nichts zu tun hat (und kein Christ darf mit ihnen zu tun haben), beginnt er sein Haupt zur Freiheit zu erheben, aber das ist erst der Anfang der Freiheit, nicht die vollkommene Freiheit«.2

76. Das Gebot »du sollst nicht töten« bestimmt also den Ausgangspunkt für einen Weg in wahrer Freiheit, der uns dahin führt, das Leben aktiv zu fördern und bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen im Dienst am Leben zu entwickeln: dadurch erfüllen wir unsere Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen, die sich uns anvertraut haben, und bringen in den Taten und in der Wahrheit Gott unsere Dankbarkeit für das große Geschenk des Lebens zum Ausdruck (vgl. Ps 139 1, 13-14). (Fs)

Der Schöpfer hat das Leben des Menschen seiner verantwortlichen Fürsorge anvertraut, nicht damit er willkürlich darüber verfüge, sondern damit er es mit Weisheit bewahre und in liebevoller Treue verwalte. Der Gott des Bundes hat entsprechend dem Gesetz der Gegenseitigkeit von Geben und Empfangen, von Selbsthingabe und Annahme des anderen das Leben eines jeden Menschen dem anderen Menschen, seinem Bruder, anvertraut. Als die Zeit erfüllt war, hat der Sohn Gottes dadurch, daß er Mensch wurde und sein Leben für den Menschen hingab, gezeigt, welche Höhe und Tiefe dieses Gesetz der Gegenseitigkeit erreichen kann. Durch das Geschenk seines Geistes verleiht Christus dem Gesetz der Gegenseitigkeit, dem Anvertrauen des Menschen an den Menschen neue Inhalte und Bedeutungen. Der Geist, der Baumeister von Gemeinschaft in Liebe ist, stellt zwischen den Menschen eine neue Brüderlichkeit und Solidarität her, einen echten Abglanz des der heiligsten Dreifaltigkeit eigenen Geheimnisses von gegenseitiger Hingabe und Annahme. Der Geist selbst wird zum neuen Gesetz, das den Gläubigen die Kraft gibt und ihre Verantwortlichkeit dazu anspornt, durch Teilhabe an der Liebe Jesu Christi selbst und nach ihrer Maßgabe gegenseitig die Selbsthingabe und die Annahme des anderen zu leben. (Fs)

77. Von diesem neuen Gesetz wird auch das Gebot »du sollst nicht töten« beseelt und geformt. Für den Christen schließt es letzten Endes das Pflichtgebot ein, den Ansprüchen und Dimensionen der Liebe Gottes in Jesus Christus gemäß das Leben jedes Bruders zu achten, zu lieben und zu fördern. »Er hat sein Leben für uns hingegeben. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben« (1 Joh 3, 16). (Fs)

Das Gebot »du sollst nicht töten« verpflichtet jeden Menschen auch in seinen positivsten Inhalten, nämlich Achtung, Liebe und Förderung des menschlichen Lebens. Es läßt sich in der Tat als ein ununterdrückbares Echo des ursprünglichen Bundes Gottes, des Schöpfers, mit dem Menschen im sittlichen Bewußtsein eines jeden Menschen vernehmen; es kann von allen im Licht der Vernunft erkannt und dank des geheimnisvollen Wirkens des Geistes wahrgenommen werden, der, da er weht, wo er will (vgl. Joh 3, 8), jeden in dieser Welt lebenden Menschen erreicht und miteinbezieht. (Fs)

Es ist also ein Liebesdienst, den wir verpflichtet sind unserem Nächsten zu leisten, damit seinem Leben immer, vor allem aber, wenn es am schwächsten oder bedroht ist, Schutz und Förderung zuteil werde. Es ist nicht nur persönliche, sondern soziale Fürsorge, die wir alle dadurch ausüben müssen, daß wir die bedingungslose Achtung vor dem menschlichen Leben zum tragenden Fundament einer erneuerten Gesellschaft machen. (Fs)

Es wird von uns verlangt, das Leben jedes Mannes und jeder Frau zu lieben und zu ehren und mit Standhaftigkeit und Mut daran zu arbeiten, daß in unserer Zeit, die allzu viele Zeichen des Todes aufweist, endlich eine neue Kultur des Lebens als Frucht der Kultur der Wahrheit und der Liebe entstehen möge. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Politik, Bevökerungswachstum

Kurzinhalt: ... sodann müssen sie sich »um die Vermehrung der Mittel und die gerechtere Verteilung des Reichtums kümmern, so daß alle gleichmäßig an den Gütern der Schöpfung beteiligt werden. Es muß nach Lösungen auf Weltebene gesucht werden durch Einrichtung ...

Textausschnitt: 91. Ein wichtiges Kapitel der Politik für das Leben stellt heute die Problematik des Bevökerungswachstums dar. Die staatlichen Behörden haben gewiß die Verantwortung, mit Initiativen »auf das Bevölkerungswachstum einzuwirken«;1 aber solche Initiativen müssen immer die vorrangige und unveräußerliche Verantwortlichkeit der Ehegatten und der Familien voraussetzen und respektieren und dürfen nicht Methoden anwenden, die die Person und ihre Grundrechte mißachten, angefangen bei dem Recht jedes unschuldigen menschlichen Geschöpfes auf Leben. Es ist daher sittlich unannehmbar, daß man wegen der Geburtenregelung zur Anwendung von Mitteln wie Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung ermutigt, ja sie sogar auferlegt. (Fs)

Es gibt sehr wohl andere Wege, um das Problem des Bevölkerungswachstums zu lösen: die Regierungen und die verschiedenen internationalen Einrichtungen müssen vor allem die Schaffung wirtschaftlicher, sozialer, medizinisch-sanitärer und kultureller Verhältnisse anstreben, die es den Eheleuten erlauben, ihre die Fortpflanzung betreffenden Entscheidungen in voller Freiheit und mit wirklicher Verantwortung zu treffen; sodann müssen sie sich »um die Vermehrung der Mittel und die gerechtere Verteilung des Reichtums kümmern, so daß alle gleichmäßig an den Gütern der Schöpfung beteiligt werden. Es muß nach Lösungen auf Weltebene gesucht werden durch Einrichtung einer glaubwürdigen Wirtschaftsgemeinschaft und Güterverteilung sowohl auf internationaler wie auf nationaler Ebene«.2 Das ist der einzige Weg, der nicht nur die Würde der Person und der Familien, sondern auch das authentische Kulturerbe der Völker achtet. (Fs)

Der Dienst am Evangelium vom Leben ist daher umfassend und vielschichtig. Er erscheint uns zunehmend als wertvoller und geeigneter Rahmen für eine tatkräftige Zusammenarbeit mit den Brüdern der anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, und zwar auf der Linie jenes Ökumenismus der Werke, zu dem das II. Vatikanische Konzil maßgebend ermutigt hat.3 Außerdem erscheint er als willkommener Raum für den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen und mit allen Menschen guten Willens: niemand besitzt das Monopol auf den Schutz und die Förderung des Lebens, sondern sie sind Aufgabe und Verantwortung aller. Es ist eine schwierige Herausforderung, die vor dem nahen dritten Jahrtausend vor uns liegt: allein die einträchtige Zusammenarbeit aller, die an den Wert des Lebens glauben, wird eine Niederlage der Zivilisation von unvorhersehbaren Ausmaßen vermeiden können. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Frauen, neuer Feminismus

Kurzinhalt: ... sie sind es, die einen »neuen Feminismus« fördern müssen, der, ohne in die Versuchung zu verfallen, »Männlichkeits«-Vorbildern nachzujagen, durch den Einsatz zur Überwindung jeder Form von Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung ...

Textausschnitt: 99. Bei der kulturellen Wende zu Gunsten des Lebens haben die Frauen einen einzigartigen und vielleicht entscheidenden Denk- und Handlungsspielraum: sie sind es, die einen »neuen Feminismus« fördern müssen, der, ohne in die Versuchung zu verfallen, »Männlichkeits«-Vorbildern nachzujagen, durch den Einsatz zur Überwindung jeder Form von Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung den echten weiblichen Geist in allen Ausdrucksformen des bürgerlichen Zusammenlebens zu erkennen und zu bekunden versteht. (Fs)

Indem ich die Worte der Schlußbotschaft des II. Vatikanischen Konzils aufgreife, richte auch ich an die Frauen die dringende Aufforderung: Versöhnt die Menschen mit dem Leben!«.1 Ihr seid berufen, den Sinn der echten Liebe zu bezeugen, jener Selbsthingabe und jener Aufnahme des anderen, die sich zwar auf besondere Weise in der ehelichen Beziehung verwirklichen, die aber die Seele jeder anderen zwischenmenschlichen Beziehung sein sollen. Die Erfahrung der Mutterschaft begünstigt in euch eine scharfe Sensibilität für den anderen Menschen und überträgt euch zugleich eine besondere Aufgabe: »Die Mutterschaft enthält eine besondere Gemeinschaft mit dem Geheimnis des Lebens, das im Schoß der Frau heranreift... Diese einmalige Weise des Kontaktes mit dem neuen Menschen, der Gestalt annimmt, schafft seinerseits eine derartige Einstellung zum Menschen - nicht nur zum eigenen Kind, sondern zum Menschen als solchem -, dab dadurch die ganze Persönlichkeit der Frau tief geprägt wird«.2 Denn die Mutter nimmt einen anderen Menschen auf und trägt ihn in sich, gibt ihm die Möglichkeit, in ihr heranzuwachsen, macht ihm Platz und achtet ihn zugleich in seinem Anderssein. So nimmt die Frau wahr und lehrt, daß die menschlichen Beziehungen glaubwürdig sind, wenn sie sich der Aufnahme des anderen Menschen öffnen, der um der Würde willen anerkannt und geliebt wird, die ihm aus der Tatsache seines Personseins und nicht aus anderen Faktoren, wie Nützlichkeit, Kraft, Intelligenz, Schönheit, Gesundheit, zukommt. Das ist der fundamentale Beitrag, den sich die Kirche und die Menschheit von den Frauen erwarten. Und es ist die unersetzliche Voraussetzung für eine echte kulturelle Wende. (Fs)

Einen besonderen Gedanken möchte ich euch, den Frauen, vorbehalten, die sich für eine Abtreibung entschieden haben. Die Kirche weiß, wie viele Bedingtheiten auf eure Entscheidung Einfluß genommen haben können, und sie bezweifelt nicht, daß es sich in vielen Fällen um eine leidvolle, vielleicht dramatische Entscheidung gehandelt hat. Die Wunde in eurem Herzen ist wahrscheinlich noch nicht vernarbt. Was geschehen ist, war und bleibt in der Tat zutiefst unrecht. Laßt euch jedoch nicht von Mutlosigkeit ergreifen und gebt die Hoffnung nicht auf. Sucht vielmehr das Geschehene zu verstehen und interpretiert es in seiner Wahrheit. Falls ihr es noch nicht getan habt, öffnet euch voll Demut und Vertrauen der Reue: der Vater allen Erbarmens wartet auf euch, um euch im Sakrament der Versöhnung seine Vergebung und seinen Frieden anzubieten. Euer Kind aber könnt ihr diesem Vater und seiner Barmherzigkeit mit Hoffnung anvertrauen. Mit Hilfe des Rates und der Nähe befreundeter und zuständiger Menschen werdet ihr mit eurem erlittenen Zeugnis unter den beredtesten Verfechterinnen des Rechtes aller auf Leben sein können. Durch euren Einsatz für das Leben, der eventuell von der Geburt neuer Geschöpfe gekrönt und mit der Aufnahme und Aufmerksamkeit gegenüber dem ausgeübt wird, der der Nähe am meisten bedarf, werdet ihr eine neue Betrachtungsweise des menschlichen Lebens schaffen. (Fs)

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Ethischer Relativismus - Demokratie (Mythos; Ersatz für Sittlichkeit); Aufgabe des staatlichen Gesetzes

Kurzinhalt: ... der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie ...

Textausschnitt: 70. Gemeinsame Wurzel all dieser Tendenzen ist der ethische Relativismus, der für weite Teile der modernen Kultur bezeichnend ist. Manche behaupten, dieser Relativismus sei eine Voraussetzung für die Demokratie, weil nur er Toleranz, gegenseitige Achtung der Menschen untereinander und Bindung an die Entscheidungen der Mehrheit gewährleisten würde, während die als objektiv und bindend angesehenen sittlichen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führen würden. (Fs) (notabene)

Doch gerade die Problematik der Achtung vor dem Leben zeigt, welche Mißverständnisse und Widersprüche, begleitet von entsetzlichen praktischen Folgen, sich hinter dieser Einstellung verbergen. (Fs)

Es stimmt, daß die Geschichte Fälle kennt, in denen im Namen der »Wahrheit« Verbrechen begangen worden sind. Aber nicht minder schwere Verbrechen und radikale Leugnungen der Freiheit wurden und werden weiter auch im Namen des »ethischen Relativismus« begangen. Faßt eine parlamentarische oder gesellschaftliche Mehrheit, wenn sie die Rechtmäßigkeit der unter bestimmten Bedingungen vorgenommenen Tötung des ungeborenen menschlichen Lebens beschließt, nicht vielleicht einen »tyrannischen« Beschluß gegen das schwächste und wehrloseste menschliche Geschöpf? Das Weltgewissen reagiert mit Recht auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit denen unser Jahrhundert so traurige Erfahrungen gemacht hat. Würden diese Untaten vielleicht nicht mehr länger Verbrechen sein, wenn sie, statt von skrupellosen Tyrannen begangen worden zu sein, durch des Volkes Zustimmung für rechtmäßig erklärt worden wären?

Tatsächlich darf die Demokratie nicht solange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit oder einem Allheilmittel gegen die Unsittlichkeit gemacht wird. Sie ist ihrem Wesen nach eine »Ordnung« und als solche ein Werkzeug und nicht ein Ziel. Ihr »sittlicher« Charakter ist nicht automatisch gegeben, sondern hängt von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ab, dem sie, wie jedes andere menschliche Verhalten, unterstehen muß: das heißt, er hängt von der Sittlichkeit der Ziele ab, die sie verfolgt, und der Mittel, deren sie sich bedient. Wenn heute ein beinahe weltweites Einvernehmen über den Wert der Demokratie festzustellen ist, wird das als ein positives »Zeichen der Zeit« angesehen, wie auch das Lehramt der Kirche wiederholt hervorgehoben hat.1 Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des »Gemeinwohls« als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben. (Fs)

Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs«mehrheiten« sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene »Naturgesetz« normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen kollektiven Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme.2

Mancher könnte sich vorstellen, daß in Ermangelung eines Besseren auch eine solche Funktion um des sozialen Friedens willen anerkannt werden müsse. Selbst wenn man in einer solchen Einschätzung einen gewissen Wahrheitsaspekt anerkennt, muß man doch sehen, daß ohne eine objektive sittliche Verankerung auch die Demokratie keinen stabilen Frieden sicherstellen kann, um so mehr als der Friede, der nicht an den Werten der Würde jedes Menschen und der Solidarität unter allen Menschen gemessen wird, nicht selten eine illusorische Angelegenheit ist. Denn in den die demokratische Beteiligung einschließenden Regierungssystemen selbst erfolgt die Regelung der Interessen häufig zum Vorteil der Stärkeren, vermögen sie doch am besten nicht nur die Hebel der Macht, sondern auch das Zustandekommen des Konsenses zu steuern. In einer solchen Situation wird Demokratie leicht zu einem leeren Wort. (Fs)

71. Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen. (Fs)

In diesem Sinne muß man wieder die Grundzüge der Auffassung von den Beziehungen zwischen staatlichem Gesetz und Sittengesetz aufgreifen, die von der Kirche vorgelegt werden, die aber auch zum Erbe der großen Rechtstraditionen der Menschheit gehören. (Fs)

Sicherlich ist die Aufgabe des staatlichen Gesetzes im Vergleich zu der des Sittengesetzes anders und von begrenzterem Umfang. Jedoch »kann in keinem Lebensbereich das staatliche Gesetz das Gewissen ersetzen, noch kann es Normen über das vorschreiben, was über seine Zuständigkeit hinausgeht«,3 die darin besteht, das Gemeinwohl der Menschen durch die Anerkennung und den Schutz ihrer Grundrechte, durch die Förderung des Friedens und der öffentlichen Sittlichkeit sicherzustellen.4 Denn die Aufgabe des staatlichen Gesetzes besteht darin, ein geordnetes soziales Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit zu gewährleisten, damit wir alle »in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können« (1 Tim 2, 2). Eben deshalb muß das staatliche Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft die Achtung einiger Grundrechte sicherstellen, die dem Menschen als Person eigen sind und die jedes positive Gesetz anerkennen und garantieren muß. Erstes und grundlegendes aller Rechte ist das unverletzliche Recht auf Leben eines jeden unschuldigen Menschen. Auch wenn die öffentliche Autorität bisweilen auf die Unterdrückung von etwas verzichten kann, was im Fall des Verbots einen schwereren Schaden anrichten würde,5 kann sie doch niemals zulassen, die Verletzung, die anderen Menschen durch die Nicht-Anerkennung eines ihrer Grundrechte wie das auf Leben zugefügt wird, als Recht der einzelnen zu legitimieren - selbst wenn diese die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft ausmachen würden. Die gesetzliche Tolerierung von Abtreibung oder Euthanasie kann sich gerade deshalb keinesfalls auf die Respektierung des Gewissens der anderen berufen, weil die Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich vor den Mißbräuchen zu schützen, die im Namen des Gewissens und unter dem Vorwand der Freiheit zustande kommen können. 6

Papst Johannes XXIII. hatte diesbezüglich in der Enzyklika Pacem in terris festgestellt: »Da man in unserer Zeit annimmt, das Gemeinwohl bestehe vor allem in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person, muß die Aufgabe der Staatslenker vor allem darin bestehen, daß einerseits die Rechte anerkannt, geachtet, untereinander in Einklang gebracht, verteidigt und gefördert werden, und andererseits jeder seine Pflichten leichter erfüllen kann. Denn 'die den Menschen eigenen unverletzlichen Rechte zu schützen und dafür zu sorgen, daß jeder seine Aufgaben leichter erfülle, das ist die vornehmliche Pflicht jeder öffentlichen Gewalt'. Wenn deshalb Behörden die Rechte des Menschen entweder nicht anerkennen oder verletzen, so weichen sie nicht nur selbst von ihrer Pflicht ab, sondern es entbehrt auch das, was von ihnen befohlen wurde, jeder Verbindlichkeit«.7

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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Staatliches Gesetzes - Sittengesetz; hebräische Hebammen (Moses); Gewissensproblem: Abgeordneter, Schadensbegrenzung, Abtreibung; Grundsatz: Mitwirkung an schlechter Handlung; Grundrecht bei Unrecht


Kurzinhalt: Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit.

Textausschnitt: 72. In Kontinuität mit der gesamten Tradition der Kirche steht auch die Lehre über die notwendige Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit dem Sittengesetz, wie sie gleichfalls aus der genannten Enzyklika Johannes' XXIII. hervorgeht: »Die Befehlsgewalt wird von der sittlichen Ordnung erfordert und geht von Gott aus. Falls daher Staatslenker entgegen dieser Ordnung und insofern entgegen dem Willen Gottes Gesetze erlassen oder etwas gebieten, dann können weder die erlassenen Gesetze noch die gewährten Vollmachten das Gewissen der Bürger verpflichten... Vielmehr bricht dann die Autorität selbst völlig zusammen, und es folgt scheußliches Unrecht«.8 Das ist die klare Lehre des hl. Thomas von Aquin, der unter anderem schreibt: »Das menschliche Gesetz hat nur insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es der rechten Vernunft gemäß ist; und insofern ist es offensichtlich, daß es vom ewigen Gesetz her abgeleitet wird. Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es ungerechtes Gesetz genannt und hat nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit«.9 Und weiter: »Jedes von Menschen erlassene Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgend etwas von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein«.10

Die erste und unmittelbarste Anwendung dieser Lehre betrifft das menschliche Gesetz, welches das jedem Menschen eigene fundamentale Grundrecht auf Leben nicht anerkennt. Auf diese Weise befinden sich die Gesetze, die in Form der Abtreibung und der Euthanasie die unmittelbare Tötung unschuldiger Menschen für rechtmäßig erklären, in totalem und unversöhnlichem Widerspruch zu dem allen Menschen eigenen unverletzlichen Recht auf Leben und leugnen somit die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Man könnte einwenden, daß das auf die Euthanasie dann nicht zutreffe, wenn der betreffende Mensch bei vollem Bewußtsein um sie gebeten hat. Aber ein Staat, der ein derartiges Ersuchen legitimieren und seine Durchführung gestatten würde, würde gegen die Grundprinzipien der Unverfügbarkeit des Lebens und des Schutzes jedes menschlichen Lebens einen Selbstmord- bzw. Mordfall legalisieren. Auf diese Weise wird dem Nachlassen der Achtung vor dem Leben Vorschuß geleistet und Haltungen der Weg geebnet, die das Vertrauen in die sozialen Beziehungen zerstören. (Fs)

Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit. Tatsächlich ist es die Nicht-Anerkennung des Rechtes auf Leben, die sich, gerade weil sie zur Tötung des Menschen führt - in dessen Dienst zu stehen die Gesellschaft ja den Grund ihres Bestehens hat -, am frontalsten und irreparabel der Möglichkeit einer Verwirklichung des Gemeinwohls entgegenstellt. Daraus folgt, daß ein staatliches Gesetz, wenn es Abtreibung und Euthanasie billigt, eben darum kein wahres, sittlich verpflichtendes staatliches Gesetz mehr ist. (Fs)

73. Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen, die für rechtmäßig zu erklären sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann. Gesetze dieser Art rufen nicht nur keine Verpflichtung für das Gewissen hervor, sondern erheben vielmehr die schwere und klare Verpflichtung, sich ihnen mit Hilfe des Einspruchs aus Gewissensgründen zu widersetzen. Seit den Anfangszeiten der Kirche hat die Verkündigung der Apostel den Christen die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßig eingesetzten staatlichen Autoritäten eingeschärft (vgl. Röm 13, 1-7; 1 Petr 2, 13-14), sie aber gleichzeitg entschlossen ermahnt, daß »man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen« (Apg 5, 29). Schon im Alten Testament finden wir in bezug auf die Bedrohungen gegen das Leben ein gewichtiges Beispiel für den Widerstand gegen das ungerechte Gebot der staatlichen Autorität. Die hebräischen Hebammen widersetzten sich dem Pharao, der angeordnet hatte, jeden neugeborenen Knaben zu töten. Sie »taten nicht, was ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern liessen die Kinder am Leben« (Ex 1, 17). Wichtig ist aber, auf den tieferen Grund dieses ihres Verhaltens hinzuweisen: »Die Hebammen fürchteten Gott« (ebd.). Aus dem Gehorsam gegenüber Gott - dem allein jene Furcht gebührt, die Anerkennung seiner absoluten Souveränität ist - erwachsen die Kraft und der Mut, den ungerechten Gesetzen der Menschen zu widerstehen. Die Kraft und der Mut dessen, der bereit ist, auch ins Gefängnis zu gehen oder durch das Schwert umzukommen in der Gewißheit, daß »sich hier die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Heiligen bewähren« muß (Offb 13, 10). (Fs)

Es ist daher niemals erlaubt, sich einem in sich ungerechten Gesetz, wie jenem, das Abtreibung und Euthanasie zuläßt, anzupassen, »weder durch Beteiligung an einer Meinungskampagne für ein solches Gesetz noch dadurch, daß man bei der Abstimmung dafür stimmt«.11
Ein besonderes Gewissensproblem könnte sich in den Fällen ergeben, in denen sich eine parlamentarische Abstimmung als entscheidend dafür herausstellen würde, in Alternative zu einem bereits geltenden oder zur Abstimmung gestellten ungleich freizügigeren Gesetz ein restriktiveres Gesetz zu begünstigen, das heißt ein Gesetz, das die Anzahl der erlaubten Abtreibungen begrenzt. Solche Fälle sind nicht selten. Man kann nämlich Folgendes feststellen: Während in manchen Teilen der Welt die nicht selten von mächtigen internationalen Organisationen unterstützten Kampagnen für die Einführung von Gesetzen zur Freigabe der Abtreibung weitergehen, werden dagegen in anderen Nationen - besonders in jenen, die bereits die bittere Erfahrung mit derartigen freizügigen Gesetzen hinter sich haben - Anzeichen eines Umdenkens sichtbar. In dem hypothetisch angenommenen Fall ist es einleuchtend, daß es einem Abgeordneten, dessen persönlicher absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen bekannt wäre, dann, wenn die Abwendung oder vollständige Aufhebung eines Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre, gestattet sein könnte, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung eines solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf das Gebiet der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern. Auf diese Weise ist nämlich nicht eine unerlaubte Mitwirkung an einem ungerechten Gesetz gegeben; vielmehr wird ein legitimer und gebührender Versuch unternommen, die ungerechten Aspekte zu begrenzen. (Fs)

74. Die Einführung ungerechter Gesetzgebungen stellt moralisch korrekte Menschen oft vor schwierige Gewissensprobleme, was die Mitwirkung im Verhältnis zur gebührenden Geltendmachung des eigenen Rechtes betrifft, nicht zur Teilnahme an sittlich schlechten Handlungen gezwungen zu sein. Manchmal sind die Entscheidungen, die nötig erscheinen, schmerzlich und können sogar das Opfer einer renommierten beruflichen Stellung oder den Verzicht auf berechtigte Aufstiegs- und Karriereaussichten erfordern. In anderen Fällen kann sich herausstellen, daß die Durchführung von an sich indifferenten oder sogar positiven Handlungen, die in den Artikeln von insgesamt ungerechten Gesetzgebungen vorgesehen sind, den Schutz bedrohter Menschenleben erlaubt. Andererseits darf man jedoch mit Recht befürchten, daß die Bereitschaft zur Durchführung solcher Handlungen nicht nur zu einem Stein des Anstoßes wird und dem Nachlassen des notwendigen Widerstandes gegen Anschläge gegen das Leben Vorschuß leistet, sondern unmerklich dazu verleitet, immer mehr einer permissiven Logik nachzugeben. (Fs)

Zur Erhellung dieses schwierigen sittlichen Problems muß an die allgemeinen Grundsätze über die Mitwirkung an schlechten Handlungen erinnert werden. Wie alle Menschen guten Willens sind die Christen aufgerufen, aus ernster Gewissenspflicht nicht an jenen Praktiken formell mitzuwirken, die, obgleich von der staatlichen Gesetzgebung zugelassen, im Gegensatz zum Gesetz Gottes stehen. Denn unter sittlichem Gesichtspunkt ist es niemals erlaubt, formell am Bösen mitzuwirken. Solcher Art ist die Mitwirkung dann, wenn die durchgeführte Handlung entweder auf Grund ihres Wesens oder wegen der Form, die sie in einem konkreten Rahmen annimmt, als direkte Beteiligung an einer gegen das unschuldige Menschenleben gerichteten Tat oder als Billigung der unmoralischen Absicht des Haupttäters bezeichnet werden muß. Diese Mitwirkung kann niemals gerechtfertigt werden, weder durch Berufung auf die Achtung der Freiheit des anderen, noch dadurch, daß man sich auf die Tatsache stützt, daß das staatliche Gesetz diese Mitwirkung vorsehe und fordere: denn für die Handlungen, die ein jeder persönlich vornimmt, gibt es eine sittliche Verantwortlichkeit, der sich niemand entziehen kann und nach der Gott selber einen jeden richten wird (vgl. Röm 2, 6; 14, 12). (Fs)

Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht. Wenn es nicht so wäre, würde der Mensch gezwungen sein, eine mit seiner Würde an sich unvereinbare Handlung durchzuführen, und auf diese Weise würde seine Freiheit, deren glaubwürdiger Sinn und deren Ziel auf der Hinordnung zum Wahren und Guten beruhen, radikal gefährdet sein. Es handelt sich also um ein wesentliches Recht, das eben als solches vom staatlichen Gesetz selbst vorgesehen und geschützt werden müßte. In diesem Sinne müßte für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeheimen die Möglichkeit sichergestellt sein, die Beteiligung an der Phase der Beratung, Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissensgründen greift, muß nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein. (Fs)

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