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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche, Wahrheit, Vertrauen; Hans Küng, Qumran, Yallop, Zinsverbot: Irrtümer

Kurzinhalt: In ähnlicher Weise handelt es sich auch bei Hans Küngs "Irrtümern" des kirchlichen Lehramts mehr um Irrtümer Hans Küngs als um solche der Kirche. Zum ersten verwechselt er seitenlang ...

Textausschnitt: 6a Gelegentlich wird die Kirche mit der Arche Noahs verglichen: Nur jene Söhne und Töchter, nur jene Tiere, die Noah mit sich in die Arche nahm, wurden aus der großen Flut gerettet. In ähnlicher Weise sei die Kirche die einzige Rettung des Menschen vor der endgültigen Katastrophe. (Fs)

Wenn es um die allerletzten Dinge, um das ewige Schicksal des Menschen geht, dann kommt der Frage, wem er dieses sein ewiges Schicksal, sich selbst, anvertrauen, worauf er sich im Leben und Sterben verlassen kann, höchste Dringlichkeit zu. Da nun die Kirche den exklusiven Anspruch erhebt, die rettende Arche schlechthin zu sein, muß dieser Anspruch so solide begründet sein, daß es für den Menschen keinen Sprung ins Ungewisse bedeutet, wenn er sein Vertrauen in diese Arche setzt. (Fs)

Fragen über Fragen

6b Vielen unserer Zeitgenossen erscheint ein solches Vertrauen auf die Kirche geradezu als eine Zumutung an den gesunden Menschenverstand. Gibt es, so wendet man ein, nicht zahllose Fakten, die die Glaubwürdigkeit der Kirche erschüttern?
Viele haben die nicht wenigen Bücher gelesen oder Fernsehsendungen gesehen, die sich mit dem Thema "Qumran" befaßten und den Beweis zu liefern scheinen, daß die Anfänge Jesu von Nazareth und des Christentums ganz anders dargestellt werden müßten, als dies die Evangelien und das übrige Neue Testament tun. Mancher hat auch jenes in Jerusalem gefundene Tonbehältnis gesehen, in welchem Totengebeine aufbewahrt wurden und auf dem die Namen Joseph, Maria und Jesus zu lesen waren. Ist das nicht ein schlagender Beweis dafür, daß weder Jesus leiblich von den Toten auferstanden ist, noch Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde? Damit aber zerfallen doch die Grundlagen des christlichen Glaubens und der Kirche zu Staub und Asche! So argwöhnen nun viele. (Fs)

7a Hinzu kommt, daß die Kirche - wie man sagt - ihren Anspruch auf unfehlbaren Wahrheitsbesitz in zahlreichen Fällen durch grobe Irrtümer ihres Lehramtes desavouiert habe. Folgen wir Hans Küng, der "klassische, heute weithin zugegebene Irrtümer des kirchlichen Lehramts" aufzählt. Als ersten nennt er die "Exkommunikation des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Photios, und der griechischen Kirche, welche die nun bald tausendjährige Kirchenspaltung mit der Ostkirche formell machte". Sodann führt Küng "das Verbot des Zinsnehmens zu Beginn der Neuzeit (an), wo das kirchliche Lehramt nach mannigfachen Kompromissen viel zu spät seine Auffassung änderte". Daß er dann auch noch den Galileiprozeß von 1616 beziehungsweise 1633 und anderes dieser Art dazu rechnet, ist nicht anders zu erwarten. Den letzten großen Irrtum des Lehramts erblickt er in der Verwerfung der künstlichen Empfängnisverhütung. (Fs)

Andere vor und nach ihm stellten die Kirche wegen der Kreuzzüge, der Inquisition und der Hexenprozesse an den Pranger, und wem das noch nicht genug ist, der wird auf Finanzskandale der Vatikanbank und auf das Mordkomplott gegen den so sympathischen Papst Johannes Paul I. hingewiesen: Mafia im Vatikan, im Herzen der Kirche. Aus einer anderen Ecke tönt es, eine machtgierige Freimaurerclique habe schon Paul VI. durch einen ihr gefügigen Doppelgänger ersetzt, und überhaupt habe die Loge längst die Macht im Vatikan ergriffen - und so weiter. Wer also kann einer solchen Kirche noch vertrauen?!
Wenn man aber wirklich die kritische Frage nach Glaubwürdigkeit stellt, dann nicht nur an die Kirche, sondern auch an die gegen sie vorgebrachten Einwände. (Fs)
Berechtigte Kritik?

7b Das "Qumran"-Thema: Die meistgelesenen Bücher über Qumran, "Verschlußsache Jesus" (Baigent-Leigh) und Jesus und die Urchristen" (Eisenmann) wie auch andere vergleichbare Veröffentlichungen dieses Inhalts sind durch die ernsthafte Forschung als üble Machwerke entlarvt. Zum Teil sind sie Ergebnisse wissenschaftlicher Unfähigkeit, zum Teil beruhen sie auf bewußter böswilliger Verfälschung der Tatsachen. Gerade die Qumranfunde sind es, die, ganz im Gegenteil, höchst interessantes und sogar klärendes Licht auf das Neue Testament werfen. Und dann das Knochenbehältnis mit den Namen Joseph, Maria, Jesus, das tatsächlich aus Jerusalem und aus der Zeit Jesu stammt: Die Namen besagen gar nichts, wenn man bedenkt, daß sie so verbreitet waren und darum so nichtssagend sind, wie es heute die Namen Müller, Meyer oder Schuster wären. (Fs)

8a In ähnlicher Weise handelt es sich auch bei Hans Küngs "Irrtümern" des kirchlichen Lehramts mehr um Irrtümer Hans Küngs als um solche der Kirche. Zum ersten verwechselt er seitenlang den Patriarchen Photios mit dem Patriarchen Kerullarios. Zum anderen verschweigt Küng, daß Photios exkommuniziert wurde, weil er auf unrechtmäßige Art und Weise Patriarch geworden war und überdies Rom der Häresie bezichtigt und mit Hilfe einer manipulierten Synode Papst Nikolaus I. abzusetzen versucht hatte. Je nachdem man die näheren historischen Umstände dieses Falles beurteilt, könnte man allenfalls von einer kirchenpolitischen Fehlentscheidung, einer ungerechten Exkommunikation sprechen, niemals jedoch von einem Irrtum des kirchlichen Lehramts. (Fs)

Gleiches gilt auch vom Zinsverbot und seiner stufenweisen Abschaffung durch die Kirche. Dieses Verbot des Zinsnehmens war schon im Alten Testament begründet und auch von Päpsten und Konzilien festgehalten worden. Warum dies so war, wird klar, wenn man bedenkt, daß in der antiken und mittelalterlichen Welt Zinsnehmen weithin gleichzusetzen war mit Wucher. Den sündhaften Charakter als Wucher verlor das Zinsnehmen jedoch durch die Wandlungen der Wirtschaftsformen im späten Mittelalter. Somit fiel auch der Grund für das Zinsverbot im Laufe der Zeit dahin, und in der Folgezeit ging es dann nur noch um die Frage nach dem gerechten Zinssatz. Das generelle Verbot war damit hinfällig geworden. Wo also liegt hier ein Irrtum des kirchlichen Lehramts vor?

Auch die so oft als Irrtum des kirchlichen Lehramts bezeichnete Verurteilung von Galileis Lehre über das Feststehen der Sonne und die Bewegung der Erde zeigt sich bei etwas genauerem Zusehen als zu ihrer Zeit berechtigt. Weder konnte Galileo mit seinen wissenschaftlichen Mitteln einen die damalige wie die heutige Fachwelt überzeugenden Beweis führen, daß dies wirklich so sei, noch konnte er vor der Entdeckung der Schwerkraft durch Isaac Newton erklären, wie es möglich sein konnte, daß die Erde sich in rasender Geschwindigkeit um die Sonne und um die eigene Achse dreht - während zugleich von uns nichts davon wahrgenommen wird, da ja alles auf Erden fest und sicher steht, anstatt in wildem Wirbel durcheinandergeschleudert zu werden. Vor allem aber ist in diesem ganzen Verfahren gegen Kopernikus und Galilei keine einzige lehramtliche Äußerung erfolgt, die man als Dogma hätte bezeichnen können und die deshalb unwiderruflich gewesen wäre. Auch in diesem Fall versäumt es der Kritiker, die vielen geistes-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Vorgänge und Fakten zu berücksichtigen, die diese Entscheidung erklären. Und: Gerade die jüngsten naturwissenschaftlichen Ergebnisse geben der Kirche des Jahres 1633 recht. (Fs)

9a Vergleichbar differenziert, vorsichtig und umfassend müssen auch die Probleme behandelt werden, die sich mit den Reizthemen Kreuzzüge, Inquisition und Hexenprozesse verbinden. Sie erscheinen im Lichte der neueren und neuesten Forschung weitaus vielschichtiger und komplizierter, als dies jene wahrzunehmen vermögen, die hier Munition gegen die Kirche zu finden meinen. Wer außerdem nur eine entfernte Ahnung von der Kompliziertheit finanzpolitischer Aktionen und ihrer weltweiten Verknüpfungen hat und überdies weiß, welche Möglichkeiten der Manipulation sich hier eröffnen, wird, wenn es um die bewußten vatikanischen Finanzskandale geht, auf Seiten kirchlicher Instanzen eher zu große Vertrauensseligkeit, vielleicht finanztechnische Unfähigkeit oder gar Leichtsinn annehmen als kriminelle Machenschaften. (Fs)

9b Und was die Beurteilung von Yallops Buch "Im Namen Gottes" anlangt, in dem die Ermordung Johannes Pauls I. behauptet wird, so genügt die Lektüre von dessen ersten dreißig Seiten, um ein Urteil zu fällen. Auf diesen Seiten ist von den Päpsten des 19. Jahrhunderts die Rede, und dabei wird so viel Falsches gesagt, daß man sich kaum vorstellen kann, der Verfasser habe auch nur ein Lexikon benützt. Das hätte nämlich genügt, um diese zahlreichen Fehler zu vermeiden. Wenn er schon das nicht richtig wiedergibt, was alle Welt wissen kann, wie soll man ihm dann glauben können, wenn er sich auf Gespräche und Vorgänge beruft, von denen es der Natur der Sache nach keine Zeugen außer den angeblich Beteiligten geben kann. Von den üppigen Ausblühungen überhitzter Phantasie wie etwa dem Doppelgänger Pauls VI. ist wohl nicht weiter zu reden. (Fs)
10a All das also und noch manch anderes wird angeführt, um das Vertrauen in die Kirche zu erschüttern. Wie in diesen allzu knappen Ausführungen gezeigt, genügt aber in all den angeblich die Kirche desavouierenden Fällen historische und theologische Sachkenntnis, um die Grundlosigkeit solcher Angriffe zu erweisen. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche, Wahrheit, Vertrauen; das moralische Versagen; keine Verheißung untadeliger Kirchenführer, sondern ewiger Wahrheit

Kurzinhalt: Eigentlicher Grund unseres Vertrauens kann niemals eine glänzende geistig-sittlich-religiöse Erscheinungsform der Kirche in dieser Welt sein: ...

Textausschnitt: Aber das moralische Versagen!

10b Die umfassendste Sachkenntnis dieser Art wird - so kann mit Recht entgegnet werden -jedoch nicht genügen, um das alle Jahrhunderte hindurch an allen Orten festzustellende religiös-sittliche Versagen nicht weniger Glieder der Kirche - bis hin zu dem päpstlichen Ehebrecher Alexander VI. - zu entschuldigen. Da aber stellt sich die Frage, worauf wir eigentlich das Vertrauen gründen, das wir auf die Kirche setzen. (Fs)

10c Eigentlicher Grund unseres Vertrauens kann niemals eine glänzende geistig-sittlich-religiöse Erscheinungsform der Kirche in dieser Welt sein: Die gab es und gibt es zwar stets und überall - aber es gibt ebenso stets und überall das viel auffallendere Gegenteil davon. So muß schon alle Urkirchenromantik, die in der Kirche der ersten christlichen Generationen eitel Heiligkeit und Größe zu erkennen meint, an den harten Tatsachen scheitern: das christliche Ehepaar Ananias und Sapphira hat versucht, den Apostel Petrus zu betrügen; in der Paulusgemeinde in Korinth gab es einen Fall von Inzest und Opposition gegen den Apostel; in Philippi hatten die -wie man heute sagen würde - engagierten Mitarbeiterinnen des hl. Paulus, Evodia und Syntyche, solchen Krach miteinander, daß Paulus sie ernstlich ermahnen mußte. Ja, Paulus selbst trennte sich auf einer Reise von Markus und Barnabas wegen offenbar nicht zu bereinigender Meinungsverschiedenheiten. Schließlich gab es schon um das Jahr 70 - so nach neuesten Forschungen - in Korinth einen Aufstand gegen die Presbyter, so daß der Bischof von Rom dort energisch eingreifen mußte. (Fs)

10d Die Kirche hat also nie jene makellos leuchtende Erscheinung gehabt, die sie haben sollte. So verwundert es auch nicht, daß solche, die besonders fromm zu sein glaubten, daran immer wieder Anstoß genommen und ihre eigene "Kirche der Tadellosen" gegründet haben. Demgegenüber hat sich die Kirche selbst immer als große Realistin erwiesen, die immer und überall auch mit dem Versagen ihrer Glieder gerechnet hat und rechnet. Nicht umsonst hat der Herr Jesus selbst, der ja das Menschenherz in seinen Tiefen erforscht und kennt, das Sakrament der Sündenvergebung eingesetzt. (Fs)

11a Man kann auch nicht sagen, daß die Hirten und die Glieder der Kirche immer und überall auf die Herausforderungen der Geschichte richtig reagiert haben. Dabei ist, im Gegenteil, mancher im nachhinein offenkundige Fehler begangen worden. War es denn etwa nicht verhängnisvoll, daß Papst Clemens V. sich von den Forderungen des französischen Königs Philipp einschüchtern ließ und den im ganzen gewiß unschuldigen Templerorden dem großenteils blutigen Untergang preisgab? Ganze Episkopate - heute würde man von Bischofskonferenzen sprechen - verfielen während der arianischen Krise des 4. und 5. Jahrhunderts der Irrlehre. Im 16. Jahrhundert folgten die Bischöfe Englands mit Ausnahme des hl. John Fisher aus Schwäche und Feigheit König Heinrich VIII. in den Abfall von Papst und Kirche, und ähnlich stand der französische Episkopat im Konflikt um die Freiheit der Kirche vom Staat auf Seiten Ludwigs XIV. gegen den Papst. Fast zwei Jahrhunderte begünstigten die französischen Bischöfe die Irrlehre des Jansenismus. Der Ausnahmen waren nicht viele. Und wie verhielten sich die deutschen Bischöfe im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts? Im Jahre 1080 unternahm eine Mehrheit von deutschen Bischöfen unter dem Einfluß Kaiser Heinrichs IV. auf einer Synode zu Brixen den Versuch, Papst Gregor VII. abzusetzen und einen Gegenpapst zu wählen. Auch jene deutschen Bischöfe, die sich der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts konfrontiert sahen, haben zweifellos großenteils versagt. (Fs)

11b All das füllt wahrlich keine Ruhmesblätter in den Annalen der Kirche. Wir können unser Vertrauen also letzten Endes auch nicht auf die Weisheit und Kraft der Hirten setzen. Der Kirche ist aber weder Tadellosigkeit noch Tüchtigkeit ihrer Hirten und ihrer Gläubigen verheißen. Was ihr gottmenschlicher Stifter Jesus Christus jedoch garantiert hat, ist ihr unerschütterlicher Bestand und ihr unerschütterliches Feststehen in der Wahrheit bis zu seiner Wiederkunft am Ende der Zeit. Das bedeutet, daß die Kirche, wenn immer sie in letztverbindlicher Form spricht, niemals einen Glaubensirrtum verkünden kann, daß ihre Sakramente, sofern sie nur der Weisung der Kirche entsprechend gespendet werden, immer die ihnen eigene Gnadenwirkung hervorbringen, und daß ihre hierarchisch-sakramentale Ämterstruktur von Primat, Episkopat und Priestertum unversehrt erhalten bleibt. Eben dadurch aber ist die Garantie gegeben, daß die Gnaden der Erlösung den Menschen aller Generationen zugänglich bleiben, bis der Herr wiederkommt. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche, Wahrheit, Vertrauen; legitimen Wandel; biblische Begründung (Wort an Petrus); Grund: Anwesenheit Christi in der Kirche

Kurzinhalt: Während nämlich Veränderungen in der verbindlichen Glaubenslehre, im Wesenskern der Sakramente und im Kernbereich der hierarchisch-sakramentalen Ämter undenkbar und auch niemals vorgekommen sind, ist zeitbedingter Wandel ...

Textausschnitt: Gibt es legitimen Wandel?

12a An dieser Stelle ist nun auf ein weitverbreitetes Mißverständnis einzugehen. Es gibt immer wieder ernsthafte Gläubige, die gerade i diese Dauerhaftigkeit der Kirche in Frage stellen, da die Kirche im Jahre 2000 doch keinesfalls mehr jener Kirche gleiche, die die Apo-jstel bei ihrem Tod zurückgelassen haben. Manche meinen auch, I Veränderungen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte eingetreten i 6ind, als Beweis gegen die Dauerhaftigkeit der Kirche anführen zu können, andere bezeichnen diese Veränderungen als Abfall von der (Wahrheit. Daraus ergeben sich nicht selten Erschütterungen des Vertrauens in die Kirche. Diese erweisen sich jedoch bald als unbegründet, ist man nur bereit, notwendige Unterscheidungen vorzunehmen. (Fs)

12b Während nämlich Veränderungen in der verbindlichen Glaubenslehre, im Wesenskern der Sakramente und im Kernbereich der hierarchisch-sakramentalen Ämter undenkbar und auch niemals vorgekommen sind, ist zeitbedingter Wandel in den anderen Lebensbereichen der Kirche im Laufe ihrer Geschichte nicht nur möglich, sondern auch notwendig, wenn die Kirche unter jeweils veränderten Umständen und Verhältnissen ihre Sendung getreu erfüllen soll. So etwa sind kirchliche Ämter geschaffen und abgeschafft worden, Orden gegründet worden und untergegangen, Andachtsformen eingeführt worden und dem Vergessen anheimgefallen. Feste und Fastenzeiten unterlagen regionalen Unterschieden und zeitlichen Veränderungen - und seit den Eucharistiefeiern der Apostel haben sich zahlreiche Liturgieformen herausbildet und wurden wieder überholt, worauf jeweils neue Liturgiereformen erfolgten. Gerade Letzteres sollte bedacht werden, wenn man heute da und dort erbittert über "alte" und "neue" Messe streitet. (Fs)

Auch der schon erwähnte Wandel der kirchlichen Gesetzgebung und Praxis bezüglich des Zinsnehmens war ein sachlich richtiger und durchaus kohärenter Wandel - erfordert und ermöglicht durch gewandelte Umstände des Wirtschaftslebens. (Fs)

13a Gleiches gilt von der Abschaffung des Verbotes der Leichenverbrennung im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanum. War diese einst Ausdruck des Protestes gegen den Glauben an die Auferstehung des Fleisches und darum abzulehnen, so konnte die Leichenverbrennung, unter den Bedingungen der Gegenwart ihres glaubensfeindlichen Charakters entkleidet, durchaus zugelassen werden, wo sie zweckdienlich erscheint. (Fs)

13b Aber auch in dem schon erwähnten Kernbereich von Dogma, Hierarchie und Sakrament glauben manche Christen, Instabilität erkennen zu können. So etwa werfen die Orthodoxen der katholischen Kirche die Einfügung des "Filioque" ins Glaubensbekenntnis und die neuen Dogmen von der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854), der Unfehlbarkeit und dem Universalprimat des Papstes (1870) sowie der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950) als Abfall vom Glauben der Väter, als ganz und gar unzulässige Neuerungen, Veränderungen vor. (Fs)

13c Das aber sind diese Dogmen gerade nicht: Bei ihnen handelt es sich nicht um Veränderung, sondern um organische Entfaltung des Glaubens unter der Anleitung des Heiligen Geistes. Daß dem so ist, zeigt sich schon darin, daß keine dieser "neuen" Glaubenslehren in irgendeinem Punkt der überlieferten Wahrheit widerspricht. Viel mehr fügen sie sich harmonisch in den Gesamtorganismus der Glaubenswahrheiten ein, ja sind geradezu die logische Folgerung aus der Glaubensüberlieferung der Kirche, die durch sie Vertiefung und Erklärung erfährt. (Fs)

Biblische Begründung

13d Nun war schon davon die Rede, daß Jesus Christus seiner Kirche die Unzerstörbarkeit und das unversehrte Bleiben in der Wahrheit garantiert habe. Das ist gegenüber all den erwähnten Bestreitungen und Mißverständnissen eingehender zu begründen, und zwar aus der Heiligen Schrift des Neuen Testaments. (Fs)

Als entscheidendes Argument für die Unzerstörbarkeit der Kirche ist das Wort des Herrn an Petrus anzusehen, das im 16. Kapitel des Matthäusevangeliums überliefert ist: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen." Mit den "Mächten der Unterwelt" ist die sonst alles zerstörende Macht des Todes, die Vergänglichkeit gemeint. Das heißt, daß Jesus der Kirche unvergängliche Dauer, so lange diese Weltzeit währt, verheißen hat. (Fs)

14a Auch der Bau auf den Felsen will das gleiche aussagen. Schon in einem der Qumran-Loblieder (IQH VI 26-28) heißt es: "Und ich freute mich über deine Wahrheit, mein Gott; denn du legst ein Fundament auf Fels ... zu bauen eine starke Mauer; die nicht erschüttert wird; und alle, die hineintreten, werden nicht wanken." Auch im Gleichnis vom Hausbau auf Sand beziehungsweise auf Fels ist der Felsengrund Voraussetzung dafür, daß das Haus allen Stürmen standhält (Mt 7; Lk 6). Der innere Grund hierfür ist die beständige Anwesenheit und Wirksamkeit Jesu Christi in seiner Kirche, der den Aposteln versprochen hat: "Siehe ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt." Paulus gibt dieser Gewißheit Ausdruck, wenn er im ersten Korintherbrief 11,26 sagt: "So oft ihr dieses Brot eßt und den Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er wiederkommt." Das heißt, daß die Kirche bis zur Wiederkunft Christi am Ende der Zeit bestehen wird. (Fs)

14b Aufs engste mit der Unzerstörbarkeit der Kirche ist ihr unfehlbares Bleiben in der Wahrheit verbunden, ist doch die Wahrheit ihrer Lehre, die die Offenbarung Gottes zum Inhalt hat, die unersetzliche Bedingung ihrer Existenz. Das heißt, daß die Kirche aufhören würde zu existieren, wenn sie sich je von der Grundlage dieser Wahrheit auch nur in einem Punkt entfernen würde. Und eben das kann aufgrund der Verheißungen Jesu niemals geschehen, der den Aposteln für die Zeit seiner körperlichen Abwesenheit versprochen hat: "Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit..." (Joh 14,16). Und ebenda: "Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe" (Joh 14,26). Beide Elemente, Unzerstörbarkeit und Unfehlbarkeit der Kirche, drückt der Apostel Paulus im ersten Brief an Timotheus (3,15) aus, wenn er die Kirche "die Säule und das Fundament der Wahrheit Gottes" nennt. Im übrigen weisen auch die Bildaussagen, die die Kirche als Bau, als Volk, kurzum als Werk Gottes, als Leib Christi bezeichnen, auf deren göttliche Stiftung und damit auf ihr den zerstörenden Kräften dieser Welt unzugängliches Wesen hin. (Fs)

15a Nun ist freilich einzuräumen, daß eine solche Beweisführung auf Menschen, die außerhalb der Kirche stehen, kaum überzeugend wirken wird, da für sie Jesus Christus allenfalls eine bedeutende historische Persönlichkeit darstellt, die natürlich, wie jeder andere Mensch, keineswegs jedem Irrtum enthoben ist. Wenn wir aber bereit sind, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus gläubig anzunehmen, ja, ihn selbst als den menschgewordenen Gott zu bekennen, dann erschließt sich uns auch die Überzeugungskraft der angeführten Worte der Heiligen Schrift, die wir ja als Wort Gottes erkennen. Dann aber gewinnen diese Verheißungen ihr volles Gewicht. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche, Wahrheit, Vertrauen; 2000 Jahre ohne Schiffbruch; Stürme: Arius, Glaubensirrtümer der Antike, Glaubensspaltung; das Zeugnis der Heiligen

Kurzinhalt: In seiner ganzen Überzeugungskraft zeigt sich dieser jedoch, wenn wir rückschauend überblicken, unter welchen geschichtlichen Bedingungen sich diese Dauerhaftigkeit der Kirche bisher hat bewähren müssen.

Textausschnitt: Zweitausend Jahre ohne Schiffbruch

15b Fassen wir nun aber das Problem von einer ganz anderen Seite an. Wenn unsere bisherigen Feststellungen wahr sein sollen, dann müssen die Verheißungen Christi sich seither bewährt haben. Und das kann unschwer durch einen Rückblick auf zweitausend Jahre Kirchengeschichte überprüft werden. Allein die Tatsache, daß wir heute im Jahre 2007 überhaupt diese Frage stellen können, nimmt schon die Antwort vorweg. Wir könnten dies gar nicht als Katholiken tun, wenn die Kirche inzwischen aufgehört hätte zu existieren. Die bloße Existenz der Kirche im Jahre 2007 ist also schon ein unwiderlegbarer Beweis für ihre Dauerhaftigkeit. (Fs)

15c In seiner ganzen Überzeugungskraft zeigt sich dieser jedoch, wenn wir rückschauend überblicken, unter welchen geschichtlichen Bedingungen sich diese Dauerhaftigkeit der Kirche bisher hat bewähren müssen. Dabei stellt sich heraus, daß schon die Anfänge der Kirche von inneren Gegensätzen ebenso wie von äußeren Verfolgungen belastet waren, die die glaubensmäßige wie institutionelle Loslösung von der Synagoge mit sich brachte. Gleichermaßen problembeladen war die Inkulturation der jungen Kirche in das Imperium Romanum mit seiner römisch-griechischen Kultur. Hierin sind nicht nur die Unterdrückungsmaßnahmen des römischen Staates, sondern auch die Ausbildung der frühen Irrlehren begründet, die sich etwa mit dem Namen Markion oder dem Begriff der Gnosis verbinden. (Fs)

16a Letztere also, die Glaubenslehre betreffenden Konflikte, wurden durch die Anerkennung des Christentums seit Konstantin dem Großen keineswegs beendet, sondern noch verschärft, wie die Jahrzehnte dauernde arianische Krise zeigt. Diese war so umfassend und konnte die Fundamente des christlichen Glaubens so sehr erschüttern, daß zu Zeiten die arianische Partei in Verbindung mit der staatlichen Gewalt die Macht im Osten fast völlig in Händen hatte, während etwa der hl. Athanasius nicht nur mehrfach von seinem Bischofssitz vertrieben wurde, sondern sogar um sein Leben fürchten mußte. Ebenso fielen die Germanen für zwei Jahrhunderte dem Arianismus anheim. Dessen Sieg aber hätte das Ende des wahren christlichen Glaubens bedeutet. (Fs)

16b Die Spätantike war auch von anderen immer wieder aufbrechenden Glaubensirrtümern gekennzeichnet - man denke nur an den Monophysitismus, den Monotheletismus, den Donatismus und manch andere Häresie. Diese Geschichte häretischer Bestreitung und damit natürlich auch Bedrohung des genuin christlichen, katholischen Glaubens hat seither - von kurzen Unterbrechungen abgesehen - beständig neue Fortsetzungen erfahren, die schließlich in der großen Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts ihren bislang nicht wieder erreichten Höhepunkt erlebte. Gerade in den Ländern deutscher Zunge waren um 1530 nahezu vier Fünftel der Bevölkerung zu Luther und den übrigen Neuerern abgefallen, und der verbliebene Rest schrie "Tod dem Papst!". England, Schottland, Skandinavien, Teile Polens, Ungarns und nicht geringe Teile Frankreichs trennten sich von der Kirche. Im wesentlichen blieben Italien und Spanien, Bayern und mit Mühe die von Bayern politisch bestimmten Fürstbistümer Köln und Münster treu. Dem gegenüber haben politische Gewaltmaßnahmen zur Unterdrückung der Kirche wie etwa durch die Französische Revolution und die atheistischen Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts zwar große Blutopfer gekostet, den Bestand der Kirche aber weit weniger zu gefährden vermocht als die in ihrem Inneren wirksamen Kräfte des Irrtums. (Fs)

Wie dem auch immer sei: Die Kirche hat die in ihr wie um sie tobenden Stürme von zweitausend Jahren überstanden. Nicht immer strahlend, nicht triumphal, aber ungebrochen. Da und dort leck geschlagen, manchmal mit einem zerbrochenen Mast und zerfetztem Segel - untergegangen ist das Schifflein Petri nicht. Und wenn dies bisher so gewesen ist, wird es - selbst nach bloßem menschlichen Ermessen - auch so bleiben. (Fs)

17a Man betrachte aber nicht nur das oft mühsame Überdauern der Kirche in den Stürmen der Geschichte, sondern auch die großen geistigen, die kulturellen und sittlichen Werte, die sie der Menschheit vermittelt hat. Es ist unbestreitbar und unbestritten, daß all das, was wir heute als unser abendländisches Kulturerbe betrachten, angefangen von der Kunst bis hin zur Wissenschaft, selbst der Technik, auf dem Mutterboden der Kirche gewachsen ist. Jene Institution, die den wissenschaftlichen Fortschritt in all den Jahrhunderten angeführt hat, die Universität, ist eine legitime Tochter der Kirche. Reden wir gar nicht erst von der Kunst in allen ihren Zweigen: Wo haben die Künste bis zu der alles in Frage stellenden Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre eine Heimat gefunden, wenn nicht in der Kirche?

17b Vor allem aber ist jener mittlerweile natürlich längst säkularisierte Respekt vor der Persönlichkeit und Freiheit des einzelnen, der sich aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner Berufung zum Heil in Christus ergibt, das heute kaum mehr als solches erkannte Erbe einer aus dem Geist der Kirche lebenden Vergangenheit. Etwas von dem gegenüber allen vor- und außerchristlichen Kulturen - sieht man einmal vom Judentum ab - grundsätzlich Neues, als dessen Herold die Kirche von Anfang an aufgetreten ist, sind Mitleid, Nächstenliebe, Feindesliebe. Wo hat es schließlich außerhalb des geistigen Umfeldes der Kirche jemals eine Bewegung wie den "Gottesfrieden" des 11. und 12. Jahrhunderts gegeben?

Noch manches andere wäre hier zu nennen, was, wie die angeführten sittlichen Haltungen, konsequenterweise da aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschwindet, wo die prägende Kraft der kirchlichen Verkündigung nicht mehr wirksam ist. (Fs)

Das Zeugnis der Heiligen

17c All das Gesagte findet vom Anfang der Kirchengeschichte an bis auf unsere Tage seinen überzeugendsten Ausdruck, seine nicht mehr überbietbare Verwirklichung im Leben jener, die wir Heilige der Kirche nennen. Ihre Zahl ist in allen Jahrhunderten so groß, daß allein ihre Lebensbeschreibungen bis etwa zum Ende des Mittelalters die mittlerweile circa 72 Foliobände der "Acta Sanctorum" füllen. Es waren Menschen, in deren Leben Glaube, Hoffnung, Gottes- und Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbstlosigkeit, Edelmut, Frömmigkeit und Hingabe, kurzum alles, was einen Menschen wertvoll macht, in beispielhafter Weise sichtbar geworden ist. Sie alle haben diese Größe erlangt als Glieder der Kirche. Ihre Lehre, ihre Weisung, ihre Gnadenvermittlung, kurzum die Kirche selbst war es, die sie hervorgebracht hat, wie ein Baum seine Früchte hervorbringt. Wie gut aber muß der Baum sein, der solche Früchte trägt! Es sind in der Tat die Heiligen, die den eindrucksvollsten Grund für unser Vertrauen in die Kirche darstellen. Wer demgegenüber darauf verweisen will, daß die Welt trotz zweitausendjährigem Einfluß der Kirche nicht besser geworden sei, der muß sich fragen lassen, wie die Welt denn ohne das Wirken der Kirche aussehen würde. Und: Kann der Bach etwas dafür, wenn der Kieselstein, der in ihm liegt, auch nach zweitausend Jahren in seinem Inneren hart und trocken ist? Umgekehrt ist aber zu sagen, daß überall, "wo auch immer die Botschaft der Kirche gehört, ergriffen und verwirklicht worden ist, "das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens" (Präfation vom Christkönigsfest) Gestalt angenommen hat, das Reich Gottes. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Papst, Papsttum - Primat; Pastor aeternus; ex cathedra

Kurzinhalt: Es kann z.B. nicht im entferntesten die Rede davon sein, daß hier behauptet würde, der Papst könne nicht sündigen, könne keine Fehler begehen, habe in allen seinen Äußerungen recht und dergleichen mehr. Vielmehr schränkt das Konzil die ...

Textausschnitt: 19a Am 18. Juli 2005 waren es 135 Jahre, daß das 1. Vatikanische Konzil die Stellung des Papstes in der katholischen Kirche erstmals umfassend umschrieben und verkündet hat. Blitz und Donner gingen damals über St. Peter in Rom hernieder, während Pius IX. die Konstitution "Pastor aeternus" verlas und damit in Kraft setzte. Das Gewitter bedeutete den einen den Protest des Himmels, während die anderen darin das Toben der Hölle vernahmen. Die Konzilskonstitution enthielt nämlich die beiden Dogmen vom Universalprimat und der lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes. (Fs)
Tags darauf donnerten am Rhein die Kanonen - der deutschfranzösische Krieg war ausgebrochen, das Konzil zerstreute sich in alle Winde, sein Werk blieb ein Torso, es wartete auf die Ergänzung durch das 2. Vatikanum. (Fs)

Was meint "Primat des Papstes"?

19b Befassen wir uns zunächst nun mit dem Inhalt der Konstitution "Pastor aeternus". Sie lehrt, daß Jesus Christus selbst dem hl. Petrus die oberste Hirtengewalt über die ganze Kirche übertragen habe, und daß dessen Primat in den römischen Bischöfen fortdauere. Von diesem obersten Hirtenamt heißt es sodann: "Wir lehren und erklären, daß die römische Kirche auf Anordnung des Herrn die ordentliche Leitungsgewalt über alle übrigen Kirchen innehat und daß diese Jurisdiktionsvollmacht des römischen Bischofs, die wahrhaft bischöflich ist, unmittelbar ist: Ihr gegenüber sind die Hirten und Gläubigen jedes Ritus und jedes Ranges sowohl einzeln für sich als auch alle zugleich zu hierarchischer Unterordnung und wahrem Gehorsam verpflichtet, nicht nur in Angelegenheiten, die den Glauben und die Sitten, sondern auch in solchen, die die Disziplin und die Leitung der über den ganzen Erdkreis ausgebreiteten Kirche betreffen, so daß durch die Wahrung der Einheit sowohl der Gemeinschaft als auch desselben Glaubensbekenntnisses mit dem römischen Bischof die Kirche Christi eine Herde unter einem obersten Hirten sei. Dies ist die Lehre der katholischen Wahrheit, von der niemand ohne Schaden für seinen Glauben und sein Heil abweichen kann."

20a Das nun bedeutet zum ersten, daß der Papst oberster Gesetzgeber ist, der für die ganze Kirche ebenso wie für deren einzelne Teile verbindliche Gesetze erlassen kann. Kraft der gleichen Vollmacht kann er Gesetze seiner Vorgänger oder auch solche von Allgemeinen Konzilien aufheben oder abändern, sofern sie nicht göttliches Recht oder die Glaubenswahrheit betreffen. Auch die authentische Interpretation von kirchlichen Gesetzen steht ihm zu. Gleiches gilt von der Einberufung, Leitung und Auflösung Allgemeiner Konzilien und ihrer abschließenden Bestätigung. Grenzen der päpstlichen Vollmacht sind, wie gesagt, das göttliche Recht, das Naturrecht und die Wahrheiten des Glaubens. (Fs)

Zur obersten Gesetzgebungsgewalt kommt die oberste Verwaltungshoheit. Allein der Papst kann ihr zufolge Bistümer usw. errichten oder unterdrücken. Er kreiert die Kardinale, ernennt oder bestätigt die Bischöfe und kann grundsätzlich alle Kirchenämter besetzen. Auch die Regelung der Liturgie, der Selig- und Heiligsprechung, der Gewährung von Ablässen sowie die Bestätigung von Ordensgemeinschaften und ihren Regeln ist Sache des Papstes. Außerdem steht ihm die oberste Verwaltung des gesamten Kirchenvermögens zu und auch das Recht, Abgaben für die Leitung der Gesamtkirche zu erheben. Diese Rechte übt der Papst in diesem Umfang jedoch nur in der lateinischen Kirche aus, für den Bereich der katholischen Ostkirchen sieht das orientalische Kirchenrecht -das allerdings auch vom Papst erlassen ist - manch andere der ostkirchlichen Überlieferung angemessene Regelungen vor. (Fs)

Die Ausübung des Obersten Hirtenamts erfordert sodann auch ein oberstes Aufsichtsrecht über die ganze Kirche, das der Papst durch Nuntien, Legaten und andere ausübt. (Fs)
Schließlich ist der Papst letzte Beschwerdeinstanz für alle Glieder der Kirche, die sich in ihren Rechten beeinträchtigt sehen. Organe des Papstes für die Wahrnehmung dieses Auftrags sind die einzelnen Kongregationen und Ämter der Römischen Kurie. (Fs)

21a Ganz wichtig ist auch die oberste richterliche Gewalt des Papstes. Er hat für die Einhaltung des kirchlichen Rechts zu sorgen und ist letzte Appellationsinstanz für alle Urteile nachgeordneter kirchlicher Gerichte. Diese Funktion übt der Papst durch die Gerichtshöfe der Sacra Romana Rota und der Signatura Apostolica aus. (Fs)

Von Bedeutung ist sodann, daß der Papst die Kirche und ihre Interessen den weltlichen Mächten gegenüber vertritt. Dem Heiligen Stuhl kommt von alters her Rechtspersönlichkeit im Sinne des Völkerrechts zu - unabhängig davon, daß der Papst seit den Lateranverträgen des Jahres 1929 auch Souverän des Staates der Vatikanstadt ist, wodurch sichergestellt wird, daß der Papst niemandes Untertan ist und darum die Weltkirche in voller Freiheit leiten kann. Alle diese Rechte leiten sich aus der dem Petrusnachfolger eigenen geistlichen Gewaltenfülle ab. (Fs)

Mit dieser Umschreibung des universalen Jurisdiktionsprimates sind Auffassungen definitiv zurückgewiesen, die - so etwa die Orthodoxie, aber auch der Episkopalismus und Gallikanismus des Westens - dem römischen Bischof nur einen Ehrenvorrang, nicht aber oberste Hirtengewalt einräumen wollen. Vollends wird dadurch die Vorstellung vom Papst als einer Art "Generalsekretär der vereinigten christlichen Konfessionen" als unmöglich erwiesen. (Fs)

Wiewohl nun der eben skizzierte Jurisdiktionsprimat das eigentliche Wesen des päpstlichen Amtes ausmacht, ist doch die in diesem enthaltene oberste Lehrautorität, das unfehlbare Lehramt des Papstes, weitaus bekannter und auch umstrittener. (Fs)

In bezug darauf lehrt das 1. Vatikanum im Kapitel 4 von "Pastor aeternus" - und das ist die eigentliche definitorische Formel: "Wenn der römische Bischof ex cathedra spricht, d. h., wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität entscheidet, daß eine Glaubens- oder Sittenlehre von der ganzen Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet wissen wollte. Und daher sind solche Definitionen des römischen Bischofs aus sich, nicht aber auf Grund der Zustimmung der Kirche unabänderlich."

Bei einigermaßen aufmerksamer Lektüre dieses Textes wird klar, daß eine Reihe von üblicherweise erhobenen Einwänden gegen diese Glaubenslehre ins Leere stoßen. Es kann z.B. nicht im entferntesten die Rede davon sein, daß hier behauptet würde, der Papst könne nicht sündigen, könne keine Fehler begehen, habe in allen seinen Äußerungen recht und dergleichen mehr. Vielmehr schränkt das Konzil die wirkliche Irrtumslosigkeit des Papstes inhaltlich auf Gegenstände der Glaubens- bzw. Sittenlehre ein und formal auf das Sprechen "ex cathedra". Worin dieses besteht, sagt das Konzil: Der Papst müsse sich dabei ausdrücklich auf seine oberste apostolische Autorität berufen und sich mit seinem Spruch an die gesamte Kirche wenden. Nur wenn diesen Kriterien entsprochen ist, kann es sich um eine irrtumslose und darum aus sich heraus unabänderliche Entscheidung handeln. Hinzu kommt noch, daß diese auf den göttlichen Beistand zurückgeführt wird, der dem hl. Petrus verheißen ist. Es geht bei einem ex-cathedra-Spruch also nicht um einen dogmatisch-schöpferischen Akt des Papstes, sondern um die göttliche Garantie, daß das Evangelium Jesu Christi vor jeder Verfälschung bewahrt bleibt. So das 1. Vatikanische Konzil. (Fs)

22a Das 2. Vatikanum nimmt diese Lehren in vollem Umfang wieder auf und ergänzt sie lediglich, indem es die Stellung des Papstes als Haupt des Bischofskollegiums hervorhebt. Der Petrusnachfolger ist also oberster Hirt der Kirche und authentischer Interpret der Offenbarung Gottes. Durch seinen weltumspannenden Jurisdiktionsprimat und seine lehramtliche Unfehlbarkeit ist er instand gesetzt, sowohl die Einheit der Kirche Jesu Christi auf der ganzen Welt wie auch die Unversehrtheit ihrer Glaubensgrundlage zu gewährleisten. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Papst - Kirche ohne Papsttum;

Kurzinhalt: So etwa haben selbst die Orthodoxen seit ihrer Trennung von Rom kein gemeinsames Konzil mehr zustande gebracht und sind statt dessen in Nationalkirchen auseinandergedriftet. Und im Bereich der Reformation ...

Textausschnitt: Kirche ohne Papsttum

22b Wie bedeutend, ja existentiell notwendig dieses Petrusamt ist, wird besonders eindrucksvoll sichtbar, wenn wir jene Bereiche der Christenheit ins Auge fassen, in denen Sendung und Vollmacht des Papsttums nicht anerkannt werden. So etwa haben selbst die Orthodoxen seit ihrer Trennung von Rom kein gemeinsames Konzil mehr zustande gebracht und sind statt dessen in Nationalkirchen auseinandergedriftet. Und im Bereich der Reformation ist die Entfernung vom Evangelium Christi und die Zersplitterung in Lehre und Gemeinschaft zu offenkundig, als daß dies näher auszuführen nötig wäre. Schon der bedeutende protestantische Rechtsgelehrte des 17. Jahrhunderts, Samuel Pufendorf, sagte:
23a "Und wiewol Lutherus zu erst der Katzen die Schelle angehencket hatte: so wollen doch die andern nicht eben in allen Stücken sich nach seiner Meinung richten/und wollen auch etwas zu sprechen haben. Dannenhero entstunden auch unter ihnen Disputen/und weil niemand war/der sie pro Autoritate hätte entscheiden können/ sondern ein jeder auff seiner Meinung verhärtet stund/gab es bald innerliche Spaltungen/und vergaß man des gemeinsamen Feindes/ und fuhr einander selbst in die Haare. So haben auch die Papisten ; diesen Vortheil für den Protestanten/daß jene alle den Pabst für das höchste Haupt ihrer Kirchen erkennen/und zum wenigsten äusser-lich und mit dem Munde im Glauben einig sind. Hingegen haben die Protestanten kein geistlich sichtbar Haupt/und sind untereinander elendiglich zertrennet. Denn daß ich nicht sage von den kleinen Secten der Arminianer/Socinianer/Widertäuffer/und dergleichen/so hat sich ihr Gros in zwen fast gleiche Haufen getheilet/der -Lutheraner und Reformirten; darunter viele fast eben so sehr auff einander verbittert sind/als auf die Papisten. Es ist auch unter ihnen keine allgemeine Verfassung der Religion halber/sondern ein ieder Staat guberniret sich hierinn nach seinem eigenen Gutdüncken."

23b Die entscheidende Frage ist nun aber nicht die, ob Primat und Infallibilität des römischen Bischofs zweckdienlich und für die Kirche notwendig oder vorteilhaft seien. Einzig und allein von Bedeutung ist, ob sie in der apostolischen Überlieferung verwurzelt, und das heißt von Christus so gewollt und der Kirche eingestiftet sind -oder nicht. Eben dies wurde freilich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder bestritten. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Papst - Kritik am Papsttum; Martin Luther; Mittelalter

Kurzinhalt: Daß dieses römische Papsttum die Wechselfälle seiner zweitausendjährigen Geschichte nicht nur überlebt hat, sondern aus deren Gefährdungen, Niedergängen und Umbrüchen immer wieder erneuert und gekräftigt hervorgegangen ist, ist ein ...

Textausschnitt: 23c Noch im Vorfeld des Konzils von 1869/70 hatte diesbezüglich der berühmte Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger geschrieben, daß "das Papsttum wie es geworden, als ein entstellender, krankhafter, athembeklemmender Auswuchs am Organismus der Kirche erscheint, der die besseren Lebenskräfte in ihr hemmt und zersetzt". Mit seiner maßlosen Polemik gegen das Konzil hat Döllinger die Abspaltung des Altkatholizismus maßgeblich mitverschuldet. (Fs)

24a Keine hundert Jahre zuvor hatten sich die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Salzburg auf dem sogenannten Emser Kongreß des Jahres 1786 zusammengetan, um unter dem Schutz Kaiser Josefs II. gegen den römischen Anspruch zu protestieren. Sie stützten sich dabei auf einige der Aufklärung verpflichtete Kanonisten, denen zufolge der Papst wohl "Centrum unitatis" der Kirche sei und ein Aufsichtsrecht über die Bischöfe innehabe. Die eigentliche Gewalt in der Kirche komme hingegen dem Konzil zu, dessen Beschlüsse der Papst lediglich zu vollziehen habe. Seine zwischen den Konzilien getroffenen Entscheidungen bedürften der Zustimmung der Gesamtkirche. In ihren Forderungen gingen die Erzbischöfe so weit, daß sie für die Verbindlichkeit von päpstlichen Bullen, Lehrschreiben usw. in den einzelnen Diözesen die Genehmigung des jeweiligen Bischofs forderten. Auch unbeschränkte Binde- und Lösegewalt wurde für die Bischöfe beansprucht. (Fs)

24b Obwohl nun einzelnen der hier nicht erschöpfend aufgeführten Forderungen nicht jede Berechtigung ermangelte und ihre Urheber nicht ohne weiteres Häretiker und Schismatiker waren, eignete ihrem Programm dennoch eine innere Dynamik, die in die Richtung einer Auflösung der kirchlichen Einheit und einer Zersplitterung in Nationalkirchen drängte. Insbesondere traf die Absicht, die Geltung päpstlicher Lehr- und Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen von der Zustimmung des einzelnen Bischofs abhängig zu machen, den Nerv des päpstlichen Amtes. Indes gingen mit der fürstlichen Herrlichkeit der protestierenden Erzbischöfe und dem "Ancien regime" auch ihre Emser Forderungen in der Sturmflut der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft unter, als die Reichskirche in der Säkularisation ihr Ende fand. (Fs)

24c Ihre Ideen schwelen aber noch heute unter der Decke weiter. Gleiches gilt von der ebenso vom Gedankengut der Aufklärung gespeisten Synode von Pistoja des gleichen Jahres. Sie wollte den Papst gleichsam zum Exekutivbeamten degradieren, der seine Vollmachten von der Gesamtkirche empfängt. Die Befugnisse der Bischöfe, ja der Pfarrer, wurden zu Pistoja so weit ausgedehnt, daß der Papst de facto überflüssig geworden wäre. (Fs)

24d Gehen wir in der Geschichte noch weiter zurück, so begegnen wir in der Person Martin Luthers dem radikalsten Nein zum Papsttum überhaupt. Bekannt ist sein immer wieder ausgesprochener Satz "Pestis eram vivus, moriens ero mors tua, papa"! (Pest war ich dir, Papst, im Leben - im Sterben werde ich dein Tod sein!) "Vom Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet", so überschrieb er eine seiner Altersschriften, in der er sagt, man solle "den Papst, Cardinäle und was seiner Abgötterei ... Gesinde ist, nehmen und ihnen, als Gotteslästerern, die Zungen hinten am Hals herausreißen und an den Galgen nageln ..." Er fordert auf, den Papst etc. gefesselt bei Ostia im Meer zu ertränken, und an anderer Stelle ruft Luther den deutschen Fürsten zu, sie sollten die ganze Rotte des römischen Sodoma austilgen und die Hände in ihrem Blut waschen. (Fs)

25a Vor solchen Ausbrüchen nehmen sich die Bestrebungen des Konziliarismus im vorausgehenden 15. Jahrhundert geradezu harmlos aus. Gewiß zielten diese auf eine Einschränkung der päpstlichen Vollmachten in Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verwaltung zugunsten von Konzil und Bischöfen. Gewiß behaupteten auch nicht wenige die Oberhoheit eines Allgemeinen Konzils über den Papst und meinten Kreise der Konzilsväter in Konstanz und Basel, Päpste absetzen zu können: Doch es hatte sich gerade zu Konstanz bei Johannes XXIII. und Benedikt XIII. mit Sicherheit nicht um rechtmäßige Päpste gehandelt - der Anspruch der Konstanzer war ins Leere gestoßen. Und als die Baseler 1439 den rechtmäßigen Eugen IV. abgesetzt zu haben glaubten, war das Scheitern ihres Umsturzversuchs abzusehen. (Fs)

Papstkritik gab es auch im Hohen Mittelalter - von Heiligen geäußert oder von Ketzern: Sie hatte Person und Amtsführung von Päpsten zum Gegenstand. Von Stolz, Habgier, Machtmißbrauch war da die Rede, nicht aber ging es dabei um das Petrusamt und seine Gewaltenfülle. (Fs)

All dessen ungeachtet existiert dieses Papsttum seit zweitausend Jahren, und es hat sich trotz aller Bestreitung von innen und Verfolgung von außen in jenen zwei Jahrtausenden zu eben der Gestalt entfaltet, in der es uns die beiden letzten Konzilien vor Augen gestellt haben. (Fs)

Daß dieses römische Papsttum die Wechselfälle seiner zweitausendjährigen Geschichte nicht nur überlebt hat, sondern aus deren Gefährdungen, Niedergängen und Umbrüchen immer wieder erneuert und gekräftigt hervorgegangen ist, ist ein historisch beispielloses Phänomen. Schon der englische Historiker Macaulay hat es vor mehr als hundertfünfzig Jahren bestaunt:

"Die stolzesten Königshäuser sind im Vergleich mit der langen Reihe der römischen Päpste erst von gestern ... Die Republik von Venedig, welche im Bezug auf das Alter ihres Ursprungs zunächst nach dem Papsttum kommt, war im Vergleich zu ihm jung. Die Republik von Venedig besteht nicht mehr, und das Papsttum besteht nicht im Zustand des Zerfalls und als Ruine, sondern voll Leben und Kraft, während alle andern Reiche, die mit ihm von gleichem , Alter waren, längst in Staub zerfallen sind ... Wahrlich, diese Kirche ist das Meisterstück menschlicher (!) Weisheit..."

25a Mit seiner letzteren Feststellung täuscht sich der gelehrte Historiker. Der Grund für diese Beständigkeit, Unzerstörbarkeit des Papsttums, den er nennt, reicht wahrlich nicht aus. Es muß um mehr gehen: Das Papsttum wurzelt zutiefst in der authentischen Überlieferung der Kirche und damit in der Offenbarung Gottes. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Papst, Papsttum - geschichteliche Wurzeln; vom 1. Clemensbrief zum Vatikanum 1

Kurzinhalt: Mit dem 1. Clemensbrief stehen wir an der Schwelle der eigentlichen Apostelzeit. Johannes lebte noch in Ephesus, das von Korinth halb so weit entfernt war wie Rom, und nicht er, sondern Rom griff in Korinth ein. Aber gerade das Johannesevangelium ...

Textausschnitt: Tiefe Wurzeln

25b Versuchen wir nun auch diesen historischen Aufweis. Vom 1. Vatikanum aus rückwärtsschreitend stellen wir fest, daß sein Vorgängerkonzil, nämlich jenes von Trient, dieses Thema nicht einmal ausdrücklich behandelt hat, dennoch aber durch seine Strukturen und seinen Verlauf den Einfluß der Päpste deutlich erkennen läßt. Das ein halbes Jahrhundert vorher zu Ende gegangene 5. Laterankonzil hatte bereits die endgültige Überwindung des Konziliarismus gebracht, nachdem das Konzil von Florenz 1439 im Zusammenhang . mit der Union mit der Kirche des Ostens gelehrt hatte: "Ebenso bestimmen wir, daß der heilige Apostolische Stuhl und der römische Bischof den Primat über den ganzen Erdkreis innehat und der römische Bischof selbst der Nachfolger des seligen Apostelfürsten Petrus und der wahre Stellvertreter Christi, das Haupt der ganzen Kirche und der Vater und Lehrer aller Christen ist; und ihm ist von unserem Herrn Jesus Christus im seligen Petrus die volle Gewalt übertragen worden, die gesamte Kirche zu weiden, zu leiten und zu lenken ..." Diese Sätze sind Inhalt der Unionsbulle "Laetentur caeli", die auch von der orthodoxen Konzilsgesandtschaft samt dem Kaiser von Byzanz mitunterschrieben ist. (Fs)

27a In deutlicher Zuspitzung auf das oberste Lehramt des Papstes hatte zuvor schon das 2. Konzil von Lyon (1274), das gleichfalls von einer orthodoxen Gesandtschaft besucht war, wie folgt gelehrt: "Die heilige Römische Kirche hat den höchsten und vollen Primat und die Herrschaft über die gesamte katholische Kirche inne; sie ist sich in Wahrheit und Demut bewußt, daß sie diesen Primat vom Herrn selbst im seligen Petrus ... dessen Nachfolger der römische Bischof ist, zusammen mit der plenitudo potestatis empfangen hat. Und wie sie vor den übrigen gehalten ist, die Wahrheit des Glaubens zu verteidigen, so müssen auch eventuell auftauchende Fragen bezüglich des Glaubens durch ihr Urteil entschieden werden." Zugleich wird betont, daß die Römische Kirche höchstrichterliche Instanz ist, ihr aber alle anderen Kirchen unterstellt sind. (Fs)

Schließlich ist das Glaubensbekenntnis zu nennen, das von Papst Hormisdas am 11. August 515 formuliert worden und von den aus dem akazianischen Schisma zurückkehrenden Klerikern zu unterschreiben war. In dieser Formel, die 519 von Kaiser und Patriarch von Konstantinopel samt mehr als zweihundert Bischöfen des Ostens unterzeichnet und noch einmal auf dem 4. Konzil von Konstantinopel 869 bekräftigt wurde, wird bekannt, daß beim Apostolischen Stuhl die katholische Wahrheit immer unversehrt bewahrt geblieben und in der Gemeinschaft mit ihm die volle und wahre Festigkeit der christlichen Religion zu finden ist. Über den Spruch unseres Herrn Jesus Christus: "Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen", dürfe man nicht hinweggehen. Damit war Rom als letzte Norm der Glaubenswahrheit und der kirchlichen Gemeinschaft anerkannt. (Fs)
Diese Überzeugung war jedoch keineswegs neu. Papst Leo der Große hatte ja schon um die Mitte des 5. Jahrhunderts, namentlich bei seinem Bestreben, den Glaubenslehren des Konzils von Chalkedon Geltung zu verschaffen, dem päpstlich-petrinischen Selbstverständnis klassischen Ausdruck verliehen. (Fs)

Nun wird dies alles auch gar nicht bestritten. Bestritten wird hingegen, daß dieser Primat im ursprünglichen apostolischen Glauben verwurzelt ist und auf den Stifterwillen Jesu Christi zurückgehe. Legitime Entfaltung - oder pathologische Wucherung, das ist nun die Frage. Untersuchen wir also die ältesten Zeugnisse für das Amt der Petrusnachfolge - wobei freilich nur die wichtigsten vorgestellt werden können. (Fs)

28a Der erste Zeuge sei der Bischof Irenäus von Lyon, der um das Jahr 202 das Martyrium erlitten hat. Seiner Feder verdanken wir unschätzbare Zeugnisse für den Glauben der Kirche des 2. Jahrhunderts, die er in seinem Werk "Adversus haereses" - "Wider die Irrlehren" - bietet. Hier kommt er auch auf Rom zu sprechen. Er schreibt: "... mit dieser Kirche muß wegen ihres machtvollen. Vorranges jede andere Kirche übereinstimmen, d. h. die Gläubigen allüberall. Denn in ihr wurde vor den Gläubigen allüberall die apostolische Tradition bewahrt."

Nun wird immer wieder versucht, dieses an sich klare Zeugnis für einen Leitungsvorrang und den normativen Charakter der Kirche von Rom in seiner Aussagekraft abzuschwächen. Da sagt man einmal, Irenäus meinte, daß man die wahre apostolische Tradition bei den von Aposteln gegründeten Kirchen suchen müsse. Das sei natürlich Rom - aber auch Ephesus, Korinth oder Antiochien. An eine solche Kirche müsse man sich wenden! Aber gerade das sagt Irenäus eben nicht! Er sagt vielmehr, daß es diese (!) römische Kirche sei, die als Hort der wahren Überlieferung zu gelten habe. Rom wird hier keineswegs nur als das dem Bischof von Lyon nächstlie-gende Beispiel einer apostolischen Kirche angeführt oder deswegen, weil gleich zwei Apostel, Petrus und Paulus, dort gewirkt hatten. Aber auch Ephesus konnte sich auf zwei Apostel berufen - Paulus und Johannes -, ohne daß man Ephesus eine "potentior principalitas" - einen machtvollen Vorrang - zuerkannt hätte - es geht eben doch um Petrus! Und um die ganze Kirche, denn sogleich im nächsten Satz sagt Irenäus, die Apostel hätten dann dem Nachfolger des Petrus, Papst Linus, "episcopatum administrandae ecclesiae" übertragen, das Leitungsamt für die Kirche - nun aber nicht für diese römische Kirche, sondern für die Kirche schlechthin. Sodann meint man, Irenäus habe hier nur eine Vorrangstellung Roms über die Kirchen des Westens im Auge. Nun, auch das ist nicht zu beweisen. (Fs)

In dieser Stelle aus "Adversus haereses" liegt uns also ein Zeugnis aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts für die gesamtkirchliche Vorrangstellung der römischen Kirche - und das heißt ihres Bischofs - vor. Gleiches ergibt sich aus der Auseinandersetzung zwischen Bischof Polykrates von Ephesus und Bischof Viktor von Rom über den rechten Ostertermin in den Jahren 189 bis 199. Folgten die , Kirchen in der Provinz Asia darin dem jüdischen Kalender, so feierten die übrigen Kirchen Ostern am Sonntag nach dem Frühlingsvollmond, wie wir es noch heute tun. (Fs)

29a Aus den uns in der Kirchengeschichte des Eusebius (4. Jahrhundert) überlieferten Nachrichten über diesen sehr heftigen Streit geht zunächst hervor, daß Viktor von Rom sich befugt wußte, die Kirchen in der Asia in dieser Sache zur Ordnung zu rufen. Er verlangte von Bischof Polykrates, eine Synode einzuberufen - und dieser tat es, die übrigen Bischöfe folgten. In der Sache selbst widersetzten sie sich vehement der römischen Forderung, worauf Viktor die Gemeinden Asias exkommunizierte, was wiederum den Protest vieler hervorrief-auch den des schon genannten Irenäus von Lyon. So sehr nun aber viele die Unbedachtsamkeit und Schroffheit Viktors kritisierten und ihn zum Einlenken zu bewegen suchten, so wenig bezweifelten sie die Vollmacht Viktors zu solchem Vorgehen. Dieser hob denn auch seine Entscheidung keineswegs auf - und schließlich setzte sich, vom Konzil von Nicaea 325 bestätigt, die römische Praxis allgemein durch. (Fs)

Gehen wir aber nun an den Anfang des 2. Jahrhunderts zurück, so stoßen wir auf den Bischof Ignatius von Antiochien, der um das Jahr 109 zu Rom das Martyrium erlitten hat. Von ihm sind Briefe an mehrere Gemeinden erhalten, darunter einer an die Gemeinde zu Rom. Dieser unterscheidet sich nun in mehrfacher Hinsicht von den übrigen Briefen. Enthalten diese alle nachdrückliche Ermahnungen und Warnungen vor Irrlehren, so findet sich in jenem an die Römer davon keine Spur. Statt dessen lesen wir darin hohe Lobeserhebungen. (Fs)

Insbesondere aber ist es die Eingangspassage, die hier interessiert. Nicht nur, daß Ignatius die römische Gemeinde als ein Vorbild christlicher Einigkeit und unüberwindliches Bollwerk gegen alle Häresien rühmt, er sagt von ihr auch, daß sie das Gesetz Christi habe - offenbar in einer qualifizierten Art und Weise, die sie von den anderen Kirchen unterscheidet. Vor allem aber ist es von Bedeutung, wenn er sagt, daß die römische Kirche den Vorsitz fuhrt. Daß auch diese vom Bischof der im Osten gelegenen und berühmten Kirche von Antiochien ausgesprochene Überzeugung keineswegs eine Neuerung darstellte, sondern auf genuiner Überlieferung beruhte, zeigt uns der mehr als zehn Jahre vor den Ignatiusbriefen entstandene sog. 1. Clemensbrief. (Fs)

30a Clemens von Rom - und darum geht es hier - verlangte darin von Aufrührern in der Kirche von Korinth nicht nur die Unterwerfung unter die von ihnen vertriebenen Presbyter. Er verlangt von ihnen nichts weniger als die Auswanderung aus Korinth. Außer in dieser mit Sanktionen bewehrten Gehorsamsforderung wird das Autoritätsbewußtsein auch im folgenden Satz sichtbar: "Ihr werdet uns große Freude bereiten, wenn ihr dem gehorcht, was wir unter Leitung des Heiligen Geistes geschrieben haben ..." Daß hier durchaus mit Autorität nicht nur geschrieben, sondern auch gehandelt wird, geht daraus hervor, daß es von den Überbringern des Briefes Claudius Ephebus, Valerius Biton und Fortunatus heißt: "Schickt (sie) uns bald in Frieden und Freude zurück, damit sie uns umgehend melden, daß der von uns heiß ersehnte Friede und die Eintracht hergestellt sei und wir uns um so schneller über die gute Ordnung bei euch freuen können." So wird in freundlich-bescheidener Form unverzügliche Durchführung und Vbllzugsmeldung gefordert, wobei der Absender keinen Augenblick zweifelt, daß dies erfolgen werde. (Fs)

30b Um die ganze Tragweite dieses Briefes zu ermessen, muß auch beachtet werden, daß Korinth ebenfalls eine Apostelgründung, ja die Paulusgemeinde schlechthin war und sogar älter als jene von Rom. Außerdem gibt es keinerlei Hinweis, daß die Korinther ein römisches Eingreifen erbeten oder, als es erfolgt war, es zurückgewiesen hätten. Bemerkenswert ist auch, daß der römische Absender keinerlei Notwendigkeit erblickt, sein Eingreifen in Korinth zu rechtfertigen. Und: noch hundert Jahre nach seiner Abfassung wurde dieses Schreiben im Gottesdienst der Gemeinde von Korinth gleich den Heiligen Schriften vorgelesen, wie Bischof Dionysios an Papst Soter schreibt. Noch Irenäus kennt den Brief- er nennt ihn "potentissimas litteras" - einen überaus machtvollen Brief. (Fs)

30c Mit dem 1. Clemensbrief stehen wir an der Schwelle der eigentlichen Apostelzeit. Johannes lebte noch in Ephesus, das von Korinth halb so weit entfernt war wie Rom, und nicht er, sondern Rom griff in Korinth ein. Aber gerade das Johannesevangelium enthält ja jenes 21. Kapitel, in dem der Auftrag Jesu an Petrus zu lesen ist: "Weide meine Lämmer."

Gegenüber den angeführten historischen Zeugnissen für einen gesamtkirchlichen Leitungsvorrang der römischen Kirche, des Bischofs von Rom, wird nun sogleich der Einwand erhoben, daß hier keinesfalls ein Jurisdiktionsprimat gemeint sei, wie er seit dem 1. und 2. Vatikanum beansprucht wird. Deshalb sei ein solcher auch nicht auf Jesus Christus zurückzuführen, sondern lediglich Ergebnis einer menschlich-historischen Entwicklung. Darum - so wird gefolgert - könne, müsse er auch unter entsprechenden Voraussetzungen, etwa um der Ökumene willen, wieder auf sein ursprüngliches Maß beschränkt oder gar abgeschafft werden. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Papst, Papsttum - organische Entfaltung, Kritik

Kurzinhalt: Entwicklungsprozesse innerhalb dieses innersten Wesensbereichs der Kirche können also gar nichts anderes sein als authentische Entfaltung des schon von Anfang an in ihr durch Christus Angelegten - vergleichbar mit der Entfaltung eines Organismus ...

Textausschnitt: Organische Entfaltung

31a Was demgegenüber zu Tage tritt, ist eine Entfaltung des Petrusamtes, die parallel zu der Entwicklung der Kirche als ganzer von der Jerusalemer Jüngergemeinschaft bis zur Weltkirche des 21. Jahrhunderts verläuft. In diesem Verlauf verdichtete sich das ursprüngliche Wissen um eine "religiös-geistliche Bedeutsamkeit der römischen Kirche" zu der Einsicht, daß "Rom als Ort privilegierter Tradition" zu gelten habe, weshalb es immer mehr auch als "Zentrum der Communio" erkannt und anerkannt wurde, von wo in zunehmendem Maße die "Leitung der Gesamtkirche" ausgeübt wurde. Das aber war spätestens seit Leo dem Großen der Fall (K. Schatz). (Fs)

Katalysatoren für diesen Prozeß waren die sich immer häufiger und dringender ergebenden konkreten Probleme der kirchlichen Gemeinschaft, die Notwendigkeit, Häresien abzuwehren, die Einheit der Communio zu wahren und die Unabhängigkeit von weltlichen Mächten zu sichern. Bemerkenswert ist hierbei, daß im Laufe all der Jahrhunderte kein anderer Bischofssitz jemals einen gleichen Anspruch erhoben hat wie Rom. (Fs)

31b Wie ist dies nun theologisch zu beurteilen? Wenn wir von der Stiftung der Kirche durch Jesus Christus ausgehen und dessen Verheißungen an die Kirche - er werde bei ihr bleiben bis zum Ende der Welt, er wolle ihr den Heiligen Geist als Beistand senden, die Mächte der Unterwelt würden sie nicht überwältigen - dann ist es schlechterdings nicht denkbar, daß diese Kirche im Laufe der Geschichte jemals so verändert werden könnte, daß dies einen Verlust ihrer Identität mit sich brächte. Das heißt, daß es in ihrem Dogma, ihrem sakramental-hierarchischen Gefüge jemals zu solchen Fehlentwicklungen kommen könnte, die zum Verlust ihrer Identität führen könnten. Entwicklungsprozesse innerhalb dieses innersten Wesensbereichs der Kirche können also gar nichts anderes sein als authentische Entfaltung des schon von Anfang an in ihr durch Christus Angelegten - vergleichbar mit der Entfaltung eines Organismus gemäß seinem genetischen Code. (Fs)

32a Wenn nun also mehrere Allgemeine Konzilien, die ja Organe des unfehlbaren Lehramts der Kirche sind, diesen Primat des Bischofs von Rom in immer präziseren Formulierungen gelehrt haben, dann gehört der Primat des Papstes zum unaufgebbaren Glaubensgut der Kirche Jesu Christi. (Fs)

Der Protest dauert an

32b Was dessen ungeachtet bleibt, ist - so H. U. v. Balthasar - der "antirömische Affekt", der sich die Jahrhunderte hindurch immer wieder wahrnehmen läßt. "In der Tat, was bleibt den von Rom getrennten, nach verschiedenen Seiten auseinanderstrebenden Kirchen gemeinsam als die Ablehnung des ... Zentrums, dessen Anspruch auf gottgegebene Vollmacht das Nein der Abgeschwenkten wachhält und verbittert?" Zu diesem Nein von außen gesellt sich heute in besonderem Maße der Protest gegen den Papst aus dem Inneren der Kirche, und es scheint, als formiere sich hier eine Anti-Ökumene, als deren gemeinsame Basis nun freilich nicht das Ja zum katholischen Glauben, sondern die Absage an den Papst erscheint. So erweist sich der Felsen Petri immer wieder als "Stein des Anstoßes", als "ein Fels, an dem man zu Fall kommt" und ein "Zeichen, dem widersprochen wird". Da zeigt es sich nun wirklich, daß der Jünger nicht über dem Meister ist und des Meisters Schicksal teilen muß. Aber gerade darin erweist sich ja auch die Echtheit seines Jünger-Seins. Das Papsttum - und jeder einzelne Papst - hat also Anteil am "Scandalum incarnationis": "Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn?" (Mt 13,55). Ebensowenig wie Jesu Gegner bereit oder in der Lage waren, das göttliche Geheimnis seiner Person zu erkennen, vermögen auch die vielen außer- und innerkirchlichen Gegner des römischen Papsttums es nicht, dahinter mehr zu sehen als menschliche, allenfalls historisch gewordene Machtstrukturen. (Fs)

Natürlich ist sofort zuzugeben, daß es eine Reihe von psychologischen Entschuldigungsgründen dafür gibt, den päpstlichen Anspruch unerträglich zu finden, stützt sich der Protest doch zumeist auf das Wie der Ausübung römischer Autorität. Schroff, hart, sogar im Dienste politischer, finanzieller, egoistischer Interessen wurde diese Autorität im Laufe der Geschichte immer wieder ausgeübt, manchmal gar mißbraucht. Und: gab es nicht gar Päpste, die ihren Anspruch, Christi Stellvertreter zu sein, durch ein Leben desavouierten, das den Geboten Gottes widersprach? Daran besteht kein Zweifel. Es besteht aber auch kein Zweifel daran, daß Gott sich schwacher Menschen bedient, wenn er sein Heilswerk verwirklicht. Petrus selbst hatte seine Zerbrechlichkeit bewiesen, ehe er dennoch zum Fels, zum Schlüsselträger und Hirten der Kirche Christi gemacht wurde. So enthüllt sich der antirömische Affekt letztlich doch bloß als Spezialfall des Protestes gegen den als Mensch unter uns erschienenen Gott und seine Offenbarung. (Fs)

35a Daß aber auch das im Heilsplan Gottes angelegt ist, ist nicht zu bezweifeln. Wäre noch zu fragen: Wozu soll dieses Ärgernis dann gut sein?

Wiederum blickt von Balthasar sehr tief, wenn er daraufhinweist, wie unerbittlich Gott selber den Patriarchen, dem Mose, den Propheten - und vor allen anderen dem Gottesknecht schlechthin, Jesus, geradezu rücksichtslos Gehorsam abgefordert hat, und wie in der Folge Jesus selbst mit Petrus umspringt: "Als käme es überall darauf an, den rücksichtslosen Ungehorsam Evas und Adams durch einen ebenso rücksichtslos geforderten Gehorsam zu überwinden." Der Mensch, der seinem Schöpfer nicht gehorchen wollte, weil er selber sein wollte wie Gott, muß nun einem Menschen gehorchen, wenn er - aus Gnaden - der göttlichen Natur teilhaftig werden will. (Fs)

35b Der Petrusdienst, der römische Primat, hat also Anteil am "Mysterium Kirche", am "Geheimnis der Erlösung". Auch er erschließt sich nur im Glauben. Aus einer gläubigen Schau des Papsttums aber ergibt sich fernab von allem oberflächlichen Papst-Personenkult jene Ehrfurcht, jener Gehorsam, ja jene Liebe, womit der Katholik dem Stellvertreter Christi begegnet. (Fs)

35c Nicht zuletzt motiviert ihn dazu auch die geschichtliche Erfahrung, daß die Stürme zweier Jahrtausende den Felsen Petri nicht erschüttern konnten, auf den der Herr seine Kirche gebaut hat. So gilt denn auch für die Zukunft: "Non praevalebunt" - sie, die Mächte der Unterwelt, werden sie nicht überwältigen. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Europa - Bruch mit der christlichen Vergangenheit: Folgen; hegelianische Linke, Rechte; homo sovieticus, h. nordicus, h. oeconomicus; Wolfsgesellschaft, Sozialdarwinismus, Abtreibungs-, Euthanasie- und Klongesellschaft

Kurzinhalt: Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von den menschenmordenden Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bis hin zu den Vernichtungslagern des Dritten Reiches und dem Archipel Gulag, sind die Ergebnisse dieses Bruchs Europas mit seiner Herkunft ...

Textausschnitt: Das Nein zu den Wurzeln

49b Die letzten beiden Jahrhunderte europäischer Geschichte sind in der Tat durch einen auf breiter Front vollzogenen Bruch mit der geistigen Überlieferung von mehr als eineinhalb Jahrtausenden charakterisiert. Es genügt, Goethes Einschätzung der in der Tat von der Kirche geprägten Vergangenheit Europas zu zitieren: "Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt" (Zahme Xenien IX). Noch radikaler seine Absage: "Rettungsdank dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür?" (Prometheus). Und - in erschreckender Weise prophetisch: "Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei (...) und dein nicht zu achten, wie ich!" (ebd.). Was sich hierin ausdrückt, ist das elementar gewandelte Lebensgefühl der Aufklärung, aus dem sich - kaum beeinträchtigt durch das Zwischenspiel der Romantik - das Europa des 19. Jahrhunderts formte. (Fs)

50a Erwuchs aus der hegelianischen Rechten der totalitäre Staat, so aus Hegels linken Epigonen in letzter Konsequenz der Homo sovieticus von Lenin und Stalin, des gesamten ehemaligen Ostblocks. Nicht viel davon unterschieden der rassereine Homo nordicus - und nicht viel besser, nur anders, der Homo oeconomicus der kapitalistischen Welt. Sie, diese Typen des neuen Europäers, gestalteten ihre Welt, ihren Staat, ihre Kultur nach ihrem Bilde. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von den menschenmordenden Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bis hin zu den Vernichtungslagern des Dritten Reiches und dem Archipel Gulag, sind die Ergebnisse dieses Bruchs Europas mit seiner Herkunft aus Jerusalem, Athen und Rom. In dem Maße, in welchem die christliche Sicht von Mensch und Welt unter dem Einfluß der rationalistischen Philosophie der Aufklärung dahinschwand, führte der Weg in die Wolfsgesellschaft des Sozialdarwinismus, deren letzter Ausdruck die Abtreibungs-, Euthanasie- und Klongesellschaft unserer Tage ist. Am Anfang hatte - wie gesagt - das Nein zu den Grundlagen der Kulturentwicklung eines christlichen Jahrtausends gestanden. (Fs) (notabene)

Nun aber ist auch von Europas Verantwortung für den Rest - den unvergleichlich größeren Rest - der Welt zu sprechen. (Fs)

50b Europas einstige Größe war auch dafür maßgeblich, daß sein geistiges, kulturelles Erbe in allen jenen Erdteilen und Ländern aufgenommen wurde, die, wie Amerika - Nord und Süd - oder Australien, unter europäischen Einfluß gerieten. Es ist hier nicht der Ort, um den Ausgriff Europas nach den überseeischen Ländern und dessen Methoden kritisch zu bewerten. Das Phänomen "Kolonialismus" entzieht sich ob seiner Vielschichtigkeit einer einfachen Beurteilung. Nur eine Frage sei erlaubt: Würden ohne die spanische Conquista Azteken und Mayas nicht noch lange Sterne angebetet und Menschenopfer in Massen dargebracht haben, wie sie es noch zu einer Zeit taten, da die europäische Renaissancekultur in ihrem Zenit stand?

50c Europa hat - sieht man vom Fernen Osten und von Afrika ab - der Welt sein kulturelles Gepräge aufgedrückt. Mit diesem europäischen Kulturexport, der seit dem Zeitalter der Entdeckungen stetig zugenommen hat, hat der alte Kontinent auch eine schwerwiegende, ja bedrückende Verantwortung auf sich geladen. Gehörte zu diesen europäischen "Exportartikeln", die um die Mitte des 18 Jahrhunderts nach Lateinamerika transportiert wurden, der mehr oder weniger atheistische Rationalismus, so waren es im 19. Jahrhundert die in europäischen Köpfen entstandenen Ideologien. Das Ideengut der hegelianischen Linken, bis Marx und Engels, der Positivismus, der Vulgärmaterialismus und - ganz besonders virulent - der Nationalismus haben ihre Wirkungen sowohl in Lateinamerika als auch vor allem in Asien gezeitigt. Fragt man, wo die großen Revolutionsführer der Dritten Welt im 19. und 20. Jahrhundert ihre geistige Formung, ihre akademische Ausbildung erfahren haben, dann stößt man unweigerlich auf die bedeutenden Universitäten des alten Kontinents. Hier wurden jene philosophischen Ideen entwickelt, die, in gesellschaftspolitische Realität umgesetzt, zu den brutalsten totalitären Regimen geführt haben. Tschou En Lai und Deng Hsiao Ping mögen anstatt vieler hier genannt sein. (Fs)

51a Es sei nun - ausnahmsweise - einmal gestattet zu fragen, was umgekehrt hätte geschehen können, wenn die Genannten in Europa die Grundlagen der Naturrechtslehre, einer christlichen Anthropologie, einer personalistischen, der "philosophia perennis" verpflichteten Metaphysik kennengelernt und aufgenommen hätten!

51b Nun aber hatte das geistige Europa aufweite Strecken hin sich von seinen in Antike und Christentum liegenden Wurzeln gelöst, und den Studenten gab man an den Universitäten Steine statt Brot. Das seinen Ursprüngen entfremdete Europa der Moderne trägt an den geistigen und, in deren Konsequenz, auch den politischen Katastrophen nicht nur im eigenen Haus, sondern auch in der übrigen Welt ein gerütteltes Maß an Mitschuld. (Fs) (notabene)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Europa - Zukunft; Kirche - Aufklärung, moderne Ideologien (Liberalismus)

Kurzinhalt: Liberalismus ... sollte sich diese Ideologie im gleichen Umfang durchsetzen wie jene des Nationalsozialismus und des Marxismus, sich daraus die vielleicht lautlosere, aber um so zerstörerischere Katastrophe des 21. Jahrhunderts entwickeln müßte.

Textausschnitt: Der katholische Beitrag zur Zukunft Europas

51c Von der Bedeutung der Kirche als Faktor, wenn nicht Hauptfaktor für die Integration Europas ist die Rede. Wie zu sehen war, läßt sich für die Vergangenheit vieles dazu anführen. (Fs)

Wesentlich schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob der Kirche eine analoge Funktion auch für die Zukunft zukommen könnte. Im Vergleich zur Vergangenheit haben sich die Voraussetzungen hierfür grundlegend geändert. Die Zäsur wird durch den Siegeszug der Aufklärung und die Französische Revolution markiert. Mit beidem war die jahrtausendlang das geistige und politische Leben Europas tragende Selbstverständlichkeit des christlichen Glaubens zerbrochen. Fortan mußte dieser mit den "modernen" Philosophien, Ideologien, mit Indifferentismus und Agnostizismus konkurrieren. Die Zahl der Gläubigen und ihr soziales, politisches Gewicht bestimmte fortan das Maß des kirchlichen Einflusses auf die europäische Gesellschaft. Dieser bis heute andauernde Umstand ist im übrigen auch in Rechnung zu stellen, wenn "der Kirche" heute Fehlentwicklungen, Verbrechen, Versäumnisse - etwa im Zusammenhang mit totalitären Regimen - zur Last gelegt werden sollen. Die Kirche hat nur soviel Einfluß und Macht, wie die Gesellschaft ihr zugesteht. Die negativen Erscheinungen in Europas christlicher Vergangenheit sind nicht Ergebnisse aus der Realisierung christlicher Maximen, sondern der Abkehr von ihnen. (Fs) (notabene)

52a Damit sind auch schon die Grenzen für kirchliches Wirken im Zuge der europäischen Integration aufgezeigt. Hinzuweisen ist dabei auch darauf, daß den Christen heute im Unterschied zum ausgehenden 19. Jahrhundert und der Weimarer Zeit kein politischer Arm mehr zur Verfügung steht, wie ihn die christlichen Parteien der Vergangenheit dargestellt haben. (Fs)

52b Hinzu kommt noch das "innerchristliche" Faktum der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, die mit den Namen Luthers, Zwinglis, Calvins und Heinrichs VIII. von England verbunden ist. Was seither vom Evangelium hörbar wird, ist hinsichtlich nicht weniger Inhalte ein reichlich dissonantes Konzert. Dies gilt gerade von solchen Lehrinhalten bzw. sittlichen Normen, die das Leben der Gesellschaft unmittelbar betreffen. Es mag genügen, die Stichworte Ehe, Familie, Abtreibung, Homosexualität, In-vitro-Fertilisation, Euthanasie zu nennen, bezüglich derer die katholische Kirche weithin allein auf dem Boden der genuinen christlichen Überlieferung steht. Sie wird sich in diesen Punkten - andere werden zweifellos hinzukommen - auf keine Unterstützung von außen verlassen können, wenn es gilt, den authentischen christlichen Standpunkt gegenüber einer säkularisierten Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Sie sieht sich im Gegenteil mit einer zweifellos noch wachsenden ideologischen Gegnerschaft konfrontiert, die ihr aus den Lagern des Liberalismus, des Individualismus und des Relativismus entgegenschlägt. All diesen Ideologien ist es eigen, keine übersubjektiv, also objektiv gültige Wahrheit, alle Menschen, insofern sie Menschen sind, gleichermaßen verpflichtende sittliche Normen anzuerkennen. Solche zu verkünden - und zwar mit Berufung auf die der Schöpfung selbst innewohnenden Ordnung und auf göttliche Offenbarung (Bibel) - erhebt die katholische Kirche jedoch den Anspruch und erregt damit Widerspruch. Was also hat sie unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch für Chancen, das Europa der Zukunft mitzugestalten? Es bleibt ihr nur die Macht des Arguments. Und dieses Argument ist - von allem anderen einmal abgesehen - eine Frage, dazu noch eine utopische Frage, nämlich: Welche Art von Gesellschaft könnte in dem neuen Europa entstehen, welche Kultur würde geschaffen, wenn das Europa von heute, wenigstens zunächst in seinen denkenden Schichten, sich entschlösse, der Gesellschaft, der Kultur des zusammenwachsenden Kontinents die Magna Charta des katholischen Verständnisses von Mensch und Welt zu Grunde zu legen? (Fs) (notabene)

53a Das würde nichts anderes bedeuten, als daß das Naturrecht im klassischen Verständnis, der Dekalog des Alten und die Bergpredigt des Neuen Testaments den Maßstab abgeben würden, an dem die Normen für das private wie für das gesellschaftliche Leben sich bewähren müßten. Keine Frage, daß eine solche Gesellschaft bei weitem humaner wäre als jene, in der die Macht des Stärkeren dem schrankenlosen Egoismus des Individuums Bahn zu brechen vermag, in der der Schwächere keine Chance hat und in der Geld, Macht und Genuß als höchste Lebensziele gelten. (Fs)

53b Wenn nun andererseits der Unantastbarkeit der Person, der Verantwortung des einzelnen für das Ganze, der Ehrfurcht vor dem Schöpfer und den Geschöpfen, der Würde von Ehe und Familie gleichsam "Verfassungsrang" zuerkannt würde, dann würde das zweifellos nicht das Paradies auf Erden zur Folge haben. Wohl aber könnte auf dieser Basis bei aller Bruchstückhaftigkeit irdischer Realisierung eine weit menschenfreundlichere Gesellschaft entstehen als jene, in der wir heute leben. Eine Utopie gleich jener von Kants "Ewigem Frieden"? Wie aber an der Marxschen Utopie von der klassenlosen Gesellschaft zu sehen ist, entfalten Utopien ihre - in diesem Falle weltzerstörende - Kraft. Warum sollte nicht auch die Utopie eines christlichen Europas ihre gestaltende, aufbauende Dynamik erweisen? Inzwischen kann Europa auf ein Jahrhundert der Katastrophen zurückblicken. Sie waren als letzte Konsequenzen aus der nationalsozialistischen und der marxistischen Ideologie erwachsen, deren menschenfeindlicher Irrtum sich solchermaßen drastisch erwiesen hat. Im Augenblick scheint es, als strebe nach deren Untergang die Ideologie des Liberalismus an die Macht. Hier ist freilich nicht von jenem Liberalismus die Rede, der sich die Freiheit des Bürgers von staatlicher Bevormundung auf die Fahnen geschrieben hat. Es ist jener Liberalismus gemeint, der jede Bindung des Individuums an allgemein gültige Wahrheit und Normen ablehnt. Dieser Liberalismus, der dem einzelnen das Recht vindiziert, seinem höchst individuellen Sittenkodex, seiner "je meinigen Wahrheit" zu folgen, scheint in der Tat am Werk. Die Formen, in welchen er sich äußert, sind zu bekannt, als daß sie hier dargestellt werden müßten. Sie sind aber zweifellos von der Art, daß, sollte sich diese Ideologie im gleichen Umfang durchsetzen wie jene des Nationalsozialismus und des Marxismus, sich daraus die vielleicht lautlosere, aber um so zerstörerischere Katastrophe des 21. Jahrhunderts entwickeln müßte. Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" könnte eine Zukunftsvision sein. In dieser Situation stellt sich die Frage, ob dieses Europa von heute nicht doch die Neugier und den Wagemut aufzubringen vermöchte, das "katholische Experiment" zu riskieren. (Fs)

54a Als der bedeutende schottische Staatsmann und Historiker Th. B. Macaulay im Jahre 1840 Leopold von Rankes Werk "Die römischen Päpste" im "Edinburgh Review" rezensierte, schrieb er: "Es gibt und es hat auf dieser Erde kein Werk des menschlichen Geistes (human policy) gegeben, das sosehr untersucht zu werden verdient, wie die katholische Kirche ... Keine andere Institution existiert heute noch, die in die Zeit zurückreicht, in der im Pantheon die Opfer rauchten und im Flavischen Amphitheater Leoparden und Tiger sprangen. Die stolzesten Königshäuser sind nur von gestern im Vergleich mit der Reihe der römischen Päpste ... Das Papsttum besteht, es befindet sich nicht im Niedergang, ist keine bloße Antiquität, sondern voll des Lebens und jugendlicher Kraft ... (Die katholische Kirche) mag auch dann noch in unverminderter Kraft dastehen, wenn irgendein Tourist aus New Zealand inmitten einer weiten Wüste sich auf einen gebrochenen Bogen der London Bridge setzt, um die Ruinen von St. Paul's zu zeichnen". (Fs)

55a Nichts spricht dafür, daß Macaulays Vision sich nicht erfüllen sollte. Was also würde Europa riskieren, wenn es sein Vertrauen einem Unternehmen schenkte, das zweitausend Jahre ohne Bankrott überstanden hat? Aber - das ist, wie gesagt, eine Utopie. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Europa - Zukunft: Beitrag der Kirche; Ideologien (Liberalismus) im Widerspruch zur Kirche

Kurzinhalt: Die Kirche hat nur soviel Einfluß und Macht, wie die Gesellschaft ihr zugesteht ... All diesen Ideologien ist es eigen, keine übersubjektiv, also objektiv gültige Wahrheit, alle Menschen ...

Textausschnitt: Der katholische Beitrag zur Zukunft Europas

51c Von der Bedeutung der Kirche als Faktor, wenn nicht Hauptfaktor für die Integration Europas ist die Rede. Wie zu sehen war, läßt sich für die Vergangenheit vieles dazu anführen. (Fs)

Wesentlich schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob der Kirche eine analoge Funktion auch für die Zukunft zukommen könnte. Im Vergleich zur Vergangenheit haben sich die Voraussetzungen hierfür grundlegend geändert. Die Zäsur wird durch den Siegeszug der Aufklärung und die Französische Revolution markiert. Mit beidem war die jahrtausendlang das geistige und politische Leben Europas tragende Selbstverständlichkeit des christlichen Glaubens zerbrochen. Fortan mußte dieser mit den "modernen" Philosophien, Ideologien, mit Indifferentismus und Agnostizismus konkurrieren. Die Zahl der Gläubigen und ihr soziales, politisches Gewicht bestimmte fortan das Maß des kirchlichen Einflusses auf die europäische Gesellschaft. Dieser bis heute andauernde Umstand ist im übrigen auch in Rechnung zu stellen, wenn "der Kirche" heute Fehlentwicklungen, Verbrechen, Versäumnisse - etwa im Zusammenhang mit totalitären Regimen - zur Last gelegt werden sollen. Die Kirche hat nur soviel Einfluß und Macht, wie die Gesellschaft ihr zugesteht. Die negativen Erscheinungen in Europas christlicher Vergangenheit sind nicht Ergebnisse aus der Realisierung christlicher Maximen, sondern der Abkehr von ihnen. (Fs) (notabene)
52a Damit sind auch schon die Grenzen für kirchliches Wirken im Zuge der europäischen Integration aufgezeigt. Hinzuweisen ist dabei auch darauf, daß den Christen heute im Unterschied zum ausgehenden 19. Jahrhundert und der Weimarer Zeit kein politischer Arm mehr zur Verfügung steht, wie ihn die christlichen Parteien der Vergangenheit dargestellt haben. (Fs)

52b Hinzu kommt noch das "innerchristliche" Faktum der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, die mit den Namen Luthers, Zwinglis, Calvins und Heinrichs VIII. von England verbunden ist. Was seither vom Evangelium hörbar wird, ist hinsichtlich nicht weniger Inhalte ein reichlich dissonantes Konzert. Dies gilt gerade von solchen Lehrinhalten bzw. sittlichen Normen, die das Leben der Gesellschaft unmittelbar betreffen. Es mag genügen, die Stichworte Ehe, Familie, Abtreibung, Homosexualität, In-vitro-Fertilisation, Euthanasie zu nennen, bezüglich derer die katholische Kirche weithin allein auf dem Boden der genuinen christlichen Überlieferung steht. Sie wird sich in diesen Punkten - andere werden zweifellos hinzukommen - auf keine Unterstützung von außen verlassen können, wenn es gilt, den authentischen christlichen Standpunkt gegenüber einer säkularisierten Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Sie sieht sich im Gegenteil mit einer zweifellos noch wachsenden ideologischen Gegnerschaft konfrontiert, die ihr aus den Lagern des Liberalismus, des Individualismus und des Relativismus entgegenschlägt. All diesen Ideologien ist es eigen, keine übersubjektiv, also objektiv gültige Wahrheit, alle Menschen, insofern sie Menschen sind, gleichermaßen verpflichtende sittliche Normen anzuerkennen. Solche zu verkünden - und zwar mit Berufung auf die der Schöpfung selbst innewohnenden Ordnung und auf göttliche Offenbarung (Bibel) - erhebt die katholische Kirche jedoch den Anspruch und erregt damit Widerspruch. Was also hat sie unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch für Chancen, das Europa der Zukunft mitzugestalten? Es bleibt ihr nur die Macht des Arguments. Und dieses Argument ist - von allem anderen einmal abgesehen - eine Frage, dazu noch eine utopische Frage, nämlich: Welche Art von Gesellschaft könnte in dem neuen Europa entstehen, welche Kultur würde geschaffen, wenn das Europa von heute, wenigstens zunächst in seinen denkenden Schichten, sich entschlösse, der Gesellschaft, der Kultur des zusammenwachsenden Kontinents die Magna Charta des katholischen Verständnisses von Mensch und Welt zu Grunde zu legen? (Fs) (notabene)

53a Das würde nichts anderes bedeuten, als daß das Naturrecht im klassischen Verständnis, der Dekalog des Alten und die Bergpredigt des Neuen Testaments den Maßstab abgeben würden, an dem die Normen für das private wie für das gesellschaftliche Leben sich bewähren müßten. Keine Frage, daß eine solche Gesellschaft bei weitem humaner wäre als jene, in der die Macht des Stärkeren dem schrankenlosen Egoismus des Individuums Bahn zu brechen vermag, in der der Schwächere keine Chance hat und in der Geld, Macht und Genuß als höchste Lebensziele gelten. (Fs)

53b Wenn nun andererseits der Unantastbarkeit der Person, der Verantwortung des einzelnen für das Ganze, der Ehrfurcht vor dem Schöpfer und den Geschöpfen, der Würde von Ehe und Familie gleichsam "Verfassungsrang" zuerkannt würde, dann würde das zweifellos nicht das Paradies auf Erden zur Folge haben. Wohl aber könnte auf dieser Basis bei aller Bruchstückhaftigkeit irdischer Realisierung eine weit menschenfreundlichere Gesellschaft entstehen als jene, in der wir heute leben. Eine Utopie gleich jener von Kants "Ewigem Frieden"? Wie aber an der Marxschen Utopie von der klassenlosen Gesellschaft zu sehen ist, entfalten Utopien ihre - in diesem Falle weltzerstörende - Kraft. Warum sollte nicht auch die Utopie eines christlichen Europas ihre gestaltende, aufbauende Dynamik erweisen? Inzwischen kann Europa auf ein Jahrhundert der Katastrophen zurückblicken. Sie waren als letzte Konsequenzen aus der nationalsozialistischen und der marxistischen Ideologie erwachsen, deren menschenfeindlicher Irrtum sich solchermaßen drastisch erwiesen hat. Im Augenblick scheint es, als strebe nach deren Untergang die Ideologie des Liberalismus an die Macht. Hier ist freilich nicht von jenem Liberalismus die Rede, der sich die Freiheit des Bürgers von staatlicher Bevormundung auf die Fahnen geschrieben hat. Es ist jener Liberalismus gemeint, der jede Bindung des Individuums an allgemein gültige Wahrheit und Normen ablehnt. Dieser Liberalismus, der dem einzelnen das Recht vindiziert, seinem höchst individuellen Sittenkodex, seiner "je meinigen Wahrheit" zu folgen, scheint in der Tat am Werk. Die Formen, in welchen er sich äußert, sind zu bekannt, als daß sie hier dargestellt werden müßten. Sie sind aber zweifellos von der Art, daß, sollte sich diese Ideologie im gleichen Umfang durchsetzen wie jene des Nationalsozialismus und des Marxismus, sich daraus die vielleicht lautlosere, aber um so zerstörerischere Katastrophe des 21. Jahrhunderts entwickeln müßte. Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" könnte eine Zukunftsvision sein. In dieser Situation stellt sich die Frage, ob dieses Europa von heute nicht doch die Neugier und den Wagemut aufzubringen vermöchte, das "katholische Experiment" zu riskieren. (Fs)

54a Als der bedeutende schottische Staatsmann und Historiker Th. B. Macaulay im Jahre 1840 Leopold von Rankes Werk "Die römischen Päpste" im "Edinburgh Review" rezensierte, schrieb er: "Es gibt und es hat auf dieser Erde kein Werk des menschlichen Geistes (human policy) gegeben, das sosehr untersucht zu werden verdient, wie die katholische Kirche ... Keine andere Institution existiert heute noch, die in die Zeit zurückreicht, in der im Pantheon die Opfer rauchten und im Flavischen Amphitheater Leoparden und Tiger sprangen. Die stolzesten Königshäuser sind nur von gestern im Vergleich mit der Reihe der römischen Päpste ... Das Papsttum besteht, es befindet sich nicht im Niedergang, ist keine bloße Antiquität, sondern voll des Lebens und jugendlicher Kraft ... (Die katholische Kirche) mag auch dann noch in unverminderter Kraft dastehen, wenn irgendein Tourist aus New Zealand inmitten einer weiten Wüste sich auf einen gebrochenen Bogen der London Bridge setzt, um die Ruinen von St. Paul's zu zeichnen". (Fs)

55a Nichts spricht dafür, daß Macaulays Vision sich nicht erfüllen sollte. Was also würde Europa riskieren, wenn es sein Vertrauen einem Unternehmen schenkte, das zweitausend Jahre ohne Bankrott überstanden hat? Aber - das ist, wie gesagt, eine Utopie. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche - Neuaufbruch: Mittelalter; Gregorianische Reform; Bettelorden

Kurzinhalt: Hauptträger dieser Zentral- und Westeuropa erfassenden religiös-kulturellen Bewegung waren hervorragende Bischöfe und vor allem Mönche.

Textausschnitt: 55b Wer Zeit und Welt nur mit dem Punktstrahler seiner Augenblickssorgen anleuchtet und - notwendigerweise - dabei das Gestern und das Vorgestern sowie das übrige Umfeld im Dunkeln läßt, der sollte nicht meinen, ein Realist zu sein. Auf unsere gegenwärtige kirchliche Situation im deutschen Sprachraum angewandt, heißt das, daß die Fixierung des Blicks auf allgemein bekannte Krisen- und Verfallserscheinungen das Ganze übersehen läßt. Das gilt in geographischer Hinsicht: Die Kirche umfaßt die ganze Welt, nicht nur den deutschen Sprachraum, und das gilt auch zeitlich. Kirche gibt es nicht erst seit heute. (Fs)

Es gibt noch eine andere falsche Schau der Wirklichkeit, nämlich die durch die evolutionistische Brille. Geschichte, Entwicklung - auch der Kirche - ist nicht einfach eine ständige Entwicklung hin zum je Höheren, Vollkommeneren. Im menschlichen Leben - und damit auch im Leben der Kirche - gibt es Wellenberge und Wellentäler, Auf und Nieder, Verfall und Blüte. Wenn wir von diesen Gesichtspunkten aus die Wirklichkeit, die kirchliche Wirklichkeit betrachten, kommen wir zu einer wahrhaft realistischen Betrachtung, ergeben sich kraftvolle Impulse zum gegenwärtigen Handeln. (Fs)

Im finsteren Mittelalter

56a Was der hl. Bonifatius, eben in Germanien angekommen, erlebt hat, muß ein wirklicher Schock gewesen sein. An das geistig, kulturell, religiös hochkultivierte Milieu seiner englischen Heimat gewöhnt, fand er sich hier in barbarischen Verhältnissen wieder: Bischofssitze in den Händen geldgieriger, dem Wucher und der Unzucht frönender Männer. Priester, Diakone mit vier oder gar mehr Konkubinen, die dennoch Priester oder sogar Bischöfe wurden. Trunksüchtig, der Jagdleidenschaft ergeben und faul im Amte, waren sie ein einziges Ärgernis. Von einem Priester erfuhr Bonifatius, daß er nicht einmal die Taufformel richtig kannte. Er taufte "in nomine patria et filia et spiritus sancti". Wenn schon die Hirten von solcher Art waren - wie stand es dann um die Christen?!
Eine katastrophale Szenerie, die sich aus den Briefen des hl. Bonifatius ergibt! Doch keine fünfzig Jahre waren nach seinem Martyrium vergangen, da bot sich dem Betrachter der Kirche im Reiche Karls des Großen ein völlig anderes Bild: Bistümer und Klöster waren entstanden, in denen wie an den Kathedralen Schulen eingerichtet waren, Katechese und Liturgie wurden gepflegt, und der römische Kirchengesang, der Gregorianische Choral, wurde durch Sängerschulen verbreitet. Künste und Wissenschaften blühten auf, ihre Zeugnisse in den Museen erwecken noch heute unser Staunen. (Fs)

56b Synoden wurden abgehalten, um das kirchliche Alltagsleben zu ordnen, und selbst die Gesetze, die Karl erließ, die sog. Kapitularien, lesen sich streckenweise wie Predigten. Eine intensive Verchristlichung des Volkes hatte begonnen, erste Früchte zu tragen. Nicht umsonst spricht die Geschichtswissenschaft von einer "Karolingischen Renaissance". Sie erreichte dann unter Karls Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen ihren Höhepunkt. (Fs)

56c Hauptträger dieser Zentral- und Westeuropa erfassenden religiös-kulturellen Bewegung waren hervorragende Bischöfe und vor allem Mönche. Jetzt erst, mit Hilfe des Abtes Benedikt von Aniane, breitete sich das benediktinische Mönchtum aus und trug Entscheidendes zur Verchristlichung der Germanen bei. Nach mancherlei Einbrüchen kam es dann zur sogenannten Ottonischen Renaissance des 10. Jahrhunderts, zur Gregorianischen Reform des 11. und 12. Jahrhunderts und schließlich unter dem Einfluß der Bettelorden im 13. Jahrhundert immer wieder zu solchen auf gewisse Erlahmungserscheinungen folgenden Neuaufbrüchen. Aufbrüche waren dies im wahrsten Sinn des Wortes, wenn etwa - an der Pariser Universität - an einem Tage 70 Professoren und Studenten das Ordenskleid der Dominikaner begehrten, oder, ein Jahrhundert zuvor, der junge Ritter Bernhard von Clairvaux mit mehr als 20 Freunden und Verwandten an der Klosterpforte von Citeaux Einlaß begehrte. Das ganze Mittelalter - weit davon entfernt, einen monolithischen Block darzustellen - war eine überaus bewegte, von immer neuen geistigen, religiösen Bewegungen charakterisierte Epoche. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche - Neuaufbruch; Luthwe, Wunder von Trient; Barock

Kurzinhalt: Und: wiederum ein halbes Jahrhundert danach hatte sich erneut ein Aufbruch ereignet, der so unerwartet und tiefgreifend, so kraftvoll und beeindruckend war, daß der bedeutende Kirchenhistoriker Hubert Jedin ihn als "das Wunder von Trient" bezeichnet hat.

Textausschnitt: 57a Doch überspringen wir Jahrhunderte, begeben wir uns in das Mittel-, Nord-, Ost- und Westeuropa um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Über diese Länder war seit Martin Luthers, Calvins und Zwinglis Protestbewegung der Sturm der Glaubensspaltung hinweggegangen und hatte eine religiöse Ruinenlandschaft hinterlassen. Bereits vom Wormser Reichstag des Jahres 1521 berichtet der päpstliche Gesandte Aleander: "Es droht ein Volksaufstand, oder vielmehr ganz Deutschland ist in hellem Aufruhr. Neun Zehntel sind für Luther, das letzte Zehntel schreit zum wenigsten: Tod dem römischen Hof."

57b In den folgenden Jahren verlassen zahllose Ordensleute ihre Klöster, heiraten Hunderte von Priestern, werden die mächtigsten Fürsten - mit Ausnahme Bayerns - Anhänger Luthers und rotten alles katholische Leben aus. Der Zusammenbruch, der schließlich ganz Nord-, Mittel- und Ostdeutschland zusammen mit dem Südwesten erfaßt, ist nahezu vollständig. Sittenlosigkeit und religiöse Verwirrung - wußte das Volk überhaupt noch, ob es katholisch oder lutherisch glaubte? - waren allgemein, und selbst im katholisch verbliebenen Klerus herrschte tiefe Unsicherheit und Entmutigung. So etwa präsentierte sich die kirchliche Lage in Europa, als 1546 das Konzil von Trient zusammentrat. (Fs)

58a Und: wiederum ein halbes Jahrhundert danach hatte sich erneut ein Aufbruch ereignet, der so unerwartet und tiefgreifend, so kraftvoll und beeindruckend war, daß der bedeutende Kirchenhistoriker Hubert Jedin ihn als "das Wunder von Trient" bezeichnet hat. Das Wunder war jenes unerhörte Phänomen des katholischen Barock, das weit mehr als einen Kunststil, das eine ganze Kulturepoche meint, in welcher neue, kraftvolle Vitalität des katholischen Glaubens alle Bereiche von Kultur, Kunst, Wissenschaft, Religion und Alltagsleben durchdrang und die Menschen jener Epoche zu Höchstleistungen auf all diesen Gebieten beflügelte, die bis heute unerreichbar blieben - und: was der katholischen Kirche durch die Reformation verlorengegangen war, das wuchs ihr nun aus Asiens und Amerikas Völkerschaften zu, wohin das katholische Resteuropa einen kühnen missionarischen Ausgriff wagte. Ein Jahrhundert der Heiligen war angebrochen. So groß war die Anziehungskraft der aus dem Konzil von Trient erneuert und gekräftigt hervorgegangenen Kirche, daß zahlreiche Protestanten, Fürsten, Gelehrte, Theologen und Bürger sich der katholischen Kirche zuwandten. Eine Sammlung von knappsten Lebensbeschreibungen ausschließlich prominenter Konvertiten vom Beginn der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts umfaßt 13 Bände!

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche - Neuaufbruch: nach der franzöischen Revolution

Kurzinhalt: Die meisten Kirchen wurden geschlossen und geplündert ... Das Heilige Jahr 1803 stellte gleichsam die Initialzündung für eine umfassende Neumissionierung Frankreichs dar, ...

Textausschnitt: Nach der großen Revolution

58b Als ein drittes Beispiel für einen kirchlichen Neuaufbruch sei jener erwähnt, den Frankreich nach der Revolution von 1789 erlebt hat. Die sich seit dem Ausbruch der Revolution in mehreren Schritten zunehmend verschärfende Kirchenverfolgung erreichte ihren Höhepunkt Ende August 1792, als alle romtreuen Priester, deren man habhaft werden konnte, deportiert wurden, und in den sogenannten Septembermorden allein in Paris 300 Priester, darunter drei Bischöfe, das Martyrium erlitten. Priestern, die nun - man schrieb das Jahr 1793 - Frankreich noch nicht verlassen hatten, drohte die binnen 24 Stunden zu vollstreckende Todesstrafe - eine "gewaltige Welle der Dechristianisierung" überspülte vom Sommer 1793 bis Sommer 1794 das Land. Allein in diesem Jahr zählte man 22938 Hinrichtungen bzw. Morde. (Fs)

59a Die meisten Kirchen wurden geschlossen und geplündert, sogar niedergerissen, der Sonntag wurde abgeschafft, ein eigener revolutionärer Kult der Göttin Vernunft sollte die Gottesverehrung ablösen. Nur einige tausend Priester harrten unter Lebensgefahr im Untergrund aus, um den verbliebenen Gläubigen die Sakramente zu spenden. Insgesamt dürften etwa 5000 Katholiken, darunter mehr als 1000 Priester, als Märtyrer im eigentlichen Sinn gestorben sein. Dank der heroischen Treue vieler Priester und Gläubigen, die auch unter dem Terror standgehalten hatten, bewahrheitete sich auch in diesem Fall die Devise "Succisa virescit": aus dem umgehauenen Baumstumpf schießt frisches Grün!
Was sich nun, kaum daß die revolutionären Regimes abgelöst waren, ereignete, war staunenswert. Ermöglichte das Konkordat, das Napoleon mit Pius VII. abschloß, trotz erheblichen Mängeln den Wiederaufbau der kirchlichen Strukturen - Bistümer und Pfarreien-, so waren es Schriftsteller wie Joseph de Maistre und Francois-Rene de Chateaubriand, die mit ihren vielverbreiteten Werken dem rationalistisch-aufklärerischen Zeitgeist entgegentraten und die Wahrheit und Schönheit des katholischen Glaubens eindrucksvoll aufzuweisen vermochten. (Fs)

Das Heilige Jahr 1803 stellte gleichsam die Initialzündung für eine umfassende Neumissionierung Frankreichs dar, die allerdings zunächst nur die intellektuellen Kreise tiefer erfaßte. In den darauffolgenden Jahrzehnten indes entstand - unter den Pontifikaten Gregors XVI. und Pius IX. - eine erstaunliche Anzahl von Ordensgemeinschaften. Allein bis 1814 waren 1253 (!) neue Gemeinschaften nicht nur gegründet, sondern auch kirchlich approbiert worden. Das bedeutet, daß Tausende von jungen Frauen und Männern bereit waren, sich unter mehr als schweren Bedingungen in den Dienst Gottes für die Menschen zu stellen. (Fs)

Frankreich wurde so auch zum Zentrum weit ausgreifender Missionstätigkeit vor allem in Asien. Missionarischer Impuls aber ist der untrügliche Gradmesser für die geistliche Vitalität der Kirche. Das französische Beispiel strahlte aus auf das übrige Europa, und allenthalben vollzog sich in der von den Nachwehen der Aufklärung, vom Sozialismus von Marx und Engels, vom Vulgärmaterialismus eines Büchner und von gottlosem Liberalismus gekennzeichneten Gesellschaft ein religiöser Aufbruch, der jenem der nachtridentinisehen Epoche ebenbürtig genannt werden muß. Auch wenn Bücher wie jenes "Leben Jesu" von Ernest Renan, in zahlreichen Auflagen verbreitet, den Glauben vieler zu zerstören vermochten: Die zahlreichen neu entstandenen oder wiederbelebten Ordensgemeinschaften apostolischen, caritativen und missionarischen Charakters erwiesen ihre Anziehungskraft auf eine begeisterte katholische Jugend in nahezu allen Ländern Europas und Amerikas, die sich nun in den Dienst der Kirche stellte. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche - Neuaufbruch: Faktoren; Glaubensgewissheit; Bindung an Rom; Folgerungen für die Gegenwart

Kurzinhalt: Nun aber stellt sich die Frage nach den bewegenden Kräften solcher Neuaufbrüche. Dabei fallen zwei Momente besonders ins Auge: Erneuerte Glaubensgewißheit und enge Bindung an Rom.

Textausschnitt: Kräfte und Faktoren

60a Nun aber stellt sich die Frage nach den bewegenden Kräften solcher Neuaufbrüche. Dabei fallen zwei Momente besonders ins Auge: Erneuerte Glaubensgewißheit und enge Bindung an Rom. (Fs)

Nun, was das Mittelalter, also die Reform des hl. Bonifatius, die karolingische Renaissance, betrifft, war Glaubensgewißheit eine Selbstverständlichkeit; die Wirklichkeit Gottes und der Übernatur anzuerkennen, fiel auch den heidnischen Germanen und Kelten nicht schwer. Die kraftvolle Überlegenheit des Christengottes erlebten sie wie etwa Chlodwig in der siegreichen Schlacht oder wie die Sachsen, die Zeugen waren, als Bonifatius die Donareiche fällte. Von ganz anderer Qualität war jene erneuerte Glaubensgewißheit, die die Katholischen unter den Zeitgenossen des Konzils von Trient beseelte. Jahrzehntelang den Angriffen Luthers, Calvins, Zwingiis und ihrer Anhänger ausgesetzt, waren sie in ihrer Glaubensüberzeugung tief verunsichert worden. War der mit Begeisterung, Gewalt und Erfolg verkündete neue Glaube nicht doch der eigentlich wahre? War die Kritik der Neuerer an Papsttum, Kirche, Sakramenten nicht doch berechtigt? Hatte Rom sich nicht tatsächlich vom Evangelium entfernt? Und: entsprach das neue Evangelium nicht in Wahrheit einer Forderung der neuen Zeit? (Fs) (notabene)

Es war eben diese Unsicherheit im Glauben gewesen, die zur Verwirrung der Geister geführt und so eine entschiedene Antwort auf die reformatorische Herausforderung zunächst unmöglich gemacht Jiatte. Nun aber hatte das Konzil von Trient gesprochen, die Grenze zwischen dem Irrtum und der katholischen Wahrheit gezogen und diese aufs neue auf den Leuchter gestellt. Alle Welt wußte nun, was wahrer katholischer und apostolischer Glaube war. Ungewißheit und Unklarheit lähmten nicht mehr die Kräfte; neue Freude am Glauben beflügelte sie, und es geschah das "Wunder von Trient". (Fs)

61a In ähnlicher Weise verhielt es sich mit dem Neuaufbruch nach der Französischen Revolution. Auch zu dieser Zeit war der katholische Glaube angefochten und bedroht. Diesmal war der Angriff im Namen der Vernunft erfolgt. Finsterlinge, Obskuranten nannte man die Gläubigen, der Glaube selbst galt einem Voltaire als "Fanatisme" -und für solche, die dem hellen, klaren Licht der Vernunft widerstrebten, sollte in einer aufgeklärten modernen Welt kein Platz mehr sein. "Ecrasez l'infäme", "die Pfaffen an die Laterne" - Kampfrufe der aufgeklärten Bataillone. (Fs)

Leicht zu ermessen, welche Wirkung diese mit dem Pathos grenzenloser Überlegenheit verkündeten Parolen auf die Gläubigen hatten, haben mußten! War man nicht in der Tat zurückgeblieben, während der Fortschritt davoneilte? Wer wollte, schließlich, nicht auch aufgeklärt sein, als aufgeklärt gelten?! Einschüchterung griff um sich, die Stimme des Glaubens verstummte. Hatte man überhaupt noch Argumente für ihn? (Fs) (notabene)

61b Als jedoch der Terror der Vernunft abgeebbt, die Guillotine zur Ruhe gekommen war, griff die Erkenntnis um sich, daß jene Göttin Vernunft keine Freundin des Menschen war. Die in härtester Verfolgung bewährten Katholiken, die sich auch der aufklärerischen Bestreitung ihres Glaubens hatten stellen und überzeugende Argumente für seine Begründung hatten finden müssen, konnten nun in neu gefestigter Glaubensgewißheit der Welt entgegentreten, und die Botschaft des Glaubens fand neues Gehör. (Fs) (notabene)

61c Gemeinsam ist all diesen Neuaufbrüchen - von denen nur deren drei hier vorgestellt werden konnten - ein weiteres Element: Es ist dies die bewußte und enge Bindung an Rom, an das Papsttum. Schon die angelsächsische Kirche des 7. Jahrhunderts, aus welcher Bonifatius, der Apostel der Deutschen, stammte, hatte sich durch eine besondere Verehrung des Apostelfursten Petrus ausgezeichnet. Von Rom aus hatte, durch Papst Gregor den Großen initiiert, die zweite Christianisierung der Britischen Inseln ihren Lauf genommen, nach Rom zogen alsbald die Pilger zum Grabe des Apostels. (Fs) (notabene)
Römische Liturgie, römisches kirchliches Recht, römische gelehrte Überlieferung prägten das Leben der englischen Kirche - und Bonifatius, im Strome dieser Überlieferung stehend, legte den Grund für eine ähnliche Entwicklung in Germanien. Er selbst war dreimal in Rom gewesen und hielt zeit seines Lebens engsten Kontakt mit den Päpsten. Sein Briefwechsel legt hierfür Zeugnis ab. (Fs)

61a Nicht anders handelte Karl der Große, der zwar die Päpste seine Macht spüren ließ, dennoch aber römische Liturgie, römisches Kirchenrecht und römische Kultur zur Grundlage des Aufbaus im Frankenreich machte. Damit vollendete Karl der Große das Werk des hl. Bonifatius, dessen beständiges Streben es gewesen war, die nur locker mit Rom verbundene fränkische Landeskirche aus ihrer provinziellen Enge herauszuführen und ihre Bindung an das römische Papsttum immer enger zu knüpfen. In der damit gewonnenen weltkirchlichen Weite konnte jene überaus fruchtbare Synthese von Germanentum und römischer, klassischer wie christlicher Überlieferung entstehen, die zu der staunenswerten Blüte führte, von der die Rede war. (Fs)

61b Auch auf das zweite Beispiel, das wir angeführt haben, auf das "Wunder von Trient", trifft es zu, daß ein wesentlicher Faktor für diesen Neuaufbruch nach der Reformation der enge Anschluß an Rom, an die Päpste, war. Der Historiker weiß, daß angesichts der dramatischen Lage des Katholizismus im Reich von Pius V. eine Kardinalskongregation, die "Congregatio Germanica", eingerichtet wurde, die sich speziell um Deutschland zu kümmern hatte und Maßnahmen zur Erneuerung des katholischen Lebens erarbeiten sollte. (Fs)

Insbesondere aber waren es die Nuntien, seien es jene von Köm und Wien, seien es eigens mit bestimmten Aufträgen in einzelne Territorien entsandte, die unermüdlich auf die Durchführung der Reformdekrete des Konzils von Trient drängten. In Dillingen an der Donau, in Fulda, in Braunsberg wurden von Rom finanzierte päpstliche Priesterseminarien errichtet, und in Rom selbst das "Collegium Germanico-Hungaricum", aus dem vom 16. bis zum 19. Jahrhundert eine große Zahl eifriger, gebildeter und frommer Priester nach Deutschland entsandt werden konnte, die dann in der Heimat Schlüsselpositionen einnahmen und so die Reform vorantrieben. (Fs)

61c Der Fall des nachrevolutionären Frankreich war anders gelagert. Hier vollzog sich gerade im Zuge der revolutionären Verfolgung ein bemerkenswerter Umschwung. Die "Ecclesia Gallicana" hatte sich immer ihrer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit von Rom gerühmt. Nun, in der Stunde der Not, formierte sich die katholische Untergrundbewegung unter folgender Devise: "Gehorche den Menschen, zuerst aber Gott. Bekenne einen Glauben - den von Rom allein. Unterwirf dich dem Papst und gleichermaßen dem Bischof. In ihnen allein erkenne die Kirche und ihre Hirten ..."

63a Als dann Pius VII. im Jahre 1804 gezwungenermaßen und unter großen Schikanen zur Krönung Napoleons nach Paris reiste, schlug ihm eine Welle gläubiger Begeisterung entgegen - ein Anzeichen jener oft abwertend Ultramontanismus genannten Bewegung, die schließlich die ganze katholische Welt erfaßte und die dem einzelnen Gläubigen sein persönliches Verbundensein mit dem obersten Hirten der Kirche bewußtmachte. (Fs)
Gerade dieses Bewußtsein ließ die Katholiken all den Verfolgungen, denen sie im 19. Jahrhundert und später ausgesetzt waren, standhalten - denken wir nur an Bismarcks Kulturkampf, in dessen Verlauf mehr Bischöfe und Priester im Gefängnis waren als in Hitlers Konzentrationslagern. (Fs)

Folgerungen

63b Aus diesen Erfahrungen, die die Kirche im Laufe ihres zweitausendjährigen Lebens gemacht hat, sind nun die Folgerungen für unsere Gegenwart zu ziehen. Es gilt also, als erstes, eine kopernikanische Wende zu vollziehen: Nicht die Erde, nicht der Mensch steht im Mittelpunkt. Die alles beherrschende Wirklichkeit ist Gott. Die ersten Vaterunser-Bitten sind von höchster Aktualität: dein Name - dein Reich - dein Wille! Schluß mit der Selbstvergötzung des Menschen! Das ist das Programm für einen echten Aufbruch aus der Tiefe des Glaubens! (Fs) (notabene)

Dieser Aufbruch muß dann Theologie und Liturgie sowie das Gebetsleben und die alltäglichen sittlichen Entscheidungen erfassen - und die Vaterunser-Bitten werden beginnen, sich zu erfüllen. (Fs)

Alsdann gilt es, im kirchlichen Alltagsleben Rom, den Papst nicht mehr als lästige Kontrollinstanz, als Fessel für die Entfaltung der Ortskirchen zu betrachten, sondern als Mittelpunkt der weltweiten Kirche, von dem aus Impulse, Ermutigung und Weisung zugunsten aller ausgehen. Die zwei Millionen des Weltjugendtages in Rom im Heiligen Jahr hatten das begriffen. Voll Begeisterung für Christus sind sie heimgekehrt. (Fs)

64a Und schließlich sollten wir endlich aufhören, jenem Kaninchen zu gleichen, das voll Angst die Schlange anstarrt, ehe es von ihr gefressen wird. Dieser Defaitismus, dieses weinerliche Selbstmitleid, die namentlich im deutschen Katholizismus um sich gegriffen haben, sind eine Beleidigung Gottes. Was not tut, ist ein neues, kraftvolles katholisches Selbstbewußtsein. Es gibt nichts, das wahrer wäre als der katholische Glaube - und überall dort, wo katholische Wahrheit, katholische Lebensgrundsätze verwirklicht werden, kommt, trotz aller menschlichen Unzulänglichkeiten, die Welt in Ordnung. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Inquisition: Voraussetzungen, Ketzerdekrete von Verona; Kirche - Imperium: Spätantike - Mittelalter (Ellipse); Christianitas

Kurzinhalt: Mehr noch: Griff ein Häretiker einen Lehrsatz, ein Dogma der Kirche an, so unterwühlte er damit zugleich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung, ...

Textausschnitt: 76a Auch ein für uns so kritikwürdiges Phänomen wie die Inquisition kann man nur ergründen, wenn man sie im Rahmen des historischen Kontextes betrachtet und das Gestern nicht mit den Maßstäben des Heute mißt. Dazu gehört, sich ein Bild von der Einheit des mittelalterlichen Weltbildes zu verschaffen, in dem der Ausschluß aus der Kirche zugleich den Ausschluß aus jeder menschlichen Gesellschaft bedeutete. Das wiederum hieß: Griff jemand ein Dogma an, so attackierte er zugleich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung und galt von daher als gemeingefährlich. Nur vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, daß der Staat, und nicht die Kirche bei der Inquisition die Initiative ergriff und weite Kreise der Bevölkerung - übrigens einschließlich Luther und Calvin - sie für rechtens erachteten. (Fs)

Voraussetzungen

76b Eine erste Frage stellt sich im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt des Entstehens der Inquisition - nämlich erst nach einer jahrhundertelang geübten, im Vergleich milden Verfahrensweise: Wie konnte die Ausübung von Zwang zum Mittel der Ketzerbekämpfung werden? Die historische Antwort erfordert eine Analyse der Situation im christlichen Altertum:

In der Spätantike bildeten Kirche und Imperium zwei deutlich unterschiedene, nicht auswechselbare Größen, so eng sich ihr gegenseitiges Verhältnis in der nachkonstantinischen Zeit auch gestaltete. Selbst als das Imperium Romanum christlich geworden war, blieb es ein autonomes politisches Gebilde, das dem Christentum weder seinen Ursprung noch seinen Fortbestand verdankte. Erst im Mittelalter wurde die Kaiser- oder Königskrönung als christlicher liturgischer Ritus eingeführt. Die Imperatoren der Spätantike leiteten, anders als die Kaiser des Mittelalters, ihre Macht und Würde weder vom Papst noch von der Kirche ab. So dachte Anfang des 5. Jahrhunderts Augustinus, als er in "De Civitate Dei" zum Verhältnis Christentum - Imperium Romanum Stellung nahm, so dachte Ende des 5. Jahrhunderts Papst Gelasius, wenn er schrieb: "Es gibt zwei Mächte, die diese Welt regieren: die geheiligte Autorität der Bischöfe und die königliche Macht."

77a Mochten beide Mächte auch in Harmonie miteinander stehen, ihre Eigenständigkeit blieb gewahrt, da sie auf verschiedenen Fundamenten ruhten. So war es möglich, daß auch noch lange nach Konstantin Heiden, Juden und Christen als gleichberechtigte Bürger in dem einen römischen Reich zusammenlebten. In ähnlicher Weise konnte auch der aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossene Häretiker im Imperium weiterhin eine Basis für seine bürgerlich-soziale Existenz finden, sofern er sich dessen Gesetzen fügte. (Fs) (notabene)

77b Dies änderte sich von Grund auf, als das alte Imperium unter dem Ansturm der Völkerwanderung zerbrach. Das Einströmen der Barbarenhorden in das Zentrum der antiken Welt leitete nun einen höchst vielschichtigen und differenzierten Verschmelzungsprozeß ein, als dessen endliches Resultat eine Synthese von Antike und Germanentum hervorging, deren formendes Prinzip das Evangelium Christi war. Diese neue abendländische Kultur, die in ihrer den Westen umspannenden Kraft erstmals im Imperium Karls des Großen eindrucksvoll in Erscheinung trat, war ihrem Wesen nach eine christliche, kirchliche Kultur. Die Kirche war es ja, die in den vorausgegangenen stürmischen Zeiten des Umbruchs die Schätze antiker Bildung bewahrt und sie den neuen Völkern aus dem Norden und Osten vermittelt hatte. Karl der Große hatte als seine wichtigsten Ratgeber Männer der Kirche, seine Gesetze - die berühmten Kapitularien - lesen sich oftmals wie Konzilskanones oder Ermahnungen eines Predigers. Dieses Ineinander von Reich und Kirche fand seinen sinnfälligen Ausdruck in den karolingischen Reichssynoden, wo geistliche und weltliche Große Geistliches und Weltliches gemeinsam berieten und beschlossen. Vor allem aber wurde dieses Neue sichtbar, als Leo III. dem Frankenkönig Karl am Weihnachtstag des Jahres 800 die Kaiserkrone aufsetzte und so die vielbesprochene Renovatio Imperii, die Erneuerung des Reiches, vollzog. Das neue Reich gründete sich also auf geistliche Vollmacht und Würde. (Fs)

78a Die Welt war nicht mehr in zwei getrennte Bereiche von Reich und Kirche geteilt, Königsmacht und geistliche Gewalt verhielten sich nunmehr wie die einander zugeordneten Brennpunkte einer Ellipse. Es war eine einzige menschliche Gesellschaft entstanden, die man Kirche, seit dem 9. Jahrhundert auch "Christianitas" (= Christenheit) nannte. Imperium und Sacerdotium erscheinen nun gemeinsam und einander zugeordnet als Strukturprinzipien dieser einen Christenheit. Dieser Begriff bleibt - vorerst unberührt durch die Entstehung der Nationalstaaten - bis ins Spätmittelalter in Gebrauch. (Fs)
Die wesentliche, vom Begriff schon geforderte Grundlage dieser Christenheit war aber die Einheit des Glaubens, der Sakramente und der Leitung. Stellte sich nun ein einzelner oder gar eine Gruppe von Christen außerhalb dieser Einheit, indem sie eine Glaubenswahrheit leugneten, so begaben sie sich zugleich der Basis ihrer bürgerlichen Existenz, denn der Ausschluß aus der Kirche bedeutete den Ausschluß aus der menschlichen, bürgerlichen Gesellschaft. Die Bannung Heinrichs IV. und sein Gang nach Canossa liefern ein gutes Beispiel für diese Situation. (Fs)

78b Mehr noch: Griff ein Häretiker einen Lehrsatz, ein Dogma der Kirche an, so unterwühlte er damit zugleich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung, die ja auf den christlichen Glauben gegründet war. Er wurde damit zum gemeingefährlichen Verbrecher. Es ist jedoch interessant zu beobachten, daß dies erst ins reflexe Bewußtsein trat, als nicht mehr nur wissenschaftlich arbeitende Theologen infolge abweichender Lehrmeinungen zu Häretikern wurden, sondern der erst geheime, dann aber offenkundige Abfall von der Lehre der Kirche ganze Gruppen von Gläubigen erfaßte. Der Wandel im Vorgehen gegen die Häresie - vom kirchlichen theologischen Synodalprozeß zur Verfolgung und Tötung des Häretikers durch den "weltlichen Arm" - wurde durch den Wandel der Häresie selbst hervorgerufen, die vom privaten, theologisch-religiösen zum sozialen, politischen Phänomen wurde. (Fs)

Für die Bürger der von Häresie befallenen Städte war die Entdeckung, daß in ihrer Mitte bisher unerkannt Menschen gelebt hatten, die vom Glauben der Kirche innerlich längst abgefallen waren und ihren eigenen religiösen Lehren anhingen, wie die Entdeckung, daß sich innerhalb ihrer Mauern ein Haus als von der Pest infiziert erwies. Es war wie die Enttarnung einer zum Losschlagen bereiten Verschwörergruppe. Zur Verfolgung der Ketzer führte - mehr als Glaubensintoleranz oder Haß - die Angst und Bestürzung einer Gesellschaft, die instinktiv ihre geistigen Grundlagen bedroht fühlte. Denn "die Ketzer des Mittelalters sind die Anarchisten ihrer Zeit gewesen" (E. Michael). (Fs) (notabene)

79a Die Bemerkungen des Kirchengeschichtlers Döllinger im Jahre 1861 über die Haupthäresien jener Zeit - Katharer, Albigenser und Waldenser - bekräftigen dieses Urteil: "Jene gnostischen Sekten, die Katharer und Albigenser, welche eigentlich die harte und unerbittliche Gesetzgebung des Mittelalters gegen die Häresie hervorriefen und in blutigen Kriegen bekämpft werden mußten, griffen Ehe, Familie und Eigentum an. Hätten sie gesiegt, ein allgemeiner Umsturz, ein Zurücksinken in Barbarei und heidnische Zuchtlosigkeit wäre die Folge gewesen. Daß auch für die Waldenser mit ihren Grundsätzen über Eid und Strafrecht der Staatsgewalt keine Stätte in der damaligen europäischen Welt war, weiß jeder Kenner der Geschichte."

Es kann kein Zweifel sein: Die Katharer waren zu ihrer Zeit Revolutionäre, Anarchisten, Nihilisten, Kriminelle, die als solche den Bestand der Gesellschaftsordnung gefährdeten. Christen und Katharer hatten nämlich ein sehr verschiedenes Verhältnis zur Welt. Wer die Welt als eine ihm gestellte Aufgabe erkennt, wird sie gemeinsam mit anderen zu bewältigen suchen. Wer hingegen die Welt als vom Bösen geschaffen mit Mißtrauen betrachtet, ja verdammt, dem muß konsequenterweise auch jene die Welt gestaltende Macht des Kaisers als Fortsetzung, Verlängerung der welterschaffenden Macht des Teufels zutiefst suspekt erscheinen. (Fs)

79b Andererseits scheint es erwiesen, daß die innere Distanz der Katharer zur Welt sie nicht zur Revolution der weltlichen Verhältnisse, sondern zur weltverachtenden Passivität ihnen gegenüber führte. Diese passive Resistenz wirkte dennoch zerstörend auf den Staat. Die Grundlagen menschlichen Gemeinschaftslebens gerieten in Gefahr durch die Verweigerung des Eides in der auf den Lehenseid gegründeten Feudalgesellschaft, durch die Verachtung der Ehe und durch den beinahe aufgezwungenen Quasi-Selbstmord durch Nahrungsverweigerung - "Endura" - der Kranken nach Empfang des "Consolamentum". (Fs)

80a Die zivile Gewalt, nicht die kirchliche Autorität war es deshalb auch, die zuerst gegen die Ketzer losschlug. Nicht der zuständige Bischof, sondern König Robert der Fromme von Frankreich ließ 1022 zu Orleans mindestens zwölf gelehrte ketzerische Domherren verbrennen. Mitglieder des mailändischen Stadtadels waren es, die ca. 1028 ihre ketzerischen Standesgenossen von der Burg Monteforte zum Scheiterhaufen schleppten, und die Ketzer von Goslar wurden durch Kaiser Heinrich III. "mit Zustimmung aller" - wie es in der Chronik des Hermann von der Reichenau heißt - zum Strang verurteilt. Ähnliches berichtet Guibert von Nogent in der Chronik "De vita sua" von Ketzern zu Soissons im Jahre 1115. Als ein Konzil zu Beauvais über ihr Schicksal beriet, stürmte das Volk - "die Milde des Klerus befürchtend" - das Gefängnis und verbrannte die Ketzer vor der Stadt. (Fs)

Die Ketzerdekrete von Verona

80b Sowohl die Entwicklung von Katharismus und Waldensertum samt Ablegern als auch das gemeinsame Betroffensein von Kirche und weltlicher Herrschaft durch die Massenhäresie führten zu einer ersten gemeinsamen Reaktion von Kaiser und Papst. (Fs)

Der Konvent von Verona von 1184 mit seinen beiden vom Kaiser bzw. dem Papst erlassenen Ketzerdekreten läßt dies deutlich erkennen. Während der Text des kaiserlichen Dekrets verlorenging, ist der des päpstlichen erhalten. Es spricht zunächst die Exkommunikation über alle aus, die ohne kirchliche Sendung zu predigen wagen, über alle, die über die Sakramente der Kirche anders als die Kirche lehren und über alle, die den Ketzern irgendwelche Unterstützung gewähren. Ferner verfällt der Exkommunikation, wer der Häresie verdächtig ist und sich nicht durch einen Eid zu reinigen bereit ist. Wer die Eidesleistung verweigerte, offenbarte sich so als Katharer. (Fs)

80c Ein der Häresie überführter Kleriker sollte abgesetzt, seiner Pfründe beraubt und dem weltlichen Richter zur Bestrafung ausgeliefert werden, wenn er nicht sofort dem Irrtum abschwört, öffentlichen Widerruf und Genugtuung leistet. Das gleiche galt für einen der Häresie überführten Laien. Rückfallige Kleriker sollten ohne weiteres Verhör dem weltlichen Gericht übergeben werden. (Fs)

81a Als bedeutsamstes Ergebnis dieser Zusammenkunft Lucius' III. mit Barbarossa notiert die Historie die Einführung der bischöflichen Inquisition. Wie die vorherigen Bestimmungen ist auch sie nach den Worten des Papstes auf Rat und Anregung des Kaisers und seiner Fürsten zurückzuführen. (Fs)

In ganz ähnlicher Weise lautete nun die Bestimmung Lucius' III. Jeder Erzbischof oder Bischof soll entweder selbst oder durch entsprechende Beauftragte jene Pfarreien, in denen dem Vernehmen nach Ketzer wohnten, ein- bis zweimal im Jahr besuchen und drei oder mehr ehrenwerte Männer eidlich verpflichten, alle jene anzuzeigen, von denen man weiß, daß sie Ketzer sind. Darauf seien diese zu zitieren. Können sie sich nun nicht in der landesüblichen Form von dem Vorwurf reinigen (Eid, Siebenhändereid, Ordal) oder fallen sie, nachdem sie sich hatten reinigen können, in die Irrlehre zurück, so sollen sie nach dem Urteil des Bischofs bestraft werden. Verweigerung des Eides gilt als Beweis für Häresie, da die Lehre der Katharer den Eid verbot. Die Träger der weltlichen Gewalt müssen eidlich zusichern, daß sie der Kirche beim Werk der Ketzerbekämpfung wirksame Unterstützung angedeihen lassen und die ebenso kaiserlichen wie päpstlichen Bestimmungen durchführen, widrigenfalls sie mit dauerndem Ämterverlust und mit der Exkommunikation zu bestrafen sind, ihr Land hingegen mit dem Interdikt. (Fs)

81b Obgleich schon dieses Gesetz des Papstes auch als ein kaiserliches gelten konnte, erließ Barbarossa noch eine eigene Konstitution, in der er die Reichsacht über die Häretiker verhängte. Als Symbol hierfür zog er den Handschuh ab und warf ihn zu Boden. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Inquisition: Todesstrafe; Bernhard von Clairvaux; Inquisition;

Kurzinhalt: Kirchliche Kreise hingegen waren nicht ohne weiteres mit der Tötung von Ketzern einverstanden gewesen. Als Beispiel hierfür sei der hl. Bernhard von Clairvaux angeführt.

Textausschnitt: Todesstrafe für Häretiker

81c Von nun an wirkten Reichs- und Kirchengewalt, wiewohl sie ansonsten einander nicht selten befehdeten, einträchtig zusammen, um die Häresie wie zwischen zwei Mühlsteinen zu zermalmen. (Fs)

81d Bereits 1213 hatte Friedrich II. dem seit 1198 regierenden Innozenz III. seinen Beistand versprochen. Je mehr sich nun in der Folgezeit sein herrscherliches Selbstverständnis und seine Staatsanschauung festigten, desto bestimmter wurde auch seine Stellung zu den Mächten, die sie bedrohten: die Häresie und das Papsttum. Für Friedrich II. schloß die Sicherung des Reiches die Verteidigung des Glaubens ein, teilte er doch durchaus die Auffassung seiner Zeit, daß der Irrlehrer sich gegen die kaiserliche Gewalt auflehnt, wenn er sich von der Kirche trennt. Schon als der junge Kaiser bei seiner Krönung im Jahre 1220 die kirchliche Bestimmung des 4. Laterankonzils gegen die Häretiker zum weltlichen Gesetz machte, hatte er die Strafen gegen die Katharer damit begründet, daß es weitaus gravierender sei, die ewige Majestät zu beleidigen als die irdische. Nun erwarteten Acht und Bann jeden Häretiker im Reichsgebiet. Besondere Bedeutung kommt einem im März 1224 an den Reichsvikar der Lombardei, den Erzbischof von Magdeburg, gerichteten Brief des Kaisers zu. Hierin droht nämlich Friedrich, nachdem er auf die erschreckende Ausbreitung der Häresie in der Lombardei hingewiesen hatte, zum ersten Mal den Ketzern die Todesstrafe an, und zwar die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Es läßt sich leicht denken, daß eine solch drakonische Maßnahme wie der Tod auf dem Scheiterhaufen sich nicht ohne weiteres durchführen ließ. Als der Podestà von Rimini 1226 wirklich Ketzer verbrennen wollte, erhob sich ein Aufstand. Brescia wagte es erst 1230 auf Betreiben seines Bischofs, eines Dominikaners, das furchtbare Statut seinen Gesetzen einzuverleiben. Aber der Kaiser ließ sich dadurch nicht an seiner Verfolgung der Ketzer hindern. 1231 wird die Ketzerverbrennung auch für Sizilien angeordnet, im folgenden Jahr wird sie zum Reichsgesetz erhoben. (Fs)

Der Kaiser blieb der Politik gegen die Katharer zeitlebens treu, wenngleich er selbst mit dem Papsttum in tödliche Feindschaft geriet und selbst mehrfach exkommuniziert und auf dem Konzil von Lyon 1245 sogar als Ketzer und Meineidiger verurteilt und abgesetzt wurde. (Fs)

Kirchliche Kreise hingegen waren nicht ohne weiteres mit der Tötung von Ketzern einverstanden gewesen. Als Beispiel hierfür sei der hl. Bernhard von Clairvaux angeführt. Als es 1144 in Köln zu einem Pogrom kam, bei dem Ketzer gegen den Willen des Klerus von der entfesselten Volksmenge auf den Scheiterhaufen geschleppt und verbrannt wurden, weigerte sich auch Bernhard, dem Tun des Volkes zuzustimmen. "Wir billigen", schrieb er, "seinen Eifer, aber nicht, was es getan hat, denn der Glaube ist ein Werk der Überzeugung, er läßt sich nicht mit Gewalt aufdrängen."

83a Bernhards Stellung zum Ketzerproblem überhaupt können wir seinen Predigten über das Hohelied entnehmen. Obgleich der Text dieses alttestamentlichen Buches das Thema der Ketzerei keineswegs berührt, pflegte man den Vers 2,15 - "Fangt uns die kleinen Füchse, die die Weinberge verwüsten, denn unser Weinberg steht in Blüte" - in allegorischer Weise auf die Ketzer zu deuten und verband diese Stelle mit einer anderen Stelle aus dem Buch der Richter (15,3-6) über den Krieg Israels gegen die Philister: "Simson ging weg und fing dreihundert Füchse. Dann nahm er Fackeln, band je zwei Füchse an den Schwänzen zusammen und befestigte eine Fackel in der Mitte zwischen zwei Schwänzen. Er zündete die Fackeln an und ließ die Füchse in die Getreidefelder der Philister laufen. So verbrannte er die Garben und das noch stehende Korn, ebenso die Weingärten und die Ölbäume."

Als Bernhard seit 1135 über diesen Text zu predigen begonnen hatte, schickte ihm der Propst des Prämonstratenserklosters Steinfeld in der Eifel Nachrichten über häretische Umtriebe in Köln zu, weil er annahm, daß Bernhard dieses Thema abhandeln werde. In der Tat ging Bernhard darauf ein, so daß seine Ausführungen hierüber für uns die zuverlässigste und erschöpfendste Quelle für unsere Kenntnis jener Kölner Vorgänge darstellen. Hier finden wir auch (Sermo 64) seine Auffassung: "Wenn wir diese Worte im allegorischen Sinne verstehen, daß die Kirchen die Reben sind und Häresien oder vielmehr die Häretiker die Füchse, dann ist der offensichtliche Sinn, daß die Häretiker lieber ergriffen als verjagt werden müssen. Aber ich sage, man soll sie nicht mit Waffen packen, sondern mit Argumenten, um ihre Irrtümer zu widerlegen, und man soll sie, wenn man es vermag, mit der katholischen Kirche versöhnen, um sie zum wahren Glauben zurückzuführen. Wahrlich, dort liegt der Wille dessen, der will, daß alle Menschen gerettet werden und Wahrheit erfahren."

Ungeachtet dieser klaren Worte kennt Bernhard aber auch eine Grenze für das Bemühen um gewaltlose Überwindung der Ketzerei durch Überzeugung ihrer Anhänger. Wenn sich nämlich der Irrtum nicht nur hartnäckig behauptet, sondern auch andere als Anhänger zu gewinnen sucht, dann sei zu seiner Bekämpfung Gewalt am Platze. "Lieber die Ketzer mit dem Schwert unterdrücken, mit dem Schwert, das der Fürst nicht vergeblich fuhrt, ehe wir ihnen erlauben, die anderen durch ihre Irrtümer mitzureißen." Jedoch läßt der Abt von Clairvaux hier offen, ob die Drohung mit dem "Schwert des Fürsten" bis zur Hinrichtung gehen dürfe. (Fs)

84a Erst die Vertreter der aufblühenden Kanonistik trieben die Reflexion über die Berechtigung der Todesstrafe für Ketzerei weiter voran. Wenn auch immer wieder Einwände und Vorbehalte im Sinne der Lehre und Praxis der frühen Kirchenväter erhoben wurden, so war man auf dem 4. Laterankonzil (1215) soweit, daß der Jurist Johannes Teutonicus sich in der Lage sah, der Todesstrafe für Häretiker zuzustimmen, wenn keine Hoffnung auf Besserung mehr bestehe. (Fs)

Die Verschärfung des Verfahrens gegen die Häretiker mag von der Härte und Strenge des Alten Testaments (Todesstrafe für Götzendiener und Gotteslästerer) beeinflußt gewesen sein. Entscheidend war jedoch die Rezeption des Römischen Rechts. Christliche Kaiser wie Gratian und Theodosius hatten Gesetze erlassen, die die Häretiker mit Gottesdienstverbot, Konfiskation, Verlust der Testierfreiheit oder Verbannung bestraften. Anfangs des 5. Jahrhunderts wurde gegen Donatisten und Manichäer sogar die Todesstrafe verhängt. Diese Gesetze erscheinen dann im "Corpus Juris Civilis" Kaiser Justinians zusammengefaßt. Häresie galt als "crimen laesae maiestatis" - als Majestätsverbrechen. (Fs)

84b In der Antike hatten zwar diese Gesetze wegen weitgehenden passiven Widerstands der Kirche keine Anwendung gefunden; aber als nun die hochmittelalterliche Renaissance des Römischen Rechts einsetzte, entdeckten die Kanonisten und Juristen des 12. Jahrhunderts auch diese alten Ketzergesetze wieder - und das gerade zu jener Zeit, als die Bekämpfung der Ketzerei höchst aktuell geworden war. Den Stand der Diskussion am Ende des 12. Jahrhunderts kennzeichnet Papst Innozenz III., indem er die Häresie neben das "crimen laesae maiestatis" stellt - ohne vorerst noch die Konsequenz der Todesstrafe für Häretiker daraus zu ziehen. Er schreibt am 25. März 1199: "Nach zivilem Gesetz werden Majestätsverbrecher mit dem Tode bestraft und ihre Güter beschlagnahmt... Mit wieviel mehr Grund müssen die, welche den Glauben verraten, Jesus, den Sohn Gottes, beleidigen, von der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und ihrer Güter beraubt werden, denn es ist unendlich schwerwiegender, die göttliche als die menschliche Majestät zu beleidigen."

Die Inquisition

85a Offensichtlich hatte Papst Gregor IX. (1227-1241), ein gelehrter Kanonist, die Erfahrung gemacht, daß die Ketzerdekrete von Verona zur Bekämpfung der Häresie von manchen Bischöfen nicht konsequent angewandt wurden. Die Bischöfe entstammten ja den führenden Schichten ihrer Heimatländer und waren auf vielfache Weise mit deren Gesellschaft verbunden und ihr verpflichtet. Verwandtschaftliche Beziehungen vielfältigster Art mochten manchen Bischof hindern, einzugreifen, wo es nötig gewesen wäre. (Fs)

Nun stellte Gregor IX. die eben entstandenen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner in den Dienst der Ketzerbekämpfung. Friedrich II. schickte den Dominikanerkonventen mehrerer deutscher Städte, nachdem der Papst seit November 1231 mehrfach Dominikaner mit der Inquisition beauftragt hatte, ein neues, die bisherigen Gesetze verschärfendes Ketzergesetz: Häuser von Ketzern sind zu zerstören, ein Ketzer kann durch den anderen überfuhrt werden, Kinder und Erben verlieren alle Ämter und Würden, es sei denn, Kinder zeigen die Eltern an. (Fs)

85b Es handelt sich nun nicht mehr darum, daß angezeigte Häretiker verhört, bekehrt oder abgeurteilt werden sollten: Es wurde Inquisition vorgenommen, d. h. nach Ketzern geforscht. Diese Dominikaner-Inquisition war von Gregor IX. nicht als eine Schmälerung der bischöflichen Jurisdiktion, sondern als Ergänzung derselben gedacht gewesen. Indessen war die Durchführung der Inquisition in den einzelnen Ländern verschieden. Der einzelne Inquisitor wurde im Auftrag des Papstes von seinen Ordensoberen ernannt. Als Eigenschaften, die ihn auszeichnen sollten, werden außer einem Lebensalter von wenigstens 40 Jahren aufgezählt, daß er Magister der Theologie sein müsse, sich durch Sittenreinheit, Einsicht, Ehrenhaftigkeit, Lebenserfahrung und theologische wie kanonistische Bildung auszuzeichnen habe. (Fs)

Aufgabe des Inquisitors war es nun, die Ketzer aufzuspüren und sie zum rechten Glauben zurückzuführen. Gelang dies nicht, so folgten Untersuchung, Urteil und Strafe. Bei diesem Verfahren war der einzelne Inquisitor streng an die geltenden Vorschriften gebunden. Übertrat er sie, wurde er selbst zur Rechenschaft gezogen und bestraft. (Fs)

86a Andererseits aber besaß der Inquisitor besondere Vollmachten. So konnte er die Durchfuhrung seiner Anordnungen durch Androhung oder Verhängung kirchlicher Strafen durchsetzen, und kein anderer Prediger durfte am Ort die Kanzel besteigen, wenn zu gleicher Zeit der Inquisitor dies in Ausübung seines Amtes tat. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Inquisition: Verfahren

Kurzinhalt: Die großen Mängel des Inquisitionsprozesses bestanden in der Unmöglichkeit einer Verteidigung sowie in der dem Verfahren innewohnenden Tendenz, Geständnisse auch durch Zwangsmittel zu erzielen.

Textausschnitt: Das Verfahren der Inquisition

86b Da der Zweck der Inquisition in dem Ausrotten der Häresie durch Rückführung der Ketzer zur Kirche bestand, trat der Inquisitor sein Amt mit einer Predigt an, zu der er die Bevölkerung einlud. In ihr wurde die der Häresie entgegengesetzte Lehre der Kirche dargelegt. Bei Gelegenheit dieser Predigt, die wir uns wohl als eine Art Volksmission vorstellen dürfen, verkündigte der Inquisitor auch ein "tempus gratiae", eine Gnadenfrist von 15 bis 40 Tagen. In dieser Zeit konnten sich Ketzer melden, ihre Umkehr vollziehen und Kirchenbuße auf sich nehmen. Solche Ketzerbußen bestanden etwa im zeitweiligen Tragen von auf den Kleidern aufgenähten Kreuzen, Erscheinen mit Zuchtruten in der Hand beim Gottesdienst, Besuch der Predigten des Inquisitors, Fasten, Wallfahrten und dergleichen mehr. Wer sich nun, obwohl er Ketzer war, in dieser Zeit nicht meldete, wurde meist aufgrund von Denunziation angeklagt. Daß die Namen der Anzeigenden geheim blieben, war einerseits als Schutzmaßnahme für diese verständlich, öffnete aber andererseits den niedrigsten Instinkten der Rache, des Hasses und Neides die Tür. Dies war umso eher zu befürchten, als auch rechtlich Infame, also Meineidige, Exkommunizierte, Mitschuldige und selbst Familienmitglieder als Zeugen zugelassen wurden. Nur Todfeindschaft - die aber öffentlich bekannt sein mußte - machte zeugnisunfähig. Durch nichts konnte ein mißliebiger Konkurrent oder sonst jemand, mit dem ein anderer eine Rechnung zu begleichen hatte, wirksamer getroffen, sogar beseitigt werden, als durch eine Anklage wegen Häresie. Ein mehr oder weniger begründeter Verdacht auf Häresie - "levis" oder "magna suspicio" - konnte durch Widersagen der Häresie seitens des Verdächtigen mit nachfolgenden Kirchenbußen behoben werden. Wenn es sich jedoch um einen dringenden Verdacht - "suspicio violenta" - handelte, konnte ein Gegenbeweis nicht erbracht werden. Es wurde die Abschwörung - "abjuratio" - gefordert, Absolution erteilt und Buße auferlegt, die hier in der Anbringung eines gelben Stoffkreuzes auf der Kleidung bestand. Bei Verweigerung der Abjuratio folgte automatisch die Auslieferung an die weltliche Gewalt zur Vollstreckung der Todesstrafe. (Fs)

87a Im Falle, daß ein bereits bekehrter Häretiker abermals der Ketzerei für schuldig befunden wurde, gab es nur den Weg auf den Scheiterhaufen. Zwei oder drei ehrenwerte, dem Verurteilten befreundete Männer wurden dann beauftragt, ihm den Spruch des Gerichts mitzuteilen, und ihn zu reumütigem Empfang der Sakramente zu ermahnen. War das geschehen, so wurde die weltliche Obrigkeit zu einem Termin an einen außerhalb der Kirche gelegenen Ort geladen, wo dann der Inquisitor in Gegenwart der Bevölkerung und des Verurteilten eine Predigt hielt. War dieser Kleriker, so folgte nun seine Degradation nach dem Ritus des Pontifikale und dann die Auslieferung an die zum Strafvollzug zuständige weltliche Behörde, die die Hinrichtung des Ketzers beschloß. (Fs)

Den Henkerdienst leistete die weltliche Behörde. Die Bitte des Inquisitors an sie bei der Auslieferung des Ketzers, sein Leben zu schonen, war ein grauenvoller Formalismus und ein wahrer Hohn: Sollte es einer gewagt haben, diese Formel ernst zu nehmen, wäre er selbst der Exkommunikation und der Häresieanklage verfallen. (Fs)

87b Bei der Darstellung der inquisitorischen Praxis wird häufig die Meinung vertreten, manche Häresie, manche Sekte habe eigentlich gar nicht existiert, sondern sei in die der Ketzerei Verdächtigten vom Inquisitor "hineinverhört" worden, mancher schlichte Gläubige sei durch die Verhöre, deren Fragestellung seinen intellektuellen Horizont überschritt, erst zum Ketzer gemacht worden, indem er sich hilflos im Gestrüpp diffiziler Fragen verwirrte und verirrte. (Fs)

Man hat deshalb von "ganz und gar künstlich oder halbkünstlich erzeugter Ketzerei" (Lambert) gesprochen. Doch meint auch dieser Historiker, die Inquisitoren verhielten sich Verdächtigen gegenüber nicht ausgesprochen unfair. Eine ernsthafte Gefahr bestand jedoch in Mißverständnissen und unbewußten Entstellungen, zu denen es entweder durch allzu raffinierte Befragungsmethoden kam oder durch das allzu starre Festhalten an einem vorgefaßten Bild von einer Ketzerei, wie man es aus einem Handbuch oder einer Abhandlung bekommen hatte. (Fs)

88a Ein gewisser intellektualistischer Zug, der der gesamten Inquisition anhaftete, verführte die Inquisitoren nicht selten dazu, ihre Verdächtigen für raffinierter, intellektuell geschulter zu halten, als sie es wirklich waren. Sie maßen die Angeschuldigten an ihrer eigenen Elle und überschätzten sie oft gründlich. Ein immer wieder zitiertes Beispiel eines Verhörsmusters lieferte Bernard Guy in seinem Werk über die List und Ränke der Waldenser: "Der Inquisitor befragt den von ihm Verdächtigten über die Glaubensartikel. Jener antwortet eilfertig: "Ich stehe fest im Glauben." Der Inquisitor befragt ihn über die Transsubstantiation. Jener antwortet: "Sollte ich denn das etwa nicht glauben?" Der Inquisitor entgegnet: "Ich frage dich nicht danach, ob du das glauben solltest, sondern ob du es in Wirklichkeit tust", und bekommt zur Antwort: "Ich glaube alles, was du und andere gute Lehrer mir zu glauben befehlen." Der Inquisitor hält dies für eine Ausflucht und fährt fort: 'Jene guten Lehrer, denen du zu glauben gewillt bist, sind die Meister eurer Sekte. Wenn ich so denke wie sie, dann glaubst du sowohl mir als auch ihnen; wenn ich es aber nicht tue, dann nicht." So geht das Ringen zwischen den beiden weiter, bis der listige Waldenser schließlich bei der empfindlichen Frage nach der Eidesleistung zusammenbricht. (Fs)

88b In der Tat liegen hier Probleme offen zu Tage, deren sich die Inquisitoren wohl kaum bewußt waren und die erst quellenkritische Untersuchungen sichtbar haben werden lassen. Nach Herbert Grundmann liegt den von ihm erforschten protokollierten Verhören ein Frageschema zu Grunde, das auf der gegen häretische Beginen und Begarden gerichteten Bulle "Ad nostrum" Clemens' V. von 1311 beruhte. Die Betroffenen wurden also mit der Absicht befragt, festzustellen, ob sie die in der Bulle genannten Irrlehren glaubten, um sie dann davon abzubringen. (Fs)

88c Sie wurden nicht nach dem gefragt, was sie sonst oder überhaupt glaubten, sondern ob sie die in "Ad nostrum" genannten Häresien glaubten. Das ist ein gewichtiger Unterschied! Auf diese Weise ergibt sich nämlich eine ebenso schematische Aussage, wie es eine schematische Fragestellung gegeben hatte. Übrigens weiß jeder, der je ein Protokoll angefertigt hat, wie wenig bzw. wieviel dieses von der Wirklichkeit einer Sitzung wiederzugeben vermag. (Fs)

89a Freilich stellt Grundmann im Falle eines Eichstätter Verhörs (1381) auch fest, daß der Inquisitor bemerkte, wie wenig er mit seinem Schema seinem Delinquenten gerecht wurde und ihm mit einer Zusatzfrage gleichsam eine Chance gab, sich kirchlicher Rechtgläubigkeit zu nähern. Dieser nahm die Chance wahr und wurde nach Erteilung einer Buße losgesprochen. So konnte es also auch gehen - und es hing wohl oftmals weniger von der theologisch-kanonistischen Gelehrsamkeit, sondern vom Einfühlungsvermögen eines Inquisitors ab, wie ein Verhör ablief und ausging. (Fs)

Um den Inquisitoren die Durchführung des Verfahrens zu erleichtern, wurden bald zahlreiche Handbücher verfaßt, deren Autoren meist aus eigener Erfahrung schreiben konnten. Besonders bekannt wurden das "Directorium inquisitorum" des Nicolaus Eymericus, das 1376 entstand, und die "Practica inquisitionis haereticae pravitatis" des Bernardus Guidonis, die um 1300 geschrieben wurde. Trotz diesen meist sehr detaillierten Anweisungen war es dennoch die Persönlichkeit des jeweiligen Inquisitors, von der es abhing, ob aus der Inquisition ein fanatisch gehandhabtes Schreckensregiment wurde oder ein Instrument der Seelsorge zur Beseitigung und Überwindung der Irrlehren. (Fs)

89b Es gab unter den Inquisitoren sehr gelehrte, hochangesehene Persönlichkeiten von anerkannt hohem geistigen und moralischen Rang, wie etwa in Böhmen der Dominikaner Colda von Coldiz. Dies darf bei der Würdigung des Gesamtphänomens "Inquisition" nicht außer acht bleiben. Ebenso gab es tyrannische und gemeingefährliche Typen. Von ihnen hat Robert le Petit traurige Berühmtheit erlangt. Robert stammte von katharischen Eltern und war der erste Inquisitor Nordfrankreichs. Bald sagte man - und dies keineswegs ohne Grund -, er zwinge Unschuldige zu Geständnissen, um sie dem Feuer übergeben zu können. Solch verbrecherischem Treiben machte Gregor IX. durch seine Absetzung ein Ende, von Seiten des Ordens wurde Robert eingekerkert. (Fs)

Weit differenzierter, aber deswegen auch schwieriger zu beurteilen, ist der Fall Konrads von Marburg. Er ist nicht nur als Inquisitor, sondern auch als Beichtvater der hl. Elisabeth von Thüringen bekannt und betrieb erfolgreich deren Heiligsprechung. Es ist kaum vorstellbar, daß diese außerordentliche Frau ihre religiöse Führung einem Mann mit fragwürdigem Charakter anvertraut hätte. Man hat Konrad zwar Menschenverachtung vorgeworfen, ihn gleichzeitig aber auch einen "Mann von persönlich ehrfochtgebietender Integrität" genannt (Patschovsky). Zum Inquisitor im Jahre 1227 bestellt - also erlebte Elisabeth noch vier Jahre lang sein Wirken - verbreitete er jedoch Schrecken, wohin er kam. Zugleich mit Konrad wurden auch andere Inquisitoren eingesetzt; einige Forscher meinen, daß damit die päpstliche Inquisition überhaupt ihren Anfang nahm. (Fs)

90a Die großen Mängel des Inquisitionsprozesses bestanden in der Unmöglichkeit einer Verteidigung sowie in der dem Verfahren innewohnenden Tendenz, Geständnisse auch durch Zwangsmittel zu erzielen. Vor diesem Hintergrund versteht man Bestimmungen wie jene der Synode zu Narbonne 1243, die anordnete, "niemand darf verurteilt werden ohne sonnenklare Beweise oder eigenes Geständnis. Es ist besser, eine Schandtat ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen."
Doch war diese Mahnung keineswegs überall notwendig. Zahlreiche Inquisitoren waren in der Durchführung ihres Amtes von aufrichtigem Seeleneifer erfüllt. Der Inquisitor von Padua - ständig von Gicht und Rheuma geplagt - hat in einem Jahr (1298) 46 Orte besucht, dort gepredigt und verhört. In den zwölf Jahren seiner Tätigkeit wurden nur fünf Ketzer zum Tode verurteilt. Ähnliche Ergebnisse zeigt die Urteilsstatistik anderswo. Der wegen der Publikation seiner Akten bekannte Inquisitor Bernard Guy hat 930 Urteile gefällt, von denen 42 Todesurteile waren. 307 erkannten auf Haft, die anderen auf Wallfahrten und andere Bußwerke. 139 Fälle endeten mit Freispruch. (Fs)

90b In Carcassonne, einem Kerngebiet des Katharismus, werden von 1249 bis 1258 seitens des Inquisitors 278 Urteile gefällt, die fast alle auf "servitium in terra sancta" - Pilgerfahrt ins Heilige Land - lauteten. Für das Bistum Turin sind im ganzen 14. Jahrhundert 22 Todesurteile, 41 Bußkreuze, ca. 150 anderswie Verurteilte bekannt. (Fs)

90c Gewissenhafte Amtsführung war der Normalfall. Jedoch gab es bis zum Ende des Mittelalters schwerwiegende Fälle, in denen die Inquisition zum Werkzeug politischer Interessen gemacht wurde. Dazu gehören zum Beispiel die Vernichtung des Templerordens nach 1312, die Hinrichtung der hl. Jeanne d'Arc 1431 und die Vernichtung der Stedinger Bauern durch den Erzbischof von Bremen 1234 im Kampf um die Landesherrschaft. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Inquisition: historische Würdigung; Wahrheit - Freiheit

Kurzinhalt: So muß die erste Fragen lauten: Wie sahen die Zeitgenossen die Inquisition? ... Unser Jahrhundert, das Auschwitz und den Archipel Gulag hervorgebracht hat und in einem Jahr in Deutschland mehr Ungeborene umbringt, als die Inquisition in ...

Textausschnitt: Historische Würdigung

91a Der Versuch einer historischen Würdigung der Inquisition ist zugegebenermaßen schwierig. Wie bei allen historischen Beurteilungen müssen auch hier Vorurteile, Gefühle, Leidenschaften und dergleichen aus dem Spiele gehalten werden. Der Historiker ist weder Staatsanwalt noch Verteidiger, noch Richter. (Fs)

Es muß ihm, wie bei aller Wissenschaft, um die "cognitio e causis" gehen, um das möglichst umfassende Verstehen eines historischen Phänomens aus seinen Ursachen, Umständen und Wirkungen. Dabei müssen Maßstäbe der betreffenden Epoche der Vergangenheit angelegt, und Maßstäbe und Kategorien unserer Zeit dürfen nur mit großer Behutsamkeit ins Spiel gebracht werden. So muß die erste Fragen lauten: Wie sahen die Zeitgenossen die Inquisition?

Es gab Protest und Widerstand, etwa gegen Konrad von Marburg, und dann und wann wandte man sich an den Papst, wenn es galt, sich gegen Amtsmißbrauch von Inquisitoren zu wehren (so in Carcassonne 1286). In anderen Fällen - wie im Böhmen des 14. Jahrhunderts - ging es um die Wahrung der eigenen rechtlichen Zuständigkeit von Stadtregiment und lokaler Hierarchie gegenüber dem Sondergericht der Inquisition. Aber eine Opposition gegen die Verfolgung, Bestrafung, ja Hinrichtung der Ketzer wird als solche nicht quellenmäßig greifbar. (Fs)

91b Die Wormser Annalen, die Konrads von Marburg Vorgehen scharf tadelten, erkennen es unumwunden an, daß der Feuertod eine gerechte Strafe für die Ketzer sei, und der berühmte Berthold von Regensburg ruft aus: "Pfui, unseliger Ketzer, man sollte dich eher auf dem Scheiterhaufen verbrennen, ehe du einen einzigen anderen zum Ketzer machst." Es muß in diesem Zusammenhang nochmals daran erinnert werden, daß es ja die Bevölkerung selbst war, die seit dem ersten Auftreten von Häretikern an diesen - damals noch gegen den Widerstand der Kirche - Lynchjustiz geübt hat. (Fs)

91c Es kann also wohl angenommen werden, daß die Todesstrafe für Ketzer als angebracht betrachtet wurde. Noch im 16. Jahrhundert haben Martin Luther und Melanchthon in eindeutigen Worten die Fürsten zur Verfolgung der Wiedertäufer und anderer Schwarmgeister mit dem Schwert aufgerufen. Calvin hat Hinrichtungen wegen Ketzerei vollzogen, ebenso Elisabeth I. von England - in großer Zahl - und ihre Vorgängerin Maria die Katholische, nachdem das Parlament die alten Ketzergesetze wieder bekräftigt hatte. (Fs) (notabene)

92a Die Selbstverständlichkeit, mit der man die Strafe des Feuertodes für den Ketzer forderte, wird uns indes begreiflich, wenn wir sie in den Gesamtzusammenhang der mittelalterlichen Strafrechtspraxis überhaupt stellen. Der vor 1250 zusammengestellte "Sachsenspiegel" des Eike von Repgow bestimmt: "Wer nachts Korn stiehlt, der verschuldet den Galgen, stiehlt er es am Tage, so geht es ihm an den Hals." Oder: "Bietet der Münzer einen falschen Pfennig aus, um damit etwas zu kaufen, so geht es ihm an den Hals." Und weiter heißt es: "Den Christen, welcher ungläubig ist oder mit Zauber und Gift umgeht und dessen überwiesen wird, soll man auf dem Scheiterhaufen verbrennen."
92b Vor dem Hintergrund dieser im Alltag erlebten Rechtspraxis ist es auch verständlich, wie Thomas von Aquin die Todesstrafe für Ketzerei theoretisch begründet. In der "Summa theologiae" (II-II q. 11 a. 3) fragt er, "utrum haeretici sint tolerandi" - ob die Häretiker zu dulden seien. Obwohl - so seine Antwort - die Häretiker nicht verdienen, daß man sie dulde, muß man dennoch nach einer ersten und einer zweiten Ermahnung abwarten, ob sie zum Glauben der Kirche zurückkehren. Die aber, die nach der zweiten Aufforderung in ihrem Irrtum hartnäckig verharren, sind nicht nur zu exkommunizieren, sondern auch den weltlichen Fürsten auszuliefern, damit sie "ausgetilgt" werden - "exterminandi". Im Hauptteil seiner Argumentation fährt Thomas fort, sei bezüglich der Häretiker zweierlei zu beachten:
Auf Seiten der Ketzer geschieht eine Sünde, durch die sie verdienen, nicht nur durch die Exkommunikation aus der Kirche ausgeschlossen, sondern auch aus der Welt durch den Tod ausgemerzt zu werden. Denn es ist viel schwerwiegender, den Glauben, durch den die Seele lebt, zu zersetzen, als das Geld zu fälschen, das der Erhaltung des leiblichen Lebens dient. Wenn darum Falschmünzer und andere Verbrecher durch die Fürsten gerechterweise dem Tode überliefert werden, dann könnten erst recht die Häretiker hingerichtet werden, wenn sie überführt sind. (Fs)

93a Von Seiten der Kirche aber - so Thomas weiter - ist das Erbarmen am Platze, das den Irrenden zur Umkehr bewegen will. Darum urteilt die Kirche auch nicht sofort, sondern erst, wie der Apostel sagt, nach einer ersten und zweiten Ermahnung. Wenn der Häretiker aber dann noch hartnäckig bleibt, gibt die Kirche die Hoffnung auf seine Bekehrung auf und - um das Heil der anderen besorgt -schließt sie ihn durch die Exkommunikation von ihrer Gemeinschaft aus und überläßt ihn darüberhinaus dem weltlichen Gericht zur Hinrichtung. (Fs)

93b Ein weiterer Gedanke ist für das Verständnis der mittelalterlichen Todesstrafe für Ketzer von Bedeutung, nämlich der Aufweis einer inneren Beziehung zwischen Häresie und dem "crimen laesae maiestatis". Schon der "Codex Justiniani" stellt im 6. Jahrhundert fest, daß es viel schwerwiegender ist, die ewige Majestät zu beleidigen als die irdische. Daraus zogen schon die frühen Juristen die Konsequenzen, indem sie sowohl Verfahrensordnung als auch Strafart und -maß des Majestätsprozesses auf den Inquisitionsprozeß übertrugen. Friedrich II. hat dann in den Konstitutionen von Melfi (1231) Häresie und Majestätsverbrechen gegen den Kaiser rechtlich gleichgestellt. (Fs)
Erst verstehen...

93c Wenn wir uns aber noch weiter in die Denkart des Mittelalters hineinversetzen, stoßen wir auf einen Grundzug mittelalterlichen Denkens, der in unserem Zusammenhang besonders wichtig ist: Es war theozentrisch. (Fs)

93d Was dies bedeutet, wird am ehesten durch eine Gegenüberstellung mit dem modernen Denken klar, das wir in Bezug auf Gott als anthropozentrisch, im Hinblick auf die Sozialbindung des Menschen als individualistisch bezeichnen können. Selbst für gläubige Christen ist heute das eigene Ich ein so hoher, beinahe absoluter Wert, daß an ihm alles andere gemessen wird. Wahr ist - um auf Kierkegaard anzuspielen - was ich für wahr erkenne, wahr ist die "jemeinige" Wahrheit. Dieser existenzialistisch begründete erkenntnistheoretische Relativismus gesteht jedem seine eigene Wahrheit zu - ihr werden die objektive Glaubenswahrheit und die sittliche Norm geopfert. Gott erscheint dann eigentlich als Mittel zum Zweck der Vollendung des Menschen und seines Glückes. (Fs) (notabene)

94a Zu dieser eben vergröbernd skizzierten Geisteshaltung der Moderne läßt sich kaum ein schrofferer Kontrast vorstellen als die Theozentrik des Mittelalters. Das Mittelalter war von der grandiosen Idee vom universalen Ordnungsgefüge alles Seienden, dessen Quelle, Mittelpunkt und Gipfel Gott ist, fasziniert und sah in der göttlichen Offenbarung einen absoluten Wert. Sich an dieser von Christus geoffenbarten und der Kirche übergebenen Wahrheit zu vergreifen, bedeutete im Mittelalter ein blasphemisches Attentat auf Gottes unendliche Majestät. Hinzu trat noch der Gedanke an die Gemeinschaft, an das "bonum commune". Da die gesamte Christianitas im Glauben der Kirche die Grundlagen ihrer Existenz sah, bedeutete ein Angriff auf diesen Glauben der Kirche zugleich ein Rütteln an den Grundlagen der Gesellschaftsordnung überhaupt. Die Häresie gefährdete die Christenheit mehr als eine ansteckende Seuche. Doch nicht nur das irdische Wohlergehen wurde durch den Glaubensirrtum gefährdet, vor allem das ewige Heil stand auf dem Spiel. So mußte der Häretiker auch um des "bonum commune spirituale" willen gehindert werden, der Gemeinschaft geistigen Schaden zuzufügen. Ja, dies mußte sogar um des Häretikers selbst willen geschehen, damit auch er selbst nicht der Verdammnis anheimfiele, sondern sich bekehrte und glaubte. Deshalb zielte die Inquisition auf die Bekehrung der Ketzer ab. (Fs)

Ins Groteske wuchs dieser Gedanke jedoch, wenn man den rückfälligen Ketzer - bekehrt und mit Gott versöhnt - zum Scheiterhaufen schleppte, um ihn der Gefahr eines neuerlichen Abfalls zu entheben. Starb er jetzt, im rechten Glauben, war er für die Ewigkeit gerettet. So zu denken war für den mittelalterlichen Inquisitor alles andere als heuchlerischer Zynismus, stand doch das Wort Jesu da, das da lautet: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet!

94b Das mittelalterliche Denken war von der Grausamkeit moderner totalitärer Regime durch Abgründe getrennt. Wo die Inquisition zum Tod verurteilte, richtete sie das Vergängliche hin, um das Unvergängliche zu retten. Der moderne Tyrann dagegen ist einer, der "nicht an das Unzerstörbare im Menschen glaubt und ihn daher, im Gegensatz zur Inquisition, völlig, auf ewig auszulöschen und zu vernichten meint" (E.Jünger, Strahlungen 1,2. Februar 1942). (Fs) (notabene)

Auch ein ganz zentrales Element mittelalterlichen Lebensgefühls muß beachtet werden: die Jenseitsgerichtetheit des mittelalterlichen Menschen. Ihm war weit mehr als uns Heutigen bewußt, daß das Erdenleben nur Durchgangsstadium zur ewigen Vollendung bei Gott ist. Dieses Wissen ließ die Menschen die oftmals drückenden Härten und Entbehrungen des Alltags ertragen. Das irdische Leben wurde im Vergleich zum ewigen Leben relativiert, jedoch nicht verachtet. Diese Gefahr bestand eher bei den ketzerischen Bewegungen, denen die Inquisition Einhalt zu gebieten suchte: Die "Endura" der Katharer - der quasi aufgezwungene Selbstmord durch Verhungern als Ersatz für die Bluttaufe der Märtyrer und als Befreiung von der Sinnenwelt - hat erwiesenermaßen weit mehr Opfer gekostet als die ganze Praxis der Inquisition. (Fs) (notabene)

94a Die Menschen des Mittelalters übersahen freilich, daß Gott auch die Freiheit des Menschen gewollt und ihm als seinem Ebenbild eine hohe Würde verliehen hat. Sie forderten durch das Extrem dieser zwar großartig gläubigen, aber doch auf einem Auge blinden Konsequenz das andere Extrem des modernen Anthropozentrismus heraus. Über Schuld oder Unschuld wird Gott alleine richten: Uns bleibt der Auftrag, das Wahre aus beiden extremen Positionen zur Einheit zu bringen, damit spätere Geschlechter uns, die wir dem Mittelalter den Vorwurf machen, es habe den Menschen der Wahrheit geopfert, nicht beschuldigen können, wir seien der Wahrheit um des Menschen willen abtrünnig geworden - und hätten damit auch den Menschen verraten. (Fs) (notabene)

94b Der evangelische Rechtshistoriker Adalbert Erler schreibt in seinem Beitrag über die Inquisition im "Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte": "Bei einer Betrachtung vom Standpunkt einer pluralistischen, glaubensindifferenten, sich selbst als human verstehenden Gegenwart kann die Inquisition natürlich nur als 'finsteres' Mittelalter erscheinen - sofern der Betrachter nicht an der Hand des historischen Stoffes zu der warnenden Erkenntnis kommt, daß der Mensch in jeder Epoche, auch wenn er guten Willens ist, der Gefahr entsetzlicher Verirrungen ausgeliefert ist." Unser Jahrhundert, das Auschwitz und den Archipel Gulag hervorgebracht hat und in einem Jahr in Deutschland mehr Ungeborene umbringt, als die Inquisition in Jahrhunderten an Todesurteilen gefällt hat, sollte sich hüten, sich über die Inquisition des Mittelalters zu empören. (Fs) (notabene)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kreuzzüge: Begriff, Motive, Ergebnisse, Würdigung, Eroberung Konstantinopels

Kurzinhalt: Ein angemessenes historisches Urteil über die Kreuzzüge muß vor allem die höchst komplexe Natur dieses historischen Phänomens in Rechnung stellen. Das, was am meisten Kritik erregt, ist die Idee des Heiligen Krieges, Krieg im Namen Gottes! Man muß ...

Textausschnitt: 96a 900. Wiederkehr des Tages, an dem Jerusalem von den Rittern des 1. Kreuzzugs unter der Führung des Grafen Gottfried von Bouillon erobert wurde - es war der 15. Juli 1099 - hat der Diskussion über Sinn oder Unsinn, Berechtigung oder Unrecht der Kreuzzüge neuen Anlaß geboten. (Fs)

Begriffe

96b Im Hinblick darauf scheinen einige Klarstellungen angebracht zu sein: Unter Kreuzzug versteht man normalerweise ein militärisches Unternehmen, das vom Papst autorisiert wurde, um die Heiligen Stätten zurückzuerobern, oder um die Bevölkerung oder die christlichen Reiche oder auch die Rechte der Kirche zu verteidigen. Im besonderen aber versteht man unter Kreuzzug jene Versuche vom 11. bis 14. Jahrhundert, die das Ziel hatten, das Heilige Land aus der Herrschaft der Muselmanen zu befreien, wie von der Einnahme Jerusalems am 15. Juli 1099 bis zur Eroberung Akkos durch die Muselmanen im Jahre 1291 geschehen. Üblicherweise zählt man sieben Kreuzzüge, von denen der erste der berühmteste war, der vierte jener, der am meisten Schaden verursachte, da in seinem Verlauf Konstantinopel im Jahre 1204 eingenommen und zerstört und das sogenannte Lateinische Kaiserreich errichtet wurde. (Fs)

Motive

96c Ohne Zweifel hatte die Kreuzzugsbewegung ihren Ursprung in den Pilgerfahrten in das Heilige Land, die seit dem 2. Jahrhundert üblich waren. Eine neue Lage ergab sich aber mit der Eroberung des Heiligen Landes durch den Islam im 7./9. Jahrhundert. Obgleich die christlichen Wallfahrten weiter andauerten, wurden diese zunehmend schwieriger und vor allem gefährlicher, besonders nachdem der Kalif El Hakim 1008 die Basilika des Heiligen Grabes zerstören ließ. Bis zum Jahre 1014 ereilte im Reich der Fatimiden ca. 30000 christliche Kirchen das gleiche Schicksal. Auf diesem Hintergrund entwickelte und verbreitete sich sodann die Idee der bewaffneten Pilgerfahrt. Die praktische Notwendigkeit des Schutzes der Pilger verband sich im Weiteren mit verschiedenen ideologischen Elementen der feudalen Epoche. In dieser Sicht erschien vielen das Heilige Land als ein Erbbesitz des Herrn, dessen Vasallen sich nun verpflichtet fühlten, ihm - das heißt seinem Stellvertreter - dieses Erbe zurückzugewinnen. (Fs)

97a Das ritterliche Ideal der Fürsorge für die Armen und Schwachen, nämlich der durch den Islam bedrohten Christen und die Solidarität mit den christlichen Brüdern, war ein weiteres Motiv für den Kreuzzug. Es diente der Hierarchie als Grund, einige Versuche westlicher Kreuzzüge, sich Konstantinopels zu bemächtigen, in die Schranken zu weisen. Im Zusammenklang mit den großen westlichen, religiösen Bewegungen Ende des 11. Jahrhunderts wurde oftmals auch das Ideal der "vita apostolica" - des Lebens nach dem Vorbild der Apostel, der Nachfolge Christi - genannt, für dessen Verwirklichung die Kreuzzüge eine besondere Gelegenheit boten. Der einzelne Kreuzfahrer mußte große Ausgaben auf sich nehmen, er mußte all sein Hab und Gut verlassen, auch seine Familie, und konnte nicht sicher sein, ob er je wieder zurückkehren werde. Zeugnis für dieses Zurücklassen - "siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt" - sind unter anderem die Testamente der Kreuzfahrer, die uns in großer Zahl erhalten sind. Überwältigend war auch das Verlangen, Jerusalem zu sehen, das Zentrum der Heilsgeschichte und Urbild ihrer ewigen Erfüllung. Man muß gerade deshalb die religiöse Motivierung für die Teilnahme an den Kreuzzügen unterstreichen. (Fs)

97b Es gibt keinen Zweifel, daß die religiöse Ausrichtung der Kreuzzüge keineswegs andere Motive weltlicher und materieller Art ausschloß. Söhne des Adels, die ohne Erbrechte waren, betrachteten die Kreuzzüge als eine Gelegenheit, nicht nur das Heil ihrer Seelen zu erwerben, sondern auch eigenes Land zu gewinnen. Der Papst hingegen - wir sprechen von Urban II. - konnte hoffen, die Idee der "libertas ecclesiae" - Freiheit der Kirche - und die Wiedervereinigung der byzantinischen Kirche mit der lateinischen durch die Befreiung der orientalischen Kirchen von der Unterdrückung durch die Muslime voranzutreiben. Im besonderen betrachteten die italienischen Kreuzfahrer den Kreuzzug als Weiterführung ihrer Verteidigung gegen die muslimischen Piraten» die seit Jahrzehnten ihr Vaterland mit Schrecken überzogen. (Fs)

Ergebnisse

98a Das erste historische Ergebnis der Kreuzzugsbewegung war die Errichtung von vier Feudalstaaten der Kreuzfahrer: das Königreich von Jerusalem, das Fürstentum von Antiochia und die Grafschaften von Edessa und von Tripolis. Deren Behauptung und Ausdehnung war nur dank der militärischen Präsenz der Ritterorden möglich, die gerade in diesem Zusammenhang entstanden waren. Es waren der Templerorden, die Johanniter, der Deutsche Ritterorden und andere kleinere. Gleichzeitig wurde auch eine lateinische Hierarchie eingesetzt, deren Errichtung indes die Beziehungen zwischen lateinischer und griechischer Kirche verständlicherweise belastete. Es gab auch bedeutende Ergebnisse der Kreuzzugsbewegung auf kulturellem Gebiet. Es entstanden eine eigene Literatur, Kunst und Architektur in den Staaten des "oltramare". Vor allem aber gewann der Westen umfassende Kenntnis der arabischen Philosophie, der Naturwissenschaften, im besonderen der Mathematik, der Medizin und der Heilmittelkunde. Es entwickelten sich auch freundschaftliche Wirtschaftsbeziehungen zwischen der islamischen und der christlich-westlichen Welt. Gleichfalls ist festzuhalten, daß nach 1110 die zahlreiche muslimische Bevölkerung der Kreuzfahrerstaaten in Ruhe und Frieden nach ihren eigenen religiösen Gesetzen und Bräuchen leben konnte. Zum Beispiel wurden die Wallfahrten nach Mekka von Seiten der Kreuzfahrer niemals behindert. So geschah es, daß im Jahr 1163 beim Tod des Königs Balduin III. von Jerusalem die Muslime spontan große Trauer um ihn zeigten. (Fs)

Anklagen

98b In der öffentlichen Diskussion über die Kreuzzüge werden gewöhnlich gewisse Anschuldigungen gegen die westliche Kirche oder das Papsttum vorgebracht. Diese betreffen zum einen die Verfolgung der Juden durch die Kreuzfahrer, die sogenannten "Pogrome", die vor dem ersten Kreuzzug in Worms, Mainz und Köln, in Speyer und Halle sich ereigneten. In der Folge beschränkten sich die Pogrome auf Frankreich und England. Der ideologische Hintergrund hierfür war die grob vereinfachende Anwendung der Idee der Blutrache auf das Verhältnis zwischen Christen und Juden, welch letztere als Mörder Jesu angesehen wurden. Die kirchlichen Autoritäten stellten sich gewöhnlich gegen diesen Volkszorn, hatten aber nur in einigen Fällen Erfolg. Der hl. Bernhard von Clairvaux z. B. war imstande, die Pogrome im Lauf des zweiten Kreuzzuges zu verhindern. Es zeigte sich aber deutlich ein gewisser Unterschied zwischen der offiziellen Verkündigung der Kirche und den Mißverständnissen einer fanatisierten Bevölkerung - ein Phänomen, das nicht nur die psychosoziale Situation von damals kennzeichnete. (Fs)

99a Im besonderen wird die Eroberung Jerusalems am 15. Juli 1099 als blutrünstige Orgie unerhörten Ausmaßes im Zeichen des Kreuzes dargestellt. Wird der Fall Jerusalems aber im Licht der modernen Forschung dargestellt, d. h. auf der Grundlage einer kritischen Prüfung der erzählenden lateinischen, hebräischen und muslimischen Quellen, so verliert dieses Ereignis seinen Ausnahmecharakter. So etwa folgt daraus, daß die Absicht der mittelalterlichen Geschichtsschreiber eine andere war als die einfache Beschreibung der historischen Fakten. Eine genauere Analyse der Texte zeigt, daß die Vorkommnisse des Jahres 1099 in einem Analogiezusammenhang mit gewissen alttestamentlichen Texten verstanden wurden, z. B. mit Josua 6, wo die Eroberung Jerichos so beschrieben wurde: "Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des Herrn dem Untergang geweiht sein ... Die Stadtmauer stürzte in sich zusammen, und das Volk stieg in die Stadt hinein, jeder an der nächstbesten Stelle. So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel." Oder auch in Offenbarung 14,20: "die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten, und Blut strömte aus der Kelter; es stieg an, bis an die Zügel der Pferde, eintausendsechshundert Stadien weit." Auf diese Art und Weise versuchten die mittelalterlichen Chronisten, den Sieg des Volkes Gottes über seine Gegner auszudrücken. So viel zur literarischen Form einiger Quellen. Die Anzahl der Opfer wird deshalb in den erzählenden Quellen grotesk übertrieben. Das zeigen z. B. die zeitgenössischen Verzeichnisse, die in der alten Synagoge von Kairo gefunden wurden, auf denen zahlreiche Juden, Bürger Jerusalems, die nach der Einnahme der Stadt nach Ägypten emigriert waren, aufgelistet werden. Man muß auch festhalten, daß im Unterschied zu den erzählenden Quellen, die von 100 000 Einwohnern Jerusalems sprechen, die wirkliche Einwohnerzahl Jerusalems 10 000 niemals überstieg. Sie war zudem auf Grund der zahlreichen Kriege mit verschiedenen muslimischen Feinden schon vor den Kreuzzügen deutlich gesunken. Weiters hatten sich bei der Nachricht von der Ankunft der Kreuzfahrer viele Einwohner in die Umgebung außerhalb der Stadt geflüchtet, während die Christen aus der Stadt vertrieben wurden, da man befürchtete, sie würden gemeinsame Sache mit den Angreifern machen. (Fs)

100a Es ist deshalb notwendig, das Ausmaß des Blutbades vom 15. Juli 1099 gegenüber den erzählenden Quellen deutlich einzuschränken. Im Ausmaß, in dem Grausamkeiten geschahen, unterschied sich die Eroberung Jerusalems nicht von anderen vergleichbaren Fällen. (Fs)

Eroberung Konstantinopels

100b Heftig sind die Anschuldigungen - besonders von orthodoxer Seite - wegen der Einnahme und der Zerstörung der Stadt Konstantinopel im Jahr 1204 während des vierten Kreuzzuges. Diese Tatsache wird immer hervorgehoben, wenn es sich um die Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel handelt. Auch in diesem Fall ist die historische Wahrheit weit weniger einfach, als man gewöhnlich meint. (Fs)

100c Um die Geldmittel für den Seetransport aufzubringen, hatte sich das Heer der Kreuzfahrer unter dem Kommando der Grafen von Champagne, Blois und Flandern bei der Signorie von Venedig stark verschuldet. Diese verlangte nun als Gegenleistung die Rückeroberung der adriatischen Stadt Zadar, die von Venedig im Jahr 1186 abgefallen war. Ungeachtet der Proteste Innozenz' III. und gegen den Willen eines Teils der Kreuzfahrer wurde in der Tat die christliche Stadt Zadar eingenommen. Der Papst reagierte mit schweren Vorwürfen und Kirchenstrafen, die die Venezianer jedoch gleichgültig ließen. Die unheilvolle Wendung des Kreuzzuges gegen Konstantinopel alsdann war die Folge von dynastischen Konflikten innerhalb des byzantinischen Reiches. Nachdem Kaiser Isaak II. Angelos zusammen mit seinem Sohn Alexios im Jahr 1195 von seinem jüngeren Bruder Alexios III. abgesetzt und eingekerkert worden war, Alexios aber 1202 aus dem Kerker hatte entfliehen können, wandte er sich an seinen Schwager Philipp von Schwaben, indem er den Kreuzfahrern für die Rückeroberung des Thrones die Summe von 200000 Mark in Silber, die Teilnahme am Kreuzzug und seine Finanzierung sowie die Unterwerfung der byzantinischen Kirche unter den römischen Papst versprach. Innozenz III. verbot zwar strengstens jeden Angriff auf das byzantinische Reich, indem er die Befreiung des Heiligen Landes als ausschließliches Ziel der Kreuzzüge hervorhob - jedoch vergebens. Am 17. Juli 1203 wird Konstantinopel erobert, Isaak Angelos aus dem Kerker befreit und wiedereingesetzt, sein Sohn Alexios IV. als Mitherrscher ausgerufen. Der Kaiser aber konnte seine Versprechungen, die er den Kreuzfahrern gemacht hatte, nicht erfüllen. Er wurde neuerdings abgesetzt und starb schließlich im Kerker. Alexios IV. wird ermordet, Alexios V. Ende Januar 1204 gekrönt. Seine Weigerung, die Kreuzfahrer zufriedenzustellen, zusammen mit den Intrigen Enrico Dandolos, des Dogen von Venedig, führte alsdann zur Katastrophe des 13. April 1204: dem Fall von Konstantinopel und der Errichtung des lateinischen Kaiserreiches von Konstantinopel und der eigenmächtigen Einsetzung eines lateinischen Patriarchen durch die Venezianer. Die Haltung Innozenz' III. bezüglich des Vorgefallenen war nicht ganz eindeutig. Auf der einen Seite verurteilte er, sobald er davon erfuhr, strengstens die Exzesse der Kreuzfahrer, auf der anderen Seite glaubte er, die solchermaßen entstandene Lage für die Befreiung des Heiligen Landes und für die Wiedervereinigung der Kirchen ausnützen zu können - eine Hoffnung, die sich jedoch niemals erfüllte. (Fs)

Krieg im Namen Gottes?

101a Mehr als alles andere zeigt dieser Fall, daß es unmöglich war, das hohe religiöse Niveau beizubehalten, das für den ersten Kreuzzug bezeichnend gewesen war. In dem Maße, in dem der Einfluß der Päpste zurückging, überwogen die politischen, die wirtschaftlichen Interessen in einem Unternehmen, das von Anfang an ganz ideal angelegt war. (Fs)

Ein angemessenes historisches Urteil über die Kreuzzüge muß vor allem die höchst komplexe Natur dieses historischen Phänomens in Rechnung stellen. Das, was am meisten Kritik erregt, ist die Idee des Heiligen Krieges, Krieg im Namen Gottes! Man muß sich aber vor Augen halten, daß dies nicht ein rein christliches Phänomen war, sondern vielmehr eine allgemeine Idee prämoderner Kulturen. Es war ein Ausdruck für eine Wertordnung, in der der Wert des Heiligen alles andere übertraf und die Menschen dazu bewog, dafür alles zu riskieren, auch Menschenleben - das der Feinde, wie das eigene Leben. (Fs)

102a Man sollte auch im Fall der Kreuzzüge, anstatt zu urteilen, zu verstehen suchen und daran denken, daß auch unsere Gegenwart einmal von den zukünftigen Generationen beurteilt werden wird. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Martin Luther; "Reformatio" in der mittelalterlichen Kirche; abendländisches Schisma; Reformkonzilien; Katherina von Siena; Reform; religiös-kirchlicher Aufbruch (Menschenrechte der Eingeborenen)


Kurzinhalt: Die große Reform freilich blieb aus: Alle redeten von Reform - keiner aber wollte sie bei sich zu Haus haben, wie ein Konzilsprediger einmal sagte. "Reform" war geradezu zum Schlagwort entartet.

Textausschnitt: "Reformatio" in der mittelalterlichen Kirche

102b Wer immer das Leben der einzelnen Christen oder der Kirche als Ganzes an den sittlichen Maßstäben des Evangeliums mißt, ist von dem Auseinanderklaffen von Anspruch und Erfüllung betroffen - bei sich selbst und bei den anderen Gliedern der Kirche. Aus deren großer Schar ragen gewiß in allen Jahrhunderten, mehr oder weniger zahlreich und leuchtend, die Heiligen hervor, in deren menschlicher Schwachheit Gottes Kraft in zeichensetzender Weise wirksam geworden und zur Vollendung gelangt ist. Ihrer sind und waren immer zu wenige. (Fs)

103a Diese Erkenntnis hat vom Anfang der Kirchengeschichte an immer wieder den Ruf nach Umkehr, nach Buße, laut werden lassen; er weitete sich mit Blick auf die Gesamtheit der Kirche aus zum Ruf nach Reform. Wie offen sich die mittelalterliche Kirche in jeder Phase für diesen Ruf gezeigt hat, erweist ihre Geschichte. (Fs)

103b Am Anfang steht, nach den Zusammenbrüchen der Völkerwanderung und der Merowingerzeit, die Kirchenreform zur Zeit der Karolinger, es folgten die Reformbewegungen im Mönchtum, ausgehend von Cluny, Gorze und anderen Zentren, und um 1050 die nach Papst Gregor VII. benannte Gregorianische Reform. Keine hundert Jahre später wurde die abendländische Kirche von der Armutsbewegung erfaßt, deren Träger die Lebensform der Apostel - das Ideal eines der Armut und der Wanderpredigt verpflichteten Lebens - aufs neue realisieren wollten. Franz von Assisi und Dominikus heißen die bald herausragenden Gestalten, die es zudem vermochten, den vielerorts über die Ufer der kirchlichen Bindung hinaustretenden Strom der religiösen Kräfte großenteils in das Bett kirchlicher Integration zurückzuleiten. Ihre Ausstrahlung erfaßte die gesamte abendländische Kirche, und es dürfte um das Jahre 1300 nur wenige europäische Städte gegeben haben, in denen nicht mindestens ein Bettelordenskloster zu finden war. Von den Kanzeln dieser Klosterkirchen erhob sich immer wieder aufs neue der Ruf zu Buße und Christusnachfolge, mitunter in sehr drastischlebensnaher Art und Weise. Für Jahrhunderte wurde die Kanzel zu einer Domäne der Bettelorden. Dabei scheuten die Prediger nicht vor heftiger Kritik an Klerus und Bischöfen zurück, wo deren üppiges, ja sogar luxuriöses Leben Ärgernis erregte. Es gibt interessante Untersuchungen über die Kirchen- und Romkritik im Mittelalter, die uns zeigen, wie schmerzlich oftmals der Abstand von Ideal und Wirklichkeit des christlichen-kirchlichen Lebens empfunden wurde. (Fs)

Ganz besonders scharfe Töne waren zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas zu hören, nachdem im Gefolge der Wahl Papst Urbans VI. im Jahre 1378 wenige Monate später ein Gegenpapst, Clemens VII., gewählt worden war. Die Spaltung im obersten Hirtenamt, die sich nach dem Konzil von Pisa 1409 in eine Dreiteilung ausweitete, da das Konzil die beiden konkurrierenden Papstprätendenten zu Rom und Avignon erfolglos abgesetzt hatte, hat die abendländische Christenheit in Verwirrung gestürzt und eine Fülle von Unordnung in das Leben der Kirche gebracht. Einflüsse weltlicher Herrschaft, finanzielle Interessen nahmen überhand, und die diesseitsgerichtete, auf Gewinn, Genuß und Geltung bedachte Lebensauffassung der Renaissance hinterließ tiefe Spuren - nicht zuletzt sichtbar an der römischen Kurie und manchem Papst des 15. Jahrhunderts. Ihre glänzenden staatsmännischen und kulturellen Leistungen können uns nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sie in einigen Fällen ihrer Berufung zum obersten Hirtenamt der Kirche wahrlich nicht entsprochen haben. Ob sie den Zeitgenossen indes ebenso großes Ärgernis wie uns gegeben haben, ist sehr fraglich: Sie entsprachen nur allzusehr in Lebensauffassungen und Lebensstil dem allgemeinen Bewußtsein der Menschen ihrer Zeit. (Fs)

104a Durch die negativen Auswirkungen des Schismas und der Renaissance fühlten sich jedoch gerade die Besten herausgefordert. Sie zögerten nicht, Hand anzulegen. Das 15. Jahrhundert ist nicht umsonst das Jahrhundert der großen Bußprediger, zu deren Füßen die Menschen zu Tausenden dem Wort Gottes lauschten, auch wenn die Predigten drei bis fünf Stunden dauerten. Vicente Ferrer, Bernhardin von Siena, Johannes von Capistrano - das waren wohl die drei größten Namen, die hier zu nennen sind. (Fs)

Das 15. Jahrhundert ist aber auch das Jahrhundert der Reformkonzilien: Pisa 1409, Konstanz 1414-1418, Siena 1423/24 und Basel-Ferrara-Florenz 1431-1439. Das waren Versuche, mehr oder weniger von Erfolg gekrönt, das kirchliche Leben neu zu ordnen, den Anforderungen einer gewandelten Gesellschaftsordnung kirchlicherseits zu entsprechen. Die große Reform freilich blieb aus: Alle redeten von Reform - keiner aber wollte sie bei sich zu Haus haben, wie ein Konzilsprediger einmal sagte. "Reform" war geradezu zum Schlagwort entartet. (Fs)

104b Wer hingegen den Ruf nach Reform mit Ernst aufnahm, waren die Orden. Benediktiner, Franziskaner, Dominikaner, Augustiner, Karmeliter und ihre weiblichen Zweige erlebten Bewegungen in ihren Reihen, deren Ziel die Absage an alle im Lauf der Zeit eingegangenen Kompromisse und die Rückkehr zu den Idealen der Ordensgründer war, wobei man freilich da und dort allzu großes Gewicht auf Äußerlichkeiten der Regelbeobachtung gelegt hat Martin Luther selbst hat einer solchen Gemeinschaft angehört. (Fs)

105a Dieser reformatorische Elan war nicht selten Triebkraft zu einer Kirchenkritik, deren Ernst und Pathos an die alttestamentlichen Propheten erinnert. Da fielen harte Worte, da wurden prophetische Drohungen ausgesprochen. Ein klassisches Beispiel: die Färberstochter Caterina Benincasa aus Siena. Aus ihrer mystischen Verbundenheit mit dem gekreuzigten Christus kam ihre Botschaft an Päpste, Kardinale, Priester, Gläubige, Staatsmänner und Feldherren. Dem Papst Gregor XI., der mit Florenz, Siena und anderen Städten im Kriege lag, schrieb sie etwa 1377: "Gottes Wille ist, daß Sie mit Toscana Frieden schließen. Sie mögen die rebellischen Söhne strafen, aber nicht mit Krieg ... Sie tragen ja die Schlüssel des Himmels in der Hand. Wem Sie öffnen, dem ist geöffnet, und wem Sie schließen, dem ist geschlossen. Wenn Sie das Gesagte also nicht tun, wird Sie der Zorn Gottes treffen." Unerbittlich geißelte sie Luxus und sittliche Verfehlungen bei Kardinalen, Bischöfen und Priestern, und als sie in Avignon an der päpstlichen Kurie erschien, um Gregor XI. zur Rückkehr nach Rom aufzufordern, da traten die von ihr so hart Getadelten respektvoll zur Seite. Pius II. hat sie ohne Zögern im Jahre 1461 heiliggesprochen. - Nicht minder scharfe Töne schlugen die Prediger auf dem Konstanzer Konzil an. Sie malten dann und wann in so düsteren Farben, daß der Historiker begründetermaßen zögert, ihre Ausführungen als ein getreues Spiegelbild ihrer Zeit anzusehen. (Fs)

Was ist Reform?

105b Das Gemeinsame an all diesen zeitlich, geographisch und auch gesellschaftlich breit gestreuten Reformansätzen ist, daß sie in der Hauptsache praktische, kirchenrechtliche und noch mehr religiös-sittliche Ziele verfolgten. Da ging es um die gerechte Verwaltung kirchlichen Vermögens, um die gerechte und seelsorglich richtige Vergabe kirchlicher Amter, um die Hebung von Frömmigkeit und Gottesfurcht bei Klerus und Laien, um strenge Einhaltung der klösterlichen Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam, um die gewissenhafte Feier des Gottesdienstes, die Verwaltung der Sakramente und des Predigtamtes und immer wieder um die Reinerhaltung des Glaubens von individualistisch-spiritualistischen Verirrungen, wie sie in der spätmittelalterlichen Gesellschaft sichtbar wurden. (Fs)

106a Jeder dieser Reformbewegungen erschien die konkret existierende Kirche als der Besserung, der Reform, bedürftig, aber auch der Reform fähig. Noch am Vorabend des Auftretens Luthers hat das 5. Laterankonzil eine Reihe von positiven Reformbeschlüssen gefaßt - der Reformgedanke stand im Mittelpunkt des Konzilgeschehens. Zur gleichen Zeit waren Reformer wie etwa die Mitglieder des oberrheinischen Humanistenkreises, an ihrer Spitze etwa Jakob Wimpfeling, am Werk. Ganz besonders eindrucksvoll ist jedoch, was in Italien und vor allem in Spanien an religiös-kirchlichem Aufbruch geschah. Zeichen für die religiöse Vitalität der Kirche in Spanien war es etwa, daß die hier betriebene Theologie die Frage nach der sittlichen Erlaubtheit der Kolonialisierung Lateinamerikas nicht nur radikal stellte, sondern auch nach einer grundsätzlichen theologischen Reflexion über die Menschenrechte der Eingeborenen das politische Wollen der Könige zu bestimmen vermochte, wenn es auch nur bruchstückhaft gelang, diese Grundsätze in die Praxis zu überführen. (Fs)

106b Kein Zweifel, daß die Mehrzahl der Zeitgenossen Luthers in ihm zunächst einen der Reformer sah, wie sie schon oftmals aufgetreten waren und Gutes gewirkt hatten. Mancher mochte an einen neuen Savonarola denken, als er von dem Wittenberger Augustiner hörte. (Fs)

106c Es ist darum plausibel, wenn davor gewarnt wird, zu glauben, es habe damals alles nach Reformation gerufen und Luthers Auftreten sei nur der Funke gewesen, der das Pulverfaß zur Explosion gebracht habe. Vielmehr sei das deutsche Volk aufs Ganze gesehen kirchenfromm gewesen und habe seine geistige Unruhe zur Kirche getragen. "Die kirchliche Volksfrömmigkeit, und zwar gerade die Hingabe an die Kernstücke des katholischen Kirchentums, hatte in Deutschland im späteren 15. Jahrhundert ein Höchstmaß an Intensität erreicht" (B. Moeller). Das ist zweifellos richtig. Auch wenn zugleich ein Verlangen nach Reform vorhanden war, so läßt sich doch sagen, daß an Reformation im Sinne Luthers kaum jemand dachte. Man wollte die Kirche erneuern, nicht umstürzen. Ein Zweifel, daß die konkret existierende Kirche reformbedürftig war, war ebensowenig vorhanden, wie daran, daß sie dennoch die Kirche Jesu Christi war und bleiben würde. Wiederum sei Katharina von Siena angeführt. Gerade weil sie die Heilsbedeutung der Kirche tief erfaßte, konnte sie beten: "Ewiger Gott, nimm das Opfer meines Lebens für den mystischen Leib der heiligen Kirche! Ich vermag nichts anderes zu geben, als was Du mir gegeben hast!" Sie war zutiefst davon überzeugt: "Wir können unser Heil nicht anders erlangen als im mystischen Leib der Kirche, dessen Haupt Christus ist und dessen Glieder wir sind. Wer dem Christus auf Erden, der den Christus im Himmel vertritt, nicht gehorcht, der nimmt am Blut des Gottessohnes nicht teil. Denn Gott hat es so eingerichtet, daß durch dessen Hände Christi Blut und alle Sakramente der Kirche zu uns kommen. Es gibt keinen anderen Weg und keine andere Pforte für uns." An dieser Überzeugung änderte ihr Tadel, ihre Drohung an den Papst nicht das Geringste. Es ist die genuin katholische Überzeugung und Haltung, die sie hier formuliert: Mag auch das konkrete Verhalten von Hirt und Herde falsch, ja Sünde sein - niemals kann menschliches Versagen Christus hindern, sein Wort und seine Gnade in dieser seiner einen Kirche unversehrt und wirksam zu erhalten. Darum konnte Katharina, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten, Papst Urban VI. vorwerfen, "daß er auf eine maßlose Art und durch die Furcht, die er den Untergebenen einflößt, die heilige Kirche auskehrt", zugleich aber gerade diesem Papst, in dem sie den rechtmäßigen Hirten erkannte, treu zu bleiben. Den Kardinalen, die sie der Schuld am Ausbruch der Kirchenspaltung anklagte, schrieb sie: "Das Gift der Selbstsucht... hat aus Euch Strohhalme gemacht, Ihr Säulen! Nicht duftende Blumen seid Ihr, sondern Gestank, der die ganze Welt verpestet. Nicht Leuchten, um den Glauben zu verbreiten. Ihr habt Euer Licht unter den Scheffel des Stolzes gestellt. Nicht Mehrer des Glaubens seid Ihr, sondern als seine schändlichen Feinde verbreitet Ihr Finsternis in Euch und anderen. Engel auf Erden solltet Ihr sein, um uns vor dem höllischen Teufel zu retten und die verirrten Schafe zur heiligen Kirche zurückzuführen. Nun seid Ihr selber Teufel geworden - tausendmal habt Ihr den Tod verdient!" Und dennoch vermochten sie zu sagen: "Es ist Gottes ausdrücklicher Wille: Selbst wenn die Hirten und der irdische Christus - damit meint sie den Papst - fleischgewordene Teufel wären statt eines gütigen Vaters, wir müßten uns ihm unterwerfen ... um Gottes willen."

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Martin Luther - Reform oder Umsturz?; Galater-Kommentar; "Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche"

Kurzinhalt:
Damit war allerdings das Individuum zur obersten Instanz in Glaubensdingen proklamiert. Nichts anderes mehr war für Luther jetzt entscheidend, als das eigene private Urteil aufgrund persönlicher Einsicht und, wie er gelegentlich zu erkennen gab, ...

Textausschnitt: Martin Luther - Reform oder Umsturz?

108a Die Antwort auf diese Frage setzt eine Begriffsbestimmung von Reform voraus. Hierzu diene zuerst eine negative Abgrenzung: Reform kann nie zum Ergebnis haben, daß das Reformierte nicht mehr mit dem vorherigen zu Reformierenden identisch ist. Das heißt, Reform betrifft jeweils die konkrete Erscheinungsform, die konkrete Verwirklichung, nicht aber das Wesen des zu Reformierenden. Andernfalls würde eine Wesensveränderung eintreten, die das zu Reformierende zu etwas anderem machen würde, als es vorher war. Auf die Kirche bezogen, heißt Reform infolgedessen immer volleres Erfassen des überlieferten Glaubens, reineres, kraftvolleres Leben aus dem Glauben, in organischer Entfaltung des an Struktur und Inhalt eh und je Gegebenen. Jede Entwicklung, die einen Widerspruch, einen Gegensatz zu der von Anfang an grundgelegten Glaubensüberlieferung, zu der überlieferten sakramentalen und den Grundzügen der hierarchischen Struktur der Kirche mit sich bringen würde, wäre deshalb nicht als Reform, sondern als Revolution zu charakterisieren. Ein solcher Reformbegriff trägt auch in vollem Umfang der Geschichtlichkeit der Kirche Rechnung, die sich in der spannungsvollen Zuordnung von Wandel in der konkreten Erscheinungsform einerseits und Kontinuität im Wesentlichen andererseits ausdrückt. (Fs)

108b Nach dieser Klärung des Begriffes von Reform ist die Frage zu erörtern, ob Luthers Reformation mit diesem Begriff von Reform zu fassen sei. Etwas von dem grundsätzlichen und unerschütterlichen Ja zu der Kirche Jesu Christi, das sich aus solchen Überlegungen ergibt, läßt auch Martin Luther erkennen, wenn er noch 1519 betonte, es könne keine Ursache geben, die jemanden dazu berechtigte, sich von der römischen Kirche zu trennen. Im Galater-Kommentar dieses Jahres hat er das Verhalten der Hussiten als Abfall von der Kirche Christi qualifiziert und geschrieben: "Folglich kann auch der Abfall der Böhmen von der römischen Kirche auf keine Weise entschuldigt und verteidigt werden, als ob er etwa nicht gottlos und allen Gesetzen Christi entgegen wäre; verstößt er doch gegen die Liebe, in der alle Gesetze gipfeln. Denn das, was die Böhmen vorbringen, sie seien aus Furcht vor Gott und ihrem Gewissen abgefallen, damit sie nicht unter bösen Priestern und Päpsten leben müßten, - gerade das klagt sie am allermeisten an. Wenn nämlich die Päpste, Priester oder auch sonst irgend Menschen böse sind und du erglühtest in wahrer Liebe, dann würdest du nicht die Flucht ergreifen; du würdest vielmehr, und wärest du auch ,am äußersten Meer' (Ps 139,9), herbeieilen, klagen, mahnen, rügen, überhaupt alles tun, und der vorliegenden Lehre des Apostels folgend dir bewußt sein, daß du nicht die Vorteile, sondern die Lasten auf dich zu nehmen hast. Und so dürfte einleuchtend sein, daß es eitel Schein ist, wenn die Böhmen sich dieser Liebe rühmen, und daß es sich dabei um ,ein Licht' handelt, ,in das sich der Engel Satans verstellt' (2 Kor 11,14)". (Fs)

109a Das nun folgende Handeln Luthers stand aber in konträrem Widerspruch zu seinen eben zitierten Grundsätzen. Schon in der Leipziger Disputation (1519) wurde sichtbar, daß Luther den Weg von der Reform zur Reformation bereits beschritten hatte. Ob und in welchem Maße er sich dessen bewußt war, ob überhaupt und gegebenenfalls seit wann er den Bruch wollte oder nicht, das sind Fragen, die kontrovers und schwer zu beantworten sind. Bezeichnend für Luthers Standpunkt ist jedoch seine Aussage in Leipzig: "Daher will ich frei sein und kein Gefangener einer Autorität: weder des Konzils noch der Staatsgewalt noch der Universitäten. Nur das will ich vertrauensvoll bekennen, was ich als wahr erkannt, mag dies von einem Katholiken oder Häretiker behauptet werden, oder ob es von einem Konzil gebilligt oder verworfen wurde". Es ist ein schwer aufzulösender Widerspruch, wenn Luther wenige Monate später in seinem Galater-Kommentar die oben zitierten Ausfuhrungen machte. In der Leipziger Disputation dürfte jedoch, von Eck schroff und unerbittlich gefordert, der wahre, echte Luther gesprochen haben. Was er darum auch nach 1519 sagte und tat, war Ausdruck seines Nein zur Kirche, die er im Papst repräsentiert sah. (Fs) (notabene)

109b Das nun folgende Jahr 1520 brachte eine bedeutsame Verschärfung seiner Aussagen, da Luther in mehreren Äußerungen den Papst als Antichrist - also als den am Ende der Zeiten erwarteten satanischen Widersacher Christi - bezeichnete. Vor allem in der Schrift "Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche" vertrat er diese These. In einer weiteren Schrift, "Wider die Bulle des Endchrists", erklimmt Luthers Kampf gegen das Papsttum einen ersten Höhepunkt, wenn er erklärt: Wenn die Bulle, die ihm den Kirchenbann androhte, nicht vom Papst zurückgenommen werde, solle niemand daran zweifeln, daß der Papst ein Feind Gottes, Verfolger Christi, Zerstörer der Christenheit und der Antichrist selbst sei. Wenige Monate später schrieb er: "Wenn wir Diebe mit dem Strang, Mörder mit dem Schwert, Ketzer mit dem Feuer bestrafen, warum greifen wir nicht mit allen Waffen diese Lehrer des Verderbens an, diese Kardinale, die Päpste und die ganze Rotte des römischen Sodoma, welche die Kirche Gottes ohne Unterlaß verderben, und waschen unsere Hände in ihrem Blut...?"

110a Es war nur konsequent, daß Luther am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor zu Wittenberg das "Corpus Juris Canonici", das kirchliche Rechtsbuch, und die Bannandrohungsbulle in einem spektakulären Auftritt ins Feuer warf. "Auf, du fromme Studentenjugend", hatte er geschrieben, "sei Zeuge dieses heiligen und gottgefälligen Schauspiels. Denn vielleicht ist jetzt die Zeit, wo der Antichrist offenbar werden soll". Am Tag danach schrieb Luther an Staupitz: "Ich habe die Bücher des Papstes und die Bulle verbrannt, zuerst zitternd und bebend, aber jetzt bin ich fröhlicher als durch irgend eine andere Tat meines ganzen Lebens". (Fs)

"Damit", sagt der evangelische Lutherforscher Franz Lau, "war vor aller Welt klar, daß es Luther nicht um kirchliche Reform, sondern um fundamentalen kirchlichen Umsturz ging". Auch der gleichfalls evangelische Historiker Will Peukert ist zu dieser Auffassung gelangt, "daß Luther die neue Reformation von außen her durch einen revolutionären Akt geschehen lassen will... Das ist die kirchliche Revolution,... wenn man nach altem Maße mißt". (Fs)

110b Auf dieser Linie blieb der Wittenberger Professor bis ans Ende seines Lebens. Die Absage an das Papsttum bildete fortan den Generalbaß zu nahezu jedem anderen Thema. Selbst Hadrian VI., jenen von Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und Reformeifer erfüllten Mann, der auf dem Nürnberger Reichstag von 1523 seinen Legaten ein ergreifendes Bekenntnis der Schuld Roms an der religiösen Lage in Deutschland verlesen ließ, bedachte Luther mit Schmähungen. "Der Papst", schrieb er, "ist ein Magister noster von Löwen; in dieser hohen Schule krönt man solche Esel". Aus Hadrian, sagte er, rede der Satan. Luthers Polemik erreichte ihren Gipfel in der Schrift "Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet". Der Titel sagt schon alles. Noch in seiner Todeskrankheit hat Luther, nach dem Bericht eines seiner Schüler, mit Kreide den Vers an die Wand geschrieben: "Pestis eram vivus, moriens ero mors tua, papa. - Pest war ich dir, Papst, im Leben, im Sterben werde ich dein Tod sein!" - Diese radikale und totale, aus existentiellen Tiefen hervorbrechende und - es muß wohl gesagt werden - haßerfüllte Absage galt dem Papsttum und mit ihm der ganzen hierarchisch-sakramental verfaßten Kirche. (Fs)

111a Dies kann nicht verwundern, hatte Luther doch schon in seinen berühmten Kampfschriften des Jahres 1520 zentrale Glaubensinhalte der Kirche geleugnet. Insbesondere galt sein Nein dem katholischen Kirchenbegriff. (Fs)

111b Mit dem berühmt gewordenen Wort, daß alles, was aus der Taufe gekrochen, damit auch schon zum Papst, Bischof oder Priester geweiht sei, proklamierte Luther das von ihm ausschließlich bejahte allgemeine Priestertum der Gläubigen. Zugleich war das eine Absage an die der Kirche wesentlich eigene, auf heiliger Weihe beruhende hierarchische Ordnung. Luther sagt: "wenn wir alle Priester sind, wie sollen wir denn nit auch Macht haben zu schmecken und urteilen, was do Recht oder Unrecht im Glauben wäre?... Wir haben alle einen Geist des Glaubens (2 Kor 4,13)... aus diesem allem und vielen anderen Sprüchen sollen wir mutig und frei werden und den Geist der Freiheit... nit lassen mit erdichten Worten der Päpste abschrecken, sondern frisch hindurch alles was sie tun oder lassen nach unserem gläubigen Verstand der Schrift richten und sie zwingen zu folgen dem bessern, nit ihrem eigenen Verstand." Damit war allerdings das Individuum zur obersten Instanz in Glaubensdingen proklamiert. Nichts anderes mehr war für Luther jetzt entscheidend, als das eigene private Urteil aufgrund persönlicher Einsicht und, wie er gelegentlich zu erkennen gab, aufgrund an ihn ergangener göttlicher Offenbarung. Die Selbstsicherheit, mit der Luther in der Folge seine persönliche Erkenntnis als Wort Gottes bezeichnete und verkündete und schließlich auch in der Auseinandersetzung mit den übrigen reformatorischen Theologen zum Kanon der rechten Lehre machte, ist schwer nachzuvollziehen. (Fs) (notabene)

111c Hatte Luther mit dieser Schrift in erster Linie das Lehramt der Kirche aus den Angeln heben wollen, so griff er mit analoger Absicht in "De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium" deren sakramentale Struktur an. Die Schrift erschien bereits Ende August 1520 in lateinischer Sprache, wurde aber sogleich ins Deutsche übersetzt. Ein oberflächlicher Blick mag sich mit der Feststellung begnügen, Luther wende sich darin nur gegen die Siebenzahl der Sakramente, gegen das Eherecht, gegen den Zölibat, gegen die Versagung des Laienkelchs. In Wirklichkeit aber wandte er sich hier gegen den überlieferten katholischen Sakramentsbegriff überhaupt. Den Höhepunkt der Schrift bildet die leidenschaftliche Ablehnung des Meßopfers, mit der Luther das religiöse Leben der alten Kirche in seiner Herzmitte traf. Selbst Luthers alter väterlicher Freund Staupitz zog sich nun von ihm zurück. Erasmus meinte, daß mit dieser Schrift die Brücken abgebrochen seien. Die Universität Paris erhob dagegen öffentlichen Protest, und Heinrich VIII. schrieb dagegen seine "Assertio septem sacramentorum". Indem Luther hier die objektive Heilswirksamkeit des sakramentalen Vollzugs leugnete, "formulierte er ein Christentum, das sich mehr und mehr als Größe der reinen innerlichen Gesinnung darstellt.... Ohne daß darüber auch nur ein Wort verloren würde, erklärte Luther mit dieser Schrift das auf sakramentaler Weihe beruhende Priestertum als abgeschafft, es war für ihn völlig irrelevant geworden". (Fs) (notabene)

112a Der literarisch-publizistischen Aussage entsprach das praktische Handeln. In tatkräftigem Zusammenwirken mit den Luther anhängenden Fürsten und Städten entstanden seit 1524 lutherische Landeskirchen. Allen übrigen Territorien ging Preußen voran, die hohenzollerischen Herrschaften in Franken folgten, Nürnberg hatte schon 1524 reformiert. Landesherrliche Kirchenordnungen wurden entworfen und ihre Durchführung durch strenge Visitationen erzwungen. (Fs)

112b So waren, als die Confessio Augustana des Jahres 1530 formuliert wurde, im Protest gegen die alte Kirche - gleichsam neben deren Trümmern - neue, überdies einander selbst im Wesentlichen widersprechende Kirchenwesen entstanden, die sich angelehnt an Fürsten und Magistrate mehr und mehr konsolidierten. Eigene Lehre, eigene Liturgie, eigene pastorale Strukturen, ja eigenes Recht - das sind zweifellos, ja eigentlich erschöpfend, die Elemente einer Kirchengründung. Seit 1532 richtete man allenthalben landeskirchliche Behörden, Superintendenturen oder Konsistorien, ein - der Glaubensspaltung war logisch konsequent die Kirchenspaltung gefolgt. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Martin Luther; Reformation und Überlieferung; Dekadenztheorie; Petrus - Fels


Kurzinhalt: Die nun zu beantwortende Frage heißt: Ist ein solcher kirchlicher Umsturz theologisch, das heißt vor Gottes Angesicht, vertretbar?

Textausschnitt: 113a Die nun zu beantwortende Frage heißt: Ist ein solcher kirchlicher Umsturz theologisch, das heißt vor Gottes Angesicht, vertretbar? Dabei sei betont, daß auch hier nicht über den persönlichen guten Glauben Luthers und seiner Gefolgschaft geurteilt werden soll, sondern über den objektiven Tatbestand. (Fs)

Zunächst wird als Argument für die Notwendigkeit bzw. Unausweichlichkeit der kirchlichen Revolution Luthers das Scheitern der kirchlichen Reformen des Spätmittelalters angesichts der großen Mißstände der damaligen Kirche angeführt. Dieses Scheitern sei wiederum durch einen grundsätzlichen Traditionalismus der Kirche verursacht worden, durch den "die zahlreichen Kritiker und Reformer der spätmittelalterlichen Kirche" gezwungen waren, "ihre Prinzipien nur immer wieder einer der zahlreichen Traditionen aus früheren Jahrhunderten des Mittelalters selbst zu entnehmen". Sie hätten sich darum gleichsam nur im Kreise gedreht und seien mit wenigen Ausnahmen nur innerhalb der Möglichkeiten derselben Kirche verbheben, die zu reinigen sie sich berufen fühlten. Dieser Traditionalismus habe den unmittelbaren, befreienden Rückgang auf den Ursprung und die Quellen der christlichen Religion versperrt und damit eine gründliche Erneuerung der Theologie, der Frömmigkeit und des kirchlichen Lebens unmöglich gemacht (G.A. Benrath). (Fs)

113b Dieses Argument wirft indes eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung auf, nämlich die Frage nach der Bedeutung von Tradition, griech. paradosis, für die Kirche. Kann, darf der Rahmen der "Möglichkeiten der Kirche", das heißt der Rahmen ihrer Glaubenslehre und ihrer hierarchisch-sakramentalen Verfassung, überhaupt jemals gesprengt werden? Ist nicht dieser Rahmen der Möglichkeiten der Kirche von Jesus Christus selbst festgelegt und damit menschlicher Verfügung entzogen? Paulus jedenfalls erblickt in der ungebrochenen Überlieferung die genuine Wesensverwirklichung der Kirche. Er drückt dies im ersten Korintherbrief (11,23) in klassischer Prägnanz aus: "Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe". (Fs)

113c Aus diesem Grunde kann er auch im Galaterbrief (1,6-9) schreiben: "Ich bin erstaunt, daß ihr ... euch einem anderen Evangelium zuwendet. Doch es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel. Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündigt, als ihr empfangen habt, der sei verflucht."
114a Jede Veränderung der empfangenen und überlieferten Botschaft ist darum ein Angriff auf deren Unversehrtheit, Veränderung ist Verdrehung, ist ausgeschlossen. Wer dies täte, wäre verflucht. Der Apostel ist selbst an das Evangelium gebunden, es ist seinem verfügenden Zugriff entzogen, es ist "eine unantastbare geheiligte Sache" (F. Mussner). (Fs)

114b Nun aber ist die Kirche selbst nicht bloß Organ der Verkündigung, sondern auch Inhalt des Evangeliums. Aus ihm erfahren wir, was Kirche sei. Das heißt, daß die Grundelemente nicht nur ihrer Lehre und ihres Auftrages, sondern auch die Grundelemente ihrer hierarchisch-sakramentalen Struktur im Neuen Testament enthalten sind. Damit sind auch sie "eine unantastbare geheiligte Sache". Indem nun die Kirche den Dienst ihrer kontinuierlichen Verkündigung leistet, ihre hierarchische Struktur ungebrochen bewahrt und sakramental handelt, macht sie für jede Generation der Menschheit den jeweils neuen unmittelbaren Anschluß an die heilsgeschichtlichen Ursprünge möglich und vermittelt so das Heil in Christus, bis er wiederkommt. Ein Bruch in dieser Kontinuität, die ihren hierarchisch-sakramentalen Ausdruck und zugleich ihr bewirkendes Instrument in der apostolischen Sukzession hat, würde einen Abbruch der Verbindung zu den Ursprüngen von Bethlehem und Golgotha bedeuten. Kirchlicher Umsturz, der die authentisch überlieferte Glaubenslehre, die überlieferte auf heiliger Weihe und Sendung beruhende Kirchenstruktur und die überlieferten Sakramente angreift, trifft also die von der Kirche empfangene und getreulich zu überliefernde Offenbarung Gottes in Jesus Christus. (Fs)
(notabene)

114c Noch viel tiefer und grundsätzlicher greift jedoch der nun zu behandelnde klassische reformatorische Einwurf, die Papstkirche sei in einem jahrhundertelangen Prozeß des Abfalls vom Evangelium zur Synagoge Satans, zur babylonischen Hure entartet. Erst Luthers Tat habe das Evangelium wieder auf den Leuchter gestellt. Diese sogenannte Dekadenztheorie hat seit den Magdeburger Zenturien des Matthias Flacius Illyricus die evangelische Kirchengeschichtsschreibung bestimmt: Kirchengeschichte des Mittelalters wurde und wird als Geschichte des Abfalls von der Wahrheit verstanden. (Fs) (notabene)

115a Nun freilich ist die kritische Frage zu stellen, ob ein solches Kirchengeschichtsverständnis dem Wort der Heiligen Schrift standhält. Diese aber sagt uns, daß die Kirche, auf Petrus als den Felsen gebaut, von keiner Macht dieser oder jener Welt überwunden werden könne. Der Matthäus-Text "Ich sage dir, du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen" muß wohl zusammen mit dem Gleichnis vom Hausbau gesehen werden, das Matthäus in seinem 7. Kapitel und Lukas im 6. Kapitel berichten. Der kluge Mann baut sein Haus nicht auf Sand, sondern auf Felsen, damit Wolkenbrüche und Stürme es nicht zum Einsturz bringen können. Auch Jesus baut seine Kirche auf Felsen, damit sie den Stürmen der menschlichen Geschichte und den Angriffen Satans standhalte, solange dieser Äon dauert. Dieses Standhalten ist allerdings nicht Verdienst von Menschen: Es ist die Anwesenheit Jesu durch seinen Geist, die den Bestand der Kirche bis zum Ende garantiert. Jesus überträgt den Aposteln seine Sendung und seinen Geist: "Gehet hin und lehret alle Völker" (Mk 16,15) - "wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch" (Joh 20,21) - "ich will euch einen anderen Beistand senden, der euch in alle Wahrheit einführen wird" (Joh 15,13) - "siehe ich bin euch bis ans Ende der Zeit" (Mt 28,20). (Fs) (notabene)

115b Nun möchte man diese Worte da und dort ihres vollen Anspruches in etwa entkleiden, indem man sagt, Jesus habe dies nur ganz persönlich und unverwechselbar zu Petrus und den Zwölfen gesagt, und diese hätten jene Verheißungen mit ins Grab genommen. Jesus hat aber selber davon gesprochen, daß er bei seinen Jüngern bleiben werde bis ans Ende der Welt. Es ist auch unerheblich, ob diese Worte ipsissima verba Jesu sind oder ob sie auf Grund des Selbstverständnisses der Urgemeinde formuliert wurden: Sie sind Bestandteil des kanonischen Textes des Neuen Testaments und darum Wort Gottes. (Fs)

Aus diesen Texten geht doch wohl hervor, daß Jesus seine Kirche in ihrer konkreten geschichtlichen Gestalt zwar mehr oder weniger schwachen und auch sündhaften Menschen überantwortet hat, daß er aber durch sein Bleiben in ihrer Mitte durch den an Pfingsten gesandten Geist die Garantie dafür schafft, daß diese seine Kirche ihrer von ihm selbst übertragenen Sendung, das Evangelium zu verkünden und das Werk der Erlösung fortzuführen, in dem Maße treu bleibt, daß sie vom Morgen des Pfingsttages bis zur Parusie des Herrn mit sich selbst identisch bleibt. Auch wird im ersten Timotheusbrief (3,15) die Kirche des lebendigen Gottes nicht deshalb eine "Stütze und Grundfeste der Wahrheit" genannt, weil damit Instabilität und Hinfälligkeit von ihr ausgesagt werden sollten. Gewiß geschieht das Bleiben in der Wahrheit auf jene Weise, die Paulus im zweiten Korintherbrief beschreibt, wenn er von seinem eigenen Apostelamt sagt: "Diesen Schatz tragen wir freilich in irdenen Gefäßen. So soll die überreiche Fülle der Kraft nicht uns, sondern Gott zugeschrieben werden. Allenthalben sind wir bedrängt, doch nicht erdrückt, im Zweifel, aber nicht in Verzweiflung, verfolgt, aber nicht im Stich gelassen, niedergeworfen, aber nicht vernichtet. Allzeit tragen wir Jesu Sterben am Leibe herum, auf daß auch Jesu Leben an unserem Leibe sich offenbare. So werden wir ständig mitten im Leben um Jesu willen dem Tod ausgeliefert, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleische offenbar werde."

116a So wird auch die Kirche zwar ständig in der Geschichte "dem Tode ausgeliefert", dennoch wird immerdar an "ihrem sterblichen Fleische", das heißt an ihrer menschlichen Hinfälligkeit und Armseligkeit, das Leben Jesu offenbar. Das aber geschieht in Erfüllung jener Verheißungen, die der Herr seiner Kirche mit auf den Weg durch die Geschichte gegeben hat. (Fs)

116b Es ist wiederum erstaunlich und doch kohärent mit der Aussage des Galater-Kommentars von 1519, daß Luther selbst in seiner Antwort auf Prierias vom August 1518 nichts anderes lehrt, wenn er schreibt, mit dem Glauben, den die Römische Kirche bekennt, müsse der Glaube aller übereinstimmen. Er danke Christus, daß diese einzige Kirche auf Erden - nämlich die römische - den wahren Glauben so bewahrt habe, daß sie davon in keinem ihrer Dekrete je abgewichen sei und daß der Teufel es trotz allen Sumpfes der Laster nicht habe hindern können, daß in ihr, der Kirche von Rom, die Autorität der kanonischen biblischen Bücher, der Kirchenväter und ihrer Erklärer unversehrt erhalten geblieben und anerkannt worden sei. (Fs)

Im Zusammenhang mit der Interpretation der Kirchengeschichte als Prozeß des Abfalls vom Evangelium wird dann Luthers Tat weiterhin als "unmittelbarer befreiender Rückgriff auf den Ursprung und die Quellen der christlichen Religion" bezeichnet, der allein im Stande gewesen sei, diese in ursprünglicher Reinheit wieder herzustellen (Benrath). (Fs)

117a Ohne Zweifel ist dies ein faszinierender Gedanke. Die Vorstellung vom Staub und Schutt der Jahrhunderte, der die ursprüngliche Gestalt der Kirche überlagert, überdeckt und dadurch entstellt habe, ist eingängig. Plausibel auch die Folgerung, man müsse eben diesen Schutt wegräumen, um die ursprüngliche Gestalt der Kirche wiederzuentdecken. Nichts anderes habe Luther getan. (Fs)

Aber die Kirche, von der wir hier reden, ist nicht ein Bau des ersten Jahrhunderts, den es archäologisch zu erforschen und zu restaurieren gilt - der Vergleich stimmt nicht und damit auch nicht die daraus abgeleitete Folgerung. Wenn schon ein Bild gebraucht werden soll, dann jenes von der Heilung eines Kranken, die ja auch nicht darin bestehen kann, daß man die Zeit der Krankheit aus dem "Filmstreifen des Lebens" einfach herausschneidet und die beiden Enden wieder zusammenfügt. Vielmehr muß die Krankheit durch neue Lebenskräfte innerlich überwunden und so in neue Gesundheit hinübergeführt werden. (Fs)

117b Die Kirche ist nämlich nichts Totes, Museales, sondern eine durch die Geschichte hindurch lebendige und zwar durch Gottes Geist lebendige Gemeinschaft. Daß Jesus sie nach Johannes mit einem Weinstock und Paulus sie mit einem lebendigen Leibe vergleicht, gestattet, ja fordert die Anwendung der Kategorie des Organischen auf die Kirche. Lebendiges - und das gilt schon vom einfachsten organischen Leben - läßt sich aber niemals auf sein Anfangsstadium zurückbringen. Der Baum, in dessen Ästen und Zweigen die Vögel des Himmels wohnen, kann nicht mehr in das Senfkorn zurückverwandelt werden, aus dem er erwachsen ist. (Fs)

In analoger Weise ist es auch nicht möglich, zu irgendeinem Zeitpunkt der Kirchengeschichte den Beschluß zu fassen, alle seither durchlaufenen Entwicklungsstadien der Kirche nach rückwärts zu überspringen und neu anzufangen. Geschichte ist als Geschichte einer Einzelperson ebenso wie als Geschichte einer Gemeinschaft schlechthin irreversibel. Aus eben demselben Grund war auch eine zunächst faszinierende ökumenische Idee von vornherein zum Scheitern verurteilt, die Idee vom "Consensus quinquesaecularis". Bedeutende Ireniker der Jahre um den Westfälischen Frieden, wie etwa der Lutheraner Georg Calixt oder schon früher der konfessionelle Grenzgänger Georg Witzel, der als Katholik gestorben ist, meinten, es genüge, gemeinsam zu dem Zustand von Lehre und Disziplin der Kirche zurückzukehren, der am Ende des 6. Jahrhunderts bestand, um zur Einheit zu finden, denn über die bis dahin erreichte Entwicklung bestehe zwischen Lutheranern und Katholiken keine Kontroverse. (Fs)

118a Auch die Architekten dieses Unionsplans waren aber, wie gesagt, einem falschen Begriff von Geschichte erlegen. Geschichte ist nämlich nur in die Zukunft, in Richtung des Zieles, offen, niemals nach rückwärts zum Anfang. Darum kann es den zitierten "befreienden Rückgang auf die Ursprünge" ebensowenig geben wie Rückgang auf irgendeine andere Entwicklungsstufe der Vergangenheit. Solche Versuche sind per definitionem reaktionär und darum zerstörerisch, nicht aufbauend. (Fs)

118b Da nun drängt sich eine weitere Überlegung auf. Wenn Paulus schon im Blick auf das Gottesvolk des Alten Testamentes sagt: "Gottes Gnadengaben und Berufungen sind unwiderruflich" (Rom 11,29), so gilt das doch in hervorragendem Maße von dem Israel des Neuen Bundes, der Kirche. Mochte das alte Israel durch das neutestamentliche Bundesvolk heilsgeschichtlich überholt und abgelöst werden, so ist dies hinsichtlich der Kirche nicht mehr denkbar. Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist vielmehr mit dem Kommen Jesu Christi in die Fülle der Zeiten, in ihr unwiderruflich letztes Stadium eingetreten: Wir, die wir nach den Worten des Apostels Paulus "in den letzten Zeiten" leben, leben auch in der letzten Kirche, die infolgedessen niemals von einer wahreren, besseren, heiligeren, anderen Kirche abgelöst werden kann, sondern nur noch von dem Anbruch der endgültigen Gottesherrschaft überholt und zugleich vollendet werden wird. Die wahre Kirche Jesu Christi ist deshalb nicht nur zahlenmäßig eine einzige, sie ist es auch in der historischen Dimension: Sie ist und bleibt die eine durch die Jahrtausende, durch alles Ungenügen und Versagen ihrer Glieder und Hirten und durch allen geschichtlichen Wandel hindurch ungebrochen mit sich selbst identische Stiftung Jesu Christi, dessen ungeachtet, daß dieses ihr Wesen zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte authentischer verwirklicht werden könnte und sollte, als dies in dieser Weltzeit je geschehen kann. (Fs)

119a Da Martin Luther dies bestritt und eben diese Kirche nicht etwa nur infolge der Sünden ihrer Glieder, sondern infolge eines grundsätzlichen Abfalls vom Evangelium als zur babylonischen Hure entartet erblickte, muß man ihm im Hinblick auf die oben angeführten Worte der Heiligen Schrift sagen, was er selbst 1529 zu Marburg Zwingli entgegengehalten hatte: "Das Wort steht zu gewaltig da"! Und wie er damals Kreide genommen und auf den Tisch geschrieben hat: "Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut", so muß in diesem Falle der Katholik seine Kreide nehmen und auf den Tisch schreiben, was Michelangelo in das Rund der Kuppel von St. Peter in Rom geschrieben hat: "Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen!" Auch dieses Wort steht zu gewaltig da, als daß man darüber hinweglesen könnte. (Fs)

119b Deswegen kann es in der Tat niemals einen objektiv gültigen Grund geben, der zu einer Trennung von der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche berechtigen würde. Der Luther des Galater-Kommentars von 1519 hatte in vollem Umfang recht gehabt. Wollte man wirklich sagen, daß die konkrete Kirche des Jahres 1517 nicht mehr die wahre, von Christus gestiftete Kirche gewesen, weil sie vom Evangelium abgefallen sei - was wären dann die Verheißungen des Herrn an seine Kirche anderes als bloßes, trügerisches Menschenwort, als pathetisches Geschwätz! - So argumentiert bereits der katholisch gewordene, ehemals lutherische Prediger Laurentin Albert in seiner Konversionsschrift "Propositiones aliquot, in quibus ... demonstratur, cur L. A. in gremium Catholicae Ecclesiae se receperit, Ingolstadii 1570". Gleichlautende Argumente finden sich noch früher auch bei Thomas Morus und Georg Witzel. (Fs)

119c Diese Feststellungen zielen, dies sei noch einmal gesagt, auf den objektiven historisch-theologischen Tatbestand. Ein Urteil über die subjektive, religiös-moralische Seite des Geschehens "Reformation" ist damit keineswegs ausgesprochen. Objektiv Gutes kann wegen sittlich minderwertiger Motive den, der es tut, mit Schuld beladen, objektiv Schlechtes aus subjektiv edlen Beweggründen geschehen. Daß sich im Geflechte menschlicher Motive Erhabenes mit Banalem, und religiös-sittlicher Ernst mit Schuld, für uns oftmals unentwirrbar, durchdringen, gehört zur condition humaine. Zweifellos waren darum auch die Beweggründe Luthers und seiner Anhänger ebenso wie die seiner katholischen Gegner in Hierarchie, Wissenschaft und Politik vielfältig und komplex. Ein moralisches Urteil darüber steht nicht dem Erforscher, nur dem Herrn der Geschichte zu. (Fs)

120a Vor allem aber muß betont werden, daß die vorstehenden Ausführungen ausschließlich eine objektiv-historisch-theologische Beurteilung des Geschehens von 1520 ff. zum Gegenstand hatten. Das Thema hieß keineswegs "Die heute bestehenden Kirchen der Reformation in katholischer Sicht". Hierüber wäre anderes zu sagen gewesen. Die evangelischen Christen von heute - sieht man von individuellen Fällen eines Übertritts ab - haben sich ja niemals von der Kirche getrennt. Sie sind vielmehr in ihre kirchliche Gemeinschaft hineingeboren, haben dort geistliche Heimat gefunden und auch Wahrheit und Gnade von Jesus Christus empfangen. Wie sehr die Kirche sie alle trotz Trennung als Brüder und Schwester im Herrn betrachtet, geht zur Genüge aus dem Okumenismusdekret des 2. Vatikanischen Konzils hervor. (Fs)

120b Mit ihnen zur wirklichen und vollen Glaubens- und Kirchengemeinschaft zu gelangen, ist das Ziel, dem unser aller Bemühen zu gelten hat. Dazu gehört es freilich auch, die Geschichte der Trennung mit aller nüchternen Sachlichkeit historisch und theologisch aufzuarbeiten. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Konzil von Trient, Wunder (Jedin); im Strom der Überlieferung; Qualität der Texte; Verfahren des Konzils

Kurzinhalt: Trient hat hier konziliares Neuland betreten und ein Lehrdekret hervorgebracht, von dem der bedeutende protestantische Theologe der Jahrhundertwende, Adolf von Harnack, gesagt hat, ..

Textausschnitt: 121a Den Hintergrund, vor dem das historische Profil des Konzils von Trient (1545-1563) sich abzeichnet, bildet die Erfahrung, die die Kirche mit den vorausgegangenen Konzilien von Basel (1431-1437), Ferrara-Florenz (1438-1439) und dem nur dreißig Jahre zurückliegenden 5. Laterankonzil (1511-1517) gemacht hatte. Auf allen diesen Konzilien war die episkopale und petrinisch-primatiale Struktur der Kirche in Frage gestanden, wenn sie nicht gar das eigentliche Thema war. (Fs)

Schließlich war zu Florenz die erste eingehendere konziliare Definition des römischen Primats gelungen, und das 5. Lateranense hatte die konziliaristische Opposition gegen den Primat gesetzgeberisch wie politisch überwunden. Das Papsttum stand unter Julius II. (1503-1513) und Leo X. (1513-1521) als Sieger über den Konziliarismus da - ehe es im gleichen Jahr, da das Konzil schloß, durch den Protest des Mönches von Wittenberg in einer Weise und in einem Grade zur "Petra scandali" gemacht wurde, wie dies niemals, nicht einmal auf dem Höhepunkt der konziliaristischen Krise, der Fall gewesen war. (Fs)

In diesem zeitlichen wie sachlichen Zusammenhang erblickte auch der Kaiser, es war Karl V. (1519-1558), in einem neuerlichen Konzil das Heilmittel, mit dem dem Massenabfall von der Kirche sowie deren Zerstörung durch Glaubensunsicherheit, religiös-sittliche Zerrüttung und Spaltung zu begegnen war. Luther selbst rief nach einem Konzil, einem Konzil freilich, das er "gemein, frei und christlich" nannte und das in "deutschen Landen" abzuhalten sei. Damit meinte er, daß dieses Konzil frei von päpstlichem Einfluß sein, Laien, insbesondere die Fürsten, stimmberechtigte Mitglieder sein sollten und die Bibel allein als Entscheidungsgrundlage habe. (Fs)

122a Mit dieser im Sinne Luthers gewiß konsequenten Forderung war die einstige Idee von der Oberhoheit des Konzils über den Papst um vieles übertroffen. Ein solches Konzil war allerdings nach dem Glauben der Kirche völlig unannehmbar. Dieser Herausforderung mußte das bevorstehende Konzil begegnen, von ihr wurde auch seine Physiognomie mitgeprägt. Es stellte sich nicht theoretisch, wohl aber praktisch die Frage des rechten Zusammenspiels zwischen Papst, Konzil und Kaiser. (Fs)

122b Man sagt immer wieder, es sei die Furcht Roms vor einem Wiederaufleben des Konziliarismus gewesen, die Clemens VII. (1523-1534) und seine Nachfolger gehindert habe, der Konzilsforderung Karls V. anders denn höchst zögerlich und am Ende eher gezwungen zu entsprechen. Dies mag für Clemens VII. zutreffen. Indes muß historische Ehrlichkeit einräumen, daß es dann unter Paul III. (1534-1549) die politischen Umstände waren, insbesondere der französisch-habs-burgische Konflikt, die die Konzilsberufung mehrmals scheitern ließen. Erst der Friedensschluß Karls V. mit Franz I. von Frankreich (1515-1547) zu Crepy 1544 öffnete die Wege, die schließlich nach Trient führten. (Fs)
Im Strom der Überlieferung

122c Das Tridentinum reiht sich ein in den Strom der konziliaren Tradition. Kein Konzil, auch nicht das 2. Vatikanum, kann ebenso formal, hinsichtlich seiner Prozedur, wie was den Inhalt seiner Entscheidungen betrifft, einen völligen Neubeginn, einen Start vom Punkte 0 darstellen. (Fs)

Es genügt zu prüfen, welche Quellen von den Dekreten zitiert werden. Aus dieser Untersuchung ergibt sich nicht nur, in welchem Maße die früheren Konzilien nachgewirkt haben, es zeigt sich dabei auch die Ernsthaftigkeit des Bemühens der Väter von Trient, die eigenen Aussagen auf die authentische Tradition der Kirche zu gründen. (Fs)

Es sind die Allgemeinen Konzilien von Nicaea (I und II, 325 und 787) und (Chalkedon, 451) - aus der Antike -, die Laterankonzilien mit Ausnahme des ersten, Lyon II (1274), Vienne (1311/12) und Florenz, die genannt werden. In der Häufigkeit, mit der seine Texte herangezogen werden, übertrifft jedoch das 4. Lateranense (1215) Innozenz' III. alle übrigen. Die Väter des Tridentinums stützten sich in erstaunlichem Maße auf die Reformbestimmungen eines Konzils, das 350 Jahre zurücklag, und initiierten damit eine Reformbewegung, die in der Kirchengeschichte ihresgleichen sucht! Bezeichnend auch der Begriff von Reform, der aus einem solchen Vorgehen sichtbar wird. (Fs)

123a Daß im Zusammenhang mit der Fegfeuerlehre das Florentinum zitiert wird, und bezüglich des biblischen Kanons die Unionsbulle für die Kopten, kann nicht überraschen. Ebenso selbstverständlich, daß man für die Sakramentenlehre auf das Unionsdekret für die Armenier rekurriert. Erstaunlich ist es jedoch, daß selbst das so umstrittene Konzil von Konstanz (1414-1418) zu Wort kommt und damit höchste Bestätigung seiner Legitimität durch das Tridentinum erfährt. Es ist die Verurteilung der Notwendigkeit der Kommunion unter beiderlei Gestalt - "sub utraque" - und die Zurückweisung des Wiclifschen Irrtums, der die Wirksamkeit der Sakramente von der Würdigkeit des Spenders abhängig machen wollte, wofür man sich auf Konstanzer Dekrete berief. (Fs)

Auf diese Weise haben die Trienter Väter stillschweigend eine Aussage von großem konziliengeschichtlichen Gewicht gemacht. Natürlich wurden auch mehrere partikulare Konzilien - etwa Toledo III (527) und XI (675), Orange (441), Carthago II (416) und IV (424), Braga II (572) - zitiert. Nicht aber fand Basel Eingang in die Texte von Trient. All diese Beobachtungen zeigen, wie sehr den Vätern die gesamte konziliare Tradition der Kirche präsent war, als sie darangingen, dem dramatischen kirchlichen Zerfallsprozeß ihrer Gegenwart entgegenzutreten. (Fs)

In einem ganz zentralen Punkt seiner Arbeit sah das Konzil sich jedoch nicht in der Lage, eines der Vorgängerkonzilien zu zitieren. Einmal nur - und nur am Rande - wird das 2. Konzil von Orange (um 528) erwähnt. Es ist das Herzstück von Trient, das Dekret über die Rechtfertigung. Wohl war es die Neuheit des gestellten Problems, die es mit sich brachte, daß kein Konzil bisher darüber entschieden hatte. So sahen sich die Väter auf die Primärquelle aller Glaubenserkenntnis, auf die Heilige Schrift, verwiesen. Neben dem ausgiebig herangezogenen Neuen Testament sind es nur die Väter, und zwar häufig Augustinus, einmal auch Hieronymus und Tertullian, die zu Wort kommen. (Fs)

124a Trient hat hier konziliares Neuland betreten und ein Lehrdekret hervorgebracht, von dem der bedeutende protestantische Theologe der Jahrhundertwende, Adolf von Harnack, gesagt hat, es hätte die Reformation Luthers überflüssig gemacht, wäre es schon vom 5. Laterankonzil geschaffen worden. (Fs)

Die theologische Qualität der Texte

124b An dieser Stelle ist denn auch die theologische Qualität der Trienter Lehrdekrete im Vergleich mit früheren Konzilien zu würdigen. Konnten sich noch das 4. Lateranense (1215) und das Konzil von Vienne ganz unbefangen der scholastischen Terminologie bedienen, so hatte schon das Unionskonzil von Ferrara-Florenz in Argumentationsweise und Diktion auf die byzantinischen Gesprächspartner Rücksicht zu nehmen. Solche Rücksicht war es, die eine vermehrte Heranziehung der griechischen wie der lateinischen Väter notwendig gemacht hatte. Nun galt es in Trient, stets den Blick auf die reformatorischen Lehren zu richten, deren Vordringen das Konzil überhaupt erfordert hatte. So stützten sich die Väter in ganz besonderem Maße auf die Heilige Schrift, die ja die Protestanten als alleinige Glaubensquelle betrachteten. Dies gilt insbesondere für die Lehrdekrete. Selbstverständlich kam - vor allem in Gestalt der Konzilien - auch die authentische Überlieferung zu Wort. (Fs)
Darüber hinaus aber gelang es dem Konzil, eine Sprache zu finden, der bei hoher begrifflicher Präzision ein Klang eignete, der auch das fromme Empfinden der Leser zu berühren vermochte und erkennen ließ, daß es den Vätern um das Seelenheil der Gläubigen ging. Nicht zuletzt war es die zu hoher Blüte entfaltete humanistische Gelehrsamkeit zahlreicher Väter und Theologen gewesen, die durch die vermehrte Erschließung der patristischen Literatur eine solche Redeweise ermöglichte. (Fs)

Auch das Zustandekommen der Dekrete selbst vollzog sich zu Trient in einer Weise, die weder Antike noch Mittelalter gekannt hatten. Man kann heute mit großer Sicherheit sagen, daß gerade die großen Konzilien des Altertums keineswegs Versammlungen waren, aus deren Mitte in gemeinsamem Bemühen, in Rede und Gegenrede, die endgültigen Texte entstanden wären. In aller Regel war es Sache des Konzils, vorbereitete Texte durch Akklamation zu bestätigen und zu promulgieren. Diskutiert - kontrovers diskutiert - wurde, wenn das Konzil als Gerichtshof Streitsachen zu entscheiden hatte. In ähnlicher Weise verfuhren die Konzilien des Hoch- und Spätmittelalters, bis in Konstanz, Pavia-Siena (1423-1424) und Basel die weniger theologische als kanonistische Materie ein anderes Vorgehen verlangte. Ähnliches gilt von Ferrara-Florenz, wo der griechisch-lateinische Dialog zu führen war. (Fs)

Ein neues Verfahren

125a In Trient hingegen entstanden die Dekrete - sieht man von des Kardinallegaten Morone Parforceritt in der Schlußphase des Konzils einmal ab - aus dem gemeinsamen Ringen der Väter um die rechte Aussage. (Fs)

Besonders neu war hierbei das Verfahren, das vorsah, daß die jeweilige Materie erst in den Theologenkongregationen behandelt wurde. Dies geschah durch Vorträge der nicht stimmberechtigten Konzilstheologen vor den Vätern, die sich meist mit den Positionen der protestantischen Theologie befaßten. Sodann wurde über die von den Legaten vorgelegten Dekretentwürfe in der Generalkongregation abgestimmt, wobei die von den Vätern abgegebenen Voten durch Ad-hoc-Kommissionen in den Entwurf eingearbeitet wurden. Dieser Vorgang wiederholte sich so oft, wie es nötig war, um eine Mehrheit für den Entwurf zu finden. In der "Feierlichen Sitzung" wurden dann die fertigen Dekrete publiziert. Ein so intensives Verfahren bei der Meinungsfindung hatte es bisher auf keinem Konzil gegeben. Die Rolle der gelehrten Theologen darf dabei nicht unterschätzt werden, waren doch die Leuchten der zeitgenössischen Theologie in Trient versammelt. Auf diese Weise gewannen die Trienter Dekrete jenes geistige, geistliche und sprachliche Format, das noch immer Bewunderung verdient. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Konzil von Trient; ökumenisches Konzil?, Leibniz;

Kurzinhalt: Das einzige Glied des bischöflichen Kollegiums, das durch kein anderes ersetzt werden kann, ist dessen Haupt, der Papst. Seine Mitwirkung ersetzt jeden fehlenden Bischof.

Textausschnitt: 125b Ganz unabhängig von der inhaltlichen Qualität konziliarer Lehrdekrete stellt sich indes die Frage nach Art und Grad und Umfang ihrer Verbindlichkeit. Voraussetzung für allgemeine und unwiderrufliche Geltung ist die Okumenizität des Konzils, das sie erlassen hat. Hierbei fällt der Blick sogleich auf die Anwesenheit der Ökumene, der Weltkirche, auf dem Konzil. Es war Gottfried Wilhelm Leibniz, der knapp 250 Jahre danach in seinem bekannten Briefwechsel mit dem großen französischen Bischof und Prediger Jacques-Benigne Bossuet die Ökumenizität des Tridentinums radikal in Frage gestellt hat. Eine Handvoll Papstfanatiker habe die Gunst der Stunde, da die Nationen des Nordens, die Griechen, die Orientalen abwesend waren, genutzt, um ihre ausgefallenen Ideen zu Glaubenssätzen zu machen. Dazu sei der spanische König fest in den Händen seiner mönchischen Umgebung und Frankreich von einer Italienerin beherrscht gewesen, während die Italiener in Trient diktiert hätten. Selbst Frankreich habe sich ihnen nicht auf Dauer widersetzen können. (Fs)

126a Um das Konzil zu einem ökumenischen zu machen, sei jedoch Anwesenheit und Mitarbeit einer großen Zahl von Konzilsvätern aus verschiedenen Nationen erfordert, wovon in Trient keine Rede sein könne. Also sei Trient kein Ökumenisches Konzil und entbehre deshalb jener Verbindlichkeit, die einem solchen zukomme. Leibniz hätte noch hinzufugen können, daß ein ganzer Erdteil, nämlich Amerika, auf dem Konzil fehlte, obgleich dort seit einem halben Jahrhundert nicht wenige Bistümer bestanden. (Fs)

Nun ist natürlich zuzugeben, daß die physische Repräsentanz der Weltkirche zu Trient eher gering war. Das Konzil war in Anwesenheit von nur 29 Kardinalen und Bischöfen eröffnet worden, und die Gesamtzahl der Teilnehmer bischöflichen Ranges an der ersten Sitzungsperiode erreichte nicht einmal das erste Hundert. Und selbst diese wenigen waren nicht durchwegs anwesend. Indes kamen sie aus allen katholisch gebliebenen Nationen Europas, nur die Schweiz, Polen und Ungarn fehlten, und aus Deutschland war nur der Mainzer Weihbischof Heiding erschienen. Unbestreitbar ist, daß - aus naheliegenden Gründen - die Italiener in der Überzahl waren. (Fs)

Dies änderte sich in der 2. Sitzungsperiode nicht wesentlich: Zu ihrer Eröffnungssitzung waren nur 15 Mitraträger erschienen, die zudem ausnahmslos dem Machtbereich Karls V. zugehörten. Die Ankunft von Gesandten protestantischer Stände - es waren Sachsen, Brandenburg, Württemberg und Straßburg - änderte daran nichts. Erst die letzte Phase des Konzils zählte mehr als 200 stimmberechtigte Väter, es waren 236. Auch davon waren die meisten Italiener. (Fs)

127a Das von Leibniz zugrunde gelegte Kriterium für die Ökumenizität des Tridentinums war indes nicht adäquat: Leibniz geht hier von den Verhältnissen aus, unter denen das Konzil von Konstanz stattgefunden hatte: Zur Zeit der damals - bis zur Wahl Martins V. - herrschenden Sedisvakanz war in der Tat die faktische, physische Repräsentation der Gesamtkirche jenes Element, das in der damaligen Situation allein die Ökumenizität des Konzils zu begründen vermochte. (Fs)

Das Tridentinum jedoch fand unter dem Pontifikat rechtmäßiger Päpste statt, deren Beitritt, insbesondere deren Bestätigung, selbst dem spärlich beschickten Konzil die Ökumenizität sicherte. Das einzige Glied des bischöflichen Kollegiums, das durch kein anderes ersetzt werden kann, ist dessen Haupt, der Papst. Seine Mitwirkung ersetzt jeden fehlenden Bischof. Dies wird durch kein Konzil des Mittelalters und der Neuzeit so eindrücklich demonstriert wie durch das Konzil von Trient. (Fs) (notabene)

127b Hätte es einer weiteren Bestätigung bedurft - die Nachwirkung dieses Konzils hätte sie erbracht. Gab es Konzilien, die kaum oder nur geringe Wirkung über den Tag hinaus zeitigen - man denke an die ersten drei Laterankonzilien, an die beiden Konzilien von Lyon (1245 und 1274) und schließlich gar an das 5. Lateranense -, so hat das Tridentinum einer dreihundert Jahre währenden Epoche seinen Namen gegeben: Wir sprechen von einer "nachtridentinischen Periode" der Kirchengeschichte. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Konzil von Trient; Reformkonzil?

Kurzinhalt: Ganz im Gegensatz zu den sogenannten "Reformkonzilien" des 15. Jahrhunderts hat das Tridentinum eine wirkliche Reform eingeleitet, die Hubert Jedin das "Wunder von Trient" genannt hat. Nicht Verteilungskämpfe um die ökonomischen Ressourcen der Kirche ...

Textausschnitt: 127c Ganz im Gegensatz zu den sogenannten "Reformkonzilien" des 15. Jahrhunderts hat das Tridentinum eine wirkliche Reform eingeleitet, die Hubert Jedin das "Wunder von Trient" genannt hat. Nicht Verteilungskämpfe um die ökonomischen Ressourcen der Kirche wurden hier geführt wie zu Konstanz oder Basel, nicht in Strukturveränderungen wie dort erschöpfte man sich zu Trient. Es waren auch nicht die eigentlichen gesetzgeberischen Maßnahmen, die die tridentinische Reform bewirkten: Vielmehr war es dem Konzil gelungen, der großen Zahl der Bischöfe und dann auch der Priester das authentische Ideal des apostolisch gesinnten Hirten so vor Augen zu stellen, daß es seine ganze Anziehungskraft entfalten und so für die Sorge um das Seelenheil der Gläubigen wirksam werden konnte. Es war kein neues, "tridentinisches Bischofsideal", es war jenes der genuinen kirchlichen Überlieferung eigene, nun von Entstellungen befreite Bild des Nachfolgers der Apostel, das das Konzil wieder zum Leuchten brachte. Weit weniger eine neue Gesetzgebung als ein neuer, aus religiöser Tiefe aufbrechender Geist war es, der die eigentliche Wirkung dieses Konzils war. Trient löste überdies damit eine Welle territorialer Synoden, Provinzialkonzilien, aus, die seine Impulse an die einzelnen Diözesen weitergaben. Ja selbst die Konzilien der in Trient abwesenden Kirche Lateinamerikas waren ganz und gar dem Tridentinum und seiner Anwendung auf die lokale Situation verpflichtet. Auch dies läßt sich von keinem anderen Konzil des Mittelalters oder der Neuzeit aussagen. (Fs) (notabene)

128a So verwundert es nicht, daß zwar nicht das 1. Vatikanum - und dies hing mit den dort anhängigen Problemen zusammen -, wohl aber das 2. Vatikanische Konzil ausgiebig auf die Lehrdekrete des Tridentinums zurückgriff, die es weit häufiger zitierte als irgendein anderes Konzil. Allein schon dieser Umstand verbietet es, zwischen dem Tridentinum und dem 2. Vatikanum einen Gegensatz zu konstruieren, wie dies von Kreisen gern getan wird, die einem "Abschied von Trient" das Wort reden. (Fs) (notabene)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Konzil von Trient; Preisgabe des Tridentinums? - Ökumenismus

Kurzinhalt: Dennoch wird auch heute ein neuer Abschied von Trient zugunsten des Ökumenismus gefordert, freilich in eher verhüllter Form. Aus der katholisch-lutherischen Diskussion ist 1987 ein Werk entstanden, das den Titel trägt:

Textausschnitt: 128b Davon abgesehen, daß alles, was einmal von einem Allgemeinen Konzil an Glaubenslehren definiert worden ist, ein für allemal in das "Depositum fidei" eingegangen und infolgedessen unwiderruflich ist, würde ein "Abschied von Trient" zugleich den Abschied von einer geistig wie geistlich und kulturell überaus fruchtbaren Periode unserer Geschichte und Überlieferung bedeuten. Nicht Abschied, sondern vertiefte neue Aneignung ist angebracht. (Fs)

Dennoch wird auch heute ein neuer Abschied von Trient zugunsten des Ökumenismus gefordert, freilich in eher verhüllter Form. Aus der katholisch-lutherischen Diskussion ist 1987 ein Werk entstanden, das den Titel trägt: "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" Der Tenor lautet: "Wenn beide Kirchen (!) die nächsten in den Ausarbeitungen empfohlenen Schritte tun und unverbindlich erklären, daß die verwerfenden Urteile des 16. Jahrhunderts nicht mehr wiederholt werden können, befinden sie sich auf dem Wege zu einer sie immer stärker miteinander verbindenden Gemeinschaft..."
129a Zur Begründung wird angeführt, daß die damals bestehenden Lehrgegensätze durch moderne Entwicklungen weithin überholt seien und auf die heutigen Dialogpartner nicht mehr zuträfen. Demgegenüber hat die Evangelisch-theologische Fakultät Göttingen mit großem Ernst und Nachdruck darauf hingewiesen, daß auch die heutigen evangelischen Grundüberzeugungen von den Anathematismen des Tridentinums getroffen sind. Dieser bestehende Gegensatz dürfe nicht hinwegdiskutiert werden. Dem ist in vollem Umfang zuzustimmen. Hinzuzufügen ist, daß eine Preisgabe des Tridentinums um ökumenischer Annäherung willen, wie sie einst von Leibniz gefordert worden war, den Verlust katholischer Identität bedeuten würde. Mit Trient würde man nicht nur ein Konzil, sondern die gesamte Überlieferung der Kirche über Bord werfen. Denn: Auch wenn das Tridentinum in mannigfacher Hinsicht aus der Reihe der übrigen Konzilien herausragt, so ist es dennoch mit ihnen durch den kontinuierlichen Strom der authentischen Überlieferung in so organischer Weise verbunden, daß das Herausbrechen dieses Konzils die gesamte Überlieferung zum Einsturz brächte. Wie die vielen Eigenschaften vieler Ahnen in das Erbgut eines Menschen integriert sind und dessen Identität begründen, so ist auch das Tridentinum - wie jedes andere Konzil - in das Erbgut der Kirche integriert und begründet deren Identität. (Fs)

129b Fünfundzwanzig Jahre dauerte es, bis das Konzil zustande kam, und dann vergingen noch einmal fast zwanzig Jahre, bis es beendet werden konnte. Das war insgesamt nahezu ein halbes Jahrhundert, in dessen Verlauf das mühevolle Geschäft der Glaubensabklärung und der Erneuerung des kirchlichen Lebens im Ringen um die Überwindung schwerster Widerstände von außen und Krisen von innen betrieben werden mußte. Als die Väter von Trient am 4. Dezember 1563 nach dem "Te Deum" und dem "Domini, ite in pace" - "Ihr Herren, geht hin in Frieden" - des Legaten Morone einander mit Tränen der Freude und Dankbarkeit umarmten, war das am längsten dauernde und das an heilsamen Folgen reichste Konzil der Kirchengeschichte zum Abschluß gekommen. (Fs) (notabene)

129c Von keinem anderen Konzil kann der Geschichtsschreiber sagen, was Hubert Jedin vom Tridentinum zu sagen vermochte: Was es eingeleitet hat, war "das Wunder von Trient". Er meinte damit das Erwachen der durch die Glaubensspaltung schwer verwundeten Kirche aus tiefer Ohnmacht zu einer neuen Blüte des religiösen wie kulturellen Lebens, die in der Kirchengeschichte ganz wenige Parallelen hat. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock - geistesgeschichtliche Bestimmung; Konzil von Trient; Erbsünde; Natur - Sünde (Reformation - Kirche)


Kurzinhalt: "... Natur ist nicht schlechthin Sünde. Affekte können auch für sittliche Ideale eingesetzt werden. Hier liegt die Wurzel für die große katholische Kulturleistung des Barock" (H. Tüchle).

Textausschnitt: 130a Mit diesem Titel statt eines Buches einen Aufsatz zu überschreiben, mag vermessen erscheinen. Zu offenkundig ist doch die Vielschichtigkeit dessen, was man unter dem Begriff "Barock" zusammenfaßt. Nicht nur zeigen alle Lebensbereiche, alle Künste und Wissenschaften ihr epochenspezifisches Gesicht - durchmißt man den geographischen Rahmen, in dem sich barockes Leben entfaltet hat, von Moskau bis Mexiko und von Sizilien bis nach Skandinavien, so ergeben sich zudem nicht nur regional verschiedene Periodisierungen, sondern auch geographisch und damit auch konfessionell eigenständige Ausprägungen des Barock. All das verdiente natürlich eine differenzierte dementsprechend breite und eindringende Darstellung, die freilich nicht in einem Aufsatz geleistet werden kann. Daß Wilhelm Hausenstein recht hat, wenn er meint: "Mit einem Wort zu sagen, was Barock sei, ist ebenso verlockend wie unmöglich", steht außer Zweifel. Dieser Beitrag beabsichtigt dies auch keineswegs, er soll vielmehr dem Versuch dienen, an einem Ausschnitt aus dem gesamten Phänomen "Barock" die These zu verifizieren, daß die Quelle der barocken Kultur vorzüglich in der spannungsreichen Harmonie von Sinnenhaftigkeit und Rationalität im Lebensgefühl des Barock zu suchen sei. Daß dies vorwiegend vom Standpunkt des Kirchenhistorikers aus geschieht, ist wohl ebenso berechtigt wie die Feststellung: "Die ganze, bunte, tausendfältige Welt des Barock wird ... übergriffen von einem Denken, das nach der Theologie hin ausgerichtet ist, wird durchschaudert von einer Geistigkeit, die ihr Maß von den Letzten Dingen nimmt" (Benno Hubensteiner). (Fs)

Wurzeln im Konzil von Trient

131a Die Wurzeln hierfür sind in jenen beiden Dekreten des Konzils von Trient zu suchen, die eine christliche Rehabilitierung der Schöpfung, der Natur und damit auch der Sinne und ihrer Welt inaugurierten: dem Dekret über die Erbsünde und über die Rechtfertigung, die beide in der ersten Sitzungsperiode des Tridentinums, am 17. Juni 1546 und am 13. Januar 1547 verkündet wurden. In beiden Dekreten antwortete die aus der lähmenden Ohnmacht der ersten Reformationsjahrzehnte erwachte Kirche auf den Pessimismus der Reformation, die die Verderbnis der menschlichen Natur als Folge der Erbsünde scharf herausgestellt hatte. Daß damit auch - und das in der Zuspitzung eines augustinischen Ansatzes - eine negative theologische Einschätzung der Sinne des Menschen und ihrer Funktion verbunden war, zeigen die bekannten Erscheinungsformen des Calvinismus und des Puritanismus zur Genüge. Hinzu kam, daß die exklusive Betonung des rettenden Wortes Gottes jenen bilderstürmerischen Intellektualismus förderte, dem nicht nur die Fülle liturgischer Formen und volksfrommen Brauchtums, sondern auch die bildende Kunst und ihre Werke im Kirchenraum zum Opfer fielen. Genau dies läßt schon Schiller seinen Mortimer in "Maria Stuart" sagen: "Ich hatte nie der Künste Macht gefühlt: Es haßt die Kirche, die mich auferzog, der Sinne Reiz, kein Abbild |duldet sie, allein das körperlose Wort verehrend." (Fs)

132a Dieser pessimistischen Auffassung der Reformatoren stellte nun das Konzil in den erwähnten Dekreten die genuine katholische Lehre gegenüber. Schon in den Debatten um die Erbsünde und um die theologische Natur der "Concupiscentia" waren Auffassungen zutage getreten, die diese im Gegensatz zu Calvin noch mehr als zu Luther keineswegs als Sünde bzw. sündhaft bezeichnen wollten. So betonte etwa der Bischof der Canarischen Inseln, die "Concupiscentia" sei nicht Sünde, da nichts zur menschlichen Natur Gehöriges Sünde sein könne. Dabei ist weniger die Behauptung selbst für uns interessant als die dafür angeführte Begründung, die die Nicht-Sündhaftigkeit der menschlichen Natur scharf herausstellt. Diese negative Aussage ist schließlich in die positive Lehre des Konzils eingegangen, daß durch Rechtfertigung und Taufe aus dem Menschen weggenommen und getilgt werde "totum id, quod veram et propriam peccati rationem habet" - all das, was im eigentlichen Sinne Sünde ist. (Fs)

132b Ein weiterer Akzent wird durch die ebenfalls gegen die reformatorische Position gerichtete Betonung der Notwendigkeit menschlichen Mitwirkens zum Prozeß der Rechtfertigung gesetzt. "Für das sittliche Leben des einzelnen war es doch von weittragender Bedeutung, daß mit der Klarstellung der Rechtfertigungslehre der menschliche Wille nicht als vollkommen unfrei erklärt und die Rechtfertigung nicht ausschließlich als Gnade dargestellt wurde. Dabei erhielt und behielt die Gnade ihren Wert und ihre Würde als zuvorkommende und heiligmachende Gnade, durch die der Mensch aus seiner Passivität herauszutreten und gute Werke zu wirken vermag. Und wenn man in der Erbsündenlehre die Anschauung zurückgewiesen hatte, daß die Erbsünde der Hang zum Bösen sei, so hatte man damit eine generelle Verurteilung der Neigungen und Strebungen des Menschenherzens, die nach dem Calvinismus ausgerottet werden sollten, vermieden. Natur ist nicht schlechthin Sünde. Affekte können auch für sittliche Ideale eingesetzt werden. Hier liegt die Wurzel für die große katholische Kulturleistung des Barock" (H. Tüchle). (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock - Rehabilitation der Sinne; Liturgie; Barockdrama; Ignatius von Loyola



Kurzinhalt: In all den zur Illustration hier angeführten Fällen tritt eins zutage: Die Sinne des Menschen werden hier als die Einfallstore zu seiner innersten Seele verstanden, durch die die Botschaft des Evangeliums eindringen soll.

Textausschnitt: 132c Die hier skizzierte Lehre des Konzils von Trient machte es durch ihre zwar nicht wortwörtlich ausgesprochene, doch aber aus ihr folgende theologische Rehabilitation der Sinne möglich, daß die vielfältigen Formen menschlichen, leiblichen Tuns vor allem in Kult und Kunst ihr strahlenden Ausdruck verliehen. Daß nach der tridentinischen Rechtfertigungslehre der ganze vorher dem Unheil verfallene Mensch durch die Taufe zu einer - so schon Paulus (2 Kor 5,17 und Gal 6,15) - neuen Schöpfung geworden und Gott in Heiligkeit und Gerechtigkeit zu dienen berufen sei, erkannte man als einen Appell, alle geistigen, leiblichen und sinnlichen Kräfte des Menschen der Verwirklichung des einen Zieles und Zweckes der Schöpfung, der "Gloria Dei", dienstbar zu machen. Das bedeutete für Künste und Künstler, daß sie in Gestalt, Linie, Farbe, Wort und Ton die Werke Gottes in Erschaffung und Erlösung zu verkündigen, und dem Glauben, der Anbetung und Hingabe des Menschen sinnenhaften Ausdruck zu verleihen vermochten. (Fs)

133a Allein schon die Architektur des barocken Kirchenbaus wurde durch vielfältige Symbolik, der etwa die Dreizahl der göttlichen Personen, die Vierzahl der Kardinaltugenden, die Siebenzahl der Sakramente oder die Zwölfzahl der Apostel zugrunde lag, zu einer stummen Predigt. In den Figuren der Heiligen wurde überdies dem Beschauer beständig das Beispiel heroischen christlichen Lebens vor Augen gestellt, Altargemälde und die ikonographischen Programme der Fresken erinnerten den Kirchenbesucher an die Szenen aus beiden Testamenten und an die jenseitigen Dinge. Selbst die so makabre Verkleidung von Gruftkapellen mit unzähligen Teilen von Skeletten und die malerische und auch literarische Darstellung von Tod und Verwesung war nichts anderes als ein in der Sprache der Künste ausgesprochenes Memento mori. "Die Kunst Bayerns" - und das läßt sich zweifellos verallgemeinern -"erwächst damals aus der geschlossenen Einheit von Kirche und Welt. So kann sie Schöpfung und Gesellschaft bejahen und in den Dienst Gottes stellen. Alle Pracht dient, auch wo berechtigter Stolz an eigener Leistung und Stellung mitspricht, doch dazu, die Gegenstände des Glaubens schaubar zu machen ... Wissen, Schauen und Glauben waren eins" (S. Benker). (Fs)
Hinzu trat die Gestaltung der Liturgie, die in dem andächtigen Teilnehmer das Bewußtsein von der Größe des sich im eucharistischen Opfer vollziehenden Mysteriums der Erlösung wecken sollte. Vor allem war es der durch das Tridentinum aufs neue bekräftigte Glaube an den "vere realiter et substantialiter" - wahrhaft, wirklich und dem Wesen nach - in der Eucharistie gegenwärtigen Christus, der die Formen des Gottesdienstes prägte: Der feierlichste Gottesdienst war darum die Messe vor dem in der sonnenförmigen prachtvollen Strahlenmonstranz der gläubigen Schau in Gestalt der Hostie dargebotenen Leib des Herrn. Vor ihm taten Klerus und Ministranten einen geradezu höfisch-zeremoniellen Dienst, für den das Schönste und Kostbarste an Gewand, Gerät und Schmuck noch eben genügte. Vermittelte dies dem Auge, so die immer reicher und fülliger werdende Musik dem Ohr, Weihrauch und Blumen dem Geruch einen lebendigen und tiefen Eindruck von der Nähe der göttlichen Majestät, durch den auf dem Weg über alle Sinne des Menschen in dessen Innerem die Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe geweckt und gestützt wurden. In klassischer Form läßt Friedrich von Schiller den jungen Mortimer jenen Eindruck barocker Liturgie in "Maria Stuart" schildern. Merkwürdig und aufschlußreich, wie sehr der Dichter des 19. Jahrhunderts - im Gegensatz zur Geringschätzung des Barocks, die seine Zeit kennzeichnete - das ganz und gar barocke Erleben des Mortimer nachfühlen und ausdrücken konnte. (Fs)

134a Ganz bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind auch die dramatischen Ausgestaltungen der offiziellen Liturgie, besonders an den hohen Festen. Aus dem Bamberger Rituale des bedeutenden Lothar Franz von Schönborn von 1724 ist zum Beispiel die Nachmittagsprozession am Himmelfahrtstage bekannt. Inmitten der Kirche wurde ein Tisch aufgestellt, auf dem zwischen brennenden Kerzen eine Statue des auffahrenden Herrn aufgestellt wurde. Vor ihm knieten Klerus und Ministranten nieder, dann trug man in Prozession die Statue durch die Kirche, während man den Himmelfahrtshymnus "Aeterne Rex" sang. Schließlich kehrte man zu dem Tisch zurück, setzte die Statue dort nieder und sang nach Psalm und Oration im Wechsel mit dem Chor die Antiphon "Ascendo ad Patrem meum et ad Patrem vestrum, Deum meum et Deum vestrum, alleluja" - Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Mittlerweile waren zwei Knaben auf den Dachboden der Kirche gestiegen und sangen, die Engel darstellend, deren Frage an die Jünger: " Viri Galilaei quid aspicitis in caelum?" - Ihr Männer von Galiläa, was schaut ihr zum Himmel hinauf? Ihnen antwortete der Chor: "Hie Jesus, qui assumptus est a vobis in caelum, sic veniet, alleluja!" - Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen! Während man dies dreimal sang, wurde die Statue langsam durch eine Öffnung durch das Kirchendach gezogen. - War sie "den Blicken entschwunden", sang die ganze Gemeinde "Christ fuhr gen Himmel". Und, um die ganze theologische Symbolik auszuschöpfen, warf man von oben (unkonsekrierte) Hostien und goß Wasser hinab: Der Herr hatte die Seinen nur sichtbar verlassen, in den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie blieb er bei ihnen. - Ähnliches vollzog sich an Pfingsten, wo man unter analogen Antiphonen und Gebeten nach dreimaligem "Veni sancte Spiritus" - komm, heiliger Geist - eine Taube von oben hinabließ, mancherorts warf man brennende Watteflocken hinunter, um die feurigen Zungen des Pfingsttags darzustellen. Darstellung, sinnenfällige Darstellung des Mysteriums war auch die Absicht, der die gleichfalls im Zeitalter des Barock zur höchsten künstlerischen Blüte geführten figürlichen Weihnachtskrippe wie auch das "Castrum doloris", das Heilige Grab, dienen sollten. Welches Gewicht all diesen Dingen für das religiöse Leben zukam, erhellt gerade aus der Tatsache, daß den in protestantischen Orten lebenden Katholiken all dies, das Tragen von Rosenkränzen, von Palmzweigen am Palmsonntag, das Aufstellen von Krippe und Heiligem Grab, Prozessionen und dergleichen mehr verboten war, wie wir etwa aus dem Fürstentum Ansbach-Bayreuth wissen. (Fs)

135a Große Bedeutung hatten auch die Prozessionen, in deren Vollzug sich die Gläubigen als streitende und pilgernde Kirche erlebten, die auf dem Weg zum Himmel von Christus in der Monstranz und seinen Heiligen begleitet wurden, deren Statuen man mittrug. Ähnlich verstand man auch die zahlreichen Wallfahrten.

Selbst die Predigt und die erstaunlich zahlreiche und auflagenstarke religiös-erbauliche Literatur dieser Zeit suchte den Zugang zu den Herzen über die Sinne der Hörer und Leser. Daher die Fülle, Farbigkeit und Plastik der Bildersprache der Zeit. So meinte etwa Franz von Sales in seiner "Philothea", alles in der Welt spreche eine stumme, aber wohl verständliche Sprache, es gebe kein Geschöpf, das nicht das Lob Gottes verkünde und zu frommen Gedanken anrege. Das Anschwemmen von Muscheln, Pflanzen und kleinen Austern am Strand ist ihm ein Sinnbild für den hin- und hergetriebenen Menschen, ein Hase, der vor den Hunden flüchtet, stellt die von ihren Feinden verfolgte Seele dar, ein kleines Schäflein erinnert sogleich an das Lamm Gottes, und die dornentragende Rose symbolisiert ihm die durch die Erbsünde verwundete Schöpfung. (Fs)

136a Jeder kennt schließlich die ungemein drastischen und plastischen Vergleiche, mit denen ein Abraham a Santa Clara seine Predigten würzte - und in seinem Gefolge noch viele Prediger des Barock, deren Werke erst jetzt die Germanisten zu interessieren beginnen. (Fs)

In diesem Zusammenhang muß auch das religiös-moralische Barockdrama erwähnt werden, das, namentlich von den Jesuiten und Benediktinern, zu hoher literarischer Blüte geführt wurde. Ganz im Sinne der barocken Neigung zur Allegorese wurden hier Tugenden, Laster, Seelenregungen und jenseitige Mächte personifiziert auf die Bühne gestellt. So sehr zog solches Spiel die Zuschauer in seinen Bann, daß sie oftmals eine aristotelische Katharsis im christlichen Sinne erlebten: Von einer Münchener Aufführung von Jakob Bidermanns berühmtem "Cenodoxus, der Doktor von Paris" wird in der Vorrede zum Druck der Bidermannschen Dramen von 1666 berichtet: "Wiewohl dieses Stück die Lachmuskeln der Zuschauer so in Bewegung versetzte, daß die Stühle in Gefahr gerieten, so machte es doch auf die Zuschauer einen so heilsamen Eindruck, daß man vierzehn derselben, hochgestellte Persönlichkeiten am bayerischen Hof, an den folgenden Tagen sich in die Einsamkeit zurückziehen sah, um Exerzitien zu machen und ihr Leben zu ändern; hundert Predigten hätten keinen solchen Erfolg gehabt. Ja, bei den Schlußszenen, in denen Cenodoxus vor seinem ewigen Richter erscheint, zitterten die meisten Zuschauer an allen Gliedern, als ob sie daselbst gerichtet würden. Der Schauspieler der Hauptrolle trat bald darauf in unsere Gesellschaft ein, worin er nach einigen in Unschuld und Heiligkeit verbrachten Jahren selig starb."

136b Bereits von Ignatius von Loyola wissen wir, daß er in seinen Exerzitien die sogenannte "Applicatio sensuum" - sinnenhafte Vorstellung z.B. der biblischen Begebenheiten - für eine wichtige Vorstufe der religiösen Betrachtung hielt. Bei den Betrachtungen über das Leben Jesu, die normalerweise in der zweiten Woche der Exerzitien anzustellen waren, weist er den Exerzitanten an, so zu beginnen: "Zurichtung des Schauplatzes. Hier schauen die gesamte Weite des Erdenrundes, auf dem so viele und so verschiedenartige Völker wohnen; und nachher im besondern das Haus und die Zimmer Unserer Herrin in der Stadt Nazareth in der Provinz Galiläa ... Der erste Punkt ist: sehen die Personen, die einen und die andern. Und zuerst die über dem Erdkreis, in so großer Verschiedenheit der Tracht wie des Benehmens, die einen weiß und die andern schwarz, die einen im Frieden und die andern im Krieg, die einen weinend und die andern lachend, die einen gesund und die andern krank, die einen geboren werdend, die andern sterbend usf. Zweitens: sehen und erwägen die drei Personen auf Ihrem Königsstuhl oder Thron Seiner Göttlichen Majestät, wie Sie das ganze Erdenrund überblicken und alle Völker in so großer Blindheit dahinleben und sterben und zur Hölle fahren sehen." Bedenkt man nun, welch ungeheure Verbreitung das Exerzitienbüchlein hatte - bis zum Ende des Jesuitenordens im Jahre 1773 wurden mehr als sechshundert Kommentare dazu geschrieben -, dann ist zu ermessen, wie sehr hieraus der Geist einer Zeit sprach - und wie sehr der Geist des Barock dadurch wiederum geformt wurde. (Fs)

137a In all den zur Illustration hier angeführten Fällen tritt eins zutage: Die Sinne des Menschen werden hier als die Einfallstore zu seiner innersten Seele verstanden, durch die die Botschaft des Evangeliums eindringen soll. Das hinwiederum ist deshalb möglich, weil die Welt, deren Vielfalt, Glanz und Schönheit die Sinne wahrnahmen, dem Menschen des Barock ein Abglanz der himmlischen Herrlichkeit war. (Fs) (notabene)

137b Dienten so die bislang oft mit religiösem Mißtrauen betrachteten Sinne des Menschen als Organe zur Aufnahme und inneren Aneignung des Evangeliums, so kam ihnen, dem Leib des Menschen überhaupt, auch die Funktion zu, dem Inneren, dem Glauben, Hoffen und Lieben des Christen, Ausdruck zu verleihen. Dabei ergab sich eine dem elektromagnetischen Rückkopplungseffekt analoge Wirkung: Was solchermaßen an seelischen Vorgängen sinnenhaften Ausdruck fand, strömte durch die gleichen Tore, aus denen es geflossen war, zurück, der Quelle neue Nahrung zuführend. (Fs)

Anbetung äußerte sich demnach im körperlichen Vollzug kultischer Formen - in Verneigung und Kniebeugung, im prunkvollen Schmuck, mit dem man die als Königsthron Christi verstandene Monstranz umgab. Die Inständigkeit der Bitte drängte spontan zum Niederwerfen vor dem Altar oder dem Bild des Heiligen, von dem man Fürsprache bei Gott erbat. Buße, Schmerz über die Sünde wollten im sinnlichen, fühlbaren Schmerz realisiert werden: Bußgürtel, Geißelung, Tragen schwerer Kreuze oder schäbiger Kleidung dienten als Mittel, sie auszudrücken. Die innere Verbindung mit der Gottesmutter Maria sollte durch das Tragen von Rosenkränzen, Medaillen, Skapulieren öffentlich sichtbar werden. (Fs)

138a Diese in all den als Beispiel angeführten Fällen bewußt-unbewußt verwirklichte Einbeziehung von Leib und Sinnen des Menschen in den Heilsprozeß bedeutete nun nicht nur eine lebensvolle Konkretisierung des Glaubens, sie hatte zugleich eine Heiligung der sinnlichen Sphäre zur Folge. Was hier sichtbar wird, ist eine spannungsreiche Harmonie von Leib und Geist im Menschen, wie sie in je gewandelter Form zu jeder Zeit Aufgabe menschlicher und christlicher Selbstverwirklichung bleibt. (Fs)

138b Aus der so möglichen Tiefe des Erlebens konnte sich auch eine Szene wie die folgende ereignen: Soeben mit dem Doktorhut der philosophischen Fakultät in Ingolstadt ausgezeichnet, ging der etwa zwanzigjährige Elsässer Jakob Bälde an einem Abend des Jahres 1624 durch die Gassen der Universitätsstadt. Sein Ziel: das Haus des Bäckermeisters Dolnhover, dessen Tochter er verehrt. Unter ihrem Fenster singt und spielt er seine Serenade. Doch statt einer Antwort schlägt's Mitternacht von den Türmen, und vom nahen Kloster Gnadental weht der Wind die Klänge der beginnenden Matutin. Da packt es den leicht bewegbaren Elsässer: "Cantatum satis est: frangito barbiton! - Schluß mit den Liedern: Zum Teufel mit der Laute!" ruft er, zerschmettert die Laute an der Wand des Hauses - und ward am nächsten Morgen Jesuit. Spontaneruption einer barocken Kraftnatur! Sie ließ ihn später acht Bände bedeutender Lyrik hervorbringen, bis er 1668 starb. In solchen Gestalten wie jenem großen Jesuitendichter wird sichtbar, wie sehr in dieser Zeit Geistigkeit und Vitalität sich zu schöpferischer Harmonie gefügt hatten. B. Hubensteiner charakterisiert Baldes Werk mit einer Formulierung Eliots: "ein unmittelbar sinnliches Ergreifen des Denkens oder ein Umschaffen des Denkens zum Fühlen". (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock, Leib und Geist - Auflösung; Aristoteles: "Anima forma corporis" - Descartes: "res extensae"; Arnold Geulincx




Kurzinhalt: Während noch die barocke Kultur sich in voller Blüte entfaltete, schrieb Descartes sein epochemachendes "Cogito ergo sum" nieder, mit dem dann auch die Aufteilung der Wirklichkeit in die "res cogitans" und die "res extensae" gegeben war.

Textausschnitt: 138c Einst hatte Aristoteles in kritischer Wendung gegen Platons Lehre vom Ansichsein der Ideen die konkrete Welt und ihre Einzeldinge als Ganzheiten aus Form und Materie begriffen - wir bezeichnen diese Auffassung als Hylemorphismus. In der Scholastik des Mittelalters wurde nun für die Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Leib des Menschen mit der Lehre von der "Anima forma corporis" - die Seele ist das Gestaltprinzip des Leibes - die unmittelbare Konsequenz aus dem Hylemorphismus des Aristoteles gezogen. Jene Auffassung also, die Geist und Leib als sich gegenseitig bedingende und sich gegenseitig durchdringende "Teile" eines Ganzen erkennt. Eben diese Lehre ergriff nun, von dem spanischen Jesuiten Franz Suarez schöpferisch weitergeführt, aufs neue die hohen Schulen Europas. Ein erstaunliches Phänomen, daß die "Disputationes metaphysicae" des Jesuiten schon kurz nach ihrem Erscheinen im Jahre 1597 als Lehrbuch auch an protestantischen Universitäten eingeführt wurden! Es wäre verwunderlich, wenn von hier aus nicht entscheidende Impulse auf die gesamte Barockkultur ausgegangen wären: Auch im protestantischen Bereich war jedenfalls der wohl gerade wegen der religiös nicht integrierten massiven Sinnenhaftigkeit des Menschen Luthers metaphysik- und - vergröbernd gesagt - naturfeindlicher Ansatz seiner Theologie damit überwunden. In der "Anima-forma-corporis"-Lehre der neu entdeckten Scholastik hatte die barocke Gesamtschau von Leib und Geist, von Sinnenhaftigkeit und Rationalität und das Erlebnis ihrer Einheit ihren philosophischen Grund. (Fs)

139a Wenn nun eine die Einheit von beiden betonende philosophische Erkenntnis des Verhältnisses von Leib und Geist im Menschen eine in der Harmonie von Geist und Leib wurzelnde Kultur hervorbringen konnte, so liegt der Schluß doch nahe, daß eine Philosophie, die jene früher verteidigte Einheit in Frage stellte, auch einen Wandel in Geistigkeit und Kultur zur Folge haben mußte. (Fs) (notabene)

139b Während noch die barocke Kultur sich in voller Blüte entfaltete, schrieb Descartes sein epochemachendes "Cogito ergo sum" nieder, mit dem dann auch die Aufteilung der Wirklichkeit in die "res cogitans" und die "res extensae" gegeben war. Das hatte seine Konsequenzen für die Darstellung des Verhältnisses von Leib und Seele: "Es ist demnach dieses Ich, das heißt die Seele, durch die ich bin was ich bin, von meinem Körper gänzlich verschieden ... und wenn es gleich keinen Körper gäbe, so würde sie doch genau das bleiben, was sie ist." Beide, Geist und Leib, "res cogitans" und "res extensa", sind voneinander geschieden, und es ist eine von Descartes selber erkannte Aporie, daß die beiden trotzdem miteinander zu tun haben: Die Zirbeldrüse, dachte er, sei der Ort, wo die Seele auf den Körper wirksam werde. (Fs) (notabene)

140a In der Folge meinte Johannes Clauberg (1622-1665), den Ansatz Descartes' weiterführend, es sei aus dem Begriff der "res cogitans" und der "res extensa" nicht ersichtlich, wie sie aufeinander wirken könnten. Wenn zwischen beiden dennoch ein Verhältnis bestehe, wie das zwischen dem Steuermann und seinem Schiff, so darin nur deswegen, weil Gott es so gewollt habe. Von einem wesensgemäßen Aufeinander-hingeordnet- und -verwiesen-Sein ist also keine Rede mehr. (Fs)
Noch weiter in der seinsmäßigen Trennung von Leib und Seele geht der Hauptvertreter des sogenannten Occasionalismus, der Holländer Arnold Geulincx (1624-1669): Selbst die Wahrnehmung der Sinne beruhe nicht mehr auf seinsmäßiger Verbundenheit von Leib und Seele: "Die Welt bringt das Bild an meinen Körper heran und legt es dort ab, die Kraft aber, welche es von dort weiter nach innen in mein Selbst, in meinen Geist hineingelangen läßt, ist die Gottheit". (Fs)

140b Diesen Philosophen zufolge existieren Leib und Seele nebeneinander her, und nur Gott selber bewirkt durch jeweiliges Eingreifen, daß zwischen geistigen und körperlichen Phänomenen zwar ein tatsächlicher Parallelismus, nicht jedoch ein Wesenszusammenhang bestehe. Leibniz meint, daß dies aufgrund einer von ihm sogenannten prästabilierten (also keineswegs im Wesen des Menschen begründeten) Harmonie geschehe. Die Kluft zwischen Leib und Seele, zwischen Sinnlichkeit und Intellektualität, war philosophisch aufgerissen. (Fs) (notabene)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock - Bruch der Harmonie; Hexenwahn; Rokoko ( "cavaliere servente")

Kurzinhalt: Kurzum - die aus der Einbindung in die großen Zusammenhänge von natürlicher und göttlicher Wahrheit und Weltordnung herausgelöste und isolierte Sinnlichkeit war, ihrer Hinordnung auf das Ganze beraubt, sich selbst und damit der Dekadenz preisgegeben.

Textausschnitt: 140c Von der Formulierung einer philosophischen Meinung bis zu deren Wirksamwerden in Kultur und Gesellschaft ist freilich ein weiter Weg. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß ein Keim der Spaltung in der barocken Harmonie selber bereitlag. In einer hinreißend großartigen Schau hatte der Mensch des Barock Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Göttliches und Menschliches, Kirche und Welt, Wissenschaft, Technik und Glauben als harmonische Bestandteile des einen gewaltigen, alles umfassenden von Gott ausgegangenen und zu Gott hinstrebenden Kosmos des Seins erblickt, und an sich selbst in der Einheit von Leib und Geist, von Natur und Gnade erlebt. (Fs)

141a War aber die Spannweite der so zur Harmonie gebrachten Gegensätze nicht zu gewaltig und umfassend, als daß der Mensch sie für länger als die Dauer einer historischen Sternstunde meistern konnte? So hatte denn auch der Konflikt zwischen dem Geistigen, der Wahrheit, und dem Psychisch-Unterschwelligen im barocken Menschen nur in kurzen Kampfespausen geruht. Ein Beispiel nur: Wir stehen heute noch oft vergeblich um Verständnis bemüht vor dem Phänomen der Hexenprozesse. Es war wohl auch das Erleben der Unheilsjahre des Dreißigjährigen Krieges gewesen, das jene Tiefen der Volksseele aufzuwühlen vermochte, in denen noch vorchristliche Dämonenangst geschlummert hatte. Allzu leicht und allzu schnell war damals auch die geistige Elite der Zeit bereit gewesen, die durch Bibel und Kirchenlehre immer festgehaltene Möglichkeit teuflischer Einwirkung auf den Menschen im konkreten Fall als Tatsache anzunehmen. So schüttelte der keineswegs auf katholisches Milieu beschränkte Hexenwahn die barocke Gesellschaft wie ein Fieber. Erst in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wich es zurück. (Fs) (notabene)

141b Was trotz intensivster seelsorglicher Bemühungen, durch ungezählte religiös-theologische Schriften, durch oberhirtliche ebenso wie durch landesherrliche Verordnungen nie vollständig auszurotten war, war auch der Aberglaube der breiteren Volksschichten. Gerade dort, wo Himmlisches und Irdisches, Geistiges und Materielles, Rationalität und Sinnenhaftigkeit einander am intensivsten durchdringen - bei Sakramenten und Sakramentalien -, konnte er sich am leichtesten einnisten. Immer wieder begegnen denn auch Klagen über sakrilegischen Gebrauch bzw. abergläubisches Verständnis von Weihwasser, Palm- und Kräuterbüscheln, Lichtmeßkerzen und Stallsegen ... Das Preisgegebensein an Krankheit und Schmerz, an unabwendbare Armut und die Abhängigkeit von der Witterung veranlaßten keineswegs nur das Gebet um Gottes Hilfe und die Fürsprache der Heiligen, sondern auch den Versuch, durch magische Praktiken das Schicksal zu zwingen. Durch all diese Erscheinungen, die doch wohl als ein Aufbegehren des dumpfen Ungeistigen, irgendwie auch Sinnlichen, gegen den Geist zu verstehen sind, war das Gleichgewicht der barocken Universalharmonie beständig bedroht. (Fs)

142a So mag der barocke Mensch am Ende der ständigen existentiellen Anspannung müde, für die dualistischen Ideen des Descartes'schen Rationalismus reif geworden sein, so daß sie, unreflektiert hinsichtlich ihrer Konsequenzen, in den Lebensvollzug übergehen, Kultur und Gesellschaft bestimmen konnten. Zwar erlebte das Kirchenrokoko 1740 bis 1760 seinen Gipfel und seine Vollendung, danach trat - so Hubensteiner - Erstarren und Verfließen ein. Aber dies war ein Aufleuchten letzten Glanzes vor dem Verlöschen, das der noch lebendigen Glaubenskraft des Barock zu danken war, auf dessen Pathos, Ernst und Schwere erste rationale Helle fiel. Doch gilt das wohl nur vom deutschsprachigen Raum: In Frankreich etwa hatte schon das Ende des Grand siecle das aufklärerische Rokoko heraufgeführt. (Fs)

142b Hatte der philosophische Rationalismus die Vernunft verabsolutiert, so wird in diesem eine andere, zum Teil parallel verlaufende Entwicklung sichtbar, die eine Art Isolierung des Sinnlichen vom Geist mit sich brachte. Von ihr meint Egon Friedell, das Rokoko sei im Gegensatz zum Barock ein zersetzender Stil, der, rein malerisch und dekorativ, spielerisch und ornamental die bisherigen großen Formen sich in aparte Fäulnis auflösen lasse. Müde, gedämpft, anämisch und prononciert feminin nennt er das Rokoko, diesen Decadence-Stil schlechthin. Raffiniert bis zum Paroxysmus gesteigertes Genießenwollen verrät doch jene Dame, die ein köstliches Fruchteis aß und dazu meinte: "Wie schade, daß es keine Sünde ist!" So gehörte denn auch die frivolste und häufig perverse Zerstörung der Ehe durch selbst im Ehevertrag ausbedungene Liebhaber, den italienischen "cavaliere servente", der in Frankreich "le petit maitre" hieß, zum sogenannten guten Ton, und Ehemänner, die sich keine Mätressen hielten, wurden verspottet. Der Glanz, der vom Rokoko "ausströmt, ist die Phosphoreszenz der Verwesung". Das ist natürlich nicht das ganze Rokoko. (Fs)

Eine ähnliche Dekadenz stellen wir auch in den Äußerungen der Frömmigkeit fest, sofern sie sich von der Tagesmode beeinflußbar zeigten. Allzusehr schmachtete, seufzte, zerfloß man in Lied- und Gebetstexten, so daß man etwa den hl. Aloysius ansang: "Gonzaga! Schwing mit Eil' auf mich den Liebespfeil und gieße in mein Blut die Seraphinenglut!" Abgeschmackt wirken auch die besonders im Pietismus üblichen, von Blut und Wunden in makabren Details sprechenden Lieder. Umgekehrt wurde man wieder spielerisch, wenn man ein Kreuzweglied begann: "Komm, Sünder, mach dich auf und geh mit mir spazieren ..." (volkstümlich im Oberfränkischen). (Fs)

143a Kurzum - die aus der Einbindung in die großen Zusammenhänge von natürlicher und göttlicher Wahrheit und Weltordnung herausgelöste und isolierte Sinnlichkeit war, ihrer Hinordnung auf das Ganze beraubt, sich selbst und damit der Dekadenz preisgegeben. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock - Protest der Vernunft; Verbot: Wallfahrten, Kippen, Prozessionen

Kurzinhalt: Fürsten und Bischöfe verboten Wallfahrten, Flurumritte, Prozessionen. Eine große Anzahl von Feiertagen wurde abgeschafft, sogar das Wetterläuten, die Aufstellung von Weihnachtskrippen untersagt. All dies ließ sich ja nicht mit den Kategorien der ...

Textausschnitt: 143b Das nun einmal verlorene Gleichgewicht war aber nicht wiederzugewinnen. Denn, in dem Maße, als gegen die Entartung des Rokoko im Namen der Vernunft Protest erhoben wurde, isolierte, verabsolutierte man die Ratio, den Intellekt und vergaß, daß der Mensch auch ein Sinnenwesen, mit Gefühlen und Gemüt begabt ist. (Fs)

Im Namen der Vernunft - die man in Gestalt einer Schauspielerin bald im Paris der Revolutionsjahre als Göttin auf den Altar erheben sollte - wurde nunmehr ein erbitterter, leidenschaftlicher Kampf gegen die überkommenen Formen kirchlichen, religiösen und künstlerischen Lebens geführt. Fürsten und Bischöfe verboten Wallfahrten, Flurumritte, Prozessionen. Eine große Anzahl von Feiertagen wurde abgeschafft, sogar das Wetterläuten, die Aufstellung von Weihnachtskrippen untersagt. All dies ließ sich ja nicht mit den Kategorien der Vernunft rechtfertigen. Hart verfuhr man auch mit den Texten von Kirchenliedern und Gebeten. Gewiß, hier war, wie erwähnt, manches reformbedürftig. Aber, viel besser als das Abgeschaffte war das Neue nicht. Ein Beispiel etwa: "Ich glaube, Gott, mit Zuversicht, was Jesus Christus lehret. Er kam und sprach: Es werde Licht! Da ward es aufgekläret!" Und, noch schlimmer: "Drum laßt uns klüger seyn und itzt schon thun, macht es gleichwohl Beschwerden, was wir, wo's Wünschen nichts mehr nützt, gethan zu haben wünschen werden!" (notabene)

143c Es ging also um "vernünftige" Religion, um Tugendhaftigkeit, um zweckmäßiges Verhalten. Auch der Gottesdienst, die Spendung der Sakramente hatten diesem Ziel zu dienen: Und unter diesen Umständen spielte die Belehrung hierbei die Hauptrolle. "Gebet, Gesang, die Verwaltung der hl. Sakramente, kirchliche Ceremonien, die von Zeit zu Zeit verordneten Andachtsübungen, die Segnungen und alle anderen Religionshandlungen haben die allgemeine und notwendige Absicht: den Verstand der versammelten Christen mit neuen Religionskenntnissen zu bereichern oder den schon erworbenen mehr Deutlichkeit und Lebhaftigkeit zu vermitteln" (L. Busch, Liturgischer Versuch, 1810). Welch ein Kontrast zu dem mit Aufbietung aller Künste vor der Majestät Gottes vollzogenen Hofzeremoniell der barocken Liturgie. (Fs)

144a Was man nun pries, waren "edle Einfalt und stille Größe", die Winkelmann bei den antiken Griechen verwirklicht fand (1755). Als die Katholiken in der protestantischen Residenz Ansbach sich ein Oratorium hatten bauen dürfen, rühmte man es: "... es herrschen daselbst nicht die sonst in katholischen Kirchen bis zum Überfluß angebrachten Verzierungen, sondern eine edle, die Andacht erwek-kende Simplizität und Reinheit". (Fs)

144b Hand in Hand damit ging die Tendenz, die Vernunft des Menschen zum Maßstab für die Glaubenswahrheiten zu machen. Was daran nicht "vernünftig" schien, wurde unterdrückt, bekämpft, verschwiegen, uminterpretiert. So etwa erschien der Tod Jesu nicht mehr als das Erlösungsopfer für die Welt, sondern als Tugendbeispiel für das Ertragen ungerecht zugefügten Leides. Indem man aber die Ratio zum Kriterium dafür machte, was wahr sei, hatte man den Generalangriff auf die Offenbarungsreligion überhaupt eröffnet. Es sei hier nur auf die bekannten Wolfenbütteler Fragmente verwiesen, in denen die Auferstehung Christi als Betrugsmanöver der Jünger dargestellt wird. (Fs)

144c Nun, es darf natürlich nicht verschwiegen werden, daß der Einfluß der Aufklärung sich nicht überall im gleichen Maße auswirkte. Im katholischen Deutschland, vor allem in Franken, wurde die herrschende Zeitströmung stark abgeschwächt und im wesentlichen ihres negativen Charakters entkleidet, so daß ihre wohltuenden Auswirkungen auf Theologie, Frömmigkeitsleben, Pastoral, Erziehungswesen und Armenfürsorge sich im Rahmen einer ungebrochenen kirchlichen Gläubigkeit entfalten konnten. Die Lebens- und Wirklichkeitsnähe des einfachen, mit intellektuellen Kategorien nicht zu fassenden Volkes machte sich als Korrektiv heilsam bemerkbar. Das hinderte jedoch nicht, daß im Jahre 1802/03 die aufgeklärte pfalzbayerische Bürokratie des Grafen Montgelas sich in einem Exzeß der Vernichtungswut an Kirchen und Klöstern austobte und unersetzliche Meisterwerke barocker Kunst in Trümmer legte, in denen man nichts anderes als abscheuliche Relikte des finsteren Aberglaubens erblickte. Die Antwort des Volkes war eindeutig. Es sang von Montgelas:

"Er stürzt Kirchen, raubt Altäre,
Glocken, Wachs und Opferstöck,
Wenn es auch ein Kreuzer wäre,
Meßgewand, Alben und Chorröck.

Mehr als Ketzer, Türk und Heide
Stürzet er das Priestertum,
ziehet aus das Ordenkleide
Und entehrt das Heiligtum.

Wegen wenig goldne Borten
Muß der Leichnam vom Altar
Zu gemeinen Grabesorten,
Der allda verehret war.

So tut nicht Franzos und Schwede,
Auf gesamtes Frankenland!
Greift zur Waffe, seid nicht spröde,
Würgt ihn mit gerechter Hand."

145a In diesen Äußerungen, deren es noch viele gibt, manifestiert sich der Protest der durch die Unterdrückung der Sinne im tiefsten verletzten menschlichen Natur. (Fs)

156b Der notwendigerweise bruchstückhafte Überblick über das wechselnde Geschick des Verhältnisses von Sinnenhaftigkeit und Intellektualität des Menschen in seinen kultur- und kirchengeschichtlichen Erscheinungsformen im Zeitalter des Barock muß hier abgeschlossen werden. Nicht abgeschlossen ist dieses so spannungs- und wechselreiche Verhältnis selbst. Es stellt sich wie jeder Epoche auch der unseren als eine je neu zu bewältigende Aufgabe. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche am Vorabend der Französischen Revolution; Ancien Regime: 5 Typen religiöser Haltung; Fundamentalismus

Kurzinhalt: Die apologetischen Schriftsteller argumentieren nämlich nur systemimmanent: z. B. Unglaube ist Beleidigung des Gottes, der die Wahrheit und Liebe ist. So aber konnte man doch nur zu Gläubigen sprechen.

Textausschnitt: 146a Eine fast unumgängliche Frage, die jeder sich stellen muß, der über Gegenwart und Zukunftsaufgaben der Kirche reflektiert und über die Neuevangelisierung Europas nachdenkt, heißt: Hat es Ähnliches schon einmal gegeben? Ebenso natürlich wie die Frage ist die Antwort: Selbstverständlich! Und zwar mehrfach. Einmal ging es zu Beginn des Mittelalters darum, auf den Resten römischen Christentums in Gallien, Britannien und Germanien die Kirche neu aufzubauen. Sodann hat die Reformation in Zentraleuropa einen kirchlichen Trümmerhaufen hinterlassen, den es wieder aufzubauen galt - und schließlich stellte die von Aufklärung und französischer Revolution bewirkte Entchristlichung vor allem Frankreichs die Kirche vor die Aufgabe einer Neuevangelisierung. (Fs)

Wir begnügen uns hier damit, den letztgenannten Fall näher zu untersuchen. Dies vor allem deswegen, weil die geistes-, gesell-schafts- und kulturgeschichtlichen Verhältnisse von heute im Wesentlichen noch immer von den Ereignissen von 1789 geprägt sind und geradezu deren mittlerweile zur Vollreife gelangte Frucht darstellen. Natürlich ist dabei zu berücksichtigen, daß es zwar "nichts Neues unter der Sonne" gibt, daß aber auch Geschichte sich nicht wiederholt. So einfach lassen sich historische Parallelen nicht konstruieren. Dennoch bringt es immer Gewinn, bei der Geschichte, der großen "Magistra vitae", in die Schule zu gehen. (Fs)

Gehen wir also unsere Aufgabe in mehreren Schritten an. Zunächst gilt es zu fragen, welches Bild die Kirche in Frankreich am Vorabend der Revolution bot, sodann ist zu zeigen, wie die Revolution gegen Kirche und Religion verfuhr und welchen Erfolg sie damit erzielte, und schließlich ist die Rechristianisierung Frankreichs darzustellen und zu fragen, welche Faktoren hierbei wirksam waren und was sie zu bewirken vermochten. Endlich wäre danach zu fragen, welche Anregungen bzw. Erkenntnisse sich daraus für heute ergeben könnten. (Fs)

Die Ecclesia Gallicana am Vorabend des 14. Juli 1789

147a Begnügen wir uns mit knappsten Informationen: Frankreich zählte ca. 26 Millionen Einwohner, davon waren 500000 Protestanten und 40000 Juden. Die 25,5 Millionen Katholiken lebten in 139 Bistümern und ca. 40000 Pfarreien. Sie wurden von ca. 50000 Seelsorgepriestern pastoral versorgt, daneben gab es ca. 15000-18000 Kanoniker, ca. 20000 männliche und 30.-40000 weibliche Ordensleute. Die Kirche besaß ca. 10 Prozent von Grund und Boden, die ein Jahreseinkommen von 150 Millionen Livres abwarfen, die gleiche Summe ergab der Zehnt. An den Staat wurden davon freiwillig 2 Prozent abgeführt. Von diesem Einkommen bestritt die Kirche das gesamte Bildungswesen sowie die gesamte Sozialfürsorge. Das bedeutete eine institutionelle Durchdringung des ganzen Lebens mit kirchlichen Elementen. Soweit der institutionell-gesellschaftliche Befund. (Fs)

Wie aber verhielt sich das Volk zu Glaube und Kirche? Jean de Viguerie unterscheidet fünf Typen religiöser Haltung während des Ancien Regime:

1. Die aufgeklärten Gegner der Religion aus den Kreisen der Intellektuellen, Künstler, Kaufleute und Beamten. (Fs)
2. Die aufgeklärten Katholiken: die einen tendierten zum Deismus, die anderen bekämpften nur gewisse ihnen suspekte Formen der Frömmigkeit. Beide sind häufig in Klöstern zu finden: insbesondere bei den Oratorianern und den Benediktinern von Saint-Vanne bzw. den Maurinern. (Fs)
3. Die immer noch zahlreichen Jansenisten: Sie übten bittere Kritik an allen, die nicht ihrer Meinung waren. (Fs)
4. Die praktizierenden Gläubigen mit wenig tiefer Überzeugung und laxer Moral. Und endlich
5. die gewissenhaften, frommen Katholiken - sie stellten die weitaus größte Zahl! Sie finden sich in allen Milieus, weniger in der Geschäfts- und Finanzwelt. Zahllos sind sie auf dem Land sowie im Klerus und in den Klöstern. Sie werden von den Aufklärern ebenso bekämpft wie von den Jansenisten. Ihre Haltung wird von den Aufklärern "Fanatisme" genannt. (Fs)

148a De Viguerie resümiert: Bischöfe und Pfarrklerus waren wie zuvor tugendhaft und pflichteifrig. Aber die Situation verschlechterte sich durch die aufklärerische Propaganda gegen die Religion und durch das geistige Unvermögen der Katholiken zu einer adäquaten Antwort. Die apologetischen Schriftsteller argumentieren nämlich nur systemimmanent: z. B. Unglaube ist Beleidigung des Gottes, der die Wahrheit und Liebe ist. So aber konnte man doch nur zu Gläubigen sprechen. Zu einer Auseinandersetzung mit den Ungläubigen erwies man sich als unfähig! Man redete auf verschiedenen Ebenen aneinander vorbei. Insofern ist der Vorwurf des Fanatismus, den Aufklärer gegenüber den Gläubigen erhoben, zu verstehen. Wir stehen also vor dem Phänomen eines sehr lebendigen, starken und das Leben prägenden Glaubens, der freilich, weil nicht mehr selbstkritisch reflektiert, nicht in der Lage war, jedermann "Rechenschaft über die Hoffnung" zu geben, die ihn beseelte. Der Rückgriff auf die Theodizee der großen Scholastik wäre imstande gewesen, diese Aufgabe zu leisten: Ein Beweis für die Notwendigkeit seriöser intellektueller Bemühungen um die Glaubensbegründung und die Gefährlichkeit des Rückzugs auf die bloße Frömmigkeit! Hier konnte man vielleicht mit Recht von "Fundamentalismus" sprechen. (Fs) (notabene)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Französischen Revolution - Kirche, Folgen, Zahlen; Neubeginn, Konkordat (1800)

Kurzinhalt: Sie starben unter erbaulichsten Umständen in dem Bewußtsein ihres Martyriums. "Fanatiker", sagte Voltaire, "verdienen keine Toleranz" (Viguerie) ... Einwurzelung der Kirche in einem nicht mehr christlich begründeten und legitimierten Staatswesen ...

Textausschnitt: 148b Über diese - natürlich nur grob skizzierte - Kirche brach also die Revolution herein. Von der schon erwähnten antireligiösen, zum Teil haßerfüllten Propaganda der Aufklärer abgesehen, waren es mehrere Maßnahmen, mit denen die Revolution Glauben und Kirche auszurotten gedachte:
1. Die Verstaatlichung und der darauffolgende Verkauf des gesamten kirchlichen Besitzes. Die Käufer wurden so zu interessierten, weil betroffenen Gegnern der Kirche. In der Nacht auf den 4. August 1789 - der sog. Opfernacht - verzichtete der Klerus in der Nationalversammlung auf seine Standesprivilegien, und am 2. November erfolgte die Konfiskation des gesamten kirchlichen Besitzes. Damit waren die Grundlagen für die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche zerstört. (Fs)

2. Die Zivilkonstitution des Klerus vom 12. Juli 1790, die durch eine völlige Neuorganisation der Bistumsstruktur und der Pfarreien - 4000 wurden überhaupt aufgehoben - Entwurzelung der Gläubigen bewirkte. Darüber hinaus schuf man durch die Eidesforderung praktisch eine schismatische neue Kirche und damit einen verheerenden Zwiespalt im Klerus und unter den Gläubigen. (Fs)

149a
3. Es folgt die Vernichtung der Orden innerhalb von eineinhalb Jahren (1791/92), womit auch die weiten pastoralen Einflußbereiche der Klöster zerstört werden. Abfälle von Ordensleuten gab es in Paris, in der Provinz waren sie verschwindende Ausnahmen. (Fs)

4. Ächtung und Verfolgung der "Refractaires", der Eidverweigerer
: Nur ca. 10 Prozent der Priester bleiben im Untergrund für die Sakramentenspendung erreichbar. (Fs)

5. Schließung und Verwüstung der Kirchen: 1793-94 sind alle Kirchen geschlossen, alle materiellen Voraussetzungen für den Kult vernichtet. (Fs)

6. Die Einführung des revolutionären Kalenders mit Abschaffung des Sonntags erfaßt nun auch die Zeit-Dimension des Religiösen. (Fs)

7. Ehe und Familie werden entsakralisiert durch Zivilehe und Scheidung. (Fs)
8. Eine Antizölibatskampagne kommt hinzu, um den Klerus weithin außer Gefecht zu setzen. (Fs)

Das entscheidende Kriterium war das Verhalten gegenüber dem Eid auf die Zivilkonstitution des Klerus und dessen Folge, der schismatischen Kirche. Zunächst ist dabei vom Klerus zu sprechen. (Fs)

Die eigentliche Entscheidung mußte getroffen werden, nachdem Pius VI. nach langem Zuwarten die Leistung des Eides auf die Zivilkonstitution verworfen hatte, was im Frühjahr 1791 geschehen war. Ergebnis war, daß ca. 52-53 Prozent im Durchschnitt den Eid verweigerten und damit ihre Treue zu Papst und Kirche unter schwersten Repressalien zum Ausdruck brachten. Dabei darf nicht übersehen werden, daß auch die den Eid leistenden Priester keineswegs in der Mehrzahl aus unehrenhaften Motiven gehandelt haben. Fay resümiert wie folgt: "Endlich erhoben sich, trotz der Jakobinerklubs, der eingesetzten Obrigkeiten und der Zeitungen, von einem Ende des Landes bis zum anderen, mehr als die Hälfte der Geistlichkeit, die Bischöfe und die große Masse der frommen Katholiken gegen die Zivilkonstitution des Klerus und gegen die brutalen Maßnahmen, die man ergriffen hatte, um sie ihnen aufzuzwingen. Es entwickelte sich quer durch das Land zwischen den Jakobinern und der Elite der Gläubigen in den meisten Städten, Marktflecken und Dörfern ein immer schärfer werdender Kampf. Die einen versäumten nichts, um die neue schismatische Kirche, sei es auch mit Gewalt, einzurichten, während die treuen Katholiken in Begeisterung, Verschwiegenheit und erfinderischem Heroismus wetteiferten, um den Gottesdienst trotz der nun beginnenden Verfolgungen aufrecht zu erhalten."
150a Es entwickelte sich ungeachtet zahlreicher überzeugender Martyrien eine regelrechte Untergrundkirche, die Priester und Gläubige unter Lebensgefahr am Leben erhielten. Ihre Maximen wurden auf Tausenden von Zetteln verbreitet. Sie lauteten:

Gehorche den Menschen - zuerst aber Gott.
Bekenne einen Glauben - den von Rom allein.
Unterwirf dich dem Papst und gleichermaßen dem Bischof
In ihnen allein erkenne die Kirche und ihre Hirten.
Den wahren Hirten sei unerschütterlich zugetan.
Von ihnen allein empfange Lehre und Sakramente.
Fliehe Messe und Predigt der Schismatiker. (Fs)

150b Nun brach mit den Septembermorden 1792 die große Katholikenverfolgung los. In ihrem Verlauf fiel etwa die Hälfte der Priester ab, die den Verfassungseid geleistet hatten. Von den übrigen bezahlten mehr als tausend ihre Treue mit dem Leben. Das gilt auch für die Gläubigen, die ebenfalls viele Märtyrer aufwiesen. Unter ihnen war - um nur ein Beispiel zu nennen - eine Mutter, die man zur Guillotine schleppte, weil sie ihren Sohn, der Priester war, aufgenommen hatte. Sie starben unter erbaulichsten Umständen in dem Bewußtsein ihres Martyriums. "Fanatiker", sagte Voltaire, "verdienen keine Toleranz" (Viguerie). (Fs)

150c Dessen ungeachtet muß durchaus von einem Erfolg der Ent-christlichung durch die Revolution gesprochen werden. Nach dem Aufhören der Verfolgungen ergibt sich folgendes Bild: Ein Drittel der Bevölkerung praktiziert nicht mehr - und das im günstigen Fall. Es gibt Gegenden, wo der Einbruch noch wesentlich tiefer geht. Der Nuntius in Paris schreibt 1826: Mehr als die Hälfte der Franzosen befindet sich in vollkommener Unwissenheit über ihre Pflichten als Christen und lebt in Gleichgültigkeit dahin. Es ist fraglich, ob in ganz Paris noch 10000 praktizieren. (Fs)

Neubeginn kirchlichen Lebens

151a Nun aber ist jener Prozeß darzustellen und zu analysieren, der zur Neuevangelisierung Frankreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt hat. Dabei sind zwei wichtige Etappen zu unterscheiden: Jene unter Napoleon und die der bourbonischen Restauration. (Fs)

151b Es zeugt vom staatsmännischen Genie Napoleons, daß er nach dem Sturz des "Directoire" Anfang November 1799 die antireligiösen Verfolgungsmaßnahmen zusehends beendete und auf eine Neuregelung des Verhältnisses zwischen der französischen Republik und der Kirche bedacht war. Es war die Initiative des Ersten Konsuls, die zum Ergebnis des Konkordats zwischen Frankreich und dem Heiligen Stuhl vom Jahre 1800 führte. Diese Vereinbarungen können hinsichtlich ihrer historischen Bedeutung und Tragweite kaum überschätzt werden. Im Grunde ging es dabei um nichts Geringeres als um den ersten Versuch institutioneller Einwurzelung der Kirche in einem nicht mehr christlich begründeten und legitimierten Staatswesen. Grundlage dieses Versuches ist nunmehr ein rein statistisches Faktum: nämlich, daß die Mehrzahl der Franzosen dem katholischen Glauben anhängt. Ein weiteres wesentliches und zukunftsträchtiges Element dieses Konkordates ist es, daß es zwischen der französischen Republik und dem Papst abgeschlossen wurde. Damit war die alte gallikanisch-national-kirchliche Ideologie, die das Verhältnis zwischen Rom und Frankreich jahrhundertelang belastet hatte, im Grunde überwunden und eine "ultramontane" Orientierung des französischen Katholizismus begründet. Dieses Konkordat, das zweifellos nicht wenige für die Kirche ungünstige Bestimmungen enthielt, war dennoch für sie von unschätzbarem Vorteil. Die jahrelange Spaltung zwischen romtreuen und konstitutionellen Katholiken war beseitigt, eine neue, durch den Staat anerkannte kirchliche Organisation konnte wiederaufgebaut werden, und die Verfolgungen waren definitiv zu Ende. Damit waren die institutionellen Voraussetzungen für eine Wiederbelebung des katholischen Glaubens in Frankreich geschaffen. Der Rahmen bedurfte nun der Ausfüllung. (Fs) (notabene)

Entscheidende geistige Impulse hierzu gingen von einigen bedeutenden Schriftstellern aus, die das geistige Klima der französischen Gesellschaft nachhaltig im Sinne einer Überwindung der voltairianischen Aufklärung zu beeinflussen vermochten. Als Beispiel sei hierfür nur Chateaubriand genannt, der im April 1802 sein berühmt gewordenes Werk "Le genie du Christianisme" veröffentlichte, dem im Jahre 1809 der Roman "Les martyrs ou le triomphe de la religion" folgte. Die Gesamtausgabe seiner Werke, die 1826/31 erschien, umfaßt 32 Bände. (Fs)

152a Der Vicomte Francois Rene de Chateaubriand, 1768 in der Bretagne geboren und 1848 zu Paris gestorben, ist wohl deshalb so repräsentativ für diesen Vorgang einer geistigen Wende, weil sein Lebenslauf den seiner Epoche bestimmenden geistigen Linien gefolgt ist. Von schwärmerischer Gemütsart hing er zuerst Voltaire, den Enzyklopädisten und Rousseau an, verbrachte dann rast- und doch ziellose Wanderjahre in Amerika und England und kam um 1800, erschüttert durch den Tod von Mutter und Schwester, wieder zum Glauben. Frucht dieser Lebenswende war sein bereits genanntes Hauptwerk von 1802. "Es orchestrierte in bewunderungswürdiger Sprache mit genialer Beschwörungskraft Themen, die bereits manche Apologeten des 18. Jahrhunderts angeschnitten hatten, lenkte das religiöse Sehnen seiner Zeitgenossen aber nicht mehr zu einem vagen Christentum à la Rousseau, sondern direkt zur katholischen Kirche mit ihren Dogmen, ihren Sakramenten und ihren Riten. Es vernichtete die Vorurteile des 18. Jahrhunderts, das den Katholizismus der Barbarei und der Mittelmäßigkeit zugerechnet hatte, und schilderte ihn als heilsamen Hafen für alle, die physisch oder seelisch leiden, und als Quelle dichterischer Inspiration genauso fruchtbar wie das heidnische Altertum" (Aubert). (Fs)

152b Der ungeheure und lang anhaltende Erfolg, der dem "Genie du christianisme" beschieden war, zeigt nicht nur, welch tiefe und weiteste Kreise erfassende Sehnsucht nach Religion im Frankreich der Nachrevolutionsjahre vorhanden war, sondern auch, daß diese um das Jahr des Konkordatsabschlusses einen gewissen Kulminationspunkt erreicht hatte. Indem es Chateaubriand gelang, dieses drängende existentielle Verlangen nach Religion mit katholischen Inhalten zu nähren, trug er - wie nicht wenige andere - zur katholischen Neubelebung Frankreichs bei. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Französische Revolution - Kirche, Neuanfang; Napoleon - Pius VI., VII.; gallikanische Kirche - Hinwendung zu Rom; Geschichte - Gnade; Konkordat

Kurzinhalt: Gottes Gnade und ihre Spuren entziehen sich dem Blick des kritischen Historikers, der sich auf nachprüfbare Quellenbelege bzw. Zeugnisse angewiesen weiß, wenn er der Strenge der Methode entsprechen will. Dennoch wird man nicht übersehen dürfen, ...

Textausschnitt: 156a Diesen Prozeß einer katholischen Wiederbelebung, der hier nur in einer groben Skizze vorgestellt werden konnte, gilt es nun zu analysieren. (Fs)

Bei einem solchen Versuch stellen wir zunächst zweierlei fest: Es sind durchwegs Rückgriffe auf die spirituelle Tradition der Vorrevolutionszeit, die unternommen werden. Es gibt kaum neue, inhaltliche Akzente in der Frömmigkeit, man schöpft aus den immer noch lebendigen Quellen des Grand siecle, aus den Quellen von Paray-le-Monial, von Saint-Sulpice, Saint-Lazaire etc. Aus ihnen war auch die Kraft geströmt, die zum Widerstand gegen Aufklärung und Revolution befähigt hatte. Neu und überaus fruchtbringend war allerdings die ultramontane Orientierung, die nahezu allen, selbst den legitimistisch geprägten Gruppen und Initiativen dieses Neubeginns eignete. Es war - wider all seinen Willen - Napoleon gewesen, der durch die brutale Behandlung, die er Pius VI. und Pius VII. angedeihen ließ, durch den Raub des Kirchenstaates, die Verschleppung der beiden Päpste nach Valence bzw. Fontainebleau auf einmal die Blicke der Gläubigen der bis dahin eher locker mit Rom verbundenen, selbstbewußten gallikanischen Kirche wieder auf den Papst als das sichtbare Zentrum und Fundament von Glaube und Kirche richtete. Daß die beiden Pius-Päpste sich trotz ihrer irdischen Ohnmacht dem rücksichtslosen Usurpator und Tyrannen mit unerschütterlichem Mut widersetzt hatten, hat ihnen die Bewunderung Europas eingebracht. Die Reise Pius' VII. zur Krönung Napoleons wurde trotz dessen bewußter Schikanen zu einem Triumphzug des Papstes, dem auf seinem Kreuzweg Wogen der frommen Begeisterung entgegenschlugen. Die für das 19. Jahrhundert so typische Liebe und Anhänglichkeit der Katholiken, insbesondere der französischen, gegenüber dem Nachfolger Petri hat in dem Erlebnis dieser Papstreise eine ihrer tieferen Wurzeln. Hinzu kommt der geschichtsträchtige Abschluß der Konkordats, als dessen Partner Napoleon nun gerade nicht den französischen Episkopat, den es als homogenes Corpus gar nicht mehr gab, sondern den Papst gewählt hatte. In dieser Hinwendung der ehemals so betont gallikanischen "ältesten Tochter der Kirche" nach Rom erkennen wir einen wesentlichen Faktor für die Rechristianisierung Frankreichs. (Fs)

157a Ein ebenso wichtiger Faktor war das schon mehrfach erwähnte Konkordat Napoleons mit dem Heiligen Stuhl auch hinsichtlich seines Inhalts. Nur eine spiritualistische Ausdünnung des Kirchenbegriffs könnte zur Geringschätzung eines Konkordats fuhren. Mögen funktionierende Bistums- und Pfarrverwaltungen auch kein Ersatz für Glaube, Hoffnung und Liebe sein, so sind sie doch wichtige Voraussetzungen für eine geordnete Verkündigung und Sakramentenspendung. Erst ihr Zusammenbruch macht oftmals ihre Bedeutung offenkundig. So wäre der religiöse Wiederaufbau ohne die "Konkordatskirche" kaum denkbar gewesen. Keinesfalls darf dabei auch das religiöse Erwachen des intellektuellen, literarischen Frankreichs vergessen werden. Was die Millionenauflagen religiös-apologetischen Schrifttums an aufbauender Wirkung erzielten, läßt sich allenfalls mit den geistigen Zusammenbrüchen vergleichen, die zuvor die aufklärerisch revolutionäre Publizistik zu bewirken vermocht hatte. In höchstem Grade bemerkenswert ist jedoch die geradezu explosionsartige Ausbreitung wiederbelebter oder neu gegründeter apostolischer Ordensgemeinschaften. Das bedeutet nicht weniger, als daß tausende von jungen Leuten sich zu einem Leben nach strengen aszetischen Grundsätzen entschlossen, was nicht ohne entsprechende religiöse Impulse möglich war. Was dabei besonders erstaunlich ist, ist, daß darunter eine Reihe von Gemeinschaften war, die sich ungeachtet der religiösen Situation der eigenen Heimat Frankreich sogleich der Heidenmission zuwandten. Wenn es je ein untrügliches Zeichen für die geistig-religiöse Vitalität der Kirche gibt, dann ist es der missionarische Elan. (Fs)

Nun drängt sich allerdings eine Frage auf, deren Beantwortung den Kirchenhistoriker zu einer wahren methodischen Gratwanderung zwingt, bei der die Gefahr des Absturzes nach der einen wie der anderen Seite gleich groß und allgegenwärtig ist: Es geht um die Frage nach den Ursachen dieses katholischen Wiedererwachens im nachrevolutionären Frankreich. Allzu schnell könnte der gläubige Theologe mit einer griffigen und dazu noch durch ihre Herkunft von Tertullian ehrwürdigen Formel zur Hand sein: "Sanguis martyrum semen christianorum" - das Blut der Märtyrer ist der Same für neue Christen. So einfach dürfen wir es uns aber nicht machen: Gottes Gnade und ihre Spuren entziehen sich dem Blick des kritischen Historikers, der sich auf nachprüfbare Quellenbelege bzw. Zeugnisse angewiesen weiß, wenn er der Strenge der Methode entsprechen will. Dennoch wird man nicht übersehen dürfen, daß das tausendfache todesmutige Glaubenszeugnis, das die Opfer der Revolution vor der breitesten Öffentlichkeit abgelegt haben, nicht ohne Eindruck auf die Zeitgenossen bleiben konnte, sofern sie nicht vollkommen verroht und abgestumpft waren. Viele, die solche Martyrien erlebt hatten, dürften die Ereignisse, deren Zeugen sie waren, ihr Leben lang nicht vergessen haben. Und: Erinnerungen entfalten oftmals ihre eigene Dynamik in der Seele. Weiterhin gilt: der Elan, der so viele der Franzosen zum religiösen Widerstand gedrängt und in der papsttreuen Untergrundkirche überdauert und letztendlich gesiegt hatte, vermochte sich nun unter den Bedingungen des Konkordats und während der Restauration in stets wachsendem Maße zu entfalten. Auch hier zeitigte das Beispiel heroischer Treue so vieler Priester und Katholiken jeden Alters, Geschlechts und Standes seine Wirkungen. (Fs)

158a In ähnlicher Weise stellt sich die Frage nach den Motiven, die den Ersten Konsul zur religiösen Befriedung Frankreichs bewogen. Meinen die einen, Napoleon sei nicht so areligiös gewesen, wie man allgemein annimmt, sondern habe sich durchaus von rudimentären religiösen Empfindungen leiten lassen, so sprechen die anderen doch von kühlen und nüchternen Erwägungen der Staatsräson, die den Ausschlag gegeben hätten. Letztere wären in jedem Fall nachvollziehbar und auch durch entsprechende Äußerungen Napoleons zu belegen. Wie es aber dazu kommt, daß solche Überlegungen überhaupt angestellt werden, wie es dazu kommt, daß gutes Beispiel - sei es der Märtyrer, sei es der Bekenner - wirklich zündet, das sind Fragen, auf die zu antworten dem Historiker die methodische Ehrlichkeit verbietet. Eines ist dabei gewiß: soziologische, psychologische, kulturmorphologische oder politisch-ökonomische Kategorien reichen für die Erklärung solcher historischer Entwicklungen auch nicht aus. Der Gläubige, der weiß, daß nichts Gutes ohne die Gnade Gottes möglich ist, und der auch weiß, daß Gottes Gnade durch Gebet und Opfer erfleht, ja verdient werden kann, wird nicht leicht umhin kommen, in all dem religiösen Neubeginn im nachrevolutionären Frankreich die Frucht jener Tränensaat zu erkennen, die zwischen 1789 und 1800 in die durch die Revolution aufgebrochenen Furchen gefallen war. (Fs) (notabene)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Französische Revolution - Ausblick auf die Zukunft unserer Tage

Kurzinhalt: In ähnlicher Weise, wie um 1800 ein Neuansatz der katholischen Apologetik es vermochte, die von der Aufklärung und ihrem Rationalismus enttäuschte gebildete Gesellschaft für den Glauben neu zu interessieren und zum guten Teil neu zu gewinnen, müßte ...

Textausschnitt: 159a Mit diesem letzten Satz möchte, müßte man eigentlich schließen. Aber die den Historiker bedrängende Versuchung, nach dem Rückblick in die Geschichte in den Prophetenmantel zu schlüpfen, verlockt doch dazu, einen Blick nach künftigen Horizonten zu wagen. Dabei kann es natürlich nicht um Prognosen für das 3. Jahrtausend der christlichen Geschichte gehen. Der Prophet spricht ins Jetzt hinein, spricht für das Heute. Was sollte, müßte also durch uns geschehen, wenn wir das uns Mögliche an Grundlegung für eine neue Blüte von Glaube und Kirche leisten wollen?

159b Wir konstatieren in unseren Tagen einen Aufbruch von Sehnsucht nach Erkenntnis des rational nicht faßbaren, aber geahnten Geheimnisses von Welt und Mensch. Diese äußert sich in so fragwürdigen Erscheinungen wie der New-Age-Bewegung, dem Okkultismus, ja dem Satanismus. Vordringliches Ziel kirchlicher Verkündigung müßte es da sein, diese eher dumpf gefühlten als hell bewußten Sehnsüchte auf die wahren Ziele zu lenken und mit den wahren Inhalten des katholischen Glaubens zu füllen. In ähnlicher Weise, wie um 1800 ein Neuansatz der katholischen Apologetik es vermochte, die von der Aufklärung und ihrem Rationalismus enttäuschte gebildete Gesellschaft für den Glauben neu zu interessieren und zum guten Teil neu zu gewinnen, müßte heute versucht werden, die tiefsten, ja zum Teil ihr nicht einmal selbst bewußten, aber nichtsdestoweniger quälenden und bedrängenden Fragen der heutigen Gesellschaft erst klar zu formulieren und dann aus der Fülle des katholischen Glaubens zu beantworten. Dies müßte in einer Argumentationsweise und in einer Sprache geschehen, die das Ohr der heutigen Menschen ebenso erreicht, wie es unter anderen Umständen Chateaubriand und de Maistre vor fast 200 Jahren vermochten. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirchenvolksbegehren - Kirchenkrise in Deutschland im 19 Jhdt.; Antizölibatsvereine (Johannes Ronge) - Reaktion d. Bischöfe; Nationalkirche, Syllabus; "Linzer Programm"


Kurzinhalt: Am Ende dieses flüchtigen Überblicks über die "Fieberanfälle" im deutschen Katholizismus drängt sich eine Einsicht auf: Außer den Versuchungen des Rationalismus und Liberalismus, also der unbewältigten Aufklärung und ihres Lebensgefühls, ...

Textausschnitt: 160a Das Kirchenvolksbegehren von 1995, das manchem wie ein drohendes Ungeheuer erscheinen mochte, zeigt sich dem Blick des Historikers in recht bescheidenen und auch wohl in seinen wirklichen Dimensionen: "In Deutschland nichts Neues!" Es genügt, sich an die letzten beiden Jahrhunderte zu erinnern. (Fs)

Da gab es - Spätblüte der Aufklärung ebenso wie Vorbote der 48er-Revolution - im Badischen und Württembergischen den "Zölibatssturm" und Antizölibatsvereine. 23 Laien aus Freiburg, an ihrer Spitze der Geheime Rat Duttlinger, richteten 1828 ausgerechnet an die Badische Ständekammer die Petition, die Regierung möge sich für die Abschaffung des Zölibats einsetzen. Die Kammer hatte soviel Verstand, das Ansinnen abzuweisen. Ein Versuch, die Massen publizistisch zu mobilisieren, schlug fehl: Der bedeutende Tübinger Theologe Johann Adam Möhler hatte mit seiner überzeugenden Verteidigung des Zölibats hingegen Erfolg. (Fs)

Nun regte sich in Mainz der Protest. Hauptagitator gegen den Zölibat war der protestantische Professor Wilhelm Hoffmann, der nun die für Staat und Gesellschaft angeblich offenkundige Schädlichkeit des Zölibats bewiesen haben wollte. Sein Mißerfolg hinderte ihn nicht, 1832/33 seinen Antrag zu wiederholen. Nun schlossen sich in der Tat 156 Freiburger Priester und 50 Priesteramtskandidaten diesen Forderungen an, und auch im Bistum Rottenburg gingen die Wogen hoch. Ein bald gegründeter Antizölibatsverein zählte binnen kurzem an die zweihundert geistliche Mitglieder. (Fs)

Die Antwort des katholischen Volkes war allerdings hart: Man boykottierte die Antizölibatären, die sich bald in ihren Kirchen alleine fanden. Mehr als vierzig Ortschaften erklärten dem König von Württemberg, sie hätten lieber keinen Pfarrer als einen beweibten. Unter dem Eindruck der beißenden Satire, mit der dieses Thema bald publizistisch aufgegriffen wurde, verbot die Regierung den Antizölibatsverein. Von einer bischöflichen Reaktion steht in den Annalen der Geschichte - nichts. (Fs) (notabene)

Demokratisierungskampagnen

161a Energischer war man damals in Limburg, wo solche Versuche bischöflicherseits im Keim erstickt wurden. Doch: nicht nur um den Zölibat ging es da - es ging auch um Demokratie in der Kirche! "Synoden" wurden lautstark gefordert: Gemischte Synoden aus Klerikern und Laien, nach Art eines Landtags. (Fs)

Erzbischof Boll von Freiburg, der die Hintergründe durchschaute und ahnte, was die Forderung, "mit dem Zeitgeiste voranzuschreiten", bedeuten mußte, sagte "nein", und daran scheiterte schließlich dieser Demokratisierungsversuch. Daß dergleichen in Rottenburg Nachahmung finden würde, war abzusehen. Hier kam es sogar zu einer interessanten Frontenbildung, wobei der Domdekan Jaumann gegen jene Katholiken polemisierte, die "päpstlicher seien als der Papst, katholischer als die katholische Welt", und die Demokratisierer verteidigte, während der Politiker Baron Hornstein diesen entschieden entgegentrat. (Fs)

Eine neue Initiative folgte in Freiburg, wo der Dekan Kuenzer 1845 eine Unterschriftenaktion zugunsten einer "gemischten" Diözesansynode in Gang setzte und schließlich das Präsidium eines Vereins zur "Beförderung des kirchlichen Lebens" übernahm, der von dem im Konkubinat lebenden Luzerner Priester Professor Fischer 1838 gegründet worden war, um "die übermäßigen Eingriffe des Papstthums mit starker Hand abzuwehren". Vornehmlich wollte man Lehrer dafür gewinnen. Der einigermaßen schwächliche Erzbischof wandte sich um Hilfe gegen diesen Verein an den Staat - vergeblich. (Fs)

Deutschkatholizismus

All dies war nur das Vorspiel für eine wesentlich ausgreifendere Bewegung, in der die Antizölibatspropaganda, die "Demokratisierung" der Kirche und die Absage an das "welsche Rom" eine "vermehrte und erweiterte Neuauflage" erleben sollten: Es war der »Deutschkatholizismus" des Breslauer Kaplans Johannes Ronge. (Fs)

162a Theologisch ignorant, ohne eigentliche Berufung war er nach einem verbummelten Studentenleben zum Priester geweiht worden und alsbald am Glauben und am Zölibat gescheitert. Im Konflikt mit dem Breslauer Ordinariat amtsenthoben, sah er - herausgefordert durch die bevorstehende Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt des Jahres 1844 - seinen antirömischen Weizen blühen. In einem ebenso dümmlichen wie schwülstig-aggressiven offenen Brief an Bischof Arnoldi von Trier, in dem er die Heiligtumsfahrt lächerlich machte und den Bischof verunglimpfte, verkündete er seine Parole: Christentum ohne Rom, ohne Dogma, ohne Sakrament und ohne Priester, und natürlich ohne Zölibat! (Fs) (notabene)

Er wandte sich an "seine deutschen Mitbürger" und rief sie auf, "nach Kräften und endlich einmal entschieden der tyrannischen Macht der römischen Hierarchie zu begegnen und Einhalt zu thun" - er, der Ex-Kaplan aus Breslau. Und er ward der Held des Tages! Ein neuer Luther wurde er genannt. In dem gleichfalls wegen Bruchs des Zölibats suspendierten Kaplan Johannes Czerski, der in Schneidemühl eine "christlich-katholische Kirche" gegründet hatte, fand er einen Verbündeten. Und nun begann Ronges Siegeszug durch Nord-, West- und Südwestdeutschland - der nur an Bayerns Grenzen halt machen mußte. Sein Publikum: mit ihrer Kirche innerlich zerfallene Katholiken und Protestanten, hauptsächlich die kleinen und größeren Bourgeois der Städte; unzufriedene protestantische Pastoren und zölibatsflüchtige katholische Priester. Aus ihnen rekrutierten sich die Prediger der "deutsch-katholischen Kirche". (Fs)

Ein Konzil gab es gar, in Leipzig, Ende März 1845. Sein Präsident: der Stenographielehrer Wigard. Die Hauptrolle spielte der Theaterkassier Robert Blum, später Führer der extremen Linken in der Frankfurter Paulskirche, der nach dem Zusammenbruch der Wiener Revolution 1848 dort erschossen wurde. (Fs)

Vom eigentlichen Christlichen blieb nichts mehr übrig, platter Rationalismus war das Dogma der neuen "Kirche", ihre Moral erschöpfte sich in sozialen und pädagogischen Initiativen. Das Leipziger "Konzil" überließ denn auch die Bibel der Auslegung durch jeden einzelnen, ebenso die Entscheidung, ob man an die Gottheit Jesu Christi glauben wolle oder nicht. (Fs)

Papsttum, Beichte und spezifisch katholische Frömmigkeit wurden verworfen. Man dachte sich auch eine deutsche Liturgie aus und verabreichte zum "Abendmahl" Brot und Wein. Selbstverständlich war die freie Wahl der Prediger durch die Gemeinden. (Fs)

163a Im Hochgefühl, eine Großtat vollbracht zu haben, rief Ronge aus: "Ha, mich schauert, daß wir schon so nahe daran! - Doch jetzt ist's vorüber. Der große Wurf ist gelungen, der Fortschritt des Jahrhunderts ist gerettet. Der Genius Deutschlands greift schon nach dem Lorbeerkranz - und Rom muß fallen!"

Bezeichnend ist der enthusiastische Beifall, den Ronge aus dem rationalistischen Lager des Protestantismus erhielt. Selbst der Berliner Hof schenkte ihm Beachtung, und fürs erste förderte ihn auch die preußische Regierung. Doch - Rom fiel nicht, und um 1860 war der Spuk zu Ende. Reste verloren sich in der Gottlosenbewegung der "Lichtfreunde" und anderswo. (Fs)

Nationalkirche?

Inzwischen hatte die ultramontane, d. h. bewußt romorientierte und papsttreue Bewegung, die den Pontifikat Pius' IX. kennzeichnet, auch in Deutschland ihre Kraft entfaltet und natürlich auch Gegenreaktionen des "Anti-Ultramontanismus" ausgelöst. Der "Syllabus" Pius' IX. mit seiner Verurteilung des Rationalismus, Liberalismus und Kommunismus, der Staatsomnipotenz usw. hatte in der liberalen Bourgeoisie zu schärfsten Protesten gegen Rom geführt. Man sah die gesamte moderne Kultur und Zivilisation durch ein finsteres römisch-jesuitisch mittelalterliches Komplott gefährdet. Sein Ziel: die Weltherrschaft des Papstes! (Fs) (notabene)

Nun ergab sich im Vorfeld des 1. Vatikanischen Konzils auf der Basis des Protestes gegen Rom und seine "ultramontanen Umtriebe" eine Allianz zwischen antiultramontan-nationalistischen Katholiken und dem liberalen Protestantismus, repräsentiert durch den Protestantenverein, dessen Protagonisten längst mit dem authentischen Christus-Glauben gebrochen hatten. (Fs)

"Katholikenvereine" schossen, im deutschen Südwesten zumal, aus dem Boden, und man erstrebte nicht mehr und nicht weniger als eine gemeinsame protestantisch-katholische rom- und natürlich auch dogmenfreie deutsche Nationalkirche. Die "Allgemeine Zeitung", Deutschlands meistgelesenes Blatt, machte sich zum Sprachrohr dieser Bewegung, die dann nach dem Konzil von 1869/70 mit seinen Papstdogmen in den Kulturkampf mündete. Frucht der Anti-Konzilsagitation war der Altkatholizismus. Er hatte - im wesentlichen eine Bewegung von Universitätsprofessoren und Bourgeois - anfanglich Anhang gefunden, schrumpfte aber alsbald wieder zusammen. Mochte der antirömische Protest auch von der staatlichen Bürokratie offen unterstützt werden, das katholische Volk hat sich ihm nie und nirgendwo angeschlossen. (Fs) (notabene)

164a Im Gegenteil: Gerade im Gefolge des Konzils nahm der deutsche Katholizismus, der sich immer mehr als papsttreu erwies, einen staunenswerten Aufschwung. Volksfrömmigkeit, sozial-karitative Initiativen, Verbände, Orden, Einsatz für die Weltmission - das alles blühte mächtig auf, und der Widerstand gegen die Arroganz des kulturkämpferischen Staates vereinte Katholiken, Klerus und Episkopat zu einer imponierenden Phalanx, an der schließlich selbst ein Bismarck gescheitert ist. (Fs)

Auch die "Los-von-Rom-Bewegung", die dann in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts von sich reden machte, konnte in Deutschland kaum Erfolge erzielen. Anders war dies in Österreich. Durch das "Linzer Programm" der österreichischen Deutschnationalen von 1882 und den 1893 gegründeten, ebenso antikatholischen wie antisemitischen "Alldeutschen Verband" erstrebten dessen Führer die Eingliederung Deutsch-Österreichs in das Deutsche Reich sowie die Lostrennung der österreichischen Katholiken von Rom als Voraussetzung für die Gründung einer "deutschrassigen" Einheits-Nationalreligion. In Österreich jedoch hatte diese Bewegung bis in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hinein beträchtliche Erfolge. Die heutige Krise des österreichischen Katholizismus hat hierin ihre historischen Wurzeln! (Fs) (notabene)

Am Ende dieses flüchtigen Überblicks über die "Fieberanfälle" im deutschen Katholizismus drängt sich eine Einsicht auf: Außer den Versuchungen des Rationalismus und Liberalismus, also der unbewältigten Aufklärung und ihres Lebensgefühls, war dabei auch immer eine nationalistische Strömung wirksam, die das Deutschtum höher hielt als das Katholischsein. Im deutschen Nationalgefühl war man auch mit den Protestanten einig - und beiden war das "welsche Rom" suspekt. Ein deutsches Christentum als nationale Einheitsreligion, als Basis nationaler Einheit, erstrebte der Liberalismus - längst bevor Hitler seine "Deutschen Christen" erfand. (Fs)

Und heute?

165a Trotzdem: alle diese Fieberanfälle gingen vorüber. Am Ende blieb der gesunde Glaubenssinn resistent gegen die Flötenklänge der Rattenfänger. Mit dieser Feststellung ist aber nicht schon die Frage beantwortet, ob wir uns auch in der gegenwärtigen Krise auf diese bewährte Widerstandskraft verlassen dürfen. Daran ist allerdings zu zweifeln. Die Umstände von heute sind anders. Die Macht der Medien, denen die große Masse der Katholiken ausgeliefert ist, der Ausfall geistiger Führung durch einen theologisch desorientierten und verunsicherten Klerus - das alles macht die Katholiken anfällig für die Propheten des Zeitgeistes. Und die haben angesichts einer Fernsehgesellschaft, die ihr Kritikvermögen weithin verloren hat, ein gar leichtes Spiel. Hinzu kommt der nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassende kulturelle Zusammenbruch, der sich auch in einer akuten Glaubenskrise des deutschen Katholizismus äußert. Was diesen in den Erschütterungen der jüngeren Vergangenheit so widerstandsfähig gemacht hatte, war die enge Verbindung der Bischöfe mit dem Papst, war die geistige Geschlossenheit des Klerus und die Einigkeit der Gläubigen mit Papst, Bischof und Priestern. (Fs) (notabene)

165b Wenn der deutsche Katholizismus aus seiner augenblicklichen Krise ebenso neu gekräftigt hervorgehen soll wie aus den vergangenen Stürmen, dann allerdings ist ein hoher Einsatz gefordert. Der aber wird nur möglich sein, wenn jener enge Schulterschluß zwischen Bischöfen und Papst, Priestern und Bischof, zwischen Gläubigen und Priestern wiederhergestellt wird, der sich bisher bewährt hat -und wenn man aus dem Wahn erwacht, am deutschen Wesen müsse die Kirche genesen. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Weltkirche - Nationalkirche (Deutschland 19 Jhdt.); "Liberaler" Katholizismus - Die "Ultramontanen"

Kurzinhalt: Der politische wie geistig-kulturgeschichtliche Umbruch der Französischen Revolution hatte eine Epoche beendet, ... Nun sahen sich beide Bereiche - weltliche Gesellschaft und Kirche - vor der Aufgabe, ihr gegenseitiges Verhältnis neu zu definieren.

Textausschnitt: 166a Der politische wie geistig-kulturgeschichtliche Umbruch der Französischen Revolution hatte eine Epoche beendet, in der Kirche und Staat, Religion und Kultur beziehungsweise auch Politik eine spannungsreiche, aber doch allem Wandel standhaltende Einheit gebildet hatten. Nun sahen sich beide Bereiche - weltliche Gesellschaft und Kirche - vor der Aufgabe, ihr gegenseitiges Verhältnis neu zu definieren. (Fs) (notabene)

Katholischerseits entwickelten sich dabei im wesentlichen zwei -in sich wiederum differenzierte - Standpunkte, die jeweils in eigenen theologischen Schulen gründeten und unterschiedliche gesellschafts- bzw. kulturpolitische Stellungnahmen und Verhaltensweisen zur Folge hatten. Nicht zuletzt spielte dabei die Stellungnahme zu dem sich zunehmend in hegelianischem Sinne begreifenden und entsprechend handelnden Staat und damit der Nation eine entscheidende Rolle. Beide Strömungen unterschieden sich auch unter soziologischen und offenbar auch politischen Gesichtspunkten, wie zu zeigen sein wird. (Fs)

Diese gegenläufigen Entwicklungen, die sich schließlich in der Auseinandersetzung um das 1. Vatikanische Konzil mit aller Violenz entluden, können hier freilich mit Verzicht auf an sich notwendige Differenzierungen nur in holzschnittartiger Manier und schematisierend dargestellt werden. Im Grunde war es die Frage, wie der Katholik, wie die Kirche sich zu der im Zuge von Aufklärungsphilosophie und Revolutionen - 1789, 1820, 1830, 1848 -säkularisierten Gesellschaft zu stellen habe. (Fs)

Eine eher optimistische Sicht der sogenannten modernen Gesellschaft war vorherrschend in jenen Kreisen, die noch unter dem Einfluß der Aufklärung standen, sich aber auch den durch die Romantik belebten nationalen Empfindungen öffneten, die im Vormärz immer stärker zu Tage traten. 1840 entstanden etwa die Lieder "Die Wacht am Rhein" und "Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein". Allgemeines deutsches Sängerfest zu Lübeck, Germanistentage zu Lübeck und Frankfurt bekunden und fördern einen wachsenden deutsch-nationalen Enthusiasmus, der schließlich zum Paulskirchenparlament von 1848 führte, dessen soziologische Zusammensetzung charakteristisch war: Es war ein Akademiker-Bürgerparlament. Dieses, am Anfang noch "großdeutsch" angelegte Nationalbewußtsein, das Deutsch-Österreich mit umfaßte, wurde im Zuge der Entwicklung durch das "kleindeutsche" Konzept abgelöst, das, Österreich ausschließend, auf eine preußisch-protestantische Hegemonie hinauslief, die in der Reichsgründung von 1871 gipfeln und sich im Kulturkampf auswirken sollte. (Fs)

"Liberaler" Katholizismus

167a Es waren namentlich Kreise von akademisch gebildeten Katholiken, das Bildungsbürgertum, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Vatikanum um Anschluß der katholischen Bevölkerung an die allgemeine moderne kulturelle und nationale Entwicklung bemüht waren. In der bildungsbeflissenen Tradition katholischer Aufklärer wie Joh. Ignaz Heinrich von Wessenberg gründend, empfanden sie es als drängende Aufgabe, das "katholische" Bildungsdefizit und die damit gegebene kulturelle und gesellschaftliche Inferiorität des katholischen Bevölkerungsteils zu überwinden, die in der im Zuge der Säkularisation erfolgten Zerschlagung des 17 Universitäten und Hunderte von Gymnasien umfassenden katholischen Bildungssystems wurzelte. Daß dabei Zugeständnisse an den aufklärerischen, später liberalen Zeitgeist wie an den immer virulenteren nationalen Gedanken, der sich schließlich zum Nationalismus auswuchs, keineswegs immer und überall vermieden wurden, kann nicht überraschen. (Fs)

Doch wie sah es aus in der Theologie? Namentlich an den theologischen Fakultäten in Tübingen und Bonn wirkten bedeutende Geister - hier seien nur Johann Adam Möhler und Georg Hermes genannt. Nicht an Möhler, aber an seine Tübinger Kollegen und an den Bonner Hermes mag man denken, wenn Leo Scheffczyk von dem "manchmal ins Genialisch-Subjektive abgleitenden Selbstdenkertum" dieser Schulen spricht, das sich aus der Anlehnung an den philosophischen Idealismus Kants, Fichtes und Hegels ergab. In diesem Kreis ist auch ein gewisses nationales Pathos und eine engere Anlehnung an den Staat zu bemerken. (Fs)

Die "Ultramontanen"

168a Die andere Strömung, nennen wir sie einmal die ultramontane, wurde maßgeblich aus zwei Quellen gespeist. Da war einmal die ältere Mainzer Schule, deren führende Köpfe Liebermann, Räß, von Weis und Klee waren, die nicht zuletzt aus dem Erleben der Französischen Revolution und der folgenden Umbrüche eine biblisch-spekulative Theologie im Anschluß an die Scholastik entwickelten und den Grund zu einer neuen kirchlich gesinnten und pastoral orientierten Theologenausbildung legten. (Fs)

In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich nach dem Ende der napoleonischen Wirren in Rom ein ähnlicher Prozeß abgespielt, der in einer Neubelebung der Scholastik des Hochmittelalters bestand und von den Jesuiten der Gregoriana vorangetrieben wurde. Um die Jahrhundertmitte wirkten dort Giovanni Perrone, Carlo Passaglia, Clemens Schrader und Johann Baptist Franzelin, besonders einflußreich war Joseph Kleutgen. Perrone setzte sich intensiv mit der deutschen idealistischen Philosophie auseinander, Passaglia war ein hervorragender Kenner der patristischen Literatur. Sie alle waren Lehrer mehrerer Generationen von Germanikern, die, nach Hause zurückgekehrt, diese Art, Theologie zu betreiben, nach Deutschland verpflanzten. Hier ist vor allem Matthias Joseph Scheeben zu nennen, der am Priesterseminar in Köln lehrte, sowie die die Würzburger Fakultät beherrschenden Altgermaniker Heinrich Denzinger, Franz Hettinger und Joseph Hergenröther, von denen namentlich Hettinger ein hochgebildeter und begeisternder Lehrer war, dessen fünfbändiges Handbuch der Apologetik zahlreiche Auflagen erlebte. Gerade Hettinger zeigt in seinen beiden eher journalistischen und Reiseerlebnisse schildernden Bänden "Aus Welt und Kirche", welch eine Erweiterung des Horizonts das siebenjährige Studium in Rom bedeutete. Enge, auch emotionale Bindung an das Zentrum der Weltkirche, Begegnung mit zahlreichen Kommilitonen und Lehrern aus aller Herren Ländern ließen bei aller Heimatliebe dem aufkeimenden Nationalismus keinen Raum. Kirchlich und auch, was die Kultur betrifft, allerdings keineswegs ausschließlich, orientierte man sich an Rom, und so nahmen die Ex-Germaniker zusammen mit so bedeutenden nichtrömischen Neuscholastikern wie Johann Baptist Heinrich und anderen führende Stellungen in der ultramontanen Volksbewegung ein, die sich erstmals auf dem Mainzer Katholikentag von 1848 formierte und die gesellschaftlich aktiven Kräfte des katholischen Vblksteils erfaßte. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Vaikanum 2 - Kontext der Konziliengeschichte; Konzil, Definition;

Kurzinhalt: ... Sie ist vielmehr im geoffenbarten und überlieferten Glaubensgut der Kirche enthalten und wird von den Bischöfen als authentischen Zeugen der heiligen Überlieferung bezeugt

Textausschnitt: 177a "Von jetzt an sind Allgemeine Konzilien überflüssig!" Dieser von dem berühmten protestantischen Berliner Kirchenrechtshistoriker Paul Hinschius kolportierte Satz entsprach wohl der Meinung nicht weniger, nachdem das 1. Vatikanische Konzil am 18. Juli 1870 die Dogmen von der obersten Hirtengewalt und der lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes verkündet hatte. Wie unbegründet diese Auffassung aber war, zeigt nicht zuletzt der Umstand, daß der Codex Juris Canonici, der nach Abschluß des Konzils in Angriff genommen wurde und vieles von den Vorarbeiten für das Konzil - das ja wegen des Deutsch-französischen Krieges hatte abgebrochen werden müssen - verarbeitete, daß also der 1918 in Kraft gesetzte CJC acht Canones enthält, die die Rechtsstellung des Allgemeinen Konzils im Leben der Kirche bestimmten und seine Durchführung regelten. Das verwundert nicht, denn seit die Kirche Jesu Christi besteht, hat es in dieser oder jener Form auch immer Konzilien gegeben. Daß dies auch nach der Definition der päpstlichen Vollmachten auf dem 1. Vatikanum so bleiben würde, war den daran Beteiligten so klar wie es uns heute ist. So ergibt sich ganz zwanglos unser Thema, demzufolge wir das 2. Vatikanum der Jahre 1962 - 1966 ebenso im Vergleich wie im Zusammenhang mit den vorausgegangenen Allgemeinen Konzilien darzustellen versuchen. (Fs)
Was ist ein Konzil?

177b Klären wir aber zunächst die Begriffe und fragen, was denn ein Allgemeines oder auch Ökumenisches Konzil sei. Das ist zwar in wenigen dürren Worten gesagt, damit aber noch keineswegs einsichtig gemacht. Konzil also ist die Zusammenkunft von Trägern der kirchlichen Lehr- und Hirtengewalt zwecks gemeinschaftlicher Ausübung dieser Lehr- und Hirtengewalt. Sind zu dieser Versammlung Teilnehmer aus der gesamten Weltkirche geladen und handeln sie unter dem Vorsitz des Papstes bzw. seiner Vertreter, dann nennt man diese Versammlung ein Allgemeines oder Ökumenisches Konzil, wobei "ökumenisch" hier im Unterschied zu unserem modernen Gebrauch dieses Begriffes sich auf die Herkunft der Konzilsteilnehmer aus der Ökumene, d. i. der gesamten bewohnten Welt, bezieht. (Fs) (notabene)

178a "Concilium episcoporum est" - ein Konzil ist Sache von Bischöfen. So heißt ein Grundsatz, den schon das Konzil von Chalkedon des Jahres 451 als unbezweifelte Selbstverständlichkeit formuliert hatte. (Fs)

Die Ausübung von Lehr- und Hirtengewalt innerhalb der Kirche ist nämlich unauflöslich, wenn auch in differenzierter Weise, an die Weihe gebunden. Das heißt, daß an einem solchen kollegialen Entscheidungsprozeß nur jener "iure proprio", auf Grund eigenständigen Rechtes, teilhaben kann, der durch Empfang der Bischofsweihe und kanonische Übertragung der Hirtengewalt Mitglied des bischöflichen Kollegiums geworden ist. Seit dem hohen Mittelalter werden dazu auch noch höhere Ordensobere eingeladen, die zwar nicht Bischöfe sind, wohl aber über ihren Orden quasibischöfliche Jurisdiktion innehaben, die ihnen durch den Papst übertragen wird. (Fs)

Diese bischöfliche Weihe, die dem Empfänger die Fülle des Weihesakramentes vermittelt, verleiht zugleich der Seele des Geweihten ein unzerstörbares Gepräge, das ihn in seinem Personsein Christus als dem eigentlichen Hirten, Lehrer und Priester gleichförmig macht. In dieser übernatürlich-ontologischen "configuratio cum Christo" wurzelt dann auch die Teilhabe am Lehr- und Hirtenamt Jesu Christi. In eben dieser sakramental begründeten Teilhabe besteht darum auch die eigentliche Grundlage für die vollberechtigte Teilnahme und Mitwirkung an einem Konzil. Weil nun ein Konzil aus Teilnehmern besteht, die in einer so gearteten sakramentalen Verbindung mit dem erhöhten Christus stehen, trifft auch auf ein Konzil die Verheißung des Herrn zu, der zu seinen Aposteln sagte: "Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich, und wer mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat."

179 Daraus ergibt sich alsdann die Autorität und letztgültige Verbindlichkeit von Konzilsdekreten, die die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche zu definieren den Anspruch erheben. Schon sehr früh, spätestens um 400, berief man sich dafür auf das 15. Kapitel der Apostelgeschichte, wo von der Jerusalemer Apostelversammlung, dem sogenannten Apostelkonzil, berichtet wird. Deren Beschlüsse werden aber mit der Formel eingeleitet: "Es hat dem Heiligen Geist und uns gefallen - edOkei -, d. h. der Heilige Geist und wir haben beschlossen ..." Es entspricht also der ältesten Überzeugung der Kirche, daß ein kollegialer Akt der Träger ihres Lehr- und Hirtenamtes seine Verbindlichkeit und Autorität der Mitwirkung des Heiligen Geistes verdankt. Definitive Lehräußerungen eines Konzils sind darum Ausdruck der lehramtlichen Unfehlbarkeit, d. h. der Irrtumslosigkeit der Kirche in Sachen der Lehre, weshalb sie die Gläubigen im Gewissen binden. (Fs)

Wir sehen also, daß ein Konzil auf Grund seiner Struktur von einem demokratisch verstandenen Kirchenparlament um Lichtjahre entfernt ist, wenngleich gewisse äußere Ähnlichkeiten in der Weise des Vorgehens etwas anderes suggerieren könnten. So etwa wird auf einem Konzil zwar abgestimmt, aber die Lehre wird keineswegs durch Mehrheitsbeschluß geschaffen. Sie ist vielmehr im geoffenbarten und überlieferten Glaubensgut der Kirche enthalten und wird von den Bischöfen als authentischen Zeugen der heiligen Überlieferung bezeugt und von ihnen als Richtern gegebenenfalls gegenüber dem Irrtum abgegrenzt. Darin besteht der Sinn einer konziliaren Abstimmung, die, wie gesagt, von einer demokratischen Mehrheitsentscheidung wesentlich verschieden ist. Es versteht sich von selbst, daß eben darin auch der fundamentale Unterschied zwischen einem Konzil oder, was dasselbe ist, einer Synode der katholischen Kirche und dem, was man im Bereich der Reformation Synode nennt, begründet ist. Eine lutherische oder eine reformierte Synode ist in der Tat ein Organ demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Davon kann innerhalb der katholischen und auch der orthodoxen Kirche keine Rede sein. (Fs) (notabene) (notabene)

Ein Allgemeines Konzil, auch Allgemeine Synode genannt, ist demnach das Organ für die gemeinschaftliche Ausübung des Lehr-und Hirtenamtes der Kirche durch die unter der Leitung des Papstes versammelten Mitglieder des bischöflichen Kollegiums. Von einer Regional- bzw. Provinzialsynode spricht man dann, wenn sich zu gleichem Zwecke die Bischöfe einer Region oder einer Kirchenprovinz versammeln. Eine solche Synode bzw. ein solches Partikular- oder Teilkonzil übt dann die kirchliche Lehr- und Hirtengewalt über jene bestimmte Region oder Provinz aus, deren Bischöfe sich versammelt haben. (Fs)

180a "Concilium episcoporum est!" Das bedeutet auch, daß eine Diözesansynode nur in ganz uneigentlichem Sinn Synode genannt werden kann, da auf ihr nur ein einziger mit eigener und ordentlicher Hirtengewalt ausgestatteter Bischof anwesend und tätig ist. Weihbischöfe haben keine eigenständige Hirtengewalt, können also mit dem Ortsbischof zusammen kein eigentliches Konzil, keine Synode bilden. Auch wenn, wie z.B. im Bistum Münster, fünf Weihbischöfe tätig sind. Der einzige, der auf einer Diözesansynode das Lehr- und Hirtenamt ausübt, ist der Oberhirte der Diözese. Er allein verantwortet dann auch die Dekrete, die er nach Anhörung -keinesfalls aber auf Beschluß - der Synodalen erläßt. Soviel also zur Klärung der Begriffe. (Fs)

Nun freilich könnte jemand sagen, hier sei doch eher eine vom Lichte vieler Öllämpchen in mystischen Glanz getauchte Heiligenikone gemalt, nicht aber ein realistisches Historiengemälde von der Institution "Konzil" entworfen worden. Bietet, so kann man fragen, die Konziliengeschichte nicht vielmehr eine Fülle von Informationen über allzu Menschliches, über Machtkämpfe, Intrigen, Eitelkeiten, ja Äußerungen von Aggressivität etc. auf Konzilien? Hat nicht jener recht, der im Blick auf das 1. Vatikanum einmal gesagt hat, dieses Konzil habe drei Phasen durchlaufen: Erstens die Phase der Menschen, zweitens die des Teufels und schließlich die des Heiligen Geistes?

180b Zweifellos ist daran viel Wahres. Und das ist auch nicht verwunderlich, wenn man nicht außer acht läßt, daß sich göttliche Wahrheit und Gnade in der Kirche niemals "chemisch rein", sondern immer nur im irdischen Pilgerkleid, das nicht selten staubbedeckt und da und dort auch löcherig ist, darstellen. Diese Erfahrung tut aber der - freilich nur im Glauben erfaßbaren - Tatsache nicht Abbruch, daß ein Allgemeines Konzil, wenn immer es diesen Namen verdient und diesen Anspruch erhebt, in der Tat im Namen Christi und in seiner Vollmacht die Kirche leitet und lehrt. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Vaikanum 2 - Liste der Konzilien; Besonderheiten; im Strom der Überlieferung

Kurzinhalt: Das 2. Vatikanum hingegen hat weder Gericht gehalten noch eigentliche Gesetze erlassen, noch Glaubensfragen definitiv entschieden. Es hat vielmehr geradezu einen neuen Typ von Konzil realisiert, indem ...

Textausschnitt: 181a Wenn wir nun die Frage stellen, aufweiche und auf wieviele Konzilien dies zutrifft, haben wir nicht nur einen weiteren Schritt in der Behandlung unseres Themas zu tun, das ja das 2. Vatikanum im Zusammenhang und vor dem Hintergrund der bisherigen Allgemeinen Konzilien darzustellen verlangt, wir haben damit auch ein zentrales Problem der Konzilienforschung überhaupt aufgeworfen. Als Johannes XXIII. das 2. Vatikanische Konzil einberief und es als das 21. Allgemeine Konzil bezifferte, ist er mit der ihm eigenen Unbekümmertheit verfahren, ohne den Kirchenhistoriker, der er ja selber war, erst lange befragt zu haben. Dieser hätte ihm allerdings sagen müssen, daß es bislang keine historisch gesicherte und schon gar keine kirchlich-amtliche Zählung der Allgemeinen Konzilien gibt. (Fs)

Die Zählung, der Papa Giovanni einfach das 2. Vatikanische als das 21. Allgemeine Konzil hinzugefügt hat, stammt nämlich nur von einer Expertenkommission unter Leitung des Kardinals und späteren Heiligen Roberto Bellarmino aus dem Jahre 1595. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß die Zahl der Allgemeinen Konzilien nach wie vor Gegenstand der Forschung ist. Damit ist zugleich gesagt, daß auch Zahl und Namen der Konzilien, mit denen wir hier das 2. Vatikanum zu vergleichen uns vorgenommen haben, keineswegs feststehen. Das aber soll uns heute weder im einzelnen beschäftigen noch auch behindern. Vergleichsmaterial ist in nicht zu bewältigendem Überfluß vorhanden. Nur werden wir eben das 2. Vatikanum nicht einfach als das "21." Konzil bezeichnen. (Fs)

Wie also präsentiert sich die Kirchenversammlung der Jahre 1962-1966 vor dem Hintergrund ihrer Vorgängerinnen? Nun, da stoßen wir auf dem 2. Vatikanum nicht, wie etwa zu Trient, auf zwei Bischöfe, die sich in der Hitze des Streits die Barte ausrissen. Es ist auch nicht bekannt, daß eine Gruppe von Franzosen ihre englischen Mitsynodalen von der Sitztribüne hinuntergeworfen hätte, wie dies zu Basel geschehen ist. Auch was zu Konstantinopel 786 passierte, hat sich 1962 in Rom nicht wiederholt, daß nämlich kaiserliches Militär den ersten Versuch zum Zusammentritt des 7. Allgemeinen Konzils verhinderte, indem es die Väter überfiel und auseinanderjagte, so daß das Konzil schließlich in Nicaea stattfinden mußte. Doch Spaß beiseite: Das 2. Vatikanum stellt sich dem Konzilienhistoriker zunächst in mehrfacher Hinsicht als das Konzil der Superlative dar. Beginnen wir mit der Feststellung, daß noch niemals in der Kirchengeschichte ein Konzil so intensiv vorbereitet wurde wie das 2. Vatikanum. Gewiß ist auch das Vbrgängerkonzil sehr gut vorbereitet gewesen, als es am 8. Dezember 1869 begann. Vermutlich war die theologische Qualität der vorbereiteten Schemata sogar besser als die des nachfolgenden Konzils. Unübersehbar ist jedoch, daß die Zahl der eingesandten Anregungen und Vorschläge aus aller Welt und die Art ihrer Verarbeitung alles bisher Dagewesene übertrafen. (Fs)

182a Als Konzil der Superlative erwies sich das 2. Vatikanum in augenfälliger Weise am 11. Oktober 1962, als die ungeheure Zahl von 2440 Bischöfen in die Basilika von St. Peter einzog. Hatte noch das 1. Vatikanum mit seinen ca. 642 Vätern im rechten Querschiff von St. Peter Platz gefunden, so hatte man nun das gesamte Längsschiff zur Konzilsaula gemacht. In den hundert Jahren zwischen den beiden Konzilien war die Kirche, wie hier in beeindruckender Weise sichtbar wurde, nicht mehr nur dem Anspruch nach, sondern auch de facto zur Weltkirche geworden. Eine Tatsache, die sich nun in der Zahl der 2440 Väter und ihrer Herkunftsländer widerspiegelte. Hinzu kommt, daß erstmals in der Geschichte der Kirche ein Konzil seine Voten mit Hilfe elektronischer Technik abgab, und akustische Probleme, die noch die Teilnehmer am 1. Vatikanum geärgert hatten, nunmehr nicht einmal erwähnt zu werden brauchten. (Fs)

182b Da wir schon von modernen Kommunikationsmitteln sprechen: Es war bislang noch nie der Fall gewesen, daß, wie 1962 geschehen, etwa 1000 Journalisten aus aller Welt beim Konzil akkreditiert wurden. Damit wurde das 2. Vatikanum auch zum bekanntesten Konzil aller Zeiten, zu einem weltweiten Medienereignis ersten Ranges. Konzil der Superlative ist es aber in ganz besonderer Weise hinsichtlich seiner Ergebnisse. Von den 1135 Seiten, die die Ausgabe der Dekrete aller üblicherweise als ökumenisch betrachteten Konzilien umfaßt, und das sind also etwa zwanzig, hat das 2. Vatikanum allein 315 Seiten, das ist erheblich mehr als ein Viertel, hervorgebracht. So nimmt unser Konzil in der Reihe der übrigen Allgemeinen Konzilien ohne jeden Zweifel eine besondere Stellung ein, allein nach eher materiellen, äußerlichen Kriterien. (Fs)

Ein eigenes Profil

183a Doch es gibt darüberhinaus noch andere Besonderheiten dieses Konzils, die es vom Hintergrund seiner Vorgänger abheben, so etwa in Bezug auf die Funktionen eines Allgemeinen Konzils. Konzilien sind oberste Lehrer, oberste Gesetzgeber und oberste Richter unter und mit dem Papst, dem all dies natürlich auch ohne Konzil zukommt. Nicht jedes Konzil hat jede dieser Funktionen ausgeübt. Hat etwa das 1. Konzil von Lyon im Jahre 1245 durch die Bannung und Absetzung Kaiser Friedrichs II. als Gerichtshof gehandelt und überdies Gesetze erlassen, so hat etwa das 1. Vatikanum weder Gericht gehalten noch Gesetze erlassen, sondern ausschließlich Fragen der Lehre entschieden. Das Konzil von Vienne von 1311/12 hingegen hat sowohl Gericht gehalten als auch Gesetze erlassen und Glaubensfragen entschieden. Von den Konzilien von Konstanz 1414/18 und Basel-Ferrara-Florenz 1431/39 gilt das gleiche. (Fs)

Das 2. Vatikanum hingegen hat weder Gericht gehalten noch eigentliche Gesetze erlassen, noch Glaubensfragen definitiv entschieden. Es hat vielmehr geradezu einen neuen Typ von Konzil realisiert, indem es sich als ein pastorales, also seelsorgliches Konzil verstand, das Lehre und Weisung des Evangeliums in eher gewinnender und wegweisender Art und Weise der Welt von heute nahebringen wollte. Insbesondere hat es keinerlei Lehrverurteilungen ausgesprochen. Johannes XXIII. hatte in seiner Eröffnungspredigt ausdrücklich davon gesprochen: "Die Kirche ist immer den Irrlehren entgegengetreten. Häufig hat sie sie mit der größten Strenge verurteilt". Heutzutage dagegen "zieht es die Kirche vor, von der Medizin der Gnade Gebrauch zu machen ... Sie glaubt, daß sie den Bedürfnissen der heutigen Zeit entspricht, indem sie lieber die Gültigkeit ihrer Lehren demonstriert als Verurteilungen ausspricht". Nun, es wäre, wie wir 25 Jahre nach seinem Abschluß wissen, ein Ruhmesblatt für das Konzil gewesen, wenn es, den Fußstapfen Pius' XII. folgend, den Mut zu einer wiederholten und ausdrücklichen Verurteilung des Kommunismus gefunden hätte. (Fs) (notabene)

184a Indes hat die Scheu davor, ebenso lehrmäßige Verurteilungen wie dogmatische Definitionen auszusprechen, auch dazu geführt, daß am Ende konziliare Äußerungen standen, deren Grad von Authentizität und damit Verbindlichkeit durchaus verschieden war. So etwa besitzen die Konstitutionen "Lumen gentium" über die Kirche und "Dei verbum" über die göttliche Offenbarung durchaus Charakter und Verbindlichkeit authentischer Lehrverkündigung - doch auch hier wurde nichts im strikten Sinne letztverbindlich definiert - während andererseits die Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" nach Klaus Mörsdorf "ohne ersichtlichen Normgehalt zu Fragen der Zeit Stellung nimmt". Den Konzilstexten kommt also ein durchaus unterschiedlicher Grad von Verbindlichkeit zu. Dies war ebenfalls etwas ganz Neues in der Konziliengeschichte. (Fs) (notabene)

Vergleichen wir aber zum Schluß das 2. Vatikanum mit dem ersten Nicaenum und mit seinen beiden Vorgängerkonzilien, dem Tridentinum (1545/64) und dem 1. Vatikanum, hinsichtlich ihrer Folgeerscheinungen. Da fällt ins Auge, daß es nach beiden vatikanischen Konzilien zu Schismen kam. 1871 spalteten sich die Altkatholiken im Protest gegen die Definitionen von Primat und Unfehlbarkeit des Papstes von der Kirche ab, und nach dem 2. Vatikanum begab sich Erzbischof Lefebvre mit bis auf den heutigen Tag vor allem in Frankreich und Amerika wachsendem Anhang auf einen Weg, der, wenn er keine Wendung nimmt, zu einem Schisma führen muß. So widersprüchlich die beiden Bewegungen nun auch erscheinen: Beide treffen sich in ihrem "Nein" zu legitimen Entwicklungen in Lehre und Leben der Kirche, das in einem gestörten Verhältnis zur Geschichte gründet. Ist die altkatholische Bewegung aus Mangel an religiösem Gehalt und dadurch, daß die kirchliche Entwicklung nach 1871 ihrem Protest den Boden entzogen hat, ausgetrocknet und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt worden, so stellt die Bewegung Lefebvres die Kirche von heute vor die Aufgabe, auch deren Protest als unberechtigt zu erweisen. Daß es gelingen möge, bleibt zu hoffen. (Fs)

Hoffnung mag auch hier aus der Erfahrung der Geschichte erwachsen. Konzilien brauchen nun einmal einen langen Atem, den Atem der Geschichte. Nach dem 1. Konzil von Nicaea, das die wahre Gottheit Jesu Christi gegen Arius verteidigt und definiert hatte, begannen erst neue Glaubenskämpfe, die in den Nachkonzilsjahren an Erbitterung und Gewaltsamkeit zunahmen, ehe sich, vor allem dank der Autorität der Päpste, das nicaenische Dogma schließlich durchsetzte. Ein Prozeß, der mehr als eine Generation in Anspruch nahm. (Fs)

185a Durchaus vergleichbar ist damit auch die postkonziliare Phase des Konzils von Trient, das nach den Zusammenbrüchen der Reformation eine religiöse, missionarische und kulturelle Hochblüte des katholisch verbliebenen Teiles Europas zur Folge hatte. Hubert Jedin hat dafür das Wort vom "Wunder von Trient" geprägt. Wir würden aber irren, wenn wir meinten, diese Blüte habe sich gleichsam über Nacht entfaltet! Nachdem das Konzil 1564 beschlossen worden war, hat es nahezu hundert Jahre gedauert, ehe seine dogmatischen und reformerischen Dekrete auf breiter Front Wirkung zeigten! Dieser Prozeß aber setzte überall da ein, wo und wann die Bischöfe von ihren Priestern, Lehrern und Beamten den Eid auf das tridentinische Glaubensbekenntnis forderten, das Pius IV. 1564, ein knappes Jahr nach Konzilsende, formuliert und vorgeschrieben hat. (Fs)

185b Im Blick auf diese Erfahrung scheint es hoch an der Zeit, daß ein analoges Glaubens- und Treuebekenntnis von allen jenen geleistet und gelebt werde, die im Dienst der Kirche stehen. Der Zeitpunkt, zu dem dies geschieht, könnte, wie seinerzeit nach Trient, den Beginn einer wirklichen Realisierung des 2. Vatikanums markieren. Davon allerdings dürften wir Großes für Kirche und Welt von heute erhoffen. (Fs)

Im Strom der Überlieferung

185c Nun gäbe es natürlich noch zahlreiche andere Gesichtspunkte, vor allem solche inhaltlicher, theologischer Art, unter denen ein Vergleich zwischen unserem Konzil und anderen Konzilien gezogen werden könnte. Damit käme man aber lange nicht zu einem Ende. Dabei käme zum Schluß doch nur das Ergebnis heraus, daß zwar nahezu jedes der bekannten Konzilien und natürlich auch das 2. Vatikanische sowohl nach Struktur, Ablauf und Inhalt seine unverwechselbare Eigenart besitzt, doch aber mit allen anderen dies gemeinsam hat, daß es sich in formaler Hinsicht bei jedem Konzil um die kollegiale Ausübung des obersten Lehr- und Hirtenamtes gehandelt hat - inhaltlich gesehen jedoch um die situations-bezogene Vorlage, Auslegung und Anwendung der heiligen Überlieferung. Zu dieser Überlieferung leistet nun jedes Konzil seinen spezifischen Beitrag. Dieser kann selbstverständlich nicht in einer Hinzufügung neuer Inhalte zum Glaubensgut der Kirche bestehen. Erst recht nicht in einer Ausscheidung bisher überlieferter Glaubenslehren. Es ist vielmehr ein Prozeß von Entfaltung, Klärung, Unterscheidung, der sich hier vollzieht, und zwar unter dem Beistand des Heiligen Geistes, und der dazu führt, daß jedes Konzil mit seiner definitiven Lehrverkündigung als integrierender Bestandteil in die Gesamttradition der Kirche eingeht. Insofern sind Konzilien jeweils nach vorne, in Richtung auf umfassendere, klarere, aktuellere Lehrverkündigung offen, nie aber nach rückwärts. Ein Konzil kann seinen Vorgängern niemals widersprechen, es kann ergänzen, präzisieren, weiterführen. (Fs)
186a Anders ist es freilich mit dem Konzil als Organ der Gesetzgebung. Diese kann, ja muß allemal - freilich wiederum im Rahmen, den der Glaube vorgibt - auf die konkreten Erfordernisse einer bestimmten historischen Situation eingehen und ist insofern dem Wandel grundsätzlich unterworfen. (Fs)

Eines mag aus diesen Bemerkungen klar geworden sein: All das gilt auch für das 2. Vatikanum. Auch dieses ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Konzil unter, neben, nach anderen. Es steht weder über noch außerhalb, sondern in der Reihe der Allgemeinen Konzilien der Kirche. Daß dem so ist, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Selbstverständnis nahezu aller Konzilien. Es genügt, deren entsprechende Äußerungen sowie die der frühen Väter über diese Frage anzuführen. Sie erblicken in der Überlieferung geradezu das Wesen der Konzilien. (Fs)

Schon Vinzenz von Lerins (+ vor 450) reflektiert ausdrücklich darüber in seinem "Commonitorium": "Was hat die Kirche anderes durch ihre Konzilsdekrete erstrebt, als daß dasselbe, was vor einem Konzil schlicht geglaubt wurde, von da an mit mehr Bestimmtheit geglaubt wurde; dasselbe, was vor ihm ohne Nachdruck verkündigt wurde, von da ab intensiver verkündigt wurde; dasselbe, was vor ihm in aller Sicherheit verehrt wurde, von da ab mit größerem Eifer verehrt wurde. Dies, so behaupte ich, und nichts anderes, hat die katholische Kirche immer, aufgeschreckt durch die Neuerungen der Häretiker, durch ihre Konzilsdekrete erreicht: Was sie zuvor von den 'Vorfahren' allein durch Überlieferung empfangen hatte, hat sie von nun an für die 'Nachfahren' auch schriftlich niedergelegt. Sie tat es, indem sie vieles in wenige Worte zusammenfaßte und oft, zum Zwecke des klareren Verständnisses, den unveränderten Glaubensgehalt mit neuen Bezeichnungen ausdrückte."

187a Diese genuin katholische Überzeugung findet ihren Niederschlag in der Definition des 2. Konzils von Nicaea von 787, das so formuliert: "Da dies sich so verhält, haben wir gewissermaßen den königlichen Weg eingeschlagen und sind der Lehre unserer von Gott inspirierten Väter und der Überlieferung der katholischen Kirche gefolgt, denn diese stammt, wie wir wissen, vom Heiligen Geist, der in ihr wohnt, und beschließen ..." - und dann folgen die Kernsätze des Konzilsdekrets. Ganz besonders wichtig ist auch die letzte der vier Verurteilungen: "Wenn jemand die ganze kirchliche Überlieferung, geschrieben oder ungeschrieben, verwirft, so sei er im Banne."

187b Schließlich zeigt auch das 2. Vatikanum, wie sehr es sich selbst im Strome der Tradition stehend erkennt. Die Fülle von Berufungen auf die Tradition in den Texten des 2. Vatikanums ist sehr beeindruckend. In großer Breite nimmt das Konzil die Tradition auf, wenn es Konzilien, besonders das Florentinum, das Tridentinum und das 1. Vatikanum, wenn es die Enzykliken etc. zahlreicher Päpste, wenn es die Fülle der Väterliteratur und die großen Theologen, allen voran Thomas von Aquin, als jene Quellen zitiert, aus denen es schöpft. Indem sie also ein Konzil abhält, realisiert die Kirche ihr eigenstes Wesen. Die Kirche - und damit das Konzil - überliefert, indem sie lebt, und sie lebt, indem sie überliefert. Überlieferung ist ihr eigentlicher Wesensvollzug. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Vaikanum 2 - Traditionsbruch?; Ratzinger (Erfahrung als Professor);

Kurzinhalt: Ich habe als Professor selbst erlebt, wie der gleiche Bischof, der vor dem Konzil einen untadeligen Professor wegen seiner etwas groben Ausdrucksweise abgelehnt hatte, sich nach dem Konzil nicht imstande sah, einen anderen Professor abzulehnen, ...

Textausschnitt: 187c In diesen Feststellungen sind bereits wesentliche Aussagen bezüglich der Interpretation eines jeden, auch des 2. Vatikanischen Konzils, enthalten. Kardinal Ratzinger hat seinerzeit vor den chilenischen Bischöfen zu diesem Problem die folgenden, mit dem oben Gesagten innerlich kohärenten Sätze geäußert: (Fs)

188a "Es gibt eine unerleuchtete Isolierung des Zweiten Vatikanums... Manche Darstellungen erweckten den Eindruck, als ob nach dem Vatikanum II alles anders geworden sei und alles Vorherige gar nicht mehr oder nur noch im Lichte des Vatikanums II gelten könne. Das Zweite Vatikanum wird nicht als ein Teil der lebendigen Gesamttradition der Kirche behandelt, sondern geradezu als das Ende der Tradition und als ein völlig neuer Beginn. Obgleich es selbst kein Dogma erlassen hat und sich bescheidener im Rang als pastorales Konzil verstanden wissen wollte, stellen es manche so dar, als sei es gleichsam das Superdogma, das alles andere unwichtig mache. Dieser Eindruck wird vor allem durch Vorgänge im praktischen Bereich verstärkt. Was vorher das Heiligste war - die überlieferte Form der Liturgie - erscheint plötzlich als das Verbotenste und das einzig sicher Abzulehnende. Kritik an modernen Maßnahmen der Nachkonzilszeit wird nicht geduldet, wo aber die alten großen Wahrheiten des Glaubens im Spiele stehen, etwa die leibliche Jungfräulichkeit Marias, die leibliche Auferstehung Jesu, die Unsterblichkeit der Seele usw., erfolgen Reaktionen überhaupt nicht oder nur höchst gedämpft. Ich habe als Professor selbst erlebt, wie der gleiche Bischof, der vor dem Konzil einen untadeligen Professor wegen seiner etwas groben Ausdrucksweise abgelehnt hatte, sich nach dem Konzil nicht imstande sah, einen anderen Professor abzulehnen, der offen einige Grundwahrheiten des Glaubens leugnete. All dies bringt Menschen zu der Frage, ob denn die Kirche von heute eigentlich noch dieselbe Kirche sei wie die Kirche von gestern, oder ob man ihnen nicht, ohne sie zu fragen, eine andere untergeschoben habe. Wir können das Vatikanum II nur dann wirklich glaubhaft machen, wenn wir es ganz deutlich als das darstellen, was es ist: ein Stück der ganzen und einen Tradition der Kirche und ihres Glaubens." (notabene)

Soweit die Ausführungen Ratzingers. Diesen kann nur entsprochen werden, wenn die Dekrete des 2. Vatikanums nicht isoliert, sondern im Lichte der gesamten Tradition interpretiert werden. Dies war oftmals nicht so selbstverständlich, wie es hätte sein müssen. Es war in der Tat in den Nachkonzilsjahren modern, die Kirche mit einer Baustelle zu vergleichen, auf der Abbruch und Neu- bzw. Umbau erfolgte. Sehr häufig wurde in Predigten der Befehl Gottes an Abraham in Genesis 12 - "Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde ..." - als Aufforderung an die Kirche zum Verlassen ihrer Vergangenheit und ihrer Überlieferung interpretiert. Man sprach enthusiastisch vom Ablegen des Schiffes Petri und seiner Fahrt zu neuen Ufern. Aufbruch nach dem Unbekannten, Fernen, Neuen wurde gepredigt - und Tradition wurde zum Schimpfwort. Demgegenüber ist mit allem Nachdruck festzustellen, daß eine Interpretation des 2. Vatikanums im Widerspruch zur Tradition dem Wesen von katholischem Glauben, Kirche und Konzil widersprechen würde. Die Tradition, nicht der Zeitgeist ist das konstitutive Element des Interpretationshorizonts. (Fs)

189a Gewiß darf der Blick auf das Heute keinesfalls fehlen. Es sind die Fragen von heute, die beantwortet werden müssen. Aber die Elemente, aus denen diese Antwort besteht, können nirgendwo anders herkommen als aus der ein für allemal gegebenen göttlichen Offenbarung, die uns die Kirche unverfälscht durch die Jahrhunderte überliefert. Diese Überlieferung stellt dann auch das Kriterium dar, dem eine jede neue Antwort standhalten muß, wenn sie wahr und gültig sein soll. (Fs) (notabene)
189b Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die so beliebte Unterscheidung von "vorkonziliar" und "nachkonziliar" als theologisch wie historisch höchst fragwürdig. Ein Konzil ist niemals Endpunkt oder Ausgangspunkt, nach denen die Kirchengeschichte oder gar die Heilsgeschichte eingeteilt werden könnte. Ein Konzil ist Glied in einer Kette, deren Ende niemand kennt als der Herr der Kirche und der Geschichte. Es kann niemals Bruch herbeiführen, es muß in der geistgewirkten Kontinuität bleiben. (Fs)

Weder Anfang noch Schlußpunkt

189c Kontinuität hat nun freilich auch etwas mit Fortsetzung zu tun. Gibt es also ein 3. Vatikanum? Es verwundert nicht, wenn manche sogar eine solche Forderung erheben - und sie wird von den widersprüchlichsten Kräften erhoben. Meinen die einen, es müßte jetzt ein neues Konzil kommen, das endlich die Schranken zur Welt von heute niederreißt, die Demokratisierung der Kirche durchführt, denen, die nach einer gescheiterten Ehe eine neue Verbindung eingegangen sind, den Zugang zu den Sakramenten, den Frauen den Weg zum Priestertum und den Priestern den Weg zur Ehe eröffnet, und die Wiedervereinigung der getrennten Christen bringt, so meinen die anderen, der Wirrwarr und die Krise der aufgeregten Nachkonzilszeit bedürften dringend der ordnenden und lenkenden Hand eines 3.Vatikanums. (Fs)

190a Eines ist gewiß: auch dieses 3. Vatikanum, 1. Nairobinum oder gar 1. Moscovitanum, es stünde wiederum im Strom der Tradition, es wäre nur ein weiteres Glied dieser ehrwürdigen Reihe. Vielleicht hat sogar das 2. Vatikanum selbst, indem es sich als ein pastorales Konzil verstand und auf Definitionen wie auf Lehrurteile verzichtete, den Weg zu einem künftigen Konzil gewiesen, das gerade die Klärung wesentlicher und die Fundamente des Glaubens berührender Fragen der Lehre als seine Aufgabe erkennt? Wirft nicht der Zusammenbruch der sozialistischen Ideologien und Utopien, die fast hundert Jahre lang die Geister und die Völker gefesselt hatten, Fragen auf, die die Menschen in der Tiefe ihres Wesens bedrängen, von deren Lösung auch das irdische Schicksal einer immer enger zusammenwachsenden Welt abhängt? Und: Wer kann diese Fragen beantworten, wenn nicht die Kirche, durch deren Mund der erhöhte Christus zur Menschheit spricht?

190b Das 2. Vatikanum war jedenfalls weder der Anfang noch ist es der Schlußpunkt der Konziliengeschichte, und noch immer stehen wir vor der Aufgabe, es zu verwirklichen, ehe wir von Zukunft sprechen. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Theologie, Theologien, Staatstheologen; "voraussetzungslosen Wissenschaft"; theologische Fakultät - staatliche Universität

Kurzinhalt: Mit rein institutionellen Veränderungen wird nichts, aber auch gar nichts besser! Dergleichen hängt nahezu ausschließlich an den Personen, die damit befaßt sind. Keiner von den heute mit Recht kritisierten Theologen ist ohne das kirchliche Placet ...

Textausschnitt: 191a In dem umfassenden Problemfeld, das die Entstehung des modernen liberalen Staates nach 1848 geschaffen hat, waren die theologischen Fakultäten von Anfang an ein Punkt, an dem sich staatliche und kirchliche Interessen trafen, an dem die Bestrebungen des deutschen Katholizismus, sich von der Staatsomnipotenz zu emanzipieren, ansetzten. Im Vorfeld des Ersten Vatikanums, angeheizt durch die Diskussion um den Syllabus Pius' IX. und durch Bischof von Ketteler, der seinen Priesternachwuchs von der kurzlebigen Gießener Fakultät abzog und für dessen Ausbildung das Mainzer Priesterseminar zu einer hervorragenden theologischen Schule machte, flackert die Auseinandersetzung über die "Staatsfakultäten" immer wieder auf. Dabei waren es gerade Ultramontane, die mit ihrer Tendenz, das kirchliche Leben aus den Fesseln des Obrigkeitsstaates zu befreien, die "Entstaatlichung" der Priesterausbildung ebenso forderten wie eine Trennung von Staat und Kirche überhaupt. Der weltanschaulich liberale, politisch sich aber um so autoritärer gebärdende Staat war ihr eigentlicher Widerpart. (Fs)

Doch das war nicht die einzige ultramontane Position. So bedeutende Exponenten einer entschieden kirchlichen, rom-orientierten Richtung wie Franz Xaver Hettinger und Joseph Hergenröther - beide Würzburger Universitätsprofessoren und anerkannte Gelehrte, der letztere durch Leo XIII. zum Kardinal erhoben - waren geradezu begeisterte Befürworter der "Staatsfakultäten". Es waren wohl auch ihre persönlichen, sehr positiven Erfahrungen mit der Würzburger neuscholastisch dominierten Fakultät, die sie zu solchem Urteil motivierten. Mit Recht schrieb Hergenröther: "Ein völliges Untergehen der katholisch-theologischen Fakultäten an unseren Hochschulen, die zum weitaus größten Teil zur Erstarkung des kirchlichen Sinnes vieles beigetragen haben ... würde auch zur Mißachtung und Herabsetzung des geistlichen Standes in den Augen der übrigen gelehrten und gebildeten Berufsklassen führen und ihm ein Einwirken auf diese Klassen in der empfindlichsten Weise erschweren ... kaum könnte die Kirche ihren Todfeinden einen größeren Gefallen erweisen." Auch Hettinger hat recht, wenn er konstatiert, daß in Italien den Feinden der Kirche dies gelungen sei. In der Tat litt der italienische Klerus auch aus diesen Gründen an einer unübersehbaren gesellschaftlichen Inferiorität und Isolation. (Fs)

191a Auch hat Hettinger ebenso recht mit seiner Feststellung: "Unser deutscher Clerus hätte das nicht leisten können, was er gerade in den schweren Tagen des Culturkampfes geleistet hat", wenn auch er wie der größte Teil des französischen Klerus keine universitäre Bildung genossen hätte. Ein Urteil, das Bismarck ungewollt bestätigte, indem er den Widerstand des katholischen Klerus auf dessen Universitätsbildung zurückführte. Daß selbst die Krise, in die Fakultäten wie München, Bonn, Braunsberg und Breslau durch die Unfehlbarkeitsdiskussion von 1869/71 gerieten, im Sinne der Kirche überwunden werden konnte, schrieb der bedeutende Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle dem entschlossenen Handeln der Bischöfe zu, die dafür sorgten, daß die Vorlesungen jener Professoren, die sich in Widerspruch zum 1. Vatikanum begeben hatten, von den Seminaristen nicht mehr gehört wurden. (Fs)

Eine neue Krise der Fakultäten führte alsdann die Wende zum 20. Jahrhundert herauf. Nun war es die Ideologie einer "voraussetzungslosen Wissenschaft", in deren Namen die intellektuellen Gegner der Kirche ihre Abschaffung forderten. Theologie, gar katholische Theologie, könne man nicht als "Wissenschaft" anerkennen, sei sie doch in den Käfig kirchlicher Dogmatik eingezwängt und ermangele der Freiheit von Forschung und Lehre. Es war der schon genannte Merkle, der die Existenz der theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten in einem großen Vortrag vor Wissenschaftlern in Berlin im Jahre 1905 brillant verteidigte. Dabei mußte er einen Zweifrontenkrieg führen: einmal gegen die erwähnten liberal-agnostischen Vorurteile, dann aber auch gegen innerkirchliche Forderungen einer reinen Seminarausbildung des Klerus. Ungeachtet einer gewissen, sein Auditorium berücksichtigenden patriotischen Intonation waren zahlreiche seiner Argumente für den Bestand und die Bedeutung der Fakultäten überzeugend - und sind es auch heute noch. Sie wären es in der Tat noch mehr, wenn der Historiker Merkle die konkreten historischen Erfahrungen mit den "Staatstheologen" ein weniger realistischer betrachtet hätte. (Fs)

193a Was er da zu Berlin vorgebracht hat, war ein Plädoyer, bei dem er von der Idealkonstruktion sowohl des theologischen Betriebs als auch des Staates bzw. der Universität ausgegangen war. In der rauhen Wirklichkeit der Geschichte war es jedoch anders zugegangen. Hatte da die bayerische Regierung die einstmals katholische theologische Fakultät zu Würzburg im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts zu einer interkonfessionellen Fakultät umgestaltet und die Priesteramtskandidaten gezwungen, die Vorlesungen erklärtermaßen atheistischer Professoren zu hören, so hatten in Freiburg ebenfalls antikirchlich eingestellte Professoren Lehrstühle inne, von denen Reichlin von Meldegg gar die Gottheit Christi leugnete und schließlich zum Protestantismus abfiel, während Heinrich Schreiber und der Laie Amann die badische Antizölibatskampagne schürten. Nicht besser stand es in Gießen, einer Fakultät, die bald wieder eingegangen ist. Breslau zeichnete sich gleichfalls wenig durch kirchlichen Geist aus, erklärte die Fakultät doch 1817, daß einige Fächer, wie z.B. die biblischen, ebensogut bei protestantischen Professoren gehört werden könnten. Daß in einem solchen Milieu Männer wie Ronge und Czersky - die Väter des Deutschkatholizismus - heranwachsen konnten, verwundert nicht. (Fs)

Kein Wunder also, daß die staatlichen theologischen Fakultäten im Umkreis der katholischen Bewegung des 19. Jahrhunderts durchaus auf Skepsis stießen. Auch die Stellung der Fakultäten in der Modernismuskrise an der Wende zum 20. Jahrhundert war keineswegs unproblematisch. Es ist einfach nicht wahr, was heute landläufige Meinung ist: Es habe den Modernismus - der praktisch auf die Leugnung der Offenbarungsreligion überhaupt hinauslief - wenigstens in Deutschland nicht gegeben, und die kirchlichen Verurteilungen hätten - vielleicht von Joseph Schnitzer in München abgesehen - keinen deutschen Theologen wirklich betroffen. (Fs)

Daß von deutschen Theologieprofessoren der Antimodernisteneid nicht einmal gefordert werden konnte, spricht jedoch Bände. Dabei ging es nicht nur darum, von ihnen das Odium mangelnder wissenschaftlicher Freiheit abzuwenden. Bezeichnend genug, daß man den Dillinger Professoren in diesem Zusammenhang nicht zwar die Lehrbefugnis, wohl aber in merkwürdiger Inkonsequenz die Predigterlaubnis entzog. (Fs)

194a Kurz und gut: Die Existenz katholischer theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten, mit der Konsequenz, daß die Inhaber ihrer Lehrstühle sowohl im Auftrag der Kirche wie des Staates forschen und lehren, ist an sich eine ideale Konstruktion - unter idealen oder wenigstens normalen Verhältnissen. Da wäre dann in der Tat garantiert, daß der Priesternachwuchs in einer Atmosphäre akademisch-methodischer Strenge wie geistig kultureller Weite herangebildet wird. Die gesellschaftliche Integration wie der geistige Einfluß des Klerus in bzw. auf die übrige Akademikerschaft wäre gewährleistet. Vor allem aber könnte die Theologie ihre Stimme im Chor der Wissenschaften zu Gehör bringen und in einer Zeit geistiger und ethischer Orientierungskrisen ihren unentbehrlichen Beitrag leisten. (Fs) (notabene)

Deshalb: ja zu den staatlichen theologischen Fakultäten und ihrer Sendung für Kirche und Wissenschaft. Aber: ja unter allen Umständen? Keineswegs! Dieses Ja gilt nur und zwar nur unter der Voraussetzung, daß diese Fakultäten dem Gesetze folgen, unter dem sie angetreten sind, daß sie den Voraussetzungen entsprechen, unter denen sie von Kirche und Staat konkordatsmäßig abgesichert wurden. Das aber heißt, daß sie authentische katholische Theologie auf akademischem Niveau in Forschung und Lehre zu vertreten haben. Wenn es nicht mehr gewährleistet ist, daß Studenten wie wissenschaftliche Gesprächspartner anderer Fakultäten eine mit der Lehre der katholischen Kirche inhaltlich vollständig übereinstimmende theologische Lehre erfahren können, dann haben diese Fakultäten ihre kirchliche wie ihre staatliche Legitimation, aber auch ihr Bedeutung für die wissenschaftliche Welt verloren. (Fs) (notabene)

Nun wird man einwenden können, daß doch die Lehr- und Forschungsfreiheit des einzelnen Theologen verfassungsmäßig garantiert sei. Sie ist es, und das ist sehr erfreulich, aber: Damit ist keineswegs das Recht verbunden, innerhalb einer katholisch-theologischen Fakultät eine dem katholischen Glauben widersprechende Lehre zu vertreten. Gerät also ein Theologe in Konflikt mit dem Glauben der Kirche, muß er diesen Konflikt entweder bereinigen - oder seinen Lehrstuhl räumen. Das ist eine elementare Forderung intellektueller Redlichkeit, um so leichter zu erfüllen, als damit keinerlei Statusverlust verbunden ist. Wer sie dennoch nicht erfüllt, entlarvt damit eine Absicht, den Glauben der Kirche von innen her zu untergraben. Daß damit nicht der eine oder andere Einzelfall gemeint, sondern ein mittlerweile weitverbreitetes Phänomen aufgezeigt ist, ist seit langem offenkundig, ebenso wie das völlige Unverständnis vieler Katholiken dafür, daß solche Professoren nach wie vor Priesteramtskandidaten und Religionslehrer ausbilden können, wie wenn - was ja der unbefangene Student voraussetzt - ihre Lehre einwandfrei katholisch wäre. (Fs)

195a Unter diesen Umständen stellt sich in der Tat die Frage, welches Interesse kirchlicherseits am Fortbestand dieser Zustände überhaupt noch bestehen kann. Ist dann aber die Abschaffung der Fakultäten und die Übernahme der theologischen Ausbildung in rein kirchliche Hand das wahre Mittel, die gegenwärtig unbestreitbare Krise der Fakultäten zu beenden? Würde dadurch die Theologie in Deutschland ihr früheres, weltweit anerkanntes wissenschaftliches Niveau wieder erreichen, ihren kirchlichen Charakter wiedergewinnen? Mit rein institutionellen Veränderungen wird nichts, aber auch gar nichts besser! Dergleichen hängt nahezu ausschließlich an den Personen, die damit befaßt sind. Keiner von den heute mit Recht kritisierten Theologen ist ohne das kirchliche Placet auf seinen Lehrstuhl gekommen, keiner kann gegen den Willen des zuständigen Bischofs auf seinem Lehrstuhl bleiben. Die Verantwortung für die kirchliche Korrektheit der akademischen theologischen Lehre liegt eindeutig bei den Bischöfen. Das von dieser Seite gelegentlich geäußerte Vertrauen in die Selbstreinigungskräfte der theologischen Wissenschaft hat bislang getrogen. Zu stark sind die seit den "goldenen Sechzigern" geschaffenen ideologischen Machtstrukturen, die den theologischen Wissenschaftsbetrieb und insbesondere die akademische Personalpolitik kontrollieren. Vielleicht wird man aber auch gerade deshalb heute in extremen Situationen auch an extreme Lösungen denken müssen. (Fs) (notabene)

195b Was also bleibt? Es bleibt wenigstens die Hoffnung, daß Morsches und Welkes einmal von selbst fällt, vielleicht auch durch politische Sturmböen hinweggefegt wird, und aufkeimendes Leben sich neue Bahnen bricht. Auch das ist eine Lehre der Geschichte. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Theologie, Theologen - Arroganz; "Kölner Erklärung", "Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie"

Kurzinhalt: Was hingegen interessiert, sind in der Hauptsache politische, soziologische, religionswissenschaftliche Fragen - und natürlich solche aus dem Bereich des Ökumenismus. Das "Lima-Dokument" wird da genannt und die "konziliare Bewegung für Friede, ...

Textausschnitt: 196b Daß sich die katholische Theologie im deutschen Sprachraum in einer Krise ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses befindet, ja daß diese Krise ihrem Kulminationspunkt raschen Schrittes entgegeneilt, ist jedem klar, der die theologische Szene überblickt. (Fs)

Die sog. "Kölner Erklärung" vom 25. Januar 1989, die noch im gleichen Jahr erfolgte Gründung der "Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie" und zuletzt die Reaktionen auf die Erklärung der Glaubenskongregation über das Verhältnis der Theologie zum kirchlichen Lehramt haben jeden Zweifel an der Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Situation der Theologie beseitigt. Daß es sich bei all diesen Äußerungen und Initiativen um eine planvolle Aktion handelt, geht daraus hervor, daß die Initiatoren der "Kölner Erklärung" mit jenen der "Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie" identisch sind. Auch sind die Mitglieder des am 1. und 2. Dezember 1989 zu Mainz gewählten Vorstands dieser Gesellschaft, soweit sie deutscher Zunge sind, Unterzeichner der "Kölner Erklärung". Unter diesen Umständen liegt es mehr als nahe, anzunehmen, daß die eigentliche Raison d'etre dieser Gesellschaft die Propagierung von Intentionen und Inhalt der "Kölner Erklärung" sein soll. Es stellt sich auch die Frage, ob solche Initiativen ohne Ermutigung von autoritativer Seite erfolgt wären. (Fs)
Es ist deshalb angebracht, zunächst die "Anregungen für die Arbeit der nächsten Jahre der Gesellschaft" im Lichte der erwähnten Tatsachen und Umstände zu lesen:

"Der Theologie in Europa stellen sich im Dienst an Kirche und Gesellschaft spezifische Aufgaben. Sie beruhen u. a. auf folgenden Herausforderungen:

Der christliche Glaube wird von einer Minderheit gelebt. In manchen Städten werden nicht einmal mehr 10% der Kinder christlich getauft. Vielen scheint er nicht mehr geeignet, die Welt für morgen entscheidend zu prägen. 2. Religion ist gefragt, aber weniger in den Großkirchen. 3. Der Konsens in grundlegenden sittlichen Kriterien ist in den Gesellschaften immer schwerer erreichbar. 4. Die ökumenische Bewegung der Christen stagniert in vielen Punkten. 5. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau wird derzeit grundlegend neu bestimmt. Von der Frauenbewegung gehen wichtige Impulse aus. 6. Die Verantwortung für die künftigen Generationen wird unausweichlich. 7. Das ökonomisch und politisch entwickelte Europa trägt immer mehr Verantwortung in Beziehung zur Welt der armen Länder. 8. Die europäische Integrierung verlangt Versöhnung, neue Strukturen und - aus geschichtlicher Erfahrung -Besonnenheit. 9. Das Zusammenwachsen der Länder und Kulturen verlangt ein neues Verstehen der Geschichte. 10. Auch in Europa begegnen die Christen anderen Religionen, müssen sie respektieren und ihr Verhältnis zu ihnen überdenken. (Fs)

197a Auf der Basis einer solchen Analyse stellen sich folgende Fragen: 1. Welche Zeichen der Zeit helfen oder hindern, das Evangelium in Wort und Tat zu vermitteln? 2. Gibt es neue Bewegungen im europäischen Christentum und welche Chancen haben sie? 3. Welche neuen ethischen Fragen und Antworten (Normen, Tugenden, Institutionen) bieten sich an? 4. Welche Erneuerungen braucht der kirchliche Dienst der Theologie? 5. Kann die Erneuerung der katholischen Kirche auf der Basis von Konzil und Landessynoden weitergeführt werden?

Diese Frage richtet sich vor allem auf die Möglichkeiten der 'actuosa participatio' an der kirchlichen 'communio'. Kirche und Gesellschaft werden als Räume für das freie Wort und für aufbauende Kritik aus theologischem Sachverstand wahrgenommen und ausgebaut. Offenes Gespräch, wissenschaftlicher Anspruch, Dienst an der ganzen Kirche und an der Würde des Menschen sind Voraussetzungen für die Arbeit. (Fs)

Die Gesellschaft sieht im kirchlichen Amt der Theologen und Theologinnen einen eigenständigen Dienst am Volke Gottes. Sie engagiert sich auf der Basis des 2. Vatikanischen Konzils für die Anliegen des 'Lima-Dokumentes' und der konziliaren Bewegung für Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Diese Anregungen wurden am 2. Dezember 1989 von der Gründungsversammlung beraten. Änderungswünsche sind aufgenommen." (Fs)

198a Gewiß, in diesem Text werden zweifellos zunächst nur einige richtige Beobachtungen referiert und dann aus ihnen zum Teil berechtigte Fragen an die Theologie von heute abgeleitet. Antworten werden nicht gegeben, inhaltliche Positionen nicht bezogen. Dennoch aber ist daraus nicht weniges über die Standpunkte und Ziele der Verfasser zu entnehmen. Dem aufmerksamen Leser fallt sogleich auf, daß hier weder Fragen theologischer Grundlagenforschung gestellt, noch entsprechende Forschungsprojekte formuliert werden. Es gibt doch so viele Desiderata für die wissenschaftliche Theologie, und - etwa durch die Möglichkeiten der EDV - auch bedeutende Hilfen zu deren Erfüllung! Man denke hierbei nur an notwendige, modernen Anforderungen genügende Editionen theologischer Quellen und Literatur. Erforschung der kirchlichen Überlieferung scheint von den Verfassern dieses Programms überhaupt nicht als Aufgabe empfunden zu werden. Das gilt selbst von der Heiligen Schrift. Ebenso schwerwiegend, wenn nicht geradezu alarmierend ist es jedoch, wenn in diesem Themenkatalog weder von Gott, dem Einen und Dreieinen, dem Schöpfer, weder von Jesus Christus, von Sünde und Erlösung, von Gnade und den Sakramenten, noch von Maria, der Jungfrau und Gottesmutter, die Rede ist. Auch die so bedrängenden Themen der Eschatologie fehlen vollständig. In diesem ganzen Programm erscheint kein einziger Glaubensartikel, ja nicht einmal eines der Probleme der Glaubensbegründung als nachdenkenswert. Und: Wenn man sich schon der Aktualität verpflichtet fühlt - warum stellt man dann nicht die jeden einzelnen unmittelbar berührenden Fragen nach Abtreibung und Euthanasie den Moraltheologen zum Thema?

Was hingegen interessiert, sind in der Hauptsache politische, soziologische, religionswissenschaftliche Fragen - und natürlich solche aus dem Bereich des Ökumenismus. Das "Lima-Dokument" wird da genannt und die "konziliare Bewegung für Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung". Dabei ist offenkundig, daß die Positionen des "Lima-Papiers" bejaht werden, obgleich davon bei den nichtkatholischen Gesprächspartnern zumal, aber auch bei der katholischen Kirche keine Rede sein kann. (Fs)

Mit einem solchen Vorgehen wird allerdings katholische Theologie, ja Theologie überhaupt, ihres ureigensten Gegenstands beraubt, und de facto zu einem Spezialfall von Soziologie, Psychologie und Politologie ausgedünnt. (Fs)

199a Davon, daß Theologie mit der Offenbarung Gottes als ihrem eigentlichen Gegenstand steht und fällt, ist im Programm dieser Gesellschaft wenig, wenn überhaupt etwas zu erkennen. Bleibt der die Theologie in ihrem eigensten Wesen bestimmende Offenbarungsbezug jedoch dergestalt im Dunkeln, so läßt sich auch kein Bezug von Theologie auf Kirche und kirchliches Lehramt ermitteln. Beides, Kirche und Lehramt, sind ja nur dann mehr als soziologische Größen, wenn ihnen kraft göttlicher Stiftung göttliche Offenbarung zu Wahrung und Verkündigung anvertraut und die Authentizität bzw. Unverfälschtheit des durch die Kirche Bewahrten und Verkündeten vom göttlichen Stifter der Kirche gewährleistet werden. Theologie, in rechtem Verstand, nimmt deshalb ihren Gegenstand, Gottes Offenbarung, aus den Händen der Kirche entgegen, um ihn sodann in der der Sache geschuldeten Ehrfurcht mit Hilfe aller dem Gegenstand adäquaten Methoden wissenschaftlich zu befragen und so tiefer eindringend zu erkennen und darzustellen. (Fs) (notabene)

199b Eine ganz andere Sprache spricht da doch unsere Gesellschaft, wenn sie die Absicht äußert, "Kirche und Gesellschaft... als Freiräume für das freie Wort und für aufbauende Kritik aus theologischem Sachverstand" in Anspruch zu nehmen. Auch ist von einem "kirchlichen Amt der Theologen und Theologinnen" und von deren "eigenständigen (!) Dienst am Volke Gottes" die Rede. Überlieferung und Lehramt der Kirche werden hingegen nicht einmal erwähnt. Wie auf solche Weise der ausdrücklich erhobene "wissenschaftliche Anspruch" derartiger "Theologie" begründet werden könnte, ist schwer zu sehen. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Theologie, Theologen - Modernismuskrise; Hünermann, Greinacher; Ignaz von Döllinger (öffentliche Meinung)

Kurzinhalt: Hünermann und Greinacher haben recht: Wir stehen mitten in einer Modernismuskrise, die, weil sie sich vor dem Forum der breitesten Öffentlichkeit äußert, um vieles gefährlicher ist, als dies früher der Fall war.

Textausschnitt: 199c Weiteres Licht auf Motive und Ziele dieser Gesellschaft werfen nun zwei Artikel, von denen der eine der Feder des eigentlichen Initiators, Norbert Greinacher, der andere jedoch der des Präsidenten der Gesellschaft, Peter Hünermann, entflossen ist. Gemeinsam ist beiden Äußerungen der Rekurs auf die Geschichte, dessen Ergebnis die Konstatierung zweier Modernismuskrisen in der neueren Kirchengeschichte ist, worauf die Feststellung folgt, daß eine dritte Modernismuskrise sich seit einigen Jahren anbahne. Das Vorgehen ist an sich nicht nur legitim, es ist notwendig. Nur aus der Analyse der Lebenserfahrung lassen sich Hilfen für die Erkenntnis und Lösung von Gegenwartsproblemen gewinnen. Entscheidend sind hierbei jedoch Ansatz und Methode und natürlich eine umfassende Kenntnis und Würdigung der historischen Tatsachen. (Fs)

200a Dabei macht es sich Hünermann aber zu leicht, wenn er zur ersten großen Modernismuskrise unter Pius IX. einfach einen sachlich anfechtbaren Beitrag von Roger Aubert aus dem "Handbuch der Kirchengeschichte" von Jedin zitiert, und dadurch, daß er nur den Herausgeber Jedin nennt, die Annahme suggeriert, der angeführte Passus stamme von diesem, dem Nestor der deutschen Kirchengeschichtsschreibung unseres Jahrhunderts. (Fs)

Aubert und Hünermann wie auch Greinacher ignorieren bei ihrem negativen Urteil über Pius IX. allerdings, daß gerade in dessen von der Abwehr all der damals modernen "Ismen" charakterisiertem Pontifikat (1846-1878) das innerkirchliche Leben auf den Gebieten der Mission, der Caritas, der Volksfrömmigkeit und der Seelsorge wie auch der religiös-sozialen Laieninitiativen eine erstaunliche, ja bewundernswerte Blüte erlebt hat. Es mag genügen, auf die mehr als 150 Ordensneugründungen zu verweisen, die dieser Papst bestätigt hat. Die katholische Laienbewegung, die 1848 auf dem Mainzer Katholikentag an die Öffentlichkeit trat und die sich im Kulturkampf eindrucksvoll bewährt hat und überdies energisch gegen Nationalismus und Militarismus aufgetreten ist, ist Frucht jener Geistigkeit, die den Pontifikat Pius IX. kennzeichnet und die man heute so gern als "Ghettomentalität" verächtlich machen zu können glaubt. Und: daß Pius IX. es war, der als erster Papst, und zwar schon zu Beginn seines Pontifikats, den Kommunismus verurteilt hat, sollte man angesichts der Ereignisse von 1989/90 auch nicht übersehen. (Fs)

Daß es im Verlauf dieser philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen auch zu kirchlicher Maßregelung von Theologen kam, lag nicht zuerst an römischer Enge und Intransigenz. Wenn Ignaz von Döllinger - er wird hier zumeist stellvertretend für andere weniger Bedeutende genannt - etwa forderte, neben die ordentliche Gewalt der kirchlichen Hierarchie die außerordentliche Gewalt der öffentliche Meinung zu stellen, der "zuletzt alle sich beugen, auch die Häupter der Kirche und die Träger der Gewalt" und meinte, durch öffentlichen Meinung "übt die theologische Wissenschaft die ihr gebührende Macht, welcher in der Länge nichts widersteht ..." -, dann war das Katheder des Professors an die Stelle der bischöflichen Cathedra gesetzt und eine kirchliche Reaktion notwendig. Daß eine solche Auffassung von der Funktion der Theologie in der Kirche dem genuinen katholischen Begriff von Kirche, Offenbarung und Überlieferung widerspricht, ist offenkundig. Das allerdings galt nicht nur zur Zeit Pius' IX. und Döllingers. Dies muß zu Greinachers entsprechenden Ausführungen angemerkt werden. Der Anspruch der Theologie, als "Lehramt des Lehramts" aufzutreten, ist und bleibt theologisch illegitim. (Fs) (notabene)

201a Die zweite große Krise erblickt Hünermann in der kirchlichen Zurückweisung des Modernismus durch Pius' X. Enzyklika "Pascendi" vom Jahre 1907. Greinacher stellt in seinem Artikel hierzu fest, diese Krise habe sich ergeben, weil sich als Reaktion auf den "Triumph des Ultramontanismus" unter Pius IX. im deutschen Katholizismus eine Bewegung gebildet habe, in der sich "liberale Elemente, Gegner des zentralistischen römischen Kirchenregimes, Erben der Reformbestrebungen auf dem Gebiet der Liturgie, Gegner des Pflichtzölibats, Gegner des politischen Katholizismus" zusammengefunden hätten. Ihre Repräsentanten seien Franz Xaver Kraus, Hermann Schell und Albert Erhard gewesen. Eine ganz undifferenzierte Feststellung, für die Greinacher kaum die Zustimmung der Historiker finden wird! Daraufhabe die Kurie mit dem schrecklichen Dekret "Lamentabili" und der Enzyklika "Pascendi" und dem autoritären Gebot des Antimodernisteneides (1910) geantwortet. (Fs)

Demgegenüber gibt Hünermann zu, daß es in diesem Zusammenhang "selbstverständlich kritikwürdige Publikationen, Ansätze überzogener Art" gegeben habe. Doch meint auch er, Rom habe damals "aufgrund eines chimärischen Feindbildes des sog. Modernismus ... auch Dinge verurteilt, die zu einer gesunden modernen Theologie gehören". Hier würden natürlich konkrete Beispiele sehr interessieren. Nur dann wäre eine inhaltliche Auseinandersetzung möglich. Es dürfte freilich schwerfallen, unter den 65 Sätzen, die durch "Lamentabili" verurteilt wurden, solche zu finden, "die zu einer gesunden modernen Theologie gehören". Dabei kommt es allerdings darauf an, was unter einer solchen "gesunden modernen Theologie" verstanden wird. Und: war mit dem "Modernismus" wirklich nur ein Teufel an die Wand gemalt, ein "chimärisches Feindbild" entworfen worden? Das ist keineswegs der Fall. Um die Tatsächlichkeit einer Bedrohung der Fundamente des christlichen Glaubens zu erweisen, genügt es, folgenden Passus aus der "Frankfurter Zeitung" vom 22. Juli 1907 im Wortlaut anzuführen - der Artikel ist anonym und knappe drei Wochen nach Veröffentlichung von "Lamentabili" (3. Juli 1907) erschienen:

202a "Nach zwei Zielen bewegt sich der Strom des katholischen Geisteslebens, der kurzweg mit dem Namen 'Modernismus' bezeichnet wird. Die Katholiken wollen von den Fortschritten der Wissenschaft profitieren; sie wollen die Kluft, die sich zwischen Glauben, Religion und Kirche einerseits und der Wissenschaft andererseits aufgetan hat, überbrücken; sie wollen, daß die Kirche in ihrem ganzen Wesen wissenschaftlicher werde, daß sie sich den Anforderungen einer gereifteren Erkenntnis anpasse. Dies gilt für die Wissenschaft im allgemeinen, also für die Natur- und Geisteswissenschaften, wie für die kirchliche Wissenschaft im besonderen, und namentlich für die Erklärung der heiligen Schriften, aus denen das ganze System, Christentum, Katholizismus und Papsttum, seinen Bestand und seine Berechtigung herleitet mit der Behauptung, daß in jenen Schriften eine übernatürliche, göttliche Offenbarung enthalten sei. Nun hat aber die Wissenschaft auf fast keinem Gebiete so gründlich aufgeräumt, wie gerade auf diesem. Wir wissen jetzt, daß das Alte Testament keine übernatürliche Offenbarung enthält, sondern seine religiösen Ideen aus rein menschlichen Quellen, aus Ägypten und vornehmlich aus Babylon bezogen hat. Wir wissen, daß die Evangelien keine Geschichte, sondern nur Erbauung geben wollen, daß sie also vieles enthalten, was einer kritischen Betrachtung nicht standhält, und namentlich vieles, was spätere Zutat ist, also keine zuverlässige Kunde gibt vom Ursprung des Christentums, sondern nur von den Meinungen und Stimmungen, von den Zuständen und Verhältnissen der bereits entwickelten christlichen Gemeinde. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Kalthoff, der behauptet hat, Jesus habe nie gelebt; aber das wird jetzt von der biblischen Wissenschaft allgemein als erwiesen angesehen, daß die Sprüche eines gewissen Jesus in Verbindung mit der Sage über seine Persönlichkeit nur den Kern geliefert haben, um den sich in Rom unter Mitwirkung messianischer, griechisch-philosophischer, römisch-proletarischer und römisch-universaler Ideen die neue Religion kristallisiert und gebildet hat."

203a Ein Theologe, der sich mit solchen Tendenzen identifizieren bzw. deren Zurückweisung durch das kirchliche Lehramt kritisieren würde, könnte sich auch heute nicht mehr "katholisch" nennen. Wenn Hünermann sodann sagt, er sei von der "Unhaltbarkeit einzelner Sätze" des Antimodernisteneides überzeugt, so müßte er wiederum präzise sagen, welche Sätze er meint. Nun allerdings, wenn seine Aussage so wirklich zutrifft, stellt Hünermann seine Leser vor kaum zu beantwortende Fragen. Hören wir ihn: "Ich empfinde heute noch Scham, daß ich diesen Eid als junger Kleriker achtmal auf Zureden meines Spirituals abgelegt habe. Diese, ein halbes Jahrhundert andauernde Praxis war keine formatio, sondern eine deformatio conscientiae durch die kirchliche Autorität." Gewiß ist es kaum verständlich, daß eine solche Eidesleistung so oft gefordert wurde. Das war längst nicht allgemeine Praxis. (Fs)

203b Dennoch sind diese Sätze von kaum abzuschätzender Bedeutung für die Geisteshaltung mehrerer Theologengenerationen. Sie fordern ernste Fragen heraus: Kann man achtmal (!) - und das in größeren Zeitabständen - gegen sein Gewissen einen Eid leisten? Was ist das für ein Spiritual, der einem dazu raten kann? Was muß, notgedrungen, sich als Folge einer solchen "deformatio conscientiae" einstellen? Sind solche Traumata jemals heilbar? Was Hünermann hier schreibt, gilt, wie gesagt, offenbar für viele Kleriker und Theologen. Nicht wenige von ihnen, die den gleichen Werdegang bzw. den gleichen Spiritual hatten, hielten und halten theologische Lehrstühle besetzt. Wieviele von ihnen haben den Antimodernisteneid gegen ihre Überzeugung geschworen? Wieviele haben ihn aus Gewissensgründen abgelehnt? Wieviele haben ihn aus Überzeugung geleistet?
Im Grunde stellte sich die Frage für den, der den Antimodernisteneid inhaltlich ablehnen zu müssen glaubte, doch so: Wenn die Kirche von mir die Preisgabe meiner Überzeugung verlangt - kann ich dann überhaupt in den Dienst einer solchen Institution treten?

203c Sei dem, wie es sei: Aus einer solchen Handhabung des Antimodernisteneides, der offenbar von wohl nicht wenigen in Widerspruch zu ihrer Überzeugung geleistet wurde, erklärt sich verhältnismäßig plausibel das gespaltene und immer noch doppelbödige und darum unwahrhaftige Verhältnis gewisser Theologen gegenüber der Kirche und ihrem Lehramt und ihr in vielen literarischen Äußerungen und Verhaltensweisen greifbarer Wille, eine "andere Kirche" zu schaffen. Eine Kirche, in der "modernistische" Überzeugungen Heimatrecht haben könnten. Das freihch wäre dann nicht mehr die von Jesus Christus auf Petrus gebaute und vom Heiligen Geist beseelte katholische Kirche. (Fs)

Ärgernis des Papsttums

204a Sodann geht es um Primat und Lehrautorität des Papstes. Anlaß zu einem direkten Angriff auf "Rom" bietet nun für Hünermann die apostolische Konstitution "Ecclesia Dei" Johannes Pauls II. vom Jahre 1988 und damit auch die nach deren Eingangsworten benannte päpstliche Kommission unter Kardinal Mayer, deren Aufgabe die kirchliche Integration ehemaliger Anhänger Lefebvres und anderer "Traditionalisten" ist. Diesen unterstellt Hünermann, daß sie die Dokumente des 2. Vatikanums über "die Religions- und Gewissensfreiheit, die Kollegialität der Bischöfe etc." ablehnen - was in der Tat kaum beweisbar sein dürfte! Immerhin haben die Betroffenen sich der Leitung des Papstes in anderwärts nicht sehr oft anzutreffendem Gehorsam unterstellt. In diesem Zusammenhang wirft Hünermann dem Papst die "Suspension von Beschlüssen eines rechtmäßigen Konzils", des 2. Vatikanums, durch "Ecclesia Dei" vor. Davon kann allerdings keine Rede sein - obwohl Konzilsdekrete, die keine Glaubensdefinitionen enthalten, oder solche disziplinärer oder praktisch-pastoraler Art selbstverständlich veränderlich, widerruflich sind - wofür der Konzilienhistoriker zahllose Beispiele kennt. Indes wird durch "Ecclesia Dei" kein einziges Dekret, ja nicht einmal die bloße "Erklärung" über die Religionsfreiheit "außer Kraft" gesetzt oder desavouiert. (Fs)

Wenn da nun aber schon ständig vom 2. Vatikanum die Rede ist, dann muß auch mit Nachdruck gesagt werden, daß es Hünermanns und Greinachers Auffassung vom Amt des Papstes und insbesondere von seinem Lehramt ist, die einen eklatanten Widerspruch zu "Lumen Gentium", "Christus Dominus" und "Dei Verbum", also zu dem oft beschworenen 2. Vatikanum, darstellt. Und, um darauf noch einmal zurückzukommen: Welcher von "Lamentabili" und "Pascendi" verurteilte und im Antimodernisteneid abgelehnte Satz ließe sich mit dem 2. Vatikanum, insbesondere mit den oben genannten Dekreten, vereinbaren? (Fs)

205a Was außerdem auffällt - und hierin treffen sich Greinacher und Hünermann erneut -, ist die Übertragung von Begriffen aus dem semantischen Bereich der Politik auf die Kirche und kirchliches Leben. Hünermann konstatiert die modernen Gesellschaften eigenen Bestrebungen, sich vor Machtmißbrauch zu schützen, und plädiert dafür, die daraus erwachsenen Formen dieses Schutzes, nämlich Gewaltenteilung, Kompetenzabgrenzung, Macht-Balancen, Kontrollinstanzen und Transparenz, durch öffentliche Medien in analoger Weise auch in die Kirche einzuführen. Wenn er dann fortfährt, dies solle keine Demokratisierung bedeuten, so mutet das allerdings merkwürdig an. Und: wenn Hünermann seine Forderung durch die "Betonung der Kollegialität, der Eigenständigkeit (!) und Eigenart der Orts- und Regionalkirchen, der Bischofskonferenzen usw." ansatzweise erfüllt sieht, da hier das 2. Vatikanum "Perspektiven für eine Differenzierung und Gliederung des Machtgebrauchs" aufgewiesen habe, hat er dann nicht die Begriffe von Kollegialität und Teilkirche mißverstanden?
Im Grunde hat es doch den Anschein, man erstrebe eine Kirche, deren Strukturen den Vorstellungen, den Erfahrungen und dem Lebensgefühl einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft entsprechen. Demgegenüber wirkt der Hinweis auf die Überlieferung und das "innere Lebensgeheimnis" der Kirche merkwürdig blaß -eher als theologische Pflichtübung. Greinacher ist da deutlicher, wenn er fragt: "Wird die katholische Kirche in Europa die einzige Fluchtburg für feudale und autoritäre Herrschaftsstrukturen bleiben?" Auch die "Hoffnung, daß Perestroika und Glasnost sich auch in der katholischen Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes einmal durchsetzen werden", läßt erkennen, welch ein, fast möchte man sagen, rein politischer Kirchenbegriff hier vorausgesetzt wird. (Fs)

Hünermann und Greinacher haben recht: Wir stehen mitten in einer Modernismuskrise, die, weil sie sich vor dem Forum der breitesten Öffentlichkeit äußert, um vieles gefährlicher ist, als dies früher der Fall war. Von einer "neuen" Krise zu sprechen, dürfte nicht richtig sein, da es sich wohl um ein und dieselbe Krise handelt, in die der Glaube an übernatürliche Offenbarung und Kirche seit der Aufklärung geraten ist. Dabei geht es darum, ob Glaube und Kirche dem Verständnis- und Erlebnishorizont des modernen Menschen eingepaßt werden sollen oder ob nicht dem modernen Menschen die Fähigkeit und Bereitschaft abverlangt und - so gut es geht - erleichtert werden muß, sich auf das "Ganz-anders-sein Gottes", seiner Offenbarung und seiner Kirche einzulassen. Das für den irdisch-natürlich denkenden Menschen damit verbundene Ärgernis läßt sich nicht beseitigen: "Selig, wer sich an mir nicht ärgert." Wenn da dann auch der Felsen Petri zum Stein des Anstoßes wird, wird der Papst es zu ertragen wissen. Eine Kirche, die kein Ärgernis mehr für die Welt darstellen würde, wäre nicht mehr die Kirche dessen, der "bestimmt ist zum Falle und zur Auferstehung vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird". (Fs) (notabene)

206a Was in dieser Krise, die natürlich dann auch eine Krise der missionarischen Verkündigung an die Welt von heute ist, not tut, ist Konzentration der Kräfte, nicht innerkirchliche Kontestation. In dieser Perspektive erweisen sich "Professio fidei" und "Juramentum fidelitatis", wie von der Glaubenskongregation neu formuliert, als unabdingbar. Der Standort eines Theologen ist nicht der hohe Olymp, sondern die Gemeinschaft der Kirche. Diese wie die breiteste Öffentlichkeit haben ein Recht darauf, sicher zu sein, daß Prediger, Religionslehrer und Theologen nicht ihre Privatmeinung vortragen, sondern den authentischen Glauben der Kirche. Damit ist die Forderung nach einer Neubesinnung auf das Selbstverständnis der Theologen erhoben. Die Aktualität der jüngsten römischen Instruktion über Lehramt und Theologen wird durch eben jene bewiesen, die sie bekämpfen. (Fs)

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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Bußakt (Johannes Paul II), Schuldbekenntnis; Kirche - Schuld; Historiker: Aufgaben; Purificatio memoriae

Kurzinhalt: Die Erforschung von Kreuzzügen, Inquisition und Hexenprozessen - um nur die bekanntesten Punkte zu nennen - befindet sich erneut in einem Stadium, in welchem neue Fragestellungen, neue Methoden, neue Quellen zu gelegentlich überraschenden Ergebnissen ...

Textausschnitt: 211a Vor diesem Hintergrund und im Lichte der bereits erwähnten vorhergegangenen und nachfolgenden päpstlichen Ansprachen sind also die bei dem feierlichen Bußakt des 1. Fastensonntags ausgesprochenen Schuldbekenntnisse und Vergebungsbitten zu interpretieren, wenn dabei kein Zerrbild der Kirche entstehen soll. (Fs)
Vergebung wofür?

211b Es waren insgesamt sieben Bitten um Vergebung, die von Vertretern der Römischen Kurie eingeleitet und vom Papst in einem Gebet vor Gott ausgesprochen wurden. Dabei wurde auch jeweils ein Schuldbekenntnis formuliert. Da war davon die Rede, daß "auch Menschen der Kirche im Namen des Glaubens und der Moral in ihrem notwendigen Einsatz zum Schutz der Wahrheit mitunter auf Methoden zurückgegriffen haben, die dem Evangelium nicht entsprechen" (EV, S. 122). "Sünden, die die Einheit des Leibes Christi verwundet und die geschwisterliche Liebe verletzt haben" (EV, S. 123) werden bekannt, wobei offenbar nicht nur die Sünden der Katholiken gemeint sind. Den Juden gegenüber hätten - so die 4. Bitte - "nicht wenige" Sünden begangen (EV, S. 124) und den Anhängern anderer Religionen wie auch Einwanderern und Zigeunern sei "manchmal" von Christen durch Stolz, Haß, Herrschsucht oder Feindschaft Unrecht geschehen, wobei Christen "oft das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben" haben (EV, S. 125). Ebenso wurde für die Erniedrigung und Diskriminierung von Frauen (EV, S. 126) sowie für die Mißachtung der Personwürde von Armen, Ausgegrenzten, Verlassenen um Vergebung gebeten. Dem schließt sich - und damit wird der Duktus der Vergebungsbitte verlassen - die Fürbitte für die im Mutterschoß getöteten oder gar zu Forschungszwecken benützten Kinder an (EV, S. 127). (Fs)

212a In der Formulierung dieser Bitten geht es um Sünden der Gegenwart wie jene der Vergangenheit gleichermaßen. (Fs)

Sündige Kirche oder Kirche der Sünder?

212b Aus einer systematischen Analyse all dieser Äußerungen des Papstes ergibt sich, welche Haltung gegenüber Schuld und Sünde in der Vergangenheit der Kirche er einnimmt und von der Kirche nachvollzogen wissen will. (Fs)

Zum ersten ist eindeutig klar: Nicht die Kirche hat gesündigt, sondern "einige unserer Brüder", und Haltungen des Mißtrauens und der Feindseligkeit gegenüber Angehörigen anderer Religionen wurden von Gliedern der Kirche "manchmal" eingenommen. Damit wird deutlich zwischen der Kirche als der makellosen Braut Christi und ihren durchaus immer wieder sündigenden Gliedern unterschieden. Es ist kaum nachzuvollziehen, wenn zu lesen ist: "In diesem (in welchem?!) Sinn kann man auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen, besonders wenn sie von denen begangen wurden, die ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln" (EV, Einleitung, S. 13). Ebenso wie bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit man davon sprechen kann, daß "die Kirche lehrt", ist dies auch gefordert, wenn umgekehrt gesagt werden sollte, daß "die Kirche" gesündigt habe! Wann und wo aber wäre dies geschehen? Nichtsdestoweniger wird auch in einem KNA-Interview vom 24./25. Februar 2000 von "Verfehlungen von Mitgliedern der Kirche und der Kirche selbst" gesprochen. (Fs)

Eine Unterscheidung zwischen der Kirche und den Gliedern der Kirche ist aber notwendig, da die Zugehörigkeit des einzelnen zur Kirche dessen Personsein und damit die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen für sein sittlich relevantes Handeln keineswegs aufhebt. Ein kollektivistischer Kirchenbegriff, der eine Verantwortlichkeit des Ganzen für das Handeln des einzelnen Kirchengliedes bzw. ein Aufgehen des einzelnen im Ganzen statuieren würde, widerspricht sowohl dem Wesen der menschlichen Person als auch dem der Kirche. Infolgedessen ist auf die Kirche in analoger Weise anwendbar, was das 2. Vatikanische Konzil in "Nostra aetate" von der Verantwortlichkeit des Volkes Israel für den Tod Jesu feststellt: "Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen" (Nostra aetate, Nr. 4). Dieser Text spricht also von der Unmöglichkeit einer kollektiven Verantwortung der gleichzeitig Lebenden für das Geschehen von Golgotha, ebenso aber auch von der Unmöglichkeit, die späteren Generationen damit zu belasten. Nach dem gleichen Grundsatz kann der ganzen Kirche eine Kollektiwerantwortung für das Tun oder Lassen der einzelnen Christen und a fortiori nicht für das Handeln längst vergangener Generationen aufgebürdet werden. Dennoch tragen wir heute lebenden Glieder der Kirche - durch das gnadenhafte Band des mystischen Leibes Christi mit den Gliedern aller Generationen verbunden - die Last der Irrtümer und der Schuld jener, die uns vorausgegangen sind, mit diesen mit. (Fs)

213a Ein Vergleich mag dies veranschaulichen: Der Erbe eines verschuldeten Hofes erbt, übernimmt mit diesem die Hypotheken, die ihn belasten, ohne daß er selbst in irgendeiner Weise am Zustandekommen der Verschuldung beteiligt sein konnte. Seine Aufgabe ist es, die Hypotheken abzulösen. Dem entspricht die Feststellung: "Die sittliche Leistung, die dieser Generation abverlangt wird, ist nicht die Anerkennung einer Verantwortung für die Vergangenheit, sondern die innere Bereitschaft, die Erblasten zu übernehmen, die Hypotheken aus der Vergangenheit, für die sie, obwohl nicht selbst verantwortlich, in Mithaftung genommen sind" (A. Baumgartner). Dies ist ein Ausdruck der generationenübergreifenden Solidarität, die in diesem Falle durch die Familienzugehörigkeit begründet ist. Zugleich wird damit anerkannt, daß es auch in der eigenen Familie "schwarze Schafe" gegeben hat. Was nun die Kirche betrifft, drückt diesen Sachverhalt in treffender Weise das Evangelium aus, wenn dort zu lesen ist, daß im Netz des Petrus "gute und schlechte Fische" zu finden sind und daß der gute Weizen auf dem Acker der Kirche bis zum Tag der Ernte mit Unkraut vermischt bleibt. (Fs)

Historische Klärung vonnöten

214a Aus dem Gesagten ergibt sich für jeden Versuch eines historischen und gar eines theologisch-moralischen Urteils über Phänomene der kirchlichen Vergangenheit ein gewichtiger Vorbehalt. Wie auch die Theologenkommission betont, ist für jedes derartige Urteil eine "genaue historische und theologische Klärung" notwendig (EV, S. 69-79). (Fs)

214b Damit ist allerdings mit wenigen Worten auf ein großes und kompliziertes Problem hingewiesen, auf das Problem historischen Urteilens, das hier freilich nur andeutungsweise dargestellt werden kann. Möglich ist zweifellos der Aufweis von Ursachen, Zusammenhängen und Folgen historischen Handelns. Insofern ist mit der gebotenen Vorsicht auch die Frage nach der Verantwortung hierfür zu beantworten. Ob ein bestimmtes historisches Geschehen nun aber positiv oder negativ beurteilt werden soll, hängt doch in hohem Maße vom Standpunkt des Betrachters ab. Nicht minder aber kommt es auf die Kriterien an, an denen ein solches Urteil sich orientiert. Zudem ist auf die zeit- und kulturbedingte Relativität solcher Kriterien hinzuweisen. Nach welchen Maßstäben wären etwa die noch im 15. Jahrhundert üblichen Menschenopfer der Azteken - und dementsprechend das Vorgehen der spanischen Kolonisatoren dagegen - zu beurteilen? Es ist allein schon daraus ersichtlich, wie problematisch historische Urteile überhaupt sind. (Fs) (notabene)

214c Die von der Theologenkommission geforderte sorgfältige historische Klärung stößt aber noch vor jedem Versuch, ein Urteil auszusprechen, auf erhebliche Schwierigkeiten. In einer Reihe von Fällen, in denen die sogenannte öffentliche Meinung eindeutiges Versagen der Kirche zu erkennen meint, sind selbst die Voraussetzungen für ein seriöses historisches Urteil nicht gegeben. Die Erforschung von Kreuzzügen, Inquisition und Hexenprozessen - um nur die bekanntesten Punkte zu nennen - befindet sich erneut in einem Stadium, in welchem neue Fragestellungen, neue Methoden, neue Quellen zu gelegentlich überraschenden Ergebnissen fuhren, die den bisher selbstverständlich kolportierten Klischeevorstellungen den Boden entziehen. (Fs)

Kein Urteil über die Gewissen!

215a Unter solchen Voraussetzungen dennoch in diesen oder in anderen derartigen Fällen ein Urteil aussprechen zu wollen, wäre wissenschaftlich nicht zu verantworten. Besonders gewichtig ist aber ein zweiter vom Papst genannter Vorbehalt: Kein Historiker, kein Theologe, auch nicht die Kirche, kann über das Gewissen und damit über die Schuld oder Unschuld eines anderen Menschen richten. Das 2. Vatikanische Konzil spricht dies in deutlich aus: "Gott allein ist der Richter und Prüfer der Herzen, darum verbietet er uns, über die innere Schuld von irgend jemandem zu urteilen" (Gaudium et spes, Nr. 28). Damit spricht das Konzil eine elementare sittliche Forderung des Neuen Testaments aus. Es waren offenbar derartige Überlegungen, die den Papst bewogen haben, wohl auf "Problemfelder" hinzuweisen, wo dergleichen geschehen sein kann, aber keinerlei konkrete Fälle zu nennen, in welchen Sünde konstatiert werden müßte. Es zeugte von großer Umsicht und realistischer Geschichtsbetrachtung, wenn etwa die Spanische Bischofskonferenz einerseits für die während des Bürgerkriegs verübten Greuel um Vergebung durch Gott gebeten, es jedoch vermieden hat, für das Verhalten des Episkopats zur Zeit des Franco-Regimes um Verzeihung zu bitten, da die historischen Sachverhalte zu ungeklärt und verwickelt seien, als daß man heute schon darüber urteilen könnte. (Fs)

Solche Vorsicht bedeutet keineswegs, die Existenz von Sünde in der Vergangenheit der Kirche in Abrede zu stellen. Die Kirche war sich dessen stets bewußt, daß sie zu jeder Zeit ebenso wie Heilige auch Sünder zu ihren Gliedern zählt. Eine Erkenntnis, die sich in der religiösen Praxis der Kirche ausdrückt, die in ihrer Liturgie Sündenbekenntnis und Bitte um Vergebung, der Buße gewidmete Zeiten des Kirchenjahres, vor allem aber das Sakrament der Sündenvergebung kennt (so Kardinal Ratzinger bei der Präsentation von EV am 7. März 2000; OR, 17. März 2000). (Fs)

Deshalb eignet dem im Hinblick auf das große Jubiläum des Jahres 2000 besonders akzentuierten Schuldbekenntnis des Papstes keinesfalls der Charakter des Außerordentlichen, Spektakulären, wiewohl das immer wieder behauptet worden ist. Es verdient außerdem Aufmerksamkeit, daß der Papst entgegen vielen Erwartungen Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte für Sünden von Gliedern der Kirche in der Vergangenheit nicht Menschen oder menschlichen Gemeinschaften unserer Zeit gegenüber ausgesprochen, sondern beides in Form von Gebeten an Gott gerichtet hat. Gott allein ist der Richter über die Gewissen der Menschen, weshalb auch die Vergebung ihm vorbehalten ist - wenigstens dann, wenn jene Menschen, denen Unrecht geschehen ist, selbst nicht mehr um Verzeihung gebeten werden können. Es wurde also Gott gebeten, jenen ihre Schuld zu vergeben, die im Laufe der Kirchengeschichte gesündigt haben. Aber auch das ist nur ein Spezialfall der täglich in der Liturgie geübten Fürbitte für die verstorbenen Glieder der Kirche. (Fs)

Keine Rehabilitationen

216a Eben dieser Gedanke, daß alles, was hinter der Schwelle der Gegenwart liegt, ein für allemal dem Gericht und der Barmherzigkeit Gottes anheimgefallen ist, hat es auch unmöglich gemacht, irgendwelche posthume Rehabilitationen auszusprechen. Forderungen nach Aufhebung der Exkommunikation Martin Luthers, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erhoben worden waren, konnten und können ebensowenig erfüllt werden wie jene nach Rehabilitation Girolamo Savonarolas oder gar Giordano Brunos. Von allem anderen abgesehen ist allein schon der Begriff der Rehabilitation - sofern es sich um Personen der Geschichte handelt -in sich höchst problematisch und außerdem durch die bekannte marxistisch-leninistische Praxis belastet. (Fs)

Indes hat Johannes Paul II. nicht gezögert, Schmerz und Bedauern darüber auszudrücken, daß etwa der vom Konstanzer Konzil als Häretiker verurteilte Jan Hus der weltlichen Gewalt und damit dem Feuertod überantwortet worden ist (Grußwort an den Hus-Kongreß im Dezember 1999 in Rom; OR, 17. Dezember 1999). In ähnlicher Weise hat der Papst es bedauert, daß Galileo Galilei unter Maßnahmen kirchlicher Organe zu leiden hatte (Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften im Oktober 1992). (Fs)

216b Darüber hinauszugehen hat der Papst jedoch mit Bedacht vermieden. Ein solcher Schritt, der nichtsdestoweniger immer wieder im Sinne der political correctness gefordert worden war, hätte bedeutet, daß Vorgänge und Urteile, denen im Kontext und nach den Kriterien ihrer Zeit keineswegs Unrechtscharakter anhaftete, im Zuge solcher "Rehabilitationen" im Nachhinein - und zwar im Abstand von Jahrhunderten - an den Maßstäben unserer Gegenwart gemessen und kriminalisiert worden wären. In einem solchen Verfahren hätten ganze Epochen der Kirchengeschichte auf die Anklagebank der Gegenwart verwiesen werden müssen, wobei, um nur ein Beispiel zu nennen, der Apostel Paulus des Einverständnisses mit der Sklaverei zu bezichtigen gewesen wäre. Die Absurdität eines solchen Anachronismus springt in die Augen! Es war also unmöglich, daß der Papst hierin einer wenig problembewußten öffentlichen Meinung folgte. Bei seinem durchaus kritischen Rückblick auf zweitausend Jahre Kirchengeschichte hat der Papst außerdem Schuld und Sünde nicht nur bei den Gliedern der Kirche gesucht. Es ist auch von Verfehlungen die Rede, deren Opfer die Kirche selbst geworden ist. (Fs)

Blick nach vorne

217a Der päpstliche Bußakt vom 12. März 2000 sowie die ihn vorbereitenden oder auch nachfolgenden vertiefenden Äußerungen Johannes Pauls II. weisen - wie bemerkt - eine unübersehbare Zukunftsorientierung auf. Dem Papst ging es um die nur von der Barmherzigkeit Gottes zu erwartende Bereinigung der Vergangenheit als unerläßliche Voraussetzung für eine von den Belastungen der Geschichte befreite Gestaltung der Zukunft. (Fs)

Was seitens der Menschen um dieses Zieles willen geschehen kann und geschehen muß, drückt Johannes Paul II. mit dem Schlüsselbegriff "Purificatio memoriae" - Reinigung des Gedächtnisses - aus. Dies ist in der Tat ein sehr glücklich geprägter Begriff. Er formuliert das Gemeinte weit zutreffender als jene Formel, die bei der Vorbereitung des historischen Treffens zwischen Paul VI. und Patriarch Athenagoras im Jahre 1971 eher als Verlegenheitslösung gefunden worden war, als man die Frage zu beantworten hatte, wie man sich beiderseits zu den folgenreichen gegenseitigen Exkommunikationen des Jahres 1054 zu stellen habe. Damals hat man davon gesprochen, daß diese "aus dem Gedächtnis der Kirche getilgt werden" sollten (Tomos Agapis, Rome/Istanbul 1971, Nr. 127-130, S. 278-297). Eine solche Redeweise konnte allerdings den Anschein erwecken, als solle man die Augen vor der historischen Realität verschließen - ein Verhalten, das an das pathologische Phänomen der "Verdrängung" erinnern könnte, das selbst wieder seelisches Fehlverhalten verursacht. Demgegenüber hat der BegrifFder "Purificatio memoriae" den Vorteil, daß er auf eine aktive Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Wirklichkeit, auf deren intellektuelle und existenzielle Bewältigung aus der Kraft und im Lichte des Glaubens verweist. (Fs)

218a Eben dies aber fordert der Papst nicht nur von den Gliedern der Kirche, sondern von allen "Menschen guten Willens". Damit hat der Papst einen unumgänglichen Weg zu Versöhnung und Frieden überhaupt gewiesen. Dies ist nun des Näheren auszufuhren. (Fs)

Reinigung des Gedächtnisses

218b Wer immer nach den Wurzeln heutiger Konflikte forscht, muß in der Tat tief graben. Ereignisse, die Jahrhunderte zurückliegen, entfalten noch in der Gegenwart ihre unheilvollen Folgen, werden zu Ursachen von Krieg und Gewalt. Der Beispiele hierfür sind zu viele, als daß sie hier aufgeführt werden könnten. Es gibt kaum ein Volk, eine religiöse Gemeinschaft, in deren Vergangenheit nicht eine solche Drachensaat ausgestreut worden wäre. Lange Zeit beschrieb man etwa das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen als Erbfeindschaft. Die blutigen Attentate und Straßenschlachten im heutigen Ulster sind ohne die fest im Gedächtnis haftende Erinnerung an die politisch-religiöse Unterdrückung Irlands seit dem 17. Jahrhundert nicht denkbar. Bis in unsere Tage hat das Schicksal des Jan Hus die Beziehungen zwischen Deutschen bzw. Österreichern und Tschechen belastet. Ebenso ist die Erinnerung an die Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch das Heer des 4. Kreuzzuges im Jahre 1204 noch immer ein schwereres Hindernis für die Verständigung der griechischen Orthodoxie mit Rom als etwa die dogmatische Differenz bezüglich des "Filioque". Den Römern wiederum bleibt der 6. Mai 1527 unvergeßlich, an dem die "Lanzichenechi", die Landsknechte Karls V., das Rom der Renaissance in einer Orgie der Verwüstung untergehen ließen. (Fs)

Zu zahlreich und zu vielgestaltig sind die aus der Vergangenheit erwachsenden Belastungen, als daß sie auch nur annähernd namhaft gemacht werden könnten. Am meisten genannt wird in unseren Tagen die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten, die bis heute und mit immer noch tiefgreifenden Konsequenzen ihre Schatten auf das Verhältnis Israels zu Deutschland, ja sogar zur katholischen Kirche wirft. Es läßt sich - ganz allgemein - kaum ein Konflikt finden, für den es keine historischen Wurzeln gibt, der nicht durch bewußt am Leben erhaltene Erinnerung immer neu genährt würde. So etwa ist der Hintergrund beschaffen, vor dem Johannes Paul II. seit Beginn seines Pontifikats zum Frieden mahnt, Wege zum Frieden weist, zur "Purificatio memoriae" aufruft. (Fs)

219a Die Notwendigkeit dieser Reinigung aber beruht, wie angedeutet, auf der vorausgegangenen Verunreinigung des kollektiven Gedächtnisses, der Erinnerung und damit der Traditionen von politischen wie religiösen Sozialgebilden. Nicht selten sind - und das verschärft das Problem - solche "vergiftete" Erinnerungen geradezu zu Kristallisationspunkten für deren nationale oder auch religiöse Identität geworden. Der päpstliche Appell zur "Purificatio memoriae" ist darum in höchstem Maße aktuell. Er richtet sich naturgemäß in erster Linie an die Zunft der Historiker. Sie waren es, die bis in die Gegenwart hinein ihre Aufgabe allzuoft darin gesehen haben, politischen, ökonomischen, ja sogar religiösen Interessen der eigenen Gemeinschaft zu dienen - mittels einer selektiven, bewußt akzentuierenden Geschichtsdarstellung oder sogar mittels einer die Tatsachen wenn nicht manipulierenden, so doch verfärbenden Art der Darstellung. Wurde, wird eine solche nationalistische, konfessionalistische Geschichtsschreibung zudem noch durch Dichtung, Theater, bildende Kunst und Folklore in die breiten Schichten von Völkern hineingetragen, so gelang auf diese Weise die Vermittlung eines Geschichtsbildes, das, vorwiegend in den Farben Schwarz und Weiß gemalt, einerseits die Identifikation mit der eigenen Gemeinschaft und ihren Traditionen begründen, andererseits aber zur mehr oder weniger emotionalen Ablehnung des "schwarzen" anderen führen konnte. (Fs)

Aufgaben der Historiker

219b So gewiß es nun in der Tat eine wesentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung ist, durch die Erhellung und Bewußtmachung der Herkunft einer Gemeinschaft soziale Identität zu stiften, so unabweisbar ist es, daß dies sinnvoll und verantwortbar nur auf der Grundlage der unverfälschten historischen Wahrheit geschehen kann und darf. Insofern richtet sich der Appell zur Reinigung des Gedächtnisses in erster Linie an die historische Wissenschaft. Für sie - Profan- wie Kirchenhistoriker - muß als Programm gelten, was Leo XIII. anläßlich der Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs in seinem Schreiben "Saepe numero considerantes" vom 18. August 1883 den Historikern - mit Worten Ciceros - ins Stammbuch geschrieben hat: "Primum esse historiae legem ne quid falsi dicere audeat deinde ne quid veri non audeat, ne qua suspicio gratiae sit in scribendo ne qua simultatis" (Acta Leonis XIII, III, Romae 1884, S. 268): Dies ist der Geschichtsschreibung erstes Gesetz: nicht wagen, Falsches zu sagen, nicht auch Wahres nicht zu sagen. Kein Verdacht auf Gunst und Mißgunst darf Raum finden! "Non abbiamo paura della pubblicitä dei documenti": Wir haben keine Angst vor der Offenlegung unserer Dokumente! -das war ein weiterer Kommentar zur Öffnung des Archivs. (Fs)

220a Es wird also die Erforschung der historischen Wahrheit - sofern diese durch die Methoden der Geschichtswissenschaft überhaupt erfaßbar ist - zum obersten Leitsatz erkoren. Damit aber ist ein entschlossener Verzicht auf jederlei Instrumentalisierung der geschichtlichen Wahrheit kategorisch gefordert. Diese gilt es vielmehr ans Tageslicht zu heben, sie sachgerecht zu interpretieren und zu einem realistischen Geschichtsbild auszuarbeiten, in dem die lichten wie die dunklen Farben nicht nach Sympathie oder Antipathie, auch durch keine Interessen getrübt, der erkannten Wahrheit entsprechend aufgetragen sind. Die Liebe des Historikers zu seinem Volk, zu seiner religiösen Gemeinschaft darf nie in Konkurrenz zu seiner Liebe zur wissenschaftlich erarbeiteten Wahrheit treten. Hier beginnt die "Purificatio memoriae". Sie geschieht dadurch, daß auf der "eigenen" Seite Irrtum oder Verbrechen ebenso zur Kenntnis genommen und als tatsächlich geschehen anerkannt werden wie auf der "anderen" Seite Erfolg, Leistung, Größe - und umgekehrt. Daß eine solche Geschichtsbetrachtung nicht nur eine intellektuelle Anstrengung erfordert, sondern eine bewußte Überwindung überlieferter Ressentiments, macht die "Purificatio memoriae" nicht leichter. Indes kann der Respekt vor der historischen Wahrheit und die Verantwortung ihr gegenüber den Geschichtsschreiber hierzu befähigen, selbst wenn auf diese Weise manches Heroendenkmal stürzt, das bislang Verehrung genoß. (Fs)

221a Die Forderung, der erkannten historischen Wahrheit die Ehre zu geben, bedeutet jedoch nicht, vom Historiker Standpunktlosigkeit oder Preisgabe seiner Identität zu verlangen. Wohl aber ist von ihm die Bereitschaft zum Verstehen und der Verzicht auf schnelles oder gar parteiisches Urteil zu erwarten. Der Beruf des Historikers, auch des historischen Schriftstellers oder des Geschichtslehrers, ist weder der eines Anklägers noch jener des Verteidigers oder auch des Richters. Der Relativität und der damit gegebenen Überholbarkeit seiner Einschätzungen und Beurteilungen bewußt, wird der Historiker, der sich für die Reinigung des Gedächtnisses in die Pflicht genommen weiß, sein Bemühen auf die möglichst lückenlose Ermittlung der Tatsachen und auf die Frage nach deren Ursachen, vielfachen Verflechtungen und Folgen konzentrieren, ehe er mit aller Behutsamkeit Bewertungen vornimmt. (Fs)

221b Der Anerkennung der geschichtlichen Wahrheit folgt alsdann als zweiter Schritt eine Stellungnahme zu ihr. Eine solche ist jedoch nicht möglich ohne den vorhergegangenen Versuch, das Geschehene aus seinen Gründen und Umständen und mit seinen Folgen zu verstehen. Daß die historische Methode selbst bei Anwendung ihres gesamten Instrumentars hierbei häufig an Grenzen stößt, kann nicht verwundern, sind doch historische Handlungen schon des Individuums und erst recht solche von Gemeinschaften Ergebnisse letzten Endes undurchdringlicher Geflechte von menschlicher Freiheit, äußeren und inneren Voraussetzungen und Bedingungen, ganz zu schweigen von den latenten Auseinandersetzungen im Inneren des Menschen zwischen Gnade und Sünde. Ohne Anerkenntnis der Realität der Sünde, aber auch der Gnade, kann der Lauf der Geschichte kaum oder nur oberflächlich verstanden werden. (Fs) (notabene)

Indem all die genannten Faktoren und insbesondere das nicht selten unvermeidliche "non liquet" beim Entwurf eines zutreffenden Geschichtsbildes gebührend in Anschlag gebracht werden, geschieht "Reinigung des Gedächtnisses". Daß indes hierbei nicht nur per defectum, sondern auch per excessum gefehlt werden kann, lehrt die Erfahrung. Je ernster der Wille zur Reinigung des Gedächtnisses ist, desto leichter kann es geschehen, daß in der Vergangenheit der eigenen Gemeinschaft - Nation oder Kirche - die negativen Elemente schärfer in den Blick gefaßt werden als die positiven. Unter solchen Umständen kann ein Geschichtsbild entstehen, das die für die Existenz der betroffenen Gemeinschaft wesentliche Identifikation mit der eigenen Geschichte belastet, wenn es nicht sogar zur Distanzierung von ihr, ja geradezu zur Selbstverachtung führt. Die sozialpsychologischen Folgen einer solchen Haltung sind leicht mit jenen zu vergleichen, die sich im analogen Fall beim Individuum einstellen, das seine eigene Herkunft bzw. Vergangenheit anzunehmen verweigert. (Fs)

222a Was sich aus solchen Überlegungen klar ergibt, ist die Notwendigkeit einer vorgängigen Versöhnung mit der eigenen Geschichte, ehe es zur Versöhnung mit anderen Personen oder Gemeinschaften kommen kann. In jedem Falle wird der Weg über die manchmal auch Mut und Selbstverleugnung erfordernde Anerkennung der Realität des Bösen in der eigenen Vergangenheit führen müssen und damit zur Bitte um Vergebung durch Gott - der sich, wenn solche, denen Unrecht geschehen ist, noch am Leben sind, die Bitte um deren Verzeihung anzuschließen hat. Wenn dergestalt die eigene wie die fremde Vergangenheit dem Urteil und der Barmherzigkeit Gottes überantwortet werden, eröffnet sich die Möglichkeit, sich dieser Vergangenheit vorurteilslos zu stellen und sie mit innerer Gelassenheit anzunehmen. Dann allerdings ist auch der Augenblick gekommen, in dem die Historia als "Vitae magistra" ihr Wirken entfalten kann. Dies könnte etwa im Bezug auf die von Johannes Paul II. eigens apostrophierten Spaltungen der Kirche geschehen. In dem Maße, in dem die Erkenntnis wächst und sich durchsetzt, welch entscheidende Rolle bei nahezu allen Spaltungen politische, kulturelle, ja selbst ökonomische, also ganz und gar sachfremde profane Faktoren gespielt haben, könnte es möglich werden, zu prüfen, ob nach Wegfall der genannten Gründe nicht der Weg zur Wiedervereinigung beschritten werden könnte. Auf diese Weise könnte der vom Papst gewiesene Weg der "Purificatio memoriae" in der Tat zum Frieden zwischen den christlichen Konfessionen, aber auch zwischen den Völkern und den Religionen führen. (E10; 05.02.2010)

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