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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Geschichte; Zäsuren; Beginnn des 21. Jahrhunderts

Kurzinhalt: Die Geschichte gehorcht höchst selten der kalendarischen Einteilung. So dauerte das »Perikleische Zeitalter« in Wirklichkeit lediglich fünfzehn Jahre. Das uns schon näher liegende 15. Jahrhundert endete bereits 1492 mit der Entdeckung Amerikas. Das 17...

Textausschnitt: 17a Die Geschichte gehorcht höchst selten der kalendarischen Einteilung. So dauerte das »Perikleische Zeitalter« in Wirklichkeit lediglich fünfzehn Jahre. Das uns schon näher liegende 15. Jahrhundert endete bereits 1492 mit der Entdeckung Amerikas. Das 17. Jahrhundert schloß vermutlich 1715 mit dem Tode Ludwigs XIV. Und das 19. Jahrhundert setzt bei verschiedenen Autoren zu unterschiedlichen Zeiten ein. Die einen datieren seinen Beginn auf die Abschaffung der Monarchie in der ersten Sitzung der französischen Gesetzgebenden Versammlung am 20. September 1792. Andere lassen es erst 1815 beginnen. Weniger umstritten sind hingegen das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach gängiger Lesart gilt dafür das Jahr 1912, in dem die Länder Europas den Schlußpunkt hinter die Aufteilung Afrikas setzten, oder aber 1914, als der Erste Weltkrieg begann. (Fs)

Das 20. Jahrhundert endete 1989. Das 21. Jahrhundert begann in jener Nacht vom 9. November 1989, als den Machthabern der einstigen Deutschen Demokratischen Republik nichts anderes blieb, als - vor allem in Berlin -ihre Westgrenze zu öffnen. Die Öffnung der Berliner Mauer versinnbildlicht den politischen (nicht zwangsläufig auch ideologischen) Tod des großen Mythos des 20. Jahrhunderts von der »strahlenden Zukunft«, vom Aufbau einer idealen Gesellschaft namens Kommunismus. Und dieser Tod hat zur Folge, daß fortan kein Land, und leiste es noch so heftigen Widerstand gegen die Lektion der Fakten, seinem Volk mehr den Weg des Marxismus-Leninismus weisen kann. (Fs)

18a Wie Geschichte nicht binnen Tagesfrist entsteht, kann man auch der Jahrhundertwende vom 20. zum 21. Jahrhundert weitere Eckdaten zuweisen. Die Deutschen werden den seit 1990 zum Feiertag erklärten 3. Oktober bevorzugen, an dem sich die Einheit von Ost und West vollzog, auf dem Gebiet der alten DDR fünf neue Bundesländer geschaffen und ipso facto in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einbezogen wurden. Andere mögen den 12. September 1990 nennen, an dem der sogenannte »Zwei-plus-Vier-Vertrag« (BRD und DDR plus Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA) unterzeichnet wurde, der die äußeren Folgen der deutschen Wiedervereinigung zum Gegenstand hatte und die alliierte Vormundschaft über Deutschland beendete. (Fs)

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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Geschichte, Kennzeichen: 21. Jahrhundert; Vevölkerungswachstum (Verdreifachung in 90 Jahren) - Rückgang der Fruchtbarkeit; Kronos

Kurzinhalt: Heute scheinen die Völker der am weitesten entwickelten Industriegesellschaften nicht anders als Kronos der Jugend den Platz zu verweigern, ist sie doch der Spiegel, in dem man die Zeit ablaufen sieht.

Textausschnitt: 18b Wie immer dem sei: Die geschichtliche Stunde hat geschlagen, das 21. Jahrhundert ist angebrochen. Die Ideologie, die im Verlaufe des 20. Jahrhunderts ganze Völker und zahllose Köpfe dominierte, hat ausgedient. 1989/1990 hat eine neue Geschichte, ein neues Zeitalter begonnen. (Fs)
So darf man getrost schon jetzt die Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben. An Fakten mangelt es nicht, leere Blätter braucht kein Historiker zu befürchten: zwei Weltkriege, Bürgerkriege zu Dutzenden, zu unterschiedlichen Zeiten die Errichtung von Tyranneien in diversen Ländern, aber auch Aufschwünge zur Demokratie, Erlangung der Unabhängigkeit, Sieg der bürgerlichen Freiheiten, hier und dort Vereinbarungen über die Einrichtung von Friedenszonen1. (Fs)

19a An wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklungen war das 20. Jahrhundert nicht minder reich als an diplomatischen und militärischen: Nutzung neuer Energiequellen, technischer Fortschritt, mit Auto und Flugzeug eine Revolution des Verkehrswesens, Aufschwung von Telekommunikation und Informatik bis hin zur Mikro-Informatik, Hebung des Lebensstandards und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken, Ansteigen der Produktivität auch in der Landwirtschaft, Vervielfachung der Dienstleistungen... - und kontrapunktisch dazu Wirtschaftskrisen, Inflationszeiten, mangelhafter Umgang mit der Beschäftigung, Forderung nach umweltverträglicher Produktion, umfangreiche Sozialkonflikte... (Fs)

So ist denn die Geschichte des 20. Jahrhunderts gewissermaßen »prall gefüllt«. Aber waren es die vorangehenden denn weniger? Ganz gewiß nicht. Sämtliche Jahrhunderte der Menschheit sind gekennzeichnet vom Widerstreit zwischen dem Wollen der Mächtigen und dem Bemühen um Frieden, vom Streben nach besseren Lebensbedingungen und dem Kampf gegen alles, was sich ihm widersetzt, vom Forschen der Künstler und Denker und von der Vernichtung dieses oder jenes Aspekts des kulturellen Erbgutes der Menschheit. Gewiß scheinen die geschichtlichen Erschütterungen in manchen Jahrhunderten weniger groß gewesen zu sein. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß es Jahrhunderte der Verödung und der allgemeinen Rezession waren, meist verbunden mit einem Rückgang der Bevölkerungszahlen. (Fs)

20a Unterscheidet sich also dieses letzte Jahrhundert, das die Welt erlebt hat - dieses 20. Jahrhundert - von den anderen? Rechtfertigt seine historische Analyse andere Methoden, als wir sie auf frühere Jahrhunderte anzuwenden gewohnt sind? Gewiß gelangt es in den Genuß erheblich umfangreicherer Quellen und Aussagen von Zeitzeugen. Aber brauchen wir zu seiner Betrachtung eine andere Brille, müssen wir bei unserer Analyse eine ganz bestimmte Wirklichkeit in Rechnung stellen?

20b Diese Fragen sind allesamt zu bejahen. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich ein in der ganzen, reichen Geschichte der Menschheit einmaliges Phänomen abgespielt. Dieses unvorhergesehene, ja unglaubliche Phänomen ist an den Kurven der Weltbevölkerung abzulesen. Im Jahre 1900 zählte unser Planet 1.634 Millionen Einwohner. 1997 ist er von rund 5.790 Millionen, mithin dem 3,54fachen bewohnt. Binnen neunzig Jahren hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht - und das ist beileibe ein außergewöhnliches Ereignis. (Fs)

22a Sicher: Auch in der Vergangenheit hat die Weltbevölkerung starke Wachstumsphasen erlebt, jedesmal nämlich, wenn der technische Fortschritt der Menschheit einen Sprung nach vorne tat (vgl. dazu Grafik 1). Dank der Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht im vierten Jahrhundert vor Christus hat sich die Bevölkerung verzehnfacht, freilich im Laufe von zehn Jahrhunderten. Mit dem Aufschwung zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert verdoppelte sie sich in etwa, bis dann die Verheerungen der schwarzen Pest einen schweren Einbruch bewirkten. Im 16. Jahrhundert schätzt man das Bevölkerungswachstum auf 25 Prozent, im 17. auf 18 Prozent, im 18. auf 24 Prozent, und im 19. Jahrhundert schnellte es mit 71 Prozent plötzlich hoch. Zwischen 1900 und 2000 wird die Weltbevölkerung indes von 1.634 auf rund 6.127 Millionen gestiegen sein. (Fs)

22b Niemals in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden ihrer Geschichte ist die Bevölkerung der Erde binnen knapp hundert Jahren um 375 Prozent gewachsen. Im Lichte der Geschichte ist dies ganz unzweifelhaft das fundamentale Wesensmerkmal des 20. Jahrhunderts. Es ist das Ergebnis einer phantastischen Revolution, deren Voraussetzungen verkannt wurden, weil man sie nicht zur Kenntnis nahm. Verkannt wurden sie vor allem durch die stagnierende Schule des 20. Jahrhunderts, die im Gefolge von Alvin Hansen1 an einen Niedergang der demographischen Bedingungen geglaubt hat. Nicht zur Kenntnis genommen wurden sie einfach deshalb, weil Zahlen und Statistiken für sich allein schweigen. Für sich genommen erklären sie gar nichts. Sie lösen keine Ängste aus, sondern bestenfalls Fragen. (Fs)

23a Ohne Erklärung dieses Wachstums bleibt das 20. Jahrhundert unverständlich, und dieses Wachstum hat mit dem Phänomen der ersten demographischen Umwälzung zu tun, daß sich nämlich die Lebenserwartung fast verdreifacht hat. (Fs)

23b Nicht minder ungewöhnlich und einmalig in der Geschichte ist indes ein zweites Wesensmerkmal, das das 20. Jahrhundert in seinen letzten Jahrzehnten kennzeichnet: der Rückgang der Fruchtbarkeit im entwickeltesten Viertel des Planeten auf einen unvorstellbaren Tiefstand. Unvorstellbar ist er insoweit, als - wie uns die meisten Autoren sagen - die Bevölkerungsgeschichte lehrt, die Bevölkerungsentwicklung sei ein ausschließlich positiv verlaufendes Naturgesetz. Plötzlich aber stehen wir in verschiedenen Ländern und Regionen wegen des Fruchtbarkeitsrückgangs negativen Zahlen gegenüber, teilweise verdeckt freilich von der längeren Lebenserwartung und von der Einwanderung. (Fs)

23c Eine Zukunftsplanung ist sinnlos, wenn sie vor der Realität einer zweiten Bevölkerungsrevolution - der UnterFruchtbarkeit - die Augen verschließt, die im Laufe des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts in bestimmten Ländern eingetreten ist. Diese Unter-Fruchtbarkeit betrifft ausgerechnet den Teil der Weltbevölkerung, der in den vergangenen Jahrhunderten den größten technischen Fortschritt verwirklicht hat und allein in der Lage scheint, die Herausforderungen der Dritten Welt zu bewältigen. (Fs)

24a Diese beiden in der Geschichte der Menschheit beispiellosen Phänomene, die das 20. Jahrhundert kennzeichnen und im 21. Jahrhundert noch folgenschwerer werden, haben zwar mit derselben Gegebenheit - den menschlichen Ressourcen - zu tun, unterscheiden sich indes wesentlich voneinander. Die erste demographische Revolution ist die Folge eines phantastischen Fortschritts und einer grundlegenden Veränderung des menschlichen Verhaltens. Diese Revolution tritt mit fast unerbittlicher Logik geradezu mechanisch ein, sobald sich Techniken ausbreiten und Verhaltensweisen entwickeln. (Fs)

24b Doch gleichwie die erste ist auch die zweite Revolution alles andere als zufällig. Sie kommt nicht ex nihilo. Sondern in ihr schlagen sich Veränderungen der Verhaltensweisen nieder, die ihrerseits im Zivilisatorischen wurzeln. Ihr ursächlicher Schwerpunkt dürfte darin zu suchen sein, daß der Sinn für Dauer abhanden gekommen ist2, man sich im gegenwärtigen Augenblick einigelt, sich weigert, die Autonomie von Zeit und Leben anzuerkennen. Die mythologische Verkörperung dieser Grundeinstellung ist der griechische Gott Kronos: Er weigerte sich, der Zeit und dem Leben ihren Lauf zu lassen, weshalb er, damit ihm nur niemals einer nachfolgen könne, ein Festmahl hielt und seine eigenen Kinder fraß. Mit dem Fehlen eines Nachfolgers wollte er sich ewiger, unangefochtener Herrschaft vergewissern. Zwischen 1819 und 1823 malte Francisco de Goya y Lucientes ein Ölbild, auf dem sich der schreckliche Herr der Kultur unter seinem lateinischen Namen Saturn mit weitaufgerissenem Maul und in beispielloser Gier anschickt, eines seiner Kinder zu verzehren. (Fs) (notabene)

25a Heute scheinen die Völker der am weitesten entwickelten Industriegesellschaften nicht anders als Kronos der Jugend den Platz zu verweigern, ist sie doch der Spiegel, in dem man die Zeit ablaufen sieht. Meinen sie etwa, mit der Einschnürung der Fruchtbarkeit den Spiegel verkleinern und so der Wirkung der Zeit Einhalt gebieten zu können? Glaubt der vom Kronos-Komplex befallene »Homo sapiens« (werden wir ihn gar »supersapiens« oder »hypersapiens« taufen?), dieser Alchimist von heute, sich mit der Ablehnung einer Nachkommenschaft, wie sie die Kontinuität des Lebens voraussetzt, eine Ewigkeit bauen zu können?

Setzen sich diese Tendenzen fort, so werden die Folgen dieser zweiten Bevölkerungsrevolution beträchtlich, ja vielleicht nicht wieder gutzumachen sein, wie der angesehene französische Demograph Jean Bourgeois-Pichat in der renommierten Zeitschrift »Population«3 nachgewiesen hat. Darum gilt es, darüber nachzudenken, wie sich diese negativen Folgen verhindern lassen. Mit anderen Worten: Aufweichen Wertvorstellungen läßt sich eine dauerhafte Zivilisation aufbauen?

25a Für eine erste Antwort auf diese Frage müssen wir zunächst dem Planeten auf den Puls fühlen. Denn die Geschichte der europäischen Bevölkerung ist Bestandteil eines Weltganzen, in dem die Internationalisierung der Information und die Globalisierung der Kommunikation oft genug die Besonderheiten verhehlen. Wozu denn sich für einen Teil der Welt - Europa - interessieren, wenn es einzig um die Evolution der menschlichen Spezies als Ganzes geht? Wer die Notwendigkeit einer Analyse Europas verstehen will, muß zuerst einmal die gängige Tendenz entmystifizieren, die das sozio-demographisch Erhebliche stets und ausschließlich im Gesamtweltbild erblicken will. Was nottut, ist ganz im Gegenteil der Blick auf klar umgrenzte Räume, denn entscheidend ist die Heterogenität und Diskontinuität der menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit. (Fs)

25b Haben wir uns vom Globalisierungsmythos befreit (Kapitel 1), der ja keineswegs in der Natur der Dinge liegt, müssen wir uns als nächstes eben dieser Natur der Dinge zuwenden. Das geht nur, wenn wir die beiden verkannten demographischen Revolutionen (Kapitel 2), die Wesensmerkmale des runzlig gewordenen Europa (Kapitel 3) und die Eigentümlichkeiten des europäischen Westens und Ostens (Kapitel 4) verstehen. Über die technischen Mechanismen hinaus führt uns die Untersuchung der Kausalitäten der politischen Démographie zu der Frage, ob vielleicht Europa durch Vorgehens- und Verhaltensweisen geprägt ist, die man eine »Ich-Kultur« nennen könnte (Kapitel 5). »Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird überhaupt nicht sein«, schrieb André Malraux. In Anlehnung daran formulieren wir so: Das 21. Jahrhundert wird menschlich sein, wenn es von Wertvorstellungen, und unmenschlich, wenn es von Unwerten getragen ist (Kapitel 6). (Fs)

27a Zu guter Letzt: Das beginnende 21. Jahrhundert fordert zweifellos eine neue politische Kunst (Kapitel 7). Angesichts der hoffnungsleeren Ideologien, angesichts der Fanatisie-rungsrisiken, angesichts der Gefahren der Tyrannei sehnen sich die Menschen nach der Freiheit des Seins. Wie soll diese Wirklichkeit werden können, wenn eine Politik des Zwangs oder - heimtückischer - eine fehlende, unangepaßte, gar tatenlose Politik sie erstickt?

27b An der Jahrtausendwende ist die Geschichte unsicher geworden. Manche sprechen unter dem Einfluß eines naiven Optimismus vom »Ende der Geschichte«. Sie glaubten im Untergang des Marxismus den endgültigen und universellen Sieg der Demokratie erblicken zu können. Spätestens am 2. August 1990 dürften die Panzer in Kuweit und seither unzählige Entwicklungen (wie etwa auf dem Balkan) sie unsanft aus ihren Träumen geweckt haben. Denn ein »Ende der Geschichte« kann es nur geben, wenn das »Ende der Menschheit« eingetreten, die ganze Menschheit dem Kronos-Komplex anheimgefallen ist. Ist doch, wie Jean Rostand schreibt, »alle Hoffnung dem Menschen erlaubt, sogar die Hoffnung auf Untergang«4. (Fs)

28a Aber lehrt uns nicht die griechische Mythologie, daß Kronos' Frau Rhea dem Festmahl ihres Gatten eine andere Wendung gab? Es gelang ihr, ihren Sohn zu retten, aus dem kein geringerer als Zeus wurde. Rhea versteckte den Letztgeborenen und reichte ihrem schreckgebietenden Gatten einen linnenumhüllten Stein. Im Glauben, die Nahrung zu verschlingen, die seine Macht erhalten sollte, verschlang Kronos den Stein und ward schwer und schwach. Woraufhin der insgeheim in der Obhut von zwei Nymphen am Fuße des Berges Ida auf Kreta aufgewachsene, mit wildem Honig und dem Milch der Ziege Amalthea genährte Zeus seinem Vater entgegentreten konnte. Er zwang ihn, das »große Fressen« seines Festschmauses auszuspucken, erst den Stein, dann seine Brüder und Schwestern, die endlich erlösten Olympier. (Fs)

28b So wurde Kronos eben seiner Gefräßigkeit wegen besiegt. Weil Rhea, Symbol eines dem ihres Gatten radikal entgegengesetzten Sinns des Lebens, das Unmaß des Festmahls des Kronos gegen dessen Exzesse zu wenden vermochte. Dazu bediente sie sich einer einfallsreichen Finte. (Fs)

29a Die Lehre dieser Mythologie ist klar: Niemand ist Sklave der Fatalität. Es genügt, zu wollen. Schon Seneca schrieb: »Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir nicht, sondern die Dinge sind schwierig, weil wir nicht wagen.«

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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Überbevölkerung: Mythos oder Wahrheit; Beispiel: das klassische Griechenland, England (F. Bacon, Th. Hobbes, J. Swift); Platon, Aristoteles - Schriften der großen Religionen (Bibel, Talmud, Awesta, Koran)

Kurzinhalt: Zu Recht darf man fragen, ob nicht auch das Thema »Übervölkerung« in seiner globalen Betrachtungsweise in Wahrheit ein höchst hartnäckiger Mythos ist.

Textausschnitt: 31a Die Überschrift dieses Kapitels ist dem Titel des letzten, postum erschienenen Buches von Alfred Sauvy1 entlehnt. Es befaßt sich mit einer häufig jenseits aller wissenschaftlichen Untersuchung gestellten Frage: dem Verhältnis zwischen der Menschheit und dem von ihr bewohnten Raum. (Fs)

Die Zahl der Menschen hat in der Geschichte in regelmäßigen Abständen Autoren beunruhigt. Wir begegnen dieser Unruhe beispielsweise schon vor zweieinhalb Jahrtausenden in Athen, im 18. Jahrhundert in London und in jüngster Zeit bei Anbruch der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts. Beruht diese Unruhe auf realen Problemen oder hängt sie mit mythischen Fragen zusammen, wie wir sie immer wieder in den Zivilisationen antreffen?2

Als Wissenschaft von den Mythen führt uns die Mythologie zu den Menschheitsanfängen zurück, als die Götter die Sterblichen mit den Segnungen des Ackerbaus (Ceres), der Metallbearbeitung (Vulcanos), des Handels (Merkur), der Künste (Apollo) bedachten. In diesen Mythen schlägt sich nichts anderes nieder, als daß Kolonisatoren noch primitive Völker an ihrem Wissen teilhaben lassen3. (Fs)

32a Wenn wir heute vom 19. Jahrhundert als der »Belle Epoque« sprechen, dann verkürzen wir es auf den Eindruck, den die unbestrittenen Fortschritte der Industrie und der Lebenskunst hinterlassen haben, mit denen das Elend der besitzlosen Landarbeiter und ausgebeuteten Industriearbeiter zurückging und die Städte dank der Wasserversorgung und der Verbesserung der sanitären und städtebaulichen Verhältnisse im weitesten Sinne bewohnbarer wurden. (Fs)


Ein Mythos kann sich aber auch auf ein wiederkehrendes tragisches Ereignis stützen, das bis heute noch nicht überall beseitigt ist: auf die Hungersnot, die man der Übervölkerung anlastete. Die Fortschritte im Transportwesen haben diese Drohung mittlerweile sehr gemildert, denn Trockenheit oder Überschwemmung treten immer nur lokalisiert auf. Die Revolution von 1789 zum Beispiel war teilweise auch das Ergebnis einer Getreideknappheit in Frankreich: Wegen des Zerfalls der traditionellen Verwaltungskader, der Transportwege und der Abwertung des Papiergeldes blieben die schnell getroffenen Maßnahmen für eine Einfuhr ausländischen Korns erfolglos, und dies erst führte zu der wirklichen Hungersnot und den Volksaufständen. (Fs)

33a Zu Recht darf man fragen, ob nicht auch das Thema »Übervölkerung« in seiner globalen Betrachtungsweise in Wahrheit ein höchst hartnäckiger Mythos ist. (Fs)

33b Von der Bevölkerungsentwicklung ist heute fast ausschließlich im Sinne einer Überschwemmung die Rede. Die Bevölkerungszunahme in gewissen Ländern der Dritten Welt ist Gegenstand einer apokalyptischen Literatur. Sie will jeden pflichtbewußten Bürger dazu veranlassen, seine Kinder - wenn er denn unseligerweise welche haben sollte -zu sterilisieren und dann selbst von der Bildfläche zu verschwinden, um Platz zu machen... In den Augen dieser Propheten ist die Sturzflut der Meere ein Nichts im Vergleich zur Menschenflut, die manchem gar folgenschwerer dünkt als ein Atomkrieg. Weit mehr als vom Einsatz der A- oder H-Bomben, der chemischen und bakteriologischen Waffen gelte es allen Ernstes von der »B-Bombe« (»B« wie »Bevölkerung«) zu sprechen. Die hauptsächliche, ja einzige Bedrohung unseres Planeten rühre von der Menschenzahl her, und die endgültige Katastrophe drohe schon morgen.4

Gestützt wird der Mythos einer absoluten Übervölkerung von vorgeblich ernsthaften Expertenuntersuchungen. Aber ist er denn eine Besonderheit unserer Zeit? Wer diesen heute verbreiteten Mythos verstehen will, muß wissen, daß die Angst vor der Übervölkerung zu jenen Urängsten gehört, die die Menschheitsgeschichte durchziehen und in jeder Epoche ihre berühmten Propagandisten gefunden haben. Was gestern ins Feld geführt wurde, um die Angst vor der Bevölkerungsentwicklung zu schüren, zeigt uns, daß die heutigen Argumente ganz und gar nicht neu sind. (Fs)

34a Den Ideologen der Bevölkerungsangst der vergangenen Jahrhunderte können wir ganz einfache Antworten entgegenhalten, die uns die Entwicklung der Menschheit liefert. Sie wollen wir in diesem Kapitel behandeln. Sodann wenden wir uns zwei heutigen Argumentationslinien zu, die im engen Verbund den Mythos von der Übervölkerung propagieren. Wohnt ihnen ein Realitätsgewicht inne oder müssen wir sie namens der Realität zurückweisen?

Erinnern wir als erstes daran, daß der Reflex der Bevölkerungsangst uralt ist. Die Texte der großen Religionen - Bibel, Talmud, Awesta, Koran - freilich halten die Fruchtbarkeit in Ehren und betrachten sie als Segen und Pflicht zugleich. In der Genesis sagt Gott nach der Sintflut: »Seid fruchtbar und vermehrt euch« (Gen 1,28). (Fs)

Das klassische Griechenland

34b Die griechischen Philosophen verkündeten hingegen eine Doktrin, die von der Bevölkerungszunahme abrät. Platon schwebt als demographisches Ideal eine streng stationäre Bevölkerung vor. In seinen Augen lassen sich die Güter der Erde nicht ausweiten, weshalb den Freien eine feste Bevölkerungszahl zu setzen ist, während die Zahl der Fremden und Sklaven keine Bedeutung hat. Im fünften Buch der »Gesetze« heißt es, der Staat müsse »die Zahl der Wohnstätten auf fünftausendundvierzig« festsetzen. Diese Zahl ist keine Zufallswahl. Sie läßt sich durch sämtliche Zahlen zwischen 1 und 12 (mit Ausnahme der 11) teilen, was die Arbeit der Verwaltung vereinfacht. Denn Platon ist der Theoretiker einer staatlichen Gesellschaft, in der die Zentralgewalt die Familie ihres Sinnes entleert und eine neue demographische Ordnung erzwingt. (Fs)

35a Da die Familie ihres Sinnes entleert werden muß, leben die Menschen in Gemeinschaft: »Daß diese Weiber allen diesen Männern [den Kriegern] gemeinsam seien, keine aber irgendeinem eigentümlich beiwohne, und so auch die Kinder gemein, so daß weder ein Vater sein Kind kenne noch auch ein Kind seinen Vater«, schreibt Platon in »Politeia«.5 Die demographische Ordnung wird durch autoritäre Maßnahmen sowie das erzwungen, was man später Eugenik nennt, in Sparta praktiziert wurde und 2000 Jahre später zu den traurigsten Blüten der Hitlerschen Ideologie gehörte. So heißt es in »Politeia«: »Nach dem Eingestandenen sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt; und die Sprößlinge jener sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel bleiben soll.«6 Notfalls müssen die Geburten von Amts wegen eingeschränkt werden, denn »man muß darauf achten, daß die Anzahl der jetzt von uns verteilten Wohnstätten stets dieselbe bleibe und weder größer noch kleiner werde«7. (Fs)

36a Aristoteles macht sich Platons demographische Auffassungen zu eigen, betont aber noch mehr die wirtschaftlichen Risiken einer Bevölkerungsexpansion. In »Politik« schreibt er: »Unsinnig ist es aber auch, daß Sokrates zwar die Besitztümer vereinheitlicht, die Menge der Bürger aber nicht veranschlagt [...]. Denn jetzt gerät zwar keines deswegen, weil die Habe unter eine beliebige Menge von Kindern aufgeteilt werden muß, in eine ausweglose Situation, dann aber, weil ja die Habe unteilbar ist, müssen die überzähligen Verwandten ohne Besitz sein.«8 Um dieser unvermeidlichen Bevölkerungszunahme zu entgehen, schlägt er eine Kontrolle der Fortpflanzung vor und lädt auch seinerseits zu einer gewissen Eugenik ein, wenn er beispielsweise vorschreibt: »Weiterhin [...] muß man dafür Obsorge hegen, daß die Körper der Geborenen nach dem Wollen des Gesetzgebers beschaffen sind.«9

Freilich: Platon und Aristoteles benötigten gar keine Jünger, die ihre Bevölkerungspolitik zur Abwehr des Mythos der Übervölkerung durchsetzten. Denn die Wirklichkeit, die Griechenland ereilte, war das genaue Gegenteil: die Entvölkerung, die zum Untergang führte. Diesen Untergang hat nicht einmal der Platonsche Mythos überlebt, der für etwa zwanzig Jahrhunderte begraben blieb. (Fs)

Unruhiges England

37a Zu neuem Leben wurde der Mythos im 16. Jahrhundert in England erweckt, als sich zahlreiche Autoren der Vermeidung einer Überbevölkerung verschrieben, die das als fundamental erachtete Gleichgewicht zwischen Bevölkerungszahl und Ernährung gefährden würde. (Fs)

Thomas Morus (1480-1535) war der erste einer langen Reihe von Engländern, die Bevölkerungsauswüchse befürchteten. In seinem 1516 erschienen »Utopia« beschrieb er die bestdenkbare Regierung. Diese müsse über die Bevölkerungsentwicklung wachen (für den Fall einer zu zahlreichen oder aber unzureichenden Bevölkerung schlug er Wanderungsbewegungen in der einen oder anderen Richtung vor). Allerdings wartete Thomas Morus mit Zahlen auf, die von einem recht pauschalen Kenntnisstand zeugen. So schrieb er: »Damit aber die Zahl der Bürger nicht abnehmen und nicht über eine gewisse Grenze anwachsen kann, ist vorgesehen, daß keinem Familienverbande - von denen jede Stadt sechstausend umfaßt ohne den zugehörigen Landbezirk - weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene angehören dürfen (die Zahl der unmündigen Kinder läßt sich ja nicht im voraus begrenzen).«1 Tatsächlich aber hatte damals die englische Durchschnittsfamilie etwa fünf Kinder, von denen nur 2 oder 3 überlebten. (Fs)

38a Francis Bacon (1561-1626) war gewissermaßen Malthusianer vor Malthus, denn er entwickelte die statische Argumentation und die starre Sichtweise, die den Malthusianismus im Grunde ausmachen. Im 1598 erschienenen Essay »Über Aufstände und öffentliche Unruhen« schrieb er: »Im allgemeinen muß ferner Vorsorge getroffen werden, daß die Bevölkerung eines Staates, namentlich wenn sie nicht durch Kriege dezimiert worden ist, nicht so groß wird, daß seine Vorräte sie nicht mehr ernähren können.«2

Auch Thomas Hobbes (1588-1679) kam in seinem 1651 erschienenen »Leviathan« auf die Frage der natürlichen Hilfsquellen zu sprechen: »Die Menge der Nahrungsmittel bestimmt die Natur selbst und besteht aus dem, was Erde und Wasser als nährende Brüste dieser unserer gemeinschaftlichen Mutter hervorbringen.«3

Im gleichen Sinne braucht man zur Vervollständigung nur den Titel einer Schrift von Jonathan Swift (1667-1745) zu zitieren; es handelt sich um »Einen bescheidenen Vorschlag, damit die Kinder der Armen in Irland ihren Eltern oder ihrem Land nicht zur- Last fallen, sondern für die Öffentlichkeit nützlich werden«. Der Text wurde 1729 veröffentlicht, gehört aber eher in den Bereich der politischen Satire als der demographischen Ernsthaftigkeit. (Fs)

39a Interessanterweise tauchten im selben 18. Jahrhundert die ersten großen technischen Entdeckungen auf, die die industrielle Revolution zum Ausbruch brachten. (Fs)

Die französischen Staatstheoretiker jener Zeit waren im Gegensatz zu den Engländern bevölkerungsfreundlich und unterstrichen die Ausweitungsmöglichkeiten der Güterproduktion der Erde. Geschrieben haben über dieses Thema Charles Dutot, Schatzmeister der »Compagnie des Indes«, im Jahre 1738, Louis Sébastien Mercier d'Argenson (1740-1814), Abbé de Saint-Pierre (1658-1743). Sie liegen ganz auf der Linie Fénelons, der in »Les aventures de Telemaque« (1699) erklärte: »Gut bearbeitet, ernährt die Erde hundertmal mehr Menschen als heute.« Die Zahl hundert ist natürlich symbolisch und dem Volksmund entlehnt. Der Wirtschaftswissenschafter Auxiron schreckt jedoch nicht vor der Nennung einer Höchstzahl zurück, wenn er 1766 schreibt, diese liege für Frankreich bei 140 Millionen - dem Sechs- bis Siebenfachen der damaligen Bevölkerung. Das entspräche einer Bevölkerungsdichte von 230 Einwohnern pro Quadratkilometern, weniger also, als heute in Deutschland, Belgien oder den Niederlanden leben... (Fs)

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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Überbevölkerung, ein Gespenst: Malthus, Malthusianismus; Paul Ehrlich (Population, ressources, environnement);


Kurzinhalt: Den Höhepunkt des malthusianischen Denkens im 20. Jahrhundert bildet indes ... der Bericht des Club of Rome. Er greift das Postulat von Malthus auf ... In Wirklichkeit aber greift sie nichts anderes auf als die Ideologie der Übervölkerungsangst, ...

Textausschnitt: Das schreckerregende Gastmahl

40a Nach der Antike und den englischen Doktrinären wird Malthus (1766-1834) zum großen Lehrmeister der dritten geschichtlichen Schule, die das Bevölkerungswachstum als gefährlich und die absolute Übervölkerung als Drohung empfindet. Für ihn neigen die Lebenden immer zu einer Zunahme, die die verfügbare Nahrungsmenge übersteigt. (Fs)

40b In seinem »Versuch über die Bedingung und die Folgen der Volksvermehrung« (1798; dt. 1807) legte er das malthusianische Prinzip dar, das sich wie folgt resümieren läßt: »Wird ein Mensch in eine bereits vollbesetzte Welt hineingeboren und können ihm seine Eltern nicht den Unterhalt gewähren, den er ihnen zu Recht abverlangt, und benötigt auch die Gesellschaft seine Mitarbeit nicht, dann kann er nicht auf die geringste Nahrung Anspruch erheben und ist in Wirklichkeit überzählig. Auf dem großen Gastmahl der Natur gibt es keinen freien Platz für ihn; sie befiehlt ihm, sich davonzumachen, und wird ihren Befehl selbst in die Tat umsetzen, wenn es ihm nicht gelingt, sich des Mitleids einiger Tischgenossen zu versichern. Rücken diese enger zusammen, um ihm am Tische Platz zu machen, stellen sich sofort weitere Eindringlinge ein und fordern denselben Gunsterweis. Auf die Nachricht hin, es gebe Nahrung für jeden Hinzukommenden, füllt sich der Saal der Wartenden mit zahlreichen weiteren Kandidaten. Die Ordnung und die Harmonie des Festmahles sind gestört; wo vorher Überfluß herrschte, herrscht nunmehr Knappheit; die Freude der Essenden geht unter dem überall im Saale herrschenden Anblick von Elend und Mangel und dem Gezeter derer zunichte, die zu Recht wütend sind, weil sie die Nahrung nicht vorfinden, auf die man sie hatte hoffen lassen.«1

41a Frankreichs Malthus ist Jean-Baptiste Say (1767-1832). In seinem »Traité d'économie politique« schreibt er die Not einzig der Übervölkerung zu: »Die Vermehrung der Menschen reicht stets nicht nur so weit, wie ihre Existenzmittel zulassen, sondern noch darüber hinaus.« Er fügt hinzu: »Selbst in den wohlhabendsten Nationen geht Jahr für Jahr ein Teil der Bevölkerung an Mangel zugrunde« - eine immerhin anfechtbare Behauptung. (Fs)
Kurzum: Die Angst vor absoluter Übervölkerung ist eine sehr alte Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Autoren wieder und wieder aufgegriffen haben. So verwundert es nicht, daß auch das 20. Jahrhundert seine Theoretiker hat, die sich eiligst die
sogenannten natürlichen Grenzen und die Gefahren einer Übervölkerung vornehmen. (Fs)

Der technokratische Malthusianismus

41b Zwei Feststellungen bilden den Schwerpunkt der Neo-Malthusianer des 20. Jahrhunderts. Die erste lieferte Paul Ehrlich 1972 in »Population, ressources, environnement«: »Je zahlreicher die Menschen sind, desto weniger können sie, zu welchem Zeitpunkt auch immer, wie Könige leben«, und weiter: »Schon jetzt ist die Welt in fast jeglicher Hinsicht übervölkert.«

42a Den Höhepunkt des malthusianischen Denkens im 20. Jahrhundert bildet indes - zweite Feststellung - im selben Jahr der Bericht des Club of Rome. Er greift das Postulat von Malthus auf, freilich in einer Formulierung, die jeden Fortschritt von vornherein ausschließt: »Deshalb rennen Bevölkerungszahl und Kapital unter dem Antrieb exponentiellen Wachstums nicht nur gegen die gesetzten Grenzen, sondern schießen darüber hinaus, bis entsprechend den zeitlichen Verzögerungen der Wachstumsvorgang abgewürgt wird.«1

42b Diese starke Behauptung bedient sich eines modernen Stils, dessen einigermaßen hermetische Formeln Wissenschaftlichkeit suggerieren wollen. In Wirklichkeit aber greift sie nichts anderes auf als die Ideologie der Übervölkerungsangst, die bereits in den drei früheren historischen Schulen aufscheint: in der Schule der Antike, in der prämalthusianischen englischen Schule und in der malthusianischen Schule selbst. Wobei der Club of Rome seine Thesen nur mit vagen empirischen Daten stützt, mithin eingesteht, daß er nicht in der Lage ist, seine rein philosophische Meinung zu rechtfertigen. (Fs)

Ein Gespenst

43a In Wahrheit sind sämtliche malthusianischen Thesen von den Tatsachen widerlegt worden. Gewiß ist der Fortschritt der Menschheit nicht automatisch auf Rosen gebettet; Familien, die mit der Armut, mit klimatisch, von der Evolution des Ökosystems und oftmals mehr noch von fehlgeleiteter Politik bedingten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, hat es seit jeher gegeben, gibt es heute und wird es unseligerweise immer geben. Denn die Vollkommenheit ist nicht von dieser Welt, und niemals verlaufen die Dinge stets nur in Richtung auf eine Verbesserung oder in dem von den Ideologen - mögen sie besten Willens sein - gewünschten Sinne. (Fs)

Dennoch führen die Lehren der Geschichte zum selben Schluß: Die Gefahr einer Übervölkerung ist stets überwunden worden. Denn in Wirklichkeit ist die »Überbevölkerung« ein abstrakter, unscharfer Begriff, ein Gespenst, in dem eine Art Urangst zum Ausdruck kommt, eine kollektive Erinnerung an Hungersnöte, die sich mit den unzulänglichen Transportmöglichkeiten der Vergangenheit nicht bekämpfen ließen. Die neuere Weltgeschichte aber ist ein einziges Dementi dieses Traumas - doch die Angst blieb. (Fs)

43b Seit Anbruch des Neolithikums hat die Bevölkerung unseres Planeten ihre Lebensbedingungen beträchtlich verbessert. Wir sind uns dessen nicht bewußt, weil wir allezeit, was uns fehlt, viel stärker empfinden als das, was wir genießen. Alles aber deutet daraufhin, daß das Bevölkerungswachstum unablässig den Lebensbedingungen der Menschheit zugutegekommen ist. Das schlug sich nieder in der Lebenserwartung, in der Zunahme der natürlichen Hilfsquellen ebenso wie in der Umgestaltung und Fruchtbarmachung der Umwelt. (Fs)

44a Bevor wir darauf näher eingehen, müssen wir in Erinnerung rufen, daß diese Verbesserungen nicht jederzeit und überall zutreffen. Zahlreiche Völker litten und leiden: in Äthiopien, Uganda, Sudan, Mosambik, Südostasien, uns näher in Rumänien oder dem ehemaligen Jugoslawien. Aber welches heutige Beispiel wir auch nehmen: Ausschlaggebend für die Not ist nicht das demographische Kriterium. Äthiopien, das lange Zeit als Kornkammer Afrikas galt, wurde von einem politischen System der Bevölkerungskontrolle in die Verarmung getrieben. Uganda, eines der am reichsten mit Bodenschätzen gesegneten Länder Afrikas, verarmte gleichwie der Sudan wegen unablässig neuentfachter Bürgerkriege. In Mosambik herrschen Desorganisation, Korruption und als Folge der Bürgerkrieg. Kambodscha mußte das ganze Unglück einer totalitären Ideologie erleiden, die die gesamte geschichtliche Kultur des Landes wegfegen wollte.1

45a In Europa ist Rumänien - das Land, das eine abscheuliche Tyrannei erlebt hat - zugleich das ärmste. Dort hat sogar die Kindersterblichkeit wieder zugenommen - untrügliches Zeichen einer Verschlechterung der sanitären Bedingungen als Folge allgemeiner Verarmung. Das rumänische Regime hat allerdings 1987 noch zu einer Finte gegriffen, um die Schädlichkeit seines Vorgehens zu verdecken: Es beschloß, Geburten erst ab Ende des ersten Lebensmonats zu registrieren, womit die im ersten Monat verstorbenen Säuglinge aus der Zählung herausfielen... (Fs)

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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Zahl - Dauer; Bevölkerungszunahme - Rückgang der Hungersnöte

Kurzinhalt: Man kann es drehen und wenden, wie man will: Zwischen der Zunahme der Zahl der Menschen auf Erden und dem Rückgang der Hungersnöte besteht ein positiver Zusammenhang.

Textausschnitt: Das große Paradoxon

46b Man kann es drehen und wenden, wie man will: Zwischen der Zunahme der Zahl der Menschen auf Erden und dem Rückgang der Hungersnöte besteht ein positiver Zusammenhang. Und wer möchte ernstlich behaupten, die natürlichen Hilfs- und Energiequellen seien nicht gestiegen? Daß man sich darum Sorgen macht, ist übrigens recht alten Datums. Zu Zeiten Colberts etwa sorgte man sich wegen einer Holzknappheit in Frankreich; er schrieb: »Frankreich wird noch am Holzmangel untergehen.« Auch in England treffen wir diese Sorge an. Als man das Holz der Wälder nicht mehr nur zu Heizungszwecken, sondern auch für die sich entwickelnde Industrie (insbesondere die Eisenverarbeitung) benutzte, wurde die Verknappung zur Gewißheit, zumal die Zunahme der Menschenzahl die Abholzung weiter verschärfte. Aber der erhöhte Bedarf, der den Preis für das begehrte Holz ansteigen ließ, trieb die Forschung voran, und so trat die Kohle an die Stelle des Holzes. Damit gingen indes neue Probleme einher. Das Holz lieferte dem Menschen eine naheliegende, leicht zugängliche Energiequelle. Kohle aber gab es nur an bestimmten Stellen, und diese lagen oft weit vom Bedarfsort entfernt. Die Antwort auf dieses Problem war die Eisenbahn; ihre Erfindung entsprach in erster Linie der Notwendigkeit des Güterverkehrs.1

47a Dennoch leben die alten Ängste drohender Knappheit immer wieder auf. Im 19. Jahrhundert rechnete der englische Wirtschaftswissenschaftler William Jevons aus, die englische Industrie müsse aufgrund der Kohleknappheit noch vor 1900 die gesamte Produktion einstellen. Freilich: Inzwischen wird das Erdöl genutzt, und es ist immer noch Kohle da. 1971 stellte der Club of Rome die Behauptung auf, das Erdöl gehe zur Neige...2

Die OPEC-Länder machten sich die herrschende Angst zunutze und vervierfachten 1973 den Rohölpreis. Einen zweiten Ölschock löste 1979 die Revolution im Iran aus, wodurch sich das Erdöl weiter verteuerte. Seit 1989 ist der Erdölpreis indessen wieder auf eine relativ niedrigere Ebene als vor dem ersten Ölschock gesunken, und nur die Absprachen unter den Exportländern verhindern noch weitergehende Preissenkungen. Denn neue Erdölquellen wurden entdeckt und andere Energien eingesetzt, und die Industrie hat (insbesondere beim Automobil) Methoden höherer Produktion bei geringerem Energieverbrauch entwickelt. (Fs)

48a Mit anderen Worten: Wächst - insbesondere durch Zunahme der Menschenzahl - der Bedarf, so zwingt er zu Lösungen. Am Ende stehen die Bevölkerungen besser da als vorher, denn ohne verstärkte Nachfrage und damit neuen Bedarf hätte sich der Mensch nicht auf die Suche nach neuen Lebensformen begeben. (Fs)

So gibt es denn heute auf Erden mehr Hilfsquellen als je zuvor. Seit zwei Jahrhunderten verbrauchen immer mehr Menschen immer mehr Energie, und dennoch sind die Ressourcen weniger selten. Das ist das große Paradoxon, denn sofern ihn das Wirtschafts- und Sozialsystem nicht erstickt, ist der Mensch so schöpferisch, paßt er seine Ressourcen den jeweiligen Gegebenheiten so an, daß er weiterhin verbrauchen kann. (Fs)

Nicht einmal der kleine Mensch, der Säugling, das Kind, ist ein rein passiver Verbraucher, der ausschließlich an der Erschöpfung als begrenzt geltender Ressourcen der Erde teilhätte: Er ist zunächst ein aktives Element der Bevölkerung, denn er läßt die Erwachsenen zu Neuerern werden, damit sie den kleinen Menschen aufnehmen können. Die sich vergrößernde Familie verändert bestimmte Gewohnheiten, um sich dem Neuankömmling anzupassen. Die Gemeinde wird zu Vorkehrungen ermuntert, um den Bedürfnissen ihrer neuen Einwohner gerecht zu werden. Der Staat sucht nach den besten Lösungen, um seine Jungen aufnehmen zu können. Gewiß geschieht nichts über Nacht, nichts automatisch. Aber die Zahl der Menschen lenkt die Gesellschaft und ruft nach Fortschritt. (Fs)

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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Anthropologie des Liberalismus; Individuum, totale Autonomie - Anarchie, juridischer Positivismus, Konventionen, Verträge; Gewalt des Stärkeren; Reduktion der Vernunft

Kurzinhalt: The human individual is regarded as totally autonomous, and this in two senses: ... Human reason ... is reduced to measuring the utility of such and such conduct. It is no longer the faculty that enables each man to discern the true and the false, ...


Textausschnitt: Liberalism: First an Anthropology

65a As we begin our development of this theme, it is appropriate to recall clearly that the liberal tradition is characterized above all by an anthropology that exalts man as an individual, his sacred right to private property, his individual liberties. It is foremost liberty that characterizes man.1 (Fs)

65b The human individual is regarded as totally autonomous, and this in two senses: one may be called more subjective; the other more objective. In the first sense, man and he alone is totally master of his existence; he does not depend on anybody, nor is he responsible for another except to the degree that his sovereign will consents in letting itself be determined by someone different from himself. Whence the second sense: this sovereign will, this liberty without limits, will determine in a totally autonomous fashion what is good or bad, what has value and what is a value for the individual in question. The moral norm will strictly coincide with the determination of the subjective will - the norm necessarily reflecting the special interest of the individual. The individual thus ends by erecting his own conduct into a moral norm.2 (Fs) (notabene)

65c We see right away that this conception of liberty entails the precursory sign of anarchism: the "law" which the totally subjective will accepts is connected with nothing else than the will which positively determines its content. Thus the liberal tradition paradoxically leads to juridical positivism's inclination always to sanction the force of the strongest. There is no longer place for reference to objective realities, including other individuals whom each individual should take into account. Human reason is not excluded, but it is mutilated; it is reduced to being a faculty for comparing the advantages or inconveniences of such and such a decision, it is reduced to measuring the utility of such and such conduct. It is no longer the faculty that enables each man to discern the true and the false, the just and the unjust, the good and the bad, and to consent to one or the other by a voluntary act of free assent. The idea that, thanks to reason, men could better understand what they are, dialogue and discover the foundations of their sociability has hardly any bearing here. Reason is at the service of individual interests; it is no longer open to universality. It is no longer the faculty thanks to which men can comprehend what distinguishes them and what brings them together. (Fs) (notabene)

66a One is also prevented from finding for sociability any other but an individual foundation - something really contradictory. Deprived of all reference to any other thing but their liberty, if individuals want to live together, they have no other resource but to have recourse to conventions, occasional consensus, contracts. Issuing only from anarchic wills, their declarations will express only the interests of the contracting parties. Man's rights themselves will not escape this ravaging positivism. If in such a society and at such and such an epoch of history we agree one day to proclaim them or proclaim about them, why would we prevent ourselves from modifying their content or meaning to fit our interests? Now the latter change according to the circumstances of time and place and according to alliances that can always be terminated because they are based on utility and self interest. In brief, the trend of liberalism ends in aporia in the ancient meaning of the word, that is a dead end. Starting with the axiom developed by Locke, at the beginning men are free and equal; they end with practical consequences that make it impossible to think of and will liberty and equality as values for all men. The only thing that remains is the "legitimating" discourse that presents the original axiom less as a horizon than as a mirage. (Fs)

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