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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; das christliche Ghetto, die Außenmauern; Grundrechtscharta - Bezug auf das Christentum? Trick - Beweislast (Beispiel Emanzipation)

Kurzinhalt: Wenn es beispielsweise nötig ist, die Aufnahme eines Bezugs auf Gott zu rechtfertigen, so ließe dies auf die Annahme schließen, dass der öffentliche Raum in Europa laizistisch sei. In Wirklichkeit ist ...

Textausschnitt: 32b Die Idee einer Grundrechtscharta für Europa schwirrt seit mindestens fünfundzwanzig Jahren umher. Im Jahre 1999 ist sie tatsächlich verwirklicht worden. Das gegenseitige Versprechen hat sich in Köln unter der deutschen Unionspräsidentschaft ereignet, die Hochzeit wurde in Tampere mit finnischem Segen vollzogen, und die Geburt hat kurz vor der Regierungskonferenz von Nizza stattgefunden. Die Europäische Grundrechtscharta ist von einem neuen Organ diskutiert, verhandelt und redigiert worden: von einem Konvent, der die Völker Europas vertreten sollte, nicht durch die üblichen Diplomaten-Mandarine. Ein etwas überladenes Organ, zusammengesetzt aus den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten, der Parlamente der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der anderen europäischen Institutionen, hat ein Jahr lang Treffen abgehalten und die Charta hervorgebracht. (Fs)

33a So seltsam es auf jene wirken mag, die mit solchen Fragen nicht vertraut sind - es gab keinen zwingenden funktionalen Grund, eine solche Initiative zu ergreifen. Schließlich scheinen die Unionsbürger eher an einem Übermaß als an einem Defizit an Grundrechtsschutz zu "leiden", wenn man bedenkt, dass sie von den Verfassungen und Gerichten der Mitgliedstaaten, vom Netz, das die Europäische Menschenrechtskonvention bildet, und vom Gerichtshof der Europäischen Union geschützt werden, der spätestens von 1969 an sichergestellt hat, dass gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen, falls sie grundlegende Menschenrechte verletzen, die Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten sind, nicht akzeptiert werden können und nicht angewendet werden dürfen. In keinem Fall darf man sich der Vorstellung hingeben, ohne die Grundrechtscharta wären die Unionsbürger ungeschützt. Dem ist einfach nicht so. Wenn ein Jurist das Gegenteil behauptet, seien Sie barmherzig. Für die Juristen sind neue Vorschriften wie eine neue Krankheit für die Mediziner: Sie stärken die Daseinsberechtigung ihres Berufs. (Fs)

33a Warum also eine neue Charta? Das Wichtigste in den Augen der Verfechter der Charta war die Frage der Wahrnehmung der eigenen Identität. Seit Maastricht ist die politische Legitimität des Aufbaus von Europa ein vieldiskutiertes Problem gewesen. Durch die Realisierung einer Europäischen Währungsunion mit Hilfe einer Europäischen Zentralbank, die der Politik kaum verantwortlich ist, wurde der Wahrnehmung Vorschub geleistet, Europa sei mehr an Waren als an Personen interessiert. Es mag sein, dass der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz garantiert, aber wem war dies überhaupt bewusst? Eine Charta - sagten ihre Verfechter - hätte das sichtbar gemacht und dem einen Ehrenplatz eingeräumt, was zuvor nur verstaubten Rechtsgelehrten bekannt war. (Fs)

34a Die Charta ist insofern ein wichtiges Symbol, das ein Gegengewicht zum Euro und zur wirtschaftlichen Dimension Europas darstellt, ein Teil der verfassungsrechtlichen Ikonographie der europäischen Integration, der maßgeblich zum Selbstverständnis Europas als Wertegemeinschaft und damit zur Artikulation seiner menschlichen Identität beiträgt. (Fs)

Zahlreiche Mitglieder des Konvents, der die Charta entworfen hat, haben gefordert, dass die Präambel einen Bezug auf das Christentum, auf die jüdisch-christliche Tradition oder mindestens auf das religiöse Erbe Europas enthalten solle. Bekanntlich sind alle drei Forderungen zurückgewiesen worden. Der erreichte "Kompromiss" (wenn man eine Kapitulation an allen Fronten so nennen kann) nimmt demgegenüber Bezug auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen". (Fs)

34b Man könnte hier fragen, warum bei einer Grundrechtscharta die Forderung erhoben wurde, einen Bezug auf das christliche -oder eventuell das religiöse - Erbe Europas einzubauen sei. War es vielleicht schlicht eine Provokation? Schließlich schützt die Charta selbst die Religionsfreiheit. Genügt das nicht? Auf diese Weise ist die Frage aufgetaucht, ob sich die Forderung nach einem Bezug auf das religiöse Erbe rechtfertigen lasse. Dies ist die Art, in der viele Konventsmitglieder das Problem angegangen sind. (Fs)

34c Jene, die glauben, dass die Einbeziehung gerechtfertigt ist, werden an dieser Stelle versucht sein, nicht nur einen Rechtfertigungsgrund, sondern eine lange Liste derselben anzuführen. Es ist aber wichtig, den subtilen Trick wahrzunehmen, den diese Fragestellung impliziert. Warum sollte es überhaupt nötig sein, die Aufnahme des Bezugs auf Gott, das Christentum oder auch nur die Religion zu rechtfertigen? Übrigens sei angemerkt, dass eine Bezugnahme auf die Religion eine gänzlich andere Bedeutung als eine Bezugnahme auf Gott hätte. Weshalb sollte die Darlegungslast nicht bei jenen liegen, welche versuchen, die Ablehnung zu rechtfertigen? Diese Bemerkung ist kein bloß dialektisches Argument, das aus Streitlust erdacht wäre. Im öffentlichen Leben stellt die Frage, bei wem die Beweislast liegt, einen guten Geigerzähler für die Vorstellungen dar, die eine Gesellschaft als Prämissen wählt, und oft auch für die sozialen Vorurteile. Es mangelt nicht an Beispielen. Herkömmlicherweise muss in unseren Strafrechtssystemen ein Beschuldigter nicht seine eigene Unschuld beweisen: sie wird vermutet. Es ist die Anklage, die seine Schuld beweisen muss. Wenn der Beschuldigte seine eigene Unschuld beweisen müsste, hieße das, dass er in Ermangelung eines solchen Beweises schuldig wäre. Ein anderes Beispiel: Im Kampf für ihre Emanzipation mussten die Frauen Schritt für Schritt beweisen, dass sie die Voraussetzungen hatten, um wählen, um öffentliche Ämter annehmen, um bestimmte Berufe ergreifen zu können etc. Es wurde unterstellt, dass ohne einen solchen Beweis und eine solche Rechtfertigung die Frauen minderwertig seien. (Fs) (notabene)

35a Wenn es beispielsweise nötig ist, die Aufnahme eines Bezugs auf Gott zu rechtfertigen, so ließe dies auf die Annahme schließen, dass der öffentliche Raum in Europa laizistisch sei. In Wirklichkeit ist das Gleichgewicht zwischen laizistischen und religiösen Elementen in einer Gesellschaft, die von laizistischen und religiösen Mitgliedern gebildet wird, sicherlich ein Thema, über das man diskutieren kann. Aber eine völlig laizistische Prämisse kann in einer Gesellschaft diesen Typs keine Prämisse sein, die nicht begründet werden müsste. Wir alle sind einig über die Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten; aber sind wir - in gleicher Weise ohne Diskussion - wirklich auch einig über das Prinzip, dass aus den Handlungen und Verlautbarungen der öffentlichen Stellen jeder religiöse Bezug ausgeschlossen sein müsste? Ob dem tatsächlich so ist oder ob dies angemessen wäre, ist eine Frage, die aufmerksamer Erwägung bedarf und in deren Hinsicht man keine übereilten Schlüsse ziehen darf. Schließlich weisen diesbezüglich die verfassungsrechtlichen und staatsbürgerlichen Traditionen vieler unserer Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Ausrichtungen auf, von denen viele zur entgegengesetzten Schlussfolgerung führen, wie wir im Folgenden sehen werden. (Fs) (notabene)

36a Dieses Argument gilt nicht nur für die Präambel der Grundrechtscharta. Es beansprucht, mit größerem Recht, Geltung für die Präambel der europäischen Verfassung. Die Diskussion über die Aufnahme eines Bezugs auf das Christentum oder eines Gottesbezugs in die Präambel der Verfassung ist legitim. Aber man kann nicht von der Vorannahme ausgehen, dass eine solche Bezugnahme nicht aufgenommen werden dürfe. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; kein Bezug auf das Christentum: verfassungsrechtlichen Analyse; Einmaleins des vergleichenden Verfassungsrechts

Kurzinhalt: Das Prinzip des agnostischen Staates gilt nur im Feld der positiven Grundrechte. Auf der Ebene von Symbolik und Ikonographie sind im europäischen Verfassungsraum Staaten akzeptabel und normal, die alles andere als agnostisch sind.

Textausschnitt: III. DAS VERFASSUNGSRECHTLICHE ARGUMENT

36b Die Vorstellung, wenn man die verfassungsrechtlichen Werte respektieren wolle, sei es schlechthin unmöglich, einen Bezug auf das Christentum oder einen Gottesbezug in die Präambel der Grundrechtscharta oder in den Entwurf einer europäischen Verfassung aufzunehmen, ist verbreitet. Nach dieser Vorstellung soll die gesellschaftliche Akzeptanz von Werten, nach denen ein solcher Bezug in beiden Präambeln ausgeschlossen sei, verfassungsrechtlich determiniert sein. Meines Erachtens liegt dem ein Sehfehler zugrunde. Es mag sein, dass sich dies im nationalstaatlichen Kontext so verhält, etwa im italienischen. Aber für den Kontext der europäischen Verfassung glaube ich, dass der Bezug auf Gott und das Christentum oder die Religion nicht nur nicht ausgeschlossen werden kann, sondern sogar unentbehrlich ist. Dies ist wohlgemerkt kein Ausdruck meiner religiösen Präferenz und auch nicht meiner Meinung darüber, was für Europa besser wäre. Vielmehr ist es das Ergebnis meiner verfassungsrechtlichen Analyse; und es ist offenbar gerade das, was das europäische Verfassungsrecht fordert. (Fs)

37a Um zu begründen, wie ich zu dieser Schlussfolgerung komme, müssen wir einen Exkurs ins kleine Einmaleins des vergleichenden Verfassungsrechts machen. Jede Verfassung erfüllt normalerweise eine Mehrzahl von Funktionen. Drei sind fast immer dabei. Die erste ist die Funktion der Organisation der Gewalten des Staates und der Teilung der institutionellen Kompetenzen. Sie gibt in unseren freiheitlichen Demokratien typi-scherweise die Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative vor. So definiert die Verfassung beispielsweise die Kompetenzen des Parlaments, regelt die Beziehungen zwischen Parlament als Legislative und Regierung als Exekutive, benennt die Funktionen und Kompetenzen des Staatsoberhauptes usw. Die zweite Funktion ist die der Definition und normativer Qualifikation der Beziehungen zwischen Individuen und öffentlichen Stellen. Es handelt sich um ein sehr weites Feld, zu dem zum Beispiel auch die Pflichten und Verantwortlichkeiten eines jeden Bürgers gehören, etwa der Beitrag zur Verteidigung oder zu den öffentlichen Ausgaben. Seinen bildhaftesten und bezeichnendsten Ausdruck findet diese Funktion jedoch in den Katalogen der Grundrechte, wie sie den "langen" Verfassungen des zwanzigsten Jahrhunderts eigen sind. Sie definieren ein Bündel von unverletzlichen Rechten und Freiheiten, die die Bürger (Individuen oder Zusammenschlüsse) gegen den Staat geltend machen können (wenn auch nicht ausschließlich), und die anzuerkennen, zu respektieren und zu fördern sich der Staat seinerseits bei der Entfaltung seiner Tätigkeit und bei der Ausübung aller seiner Gewalten verpflichtet. So genießen beispielsweise Rechte wie die Gedankenfreiheit oder das Wahlrecht oder das Recht auf Gesundheit auf Verfassungsebene Schutz. Diese beiden Verfassungsfunktionen manifestieren sich im positiven Recht, wie es von der Verfassung gebildet wird, die sich an der Spitze der staatlichen Normhierarchie befindet. (Fs)

38a Dann ist da noch eine dritte, nicht weniger wichtige, wenn auch manchmal schwerer zu fassende Funktion. Die Verfassung ist auch eine Art von Depot, das Werte, Ideale und Symbole, die in einer Gesellschaft geteilt werden, widerspiegelt und schützt. Sie ist daher ein Spiegel dieser Gesellschaft, essenzieller Teil ihrer Selbstwahrnehmung, und spielt eine grundlegende Rolle in der Bestimmung der nationalen, kulturellen und wertbezogenen Identität des Volkes, das sie verabschiedet hat. Diese dritte Funktion mag implizit sein, d. h. sich indirekt aus den normativen Gehalten ableiten lassen, die die anderen beiden Funktionen hervorbringen. Zum Beispiel ist klar, dass man aus der Art, in der in einer Verfassung die öffentlichen Aufgaben im Verhältnis zwischen Regierung und Kommunen organisiert und verteilt werden, ersehen kann, ob diese Verfassung ein eher föderalistisches oder - im Gegenteil - zentralistisches Ethos hat. In gleicher Weise drücken die Grundrechtskataloge in den Verfassungen das Ethos der Gemeinschaften aus, die sie formuliert haben. Der Parmenser Philosoph Palombella nimmt diesen Punkt in seinem Buch "L'autorità dei diritti" sehr genau. Die Grundrechte sind ein System von Wertannahmen, Vehikel von bestimmten ethischen Entscheidungen, und daher ein normatives und trennscharfes Kriterium, um die Rechtmäßigkeit von institutionellem Verhalten zu messen. Aber in einem besonders glücklichen Ausdruck spricht Palombello zu Recht davon, dass sie viel mehr als das sind: "Die Grundrechte erklären, worauf sich eine Gemeinschaft gründet." Genau so ist es. (Fs)

38b Auch die ersten beiden Verfassungsfunktionen können daher indirekt die ethischen, wertmäßigen Entscheidungen einer bestimmten Nation zum Ausdruck bringen, die Prioritäten und die Ziele, die ein Staat als unverzichtbar ansieht, und von denen her er sein Handeln inspirieren will. Aber einige Verfassungen versuchen, auch diese dritte Funktion zu explizieren, und machen dies vor allem durch die Präambeln. Die Präambeln stellen oft den feierlichen Versuch dar, genau diese Aspekte der Identität zu artikulieren. (Fs)

39a Die ersten beiden Verfassungsfunktionen sind unverzichtbar. Ich kenne keine moderne europäische Verfassung, die diese Funktionen nicht erfüllen würde. Die dritte Funktion ist mindestens implizit stets gegenwärtig. Jede Verfassung, auch in ihren technischsten Abschnitten, bringt etwas Tiefes über das Volk zum Ausdruck, das sie verabschiedet hat. Aber dies muss nicht explizit geschehen. Es gibt Verfassungen, wie zum Beispiel die niederländische, die österreichische, die italienische, die belgische, die finnische, die dänische, die schwedische oder die griechische, in denen die Präambel sehr kurz und formal ist oder gar fehlt. Diese Entscheidung ist vollkommen legitim. (Fs)

39b Die Europäische Grundrechtscharta und der Entwurf für eine europäische Verfassung hätten die minimalistisch-funktionalistische Methode wählen können: Sie hätten sich auf die ersten beiden Funktionen konzentrieren und den Lesern die Aufgabe überlassen können, die Identitäts- und Wertelemente, die implizit in den Strukturentscheidungen enthalten sind, zu definieren und zu artikulieren. Beide Dokumente hingegen spiegeln eine ganz andere Wahl wider. Beide enthalten majestätische Präambeln, die in sehr bewusster, durchdachter, empfundener, überlegter Weise versuchen, die konzeptionellen Grundlagen des positiven Rechts, das folgt, zu explizieren, und eine Art Telos und Ethos (was Europa sein will und was es ist) zu umreißen, das die darauffolgenden Vorschriften gestaltet. (Fs)

39c Auch dies ist eine ganz und gar legitime Entscheidung. Zu Beginn der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten hat der Supreme Court in einem seiner berühmten Urteile bekräftigt: Denkt daran, es ist eine Verfassung, die wir auslegen! Hier in Europa hingegen, wo die sprachliche, kulturelle und soziale Vielfalt unter den Mitgliedstaaten viel akzentuierter ist als jene, die ursprünglich zwischen den amerikanischen Staaten herrschte, muss unser verfassungsrechtliches Motto sein: Denkt daran, es ist eine europäische Verfassung, die wir entwerfen! Eine verfassungsrechtliche Konstruktion, die auch die verfassungsrechtliche Vielfalt der europäischen Völker widerspiegeln muss. (Fs)

40a Der Umstand, dass es sich um eine Grundrechtscharta der Europäischen Union und um den Entwurf einer Verfassung für Europa handelt, erlaubt nicht die gleiche Freiheit, über die die Verfassungsväter einer Nation verfügen. Dieser Umstand erfordert eine gewisse Disziplin. Die Tatsache, dass es um eine Verfassung für Europa geht ("in Vielfalt geeint"), bedeutet, dass sie europäisch sein muss. Daher sind der Konvent zur Zukunft Europas und die Regierungskonferenz keine absoluten Souveräne, wenn es darum geht, die Symbolordnung der europäischen Verfassung zu artikulieren. Auch sie müssen, unbeschadet der Legitimation, die sie genießen, oder vielleicht gerade dank einer solchen Legitimation, den optimalen Weg suchen, um die Hauptlinien der den verschiedenen Mitgliedstaaten eigenen Wertsymbolik zusammenzufassen. Ich glaube nicht, formalistisch zu sein, wenn ich auf der Behauptung bestehe, dass auch die nationalen Parlamente bei der möglichen Zustimmung zum Entwurf einer europäischen Verfassung keine absoluten Souveräne sind: Auch sie müssen ihre eigene Verfassungs- und Werteordnung beachten und der Versuchung widerstehen, wichtige Ausdrucksformen der Verfassungssymbolik anderer Mitgliedstaaten auszuschließen. (Fs)

40b Schauen wir also, welchen Platz die Religion im verfassungsrechtlichen Panorama der europäischen Staaten einnimmt, und versuchen wir dies auf eine Art, die gleichzeitig interessant und verständlich für Leser ist, die keine Verfassungsrechtler sind. Immerhin geht es um Fragen, die zu wichtig sind, als dass man sie in den Händen der Juristen lassen könnte. (Fs)

41a An erster Stelle steht eine klassische, auch verfassungsrechtliche Diskussion über die Religionsfreiheit als Prinzip des positiven Verfassungsrechts. Hier scheint ein breiter Konsens zu herrschen. Der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt dieser Diskussion in Europa (und anderswo) ist der, den ich die "Prämisse vom agnostischen Staat" nennen möchte: die gemeinsame Überzeugung, dass die Verfassungsordnung sowohl die Freiheit zur Religion als auch die Freiheit von der Religion schützen muss. Im Bereich der (in weitem Sinne verstandenen) europäischen Verfassungsordnung zu leben, bedeutet, in einem Rechtsraum zu leben, der den Gläubigen die Freiheit garantiert, ihre Religion auszuüben, und den Nichtglaubenden die Freiheit, sich jeder Form religiösen Zwanges entziehen zu können. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union teilen, unter dem Schirm der Europäischen Menschenrechtskonvention, diese verfassungsrechtliche Prämisse. (Fs)

41b Hier müssen wir einen kleinen Umweg machen, um dann erneut auf die Hauptstraße zu biegen. Unbeschadet dieses breiten Konsenses findet sich Europa in der Art, wie die verschiedenen Staaten diese verfassungsrechtliche Prämisse anwenden, erneut von der Vielfalt charakterisiert. Erstens gibt es Fälle, in denen die Grenzen unklar sind (und die daher den Juristen gefallen): Was ist für die Zwecke des verfassungsrechtlichen Schutzes als Religion zu betrachten? Muss beispielsweise Scientology als Religion anerkannt werden, die in den Genuss dieser Gewährleistungen kommt? Die verschiedenen europäischen Verfassungsgerichte können, obwohl sie die Prämisse vom agnostischen Staat im Bereich des positiven Rechts teilen, in dieser Frage divergieren. Darüber hinaus gibt es sowohl in diesem Fall als auch bei anderen verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten Grenzen. Wenn eine als solche anerkannte Religion Menschenopfer von ihren Jüngern fordern würde, könnten wir sicherlich nicht im Namen der Religionsfreiheit das Recht auf diesen Ritus garantieren (auch nicht, wenn die dafür bestimmte Person dem eigenen Opfer zustimmen würde). Manchmal mögen die Grenzen nicht ganz klar sein. Wenn sich zum Beispiel herausstellte, dass das rituelle jüdische Schächten (koscher) oder das islamische (hallal) für die Tiere grausam wäre -eine breit diskutierte Frage -, wäre es dann möglich, es zu verbieten, oder würde die Religionsfreiheit vorgehen? Wir sind uns alle der Schwierigkeiten ähnlicher Entscheidungen bewusst, beispielsweise mit Blick auf das islamische Kopftuch oder auf den Turban der Sikhs. Gibt es ein übergeordnetes Interesse des Staates, das das Verbot rechtfertigt, solche Kopftücher in öffentlichen Schulen zu tragen (wie es die Religion vorschreibt), oder jene Turbane der Sikh-Polizisten? Erneut können verschiedene Verfassungsgerichte, obwohl sie die verfassungsrechtliche Prämisse der Freiheit zur Religion und der Freiheit von der Religion teilen, zu unterschiedlichen Ergebnissen über diese Fragen gelangen. Eines der schwierigsten Probleme, gelegentlich unlösbar, betrifft Vorschriften, die Formen der öffentlichen Moral ausdrücken, welche als Mitgift mit religiöser Grundlage oder religiösem Ursprung wahrgenommen werden können. Die Debatten, die wir in einem Großteil unserer Mitgliedstaaten über die Grenzen der Abtreibung, über Eheschließung und Scheidung und über die rechtliche Anerkennung der Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts erleben, geben ähnlichen Fragen Raum. Kann beispielsweise das Verbot einer Eheschließung zwischen Personen des gleichen Geschlechts als eine Form religiösen Zwangs und insoweit als eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundprämisse betrachtet werden? Oder kann sie umgekehrt als Ausdruck einer öffentlichen Moral betrachtet werden, vergleichbar zum Beispiel dem Verbot der Polygamie, das in allen unseren Verfassungsrechtssystemen akzeptiert wird? Auch hier sind im Anwendungsbereich der erwähnten verfassungsrechtlichen Prämisse unterschiedliche Antworten möglich. Und nun, nach Ende des Umwegs, können wir auf die Hauptstraße zurückkehren. (Fs)

43a Und Europa? Unabhängig von der Frage, ob Europa eine Verfassung im formellen Sinne annimmt oder nicht, umfasst seine verfassungsrechtliche Architektur schon jene Prämisse. Die Union betrachtet sich als gebunden durch die einschlägigen Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention und durch die Verfassungstraditionen, die seinen Mitgliedstaaten gemeinsam sind; und die Religionsfreiheit gehört zu diesen Traditionen. Art. 10 der Grundrechtscharta und Art. 51 des Verfassungsentwurfs bestätigen diese bereits bestehende Verpflichtung. Wir haben gesehen, dass es trotz der Unterschiede in der Anwendung und der Existenz eines Einschätzungsspielraums, der für einige schwierige Fälle verschiedene Lösungen erlaubt, eine Homogenität im europäischen Verfassungsrecht gibt: Alle unsere Mitgliedstaaten, wie auch die Union selber, sichern ihre Verpflichtung auf die Freiheit zur Religion und auf die Freiheit von der Religion zu. (Fs)

43b Wenden wir uns nun der dritten Verfassungsfunktion zu, jenem Hüter der Werte und wichtigem ikonographischen Symbol bei der Definition der Identität des Staates. Ist es, unbeschadet des Konsenses über die Prämisse vom agnostischen Staat als Prinzip des positiven Rechts, in der europäischen Verfassungstradition erlaubt, beim Versuch, Ethos und Telos der Verfassung zu artikulieren, in der Präambel explizit Bezug auf die Religion, auf Gott, ja auf das Christentum zu nehmen? Dies ist ein verfassungsrechtliches Problem. Versuchen wir durch eine vergleichende Analyse zu sehen, wie die Verfassungspraxis in Europa mit Blick auf dieses Problem aussieht. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; keine Verletzung der Verfassungsordnung durch Bezug auf Christentum; 2 Schlussfolgerungen: deskriptiv, normativ

Kurzinhalt: Es muss betont werden, dass die Vorstellung vom "agnostischen Staat" nicht notwendig mit der französischen Lehre vom absolut laizistischen Staat oder mit der amerikanischen Doktrin von der völligen Trennung von Staat und Kirche in eins fällt.

Textausschnitt: 47a Welche Schlüsse lassen sich aus diesem empirischen Verfassungspanorama ziehen? Der erste Schluss ist deskriptiv, der zweite normativ. Die deskriptive Schlussfolgerung ist, dass Europa eine Vielfalt nicht nur in seinen Sprachen und Kulturen, sondern auch in seinen verfassungsrechtlichen und politischen Kulturen aufweist. Ein erheblicher Teil der französischen Besonderheit, der französischen Identität spiegelt sich zum Beispiel im leuchtenden Reichtum seiner Sprache wider wie in der Laizität seiner Verfassungstradition. Ein bedeutender Teil der irischen Identität spiegelt sich in seinem literarischen und dichterischen Erbe (eine ganz eigene Stimme in der anglophonen Welt), und auch, ja, in seinem religiösen Verfassungswortschatz. Diese verfassungsrechtliche Heterogenität Europas ist aufzunehmen, zu pflegen und zu bewahren: "in Vielfalt geeint."
47b Die zweite Schlussfolgerung, verfassungsrechtlich normativ, ist, dass die europäische Verfassungsordnung hinsichtlich der Religionsfreiheit - jener gemeinsamen Weise, die Grundprämisse der Freiheit zur Religion und von der Religion zu verstehen - nicht schon durch das Faktum verletzt ist, dass die Verfassung der religiösen oder laizistischen Empfindung der Körperschaft Ausdruck verleiht, sei es durch Vorschriften der Präambel, sei es (in einigen Fällen) geradewegs durch eine Staatsreligion. Wenn zum Beispiel in Irland die öffentlichen Stellen, inspiriert durch die Präambel der Verfassung, Formen des religiösen Zwanges gegen laizistische Bürger und Bewohner ausüben würden, würde dieses Verhalten - auch formal, von Seiten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - als Verletzung des Prinzips der Religionsfreiheit betrachtet werden. Entsprechend würden französische Behörden, wenn sie sich vom eigenen laizistischen Ethos inspirieren ließen und ungerechtfertigte Einschränkungen religiöser Praktiken vornähmen, eine Verletzung des Prinzips der Religionsfreiheit begehen. Aber an sich selbst sind weder die irische Präambel noch die dänischen, spanischen oder ähnliche Verfassungsvorschriften als Normen zu betrachten, die die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf die Freiheit zur Religion und von der Religion verletzen würden, d. h. die agnostische Prämisse als Teil des positiven Verfassungsrechts. Es muss betont werden, dass die Vorstellung vom "agnostischen Staat" nicht notwendig mit der französischen Lehre vom absolut laizistischen Staat oder mit der amerikanischen Doktrin von der völligen Trennung von Staat und Kirche in eins fällt. In der europäischen Verfassungspraxis erlaubt die agnostische Prämisse sowohl das französische Modell als auch das Modell eines Staates, der beispielsweise religiöse Einrichtungen im selben Maße subventioniert wie nichtreligiöse. Agnostizismus bedeutet hier, Pluralismus ohne Bevorzugungen zu praktizieren. Man könnte geradezu sagen, dass das zweite Modell agnostischer ist als jenes, das nur die nichtreligiösen Einrichtungen subventioniert, auch wenn sie im staatlichen Kleid daherkommen. (Fs)

48a Wir können bereits versuchen, daraus eine Schlussfolgerung für Europa zu ziehen: Von einer Gesamtschau der europäischen verfassungsrechtlichen Landschaft her will es scheinen, dass ein Gottesbezug oder ein Bezug auf das Christentum in der Präambel der Verfassung an sich keine Verletzung der europäischen Bindung an die Freiheit zur Religion oder von der Religion wäre. Es mag viele gute Gründe dafür geben, diesen Bezug nicht herzustellen; aber wenn man von den empirischen Befunden aus schließt, darf man die Verfassungsmäßigkeit nicht als einen dieser Gründe betrachten. Dies bildet jedoch kein Argument zugunsten einer solchen Bezugnahme. (Fs)

48b Es gibt hingegen verfassungsrechtliche Argumente, die Gründe zugunsten einer Aufnahme des christlichen Bezugs zu bieten scheinen. Die These vom völligen Schweigen der Verfassung, auch wenn es sich um die dritte Verfassungsfunktion handelt, jene symbolische und nicht "positive", jene, die in den Präambeln und nicht in den substanziellen Vorschriften zum Ausdruck kommt, wird oft auf der Grundlage des erwähnten agnostischen Prinzips aufgestellt. In seiner einfachsten Form lautet das Argument, dass sich der Staat (und daher auch die Europäische Union) - auch in der Symbolik der Präambeln - nicht auf eine Seite schlagen dürfe, weder durch die Gegenüberstellung von religiösen und laizistischen Teilen der Gesellschaft noch durch den Ausdruck der Bevorzugung einer spezifischen Religion, am wenigsten in einer Gesellschaft, in der verschiedene Religionen existieren. (Fs)

49a Dieses Argument ist nicht frei von erheblichen Schwierigkeiten. (Fs) (notabene)
Erstens besteht die naive Überzeugung, dass ein Staat wahrhaft neutral sei, wenn er den Laizismus praktiziere. Das ist aus zwei Gründen falsch: Wenn die verfassungsrechtliche Lösung als Entscheidung zwischen laizistischer und religiöser Option definiert wird, ist es klar, dass es in einer Alternative zwischen zwei Optionen keine neutrale Position gibt. Ein Staat, der jede religiöse Symbolik ablehnt, vertritt keine neutralere Position als ein Staat, der bestimmten Formen religiöser Symbolik anhängt. Der Sinn der agnostischen Prämisse ist genau der, die Anerkennung der religiösen Empfindung (Freiheit zur Religion) wie der laizistischen Empfindung (Freiheit von der Religion) zu garantieren. Deswegen ist der Ausschluss der religiösen Empfindung aus der Präambel keine wirklich agnostische Option mehr, er hat nichts mit Neutralität zu tun. Er bedeutet einfach, in der Symbolik des Staates eine Weltsicht gegenüber einer anderen zu bevorzugen und dies als Neutralität auszugeben. Es wäre wie die Entscheidung, in den Vorschriften des positiven Verfassungsrechts nur die Freiheit von der Religion, nicht auch die Freiheit zur Religion zu gewährleisten. (Fs) (notabene)

50a Zweitens stellt sich die delikate Frage der verfassungsrechtlichen Präferenzen der verschiedenen Mitgliedstaaten. Oft ist ein Orwellsches Element in der europäischen Verfassungsdiskussion präsent. Man bekräftigt, dass alle Verfassungen gleichermaßen gälten. Nur dass in der Debatte um die Verfassung offenbar einige gleicher sind ...! Die laizistische Ausrichtung der französischen Verfassung oder diejenige der italienischen verdienen unseren Respekt als gültiger Ausdruck der verfassungsrechtlichen Präferenz Frankreichs oder Italiens. Aber gelten sie mehr als beispielsweise die englische oder griechische oder deutsche Tradition? Das europäische Verfassungsrecht muss, selbstverständlich in den Grenzen des Vernünftigen und unter Vermeidung des Lächerlichen, auch auf der symbolischen Ebene, soweit wie möglich die Pluralität der nationalen verfassungsrechtlichen Empfindungen respektieren. (Fs) (notabene)
50b In der Verfassung eine Symbolik zum Ausdruck zu bringen, die sich die italienische oder französische Laizität zu Eigen macht, bedeutet notwendig, die englische, griechische oder deutsche Verfassungsempfindung abzulehnen. Es ist auf politischer Ebene nicht möglich und auf verfassungsrechtlicher Ebene nicht akzeptabel, eine pluralistische Rhetorik zu pflegen und dann eine imperialistische Verfassungspolitik zu betreiben. Das ist nicht Europa. (Fs)

50c Es könnte scheinen, als gäbe es keinen Ausweg. Der Bezug auf die Religion verletzt die laizistische Verfassungsempfindung; das Verschweigen der Religion verletzt das religiöse Verfassungsempfinden. Und beide Entscheidungen sind wertvolle Ausdrucksformen der europäischen Verfassungsgeographie, wie das Meer und die Berge. Und doch gibt es einen Ausweg, aber er verlangt einen Geist der Toleranz von beiden Positionen. Und diese Lösung findet sich verfassungsrechtlich auf europäischem Boden: Es geht darum, in die Symbolik der Präambel dieselbe Neutralität, die wahre Neutralität zu tragen, die sich in der Tradition des positiven europäischen Verfassungsrechts findet. Es ist eine ganz und gar europäische Entscheidung: keine "Neutralität" im Sinne eines Ausschlusses beider Optionen zu praktizieren, sondern den toleranten Pluralismus, der darin besteht, beide einzuschließen. (Fs)

51a Ein jüngeres, besonders aussagekräftiges Beispiel dieses dritten Weges findet sich in der Präambel der neuen polnischen Verfassung:
"Mit Rücksicht auf die Existenz und Zukunft unseres Heimatlandes, das im Jahre 1989 die Möglichkeit einer souveränen und demokratischen Bestimmung seines Schicksals wiedererlangte, errichten Wir, die Polnische Nation - alle Bürger der Republik, sowohl jene, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch jene, die einen solchen Glauben nicht teilen, diese universalen Werte aber als anderen Quellen entspringend achten, gleich in Rechten und Pflichten für das Gemeinwohl - Polen [...]."

51b Die Lösung ist naheliegend: sowohl der religiösen als auch der laizistischen Empfindung Anerkennung zuteil werden lassen. Es gibt andere Beispiele. Die "polnische Lösung" ist nicht unbedingt angemessen für ein Italien oder ein Frankreich (um nur zwei Beispiele zu geben), wo die Laizität als essenzieller Teil der Verfassungsordnung betrachtet wird, auch auf symbolischer Ebene. Aber die europäische Tradition verlangt ein Maß an verfassungsrechtlicher Toleranz von Staaten, Völkern und Bürgern. Ich gebe zu, dass die polnische Lösung einen laizistischen Puristen aus Italien oder Frankreich enttäuschen könnte. Aber er müsste seinerseits anerkennen, dass die Annahme einer rein laizistischen Position in der europäischen Verfassungssymbolik in gleichem Maße einen gläubigen Polen oder Iren enttäuschen könnte. Jede exklusivistische Lösung steht offenbar im Widerspruch zu jenem Prinzip der Toleranz, das der Verfassungsentwurf und die Grundrechtscharta selbst zu fördern versuchen. (Fs)

52a Ich möchte nicht verfechten, dass die Präambel der europäischen Verfassung den polnischen Text wörtlich wiedergeben müsste, wohl aber, dass sie ihn als eine gute Lösung in Betracht ziehen kann, der die verfassungsrechtliche Pluralität in Europa in angemessenerer Form widerspiegeln könnte als der vom Konvent vorgeschlagene Text. Wenn wir von der "polnischen Lösung" sprechen, meinen wir die Lösung betreffend den Gottesbezug. Es muss erwähnt werden, dass in derselben Präambel auch folgender Passus enthalten ist:

"Unseren Vorfahren für ihre Anstrengungen verpflichtet, für ihren Kampf um die Unabhängigkeit, mit großem Opfer erreicht, für unsere Kultur, verwurzelt im christlichen Erbe der Nation und in universellen menschlichen Werten ..."

52b Die einen mögen die Formel für glücklich und ausgewogen halten, andere können einwenden, der Bezug auf das "christliche Erbe der Nation" sei für eine multikulturelle Nation zu vereinnahmend. Glücklicherweise wartet auf uns nicht die Aufgabe, uns zu diesem Aspekt der polnischen Verfassung zu äußern, da die Vorstellung von Europa als Nation zu Recht verrufen ist. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; 2 Argumente für die Aufnahme des Gottesbezuges in die Präambel


Kurzinhalt: ... der europäische Richter muss im Gegenteil das Verfassungsrecht interpretieren, indem er Symbolsprachen respektiert, die in einem gewissen Sinne untereinander widersprüchlich sind. Wäre dies doch die größte Herausforderung für Europa!

Textausschnitt: 52c Es gibt zwei weitere Argumente, die eher für als gegen die Aufnahme des Religionsbezugs in die Präambel sprechen. Um das erste zu beurteilen, lohnt es sich, den Textvorschlag des Konvents für die Präambel nochmals aufzugreifen. (Fs)

"In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft,

Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben,

53a In der Überzeugung, dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will,

In der Gewissheit, dass die Völker Europas, wiewohl stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten,

In der Gewissheit, dass Europa, 'in Vielfalt geeint', ihnen die besten Möglichkeiten bietet, unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und im Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde dieses große Abenteuer fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann,
In dankender Anerkennung der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents, die diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben [...]."

53b Die Präambel beginnt mit dem Zitat eines Passus von Thukydides, d. h. mit einem Bezug auf die griechischen Wurzeln der europäischen Zivilisation; sie fährt fort mit der Bekräftigung, dass die Bewohner Europas den Kontinent "seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben"; sie nimmt explizit Bezug auf die "Überlieferungen" Europas und auf die Werte, die "in seinem Erbe weiter lebendig sind"; sie proklamiert, dass die Völker Europas entschlossen seien, "die alten Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten". Zu Recht versucht diese Präambel, im Bemühen, gewissenhaft das Telos und Ethos der europäischen Integration und der Europäischen Union sowie die gemeinsame Bestimmung Europas zu definieren, sich in der europäischen Geschichte zu verankern. Auch indem sie von der Zukunft spricht, bindet sie sich eng an die Geschichte. Es ist die Rhetorik der Geschichte, es ist die Rhetorik der Vergangenheit. Dies ist richtig. Wir haben bereits gesehen, dass das geschichtliche Gedächtnis unverzichtbar ist, um eine ethische Gemeinschaft zu bauen. Die Einfügung eines Bezugs auf das Christentum in die reiche historische Handlung der Präambel wäre eine Entscheidung ohne jegliche denkbare ideologische Aufladung - die einfache Feststellung einer antiken Wirklichkeit, ungefähr wie Perikles und Thukydides, und nicht weniger wichtig, um es vorsichtig zu sagen. Der Ausschluss einer Bezugnahme auf das Christentum hingegen ist ein beredtes Schweigen, und dies ist ideologisch aufgeladen. (Fs) (notabene)

54b Das vierte und letzte Argument ist enger mit den Grundrechten verbunden. Im vereinten Europa herrscht Konsens um die Vorstellung, dass ein zentraler Teil der europäischen Verfassung in der Bekräftigung und im Schutz der Grundrechte bestehen muss. Die Präambel des Verfassungsentwurfs unterstreicht, wie sehr die "zentrale Rolle des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie de[r] Vorrang des Rechts" in der europäischen Gesellschaft verankert sind. Es ist ein Kulturgut, das allen gehört: Der Laizist wie der Gläubige glauben an diese Unverletzlichkeit der Rechte. Aber die Grundlage dieser Überzeugung ist verschieden. Für den Laizisten geht diese Grundlage auf die humanistische, kantianische und neukantianische Tradition zurück. Die Bezugnahme in der Präambel auf "die Werte [...], die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft" ist eine wirkungsvolle Zusammenfassung des Geistes der Aufklärung. Und tatsächlich sind es die ursprünglichen Fundamente des Vokabulars der Grundrechte: Gleichheit und Freiheit decken beinahe das ganze Universum der Rechte ab. In der jüdisch-christlichen Tradition hingegen ist das Fundament der Überzeugung von der Unverletzlichkeit der Rechte ein anderes (und es scheint im Zusammenhang mit den Grundrechten angebracht, die häufig missbrauchte Wendung "jüdisch-christliche Tradition" zu gebrauchen). Für die, die jener Tradition zugehören, ist die Quelle der Gleichheit aller Menschen, der Freiheit und der Achtung der Vernunft der bestimmende Imperativ des Schöpfers, die Tatsache, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Der Ursprung der Verpflichtung auf die Menschenrechte findet dementsprechend seinen erstaunlichsten Ausdruck in der majestätischen Formulierung von Genesis 1,27:

"Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie."

55a Dies ist ein Passus, dessen tiefe Bedeutung für die Konzepte von Würde und Gleichheit keiner Auslegung bedarf. In ihm liegt, natürlich in völlig unbeabsichtigter Weise, etwas sehr "Europäisches". Im Umfeld der freiheitlichen abendländischen Tradition gibt es offensichtlich erhebliche Nuancierungen und Unterschiede in der Artikulation der grundlegenden Menschenrechte und in ihrer Wahrnehmung. Bedeutsam wegen seiner symbolischen und praktischen Tragweite ist der Unterschied zwischen dem Akzent, den die Amerikaner in ihrem Universum der Menschenrechte auf die Freiheit setzen, und jenem, den die Europäer auf die Würde setzen. Die Genesis bevorzugt die Würde, indem sie von Mann und Frau als nach dem Ebenbild Gottes geschaffen spricht. Gemäß einer religiösen Weltsicht ist die Freiheit nicht grenzenlos und muss Teil einer Disziplin von ethischer Wahrheit sein. Alle sind nach dem Bilde Gottes geschaffen, Männer wie Frauen; in diesem Sinne genießen sie eine unleugbare Gleichheit, und verdienen tiefe Achtung ihrer Würde. Alle sind als moralische Wesen geschaffen, allen ist jene Autonomie und jene Freiheit mitgegeben, die essenzieller Teil ihrer Ausstattung als Männer und Frauen ist. (Fs)

56a Wir können dieselbe Behauptung hinsichtlich unserer "Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde" machen, wie sie in der Präambel des Entwurfs der europäischen Verfassung in Erinnerung gerufen wird. Auch dieser Gedanke ist Teil einer gemeinsamen Überzeugung aller Europäer, laizistischer wie gläubiger, die dennoch verschiedene Grundlagen hat. Für den Laizisten ist eine solche Verantwortung eine natürliche und edle Folge der humanistischen Aufklärung. In der jüdisch-christlichen Tradition resultiert sie hingegen aus der den Menschen vom Schöpfer übergebenen Pflicht, die Erde zu hüten. (Fs)

56b Wenn die Präambel sich darauf beschränkt hätte, das Bewusstsein einer Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen und die - Laizisten wie Gläubigen gemeinsame -Überzeugung von der Unverletzlichkeit der Grundrechte usw. zu bekräftigen, gäbe es keinerlei verfassungsrechtlichen Einwand. Nun aber ist der Einwand, dass die Präambel darüber hinaus geht und auch die Grundlage erklären will; und dennoch - trotz des lexikalischen (subtil verletzenden) Bezugs auf die "Religion" - beschränkt sie sich auf das laizistische, humanistische und aufklärerische Fundament und lässt einen authentischen und würdevollen Bezug auf das Fundament des Glaubens an Gott "als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen" aus, wie er sich in der glücklichen Formulierung der polnischen Verfassung findet - ein Prinzip, das allen monotheistischen Religionen gemeinsam ist. (Fs) (notabene)

In der Tat proklamiert der erste Abschnitt:

"In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft,"

57a
und der zweite Abschnitt fährt fort:

"Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben."

57b Das humanistische Erbe erscheint daher als unterschieden vom religiösen, und das religiöse als unterschieden vom kulturellen. Die Gleichheit, die Freiheit, die Geltung der Vernunft würden also vom Humanismus stammen, insofern er der Religion gegenübergestellt ist. Die Formulierung, die die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen" unterscheidet, bildet einen Teil der aufklärerischen Tradition, die dazu neigt, Religion als eine Privatangelegenheit zu definieren, Ausdruck einer individuellen Entscheidung der einzelnen Person. In dieser Formel der Präambel wird demgegenüber das andere, unterschiedene Fundament der Freiheit und der Gleichheit (die allen Grundrechten zugrunde liegen) geleugnet: ihr Fundament aus religiöser Sicht. Natürlich könnte man behaupten, dass auch eine humanistische religiöse Tradition bestehe, anzutreffen im Umfeld des jüdisch-christlichen Erbes. Aber es ist in jedem Fall bezeichnend, dass, während der zweite Abschnitt der Präambel eine Bezugnahme auf das religiöse Erbe enthält, der erste ausschließlich den Humanismus anspricht, wenn es darum geht, die Grundlage der Werte Gleichheit, Freiheit und Achtung der Vernunft zu explizieren. Zumindest handelt es sich um eine missglückte Formulierung. Und sie könnte als unfreiwillige Bekräftigung des alten Vorurteils interpretiert werden, nach dem Religion und Vernunft antithetisch sind. Versuchen Sie, diese vermeintliche Antithese Maimonides, dem Heiligen Augustinus oder Spinoza zu erklären. Ich werde nie das göttliche Lächeln meines Vaters, eines Rabbiners und Gelehrten, angesichts dieses falschen Gegensatzes von Religion und Vernunft vergessen. (Fs)

58a Auch soll bemerkt werden, dass der Bezug auf das Christentum als entscheidendes Element in der Erklärung der historischen Evolution des Kontinents im Grunde nicht normativ, sondern deskriptiv ist. Ja, dieses "christliche Erbe" ist nicht vollständig ein Grund zum Stolz für die Europäer. Öfter im Laufe der Jahrhunderte sind die Christen nicht auf der Höhe ihrer Glaubenslehren gewesen. Das Christentum als Ideal ist etwas anderes als das Christentum als Institution und historische Wirklichkeit. Die Inquisition ist Teil der europäischen Geschichte wie der Heilige Franziskus. Im Grunde zeigt sich der Papst mutig, indem er so beharrlich einen Bezug auf die christliche Tradition in der Präambel erbittet, bereit, die dunklen Momente des Christentums nicht zu verbergen. Wenn überhaupt, so ist es die vom Konvent vorgeschlagene Präambel, die am Ende allzu triumphalistisch sein könnte und der es an einem Bewusst-sein für all das mangelt, wofür sich Europa im Laufe der Geschichte zu entschuldigen hat. (Fs)

58b Schließlich bleibt eine Tatsache unbestreitbar: In diesem historischen Augenblick, in dem Dokument, in dem Europa seine Identität und seine Hoffnungen erklärt, gibt es keinen Raum für Gott. Für manche ist dies eine richtige Entscheidung, die die Fülle der menschlichen Würde ausdrückt. Für andere ist es die klassische Hybris der modernen Aufklärung. Wäre es demgegenüber nicht angemessen, wenn sich in diesem Dokument neben dem Menschen als stolzem Herrn der eigenen Bestimmung Raum für jene Demut fände, die beispielsweise das deutsche Volk, durch eine bittere historische Lektion nüchtern geworden, in der Präambel seiner Verfassung auszudrücken wusste, wenn es sich als verantwortlich nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott erkennt? Es ist eine Demut, die von nicht wenigen weiteren Verfassungstraditionen geteilt wird, und von nicht wenigen Europäern. (Fs)

59a In der Präambel des Verfassungsentwurfs fehlt darüber hinaus nicht ein Aspekt von feiner Ironie. Was kann man nach Ansicht des Konvents aus der religiösen Überlieferung Europas (zusammen mit der kulturellen und humanistischen) "schöpfen"? Es ist die Überzeugung, "die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert" zu haben. (Fs)

59b Nichts von alldem ist angreifbar; es ist im Gegenteil lobenswert und suggestiv. Aber es liegt natürlich auch eine Spur von Ironie darin, wenn eine anthropozentrische (laizistische) Weltsicht als unter anderem vom religiösen Erbe Europas inspiriert dargestellt wird. Wenn es schon einen Bezug auf die Religion geben muss, müsste er wenigstens die Prämissen der monotheistischen, jüdisch-christlichen Tradition respektieren, in der die zentrale Rolle der Person und ihre unantastbare Würde in das Innere einer theozentrischen Vision gestellt werden, da Erstere von Gott verliehen ist, und in der die Rechte der Person einen transzendenten Ursprung haben. In der Präambel ist nicht nur kein Raum für Gott, sondern es findet sich auch ein Widerwillen, dem religiösen Empfinden irgendein autonomes Statut zuzugestehen. (Fs)

59c Deswegen hält der ins Innere der Präambel hineingeschmuggelte Anruf einer näheren Prüfung nicht stand. Man erinnere sich demgegenüber an die wirksame und elegante Art, mit der die Frage zum Beispiel in der polnischen Verfassung gelöst wird, deren Intonation pluralistisch und voller Respekt ist - aus dem Blickwinkel des Laizisten wie des Gläubigen. Die Präambel des deutschen Grundgesetzes ist nicht so explizit, aber gleichermaßen aussagekräftig. Sie beginnt, wie bereits gezeigt, mit einem Bezug auf die "Verantwortung vor Gott und den Mensehen", aus dem derselbe Auftrag zum Schutz der Rechte der Person und zur Achtung des Rechts folgt. (Fs)

60a Schließlich gibt es noch einen weiteren ironischen Aspekt in der Ikonographie der europäischen Präambeln: Auch die Grundrechtscharta, deren Präambel von der "Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten" spricht, lässt einem kulturell so wichtigen und fur Europa so charakteristischen Erbe wie dem christlichen keine Anerkennung zuteil werden. (Fs)

60b Noch einmal: Die polnische und deutsche verfassungsgebende Gewalt scheinen besser als der "Konvent zur Zukunft Europas" verstanden zu haben, was die geeignetste verfassungsrechtliche Antwort für eine pluralistische laizistisch-religiöse Gesellschaft ist. Vereint im Glauben an die Grundrechte, aber geteilt in der Auffassung über Fundament und Quelle dieser Rechte. (Fs)

60c In meinem Exkurs über das Einmaleins des Verfassungsrechts habe ich die Symbolsprache der Präambel vom positiven Verfassungsrecht unterschieden. Ohne Zweifel wird es Verfassungsrechtler geben, die mit Recht einwenden werden, dass es keinerlei klare Trennung gebe, weil beispielsweise die Richter auf jeden Fall Bezug auf die Symbolsprache der Präambel nehmen, wenn es darum geht, schwierige Interpretationsfälle zu lösen. Aber die Wahrheit ist, dass man durch diese Behauptung, die in sich völlig richtig ist, in der Debatte über die europäische Verfassung ein Argument für den Ausschluss eines jeden Bezugs auf Gott und die christliche Tradition aus der Präambel vorbringen möchte. Das Argument lautet wie folgt: Wie kann man die Prämisse vom agnostischen Staat respektieren, wenn der Richter etwa bei der Interpretation einer Vorschrift über das Recht auf Familie oder auf Leben (entscheidend im Kontext der Abtreibungsdebatte) diese Norm nach den hergebrachten Auslegungsregeln im Licht einer Präambel lesen wird, die auf Gott und das Christentum anspielt? Könnte diese scheinbar unschädliche Bezugnahme nicht ein Trojanisches Pferd sein, mit dem das Christentum (oder genauer die katholische Kirche) danach trachtet, sich eine Vorzugsstellung zu sichern, um die spätere Verfassungsentwicklung Europas unmittelbar beeinflussen zu können?

61a Mit aller Demut - ich finde dieses Argument wenig überzeugend, weil es in dieselbe gedankliche Falle tappt, die Neutralität und Laizität verwechselt. Die Debatte über die Familie oder das Recht auf Leben ist bereits Teil der europäischen Verfassungswirklichkeit. Ist der Agnostizismus des positiven Verfassungsrechts etwa weniger bedroht, wenn der Richter jene kontroversen Vorschriften im Licht einer Präambel interpretiert, aus der Gott verjagt worden ist und in der die laizistische Aufklärung triumphiert? Wäre dies nicht ebenso ideologisch? Lassen wir die Ironie beiseite. Wenn die französische oder italienische verfassungsgebende Gewalt will, dass ihr positives Verfassungsrecht im Licht der edlen humanistisch-laizistischen Tradition ausgelegt wird, ist dies eine völlig akzeptable Entscheidung. Es ist aber keine neutrale Entscheidung. Und wie ich bereits gesagt (und bis zum Überdruss wiederholt) habe, ist es keine für Europa geeignete Entscheidung, wenn man die Heterogenität der verfassungsrechtlichen Symbolsprachen bedenkt, die in Europa zusammenleben. Für den europäischen Richter gibt es den Luxus nicht, den einige seiner nationalen Kollegen genießen, die in diesem Punkt eine einheitliche verfassungsrechtliche Symbolik vor sich haben; der europäische Richter muss im Gegenteil das Verfassungsrecht interpretieren, indem er Symbolsprachen respektiert, die in einem gewissen Sinne untereinander widersprüchlich sind. Wäre dies doch die größte Herausforderung für Europa!

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Synthese der Grundrechte als Ausdruck des europäischen Pluralismus; Beispiele (GVOs) ; wahrer Pluralismus: Freiheit zu und Freiheit von Religion

Kurzinhalt: Eines der größten Hindernisse für die Ausbreitung der Demokratie in vielen Gegenden der Welt ist die weithin vertretene Ansicht, dass Religion und Demokratie einander feindlich gegenüber stünden; ...

Textausschnitt: 61b Der aufmerksame Leser wird sicher bemerken, dass das verfassungsrechtliche Argument, das ich vorgetragen habe, auf zwei Prämissen ruht. Eine ist die Vorstellung, dass Christen und Laizisten auf gleiche Weise ein gemeinsames Erbe von Grundrechten verfechten, die in beiden Sichtweisen mit demselben Inhalt ausgestattet sind, aber unterschiedlich in ihrem Fundament. In Wirklichkeit ist es nicht immer so. In der Art und Weise, die Grundrechte zu definieren und konzipieren, gibt es, bei Themen wie Solidarität oder "Gemeinschaft", erhebliche Unterschiede zwischen der jüdisch-christlichen und der laizistischen Tradition. Und der Unterschied im Fundament spiegelt sich unweigerlich im positiven juristischen Bestand der Rechte wider; manchmal (wenn auch nicht oft) in ihrem Inhalt. Aber auch dies ist Europa. Der europäische Richter hat die harte (aber schließlich dankbare) Aufgabe, eine Synthese der Grundrechte zu schaffen, die besonderer Ausdruck des europäischen Pluralismus ist. Der Beitrag des christlichen Fundaments muss neben dem laizistischen aufgenommen werden - als Bereicherung und Mehrwert, den er der europäischen Verfassungstradition vermittelt. Die Grundrechte werden im Lichte der Präambel ausgelegt. Im konkreten Fall kann die religiöse Sicht auch zurückgewiesen werden. Aber was für ein Europa wäre das, wenn es völlig von jenem Licht abgeschnitten wäre - ganz so, als sei es von vor-neherein vernachlässigenswert?
62a Ich würde diese Bereicherung gerne veranschaulichen und mich auf das vorherige Beispiel beziehen, das dem Gebiet des Umweltschutzes entnommen ist. Betrachten Sie die Debatte über gentechnisch veränderte Organismen (GVOs). Weltliche wie religiöse Umweltschützer haben ein gesundes Maß an Skepsis und Misstrauen gegenüber GVOs gemein. Typischerweise wurzelt das weltliche Vokabular in der Sprache des Vorsorgeprinzips, das unserer Verantwortung anderen gegenüber entspringt, einschließlich den kommenden Generationen. (Fs)

62c Der angemessene Schlüsselbegriff wäre hier "unbekanntes Restrisiko", und folglich mutiert die Debatte zu einer Auseinandersetzung um Risikoabschätzung und Risikomanagement: Kann man GVOs einführen, solange niemand beweist, dass ein Risiko besteht? Sollen wir warten, bis erwiesen ist, dass kein Risiko besteht etc. etc.? Wir können es uns schlicht nicht leisten, unannehmbare Risiken in Bezug auf die ökologische Zukunft unseres Planeten einzugehen. Wenn zweifelsfrei erwiesen werden könnte, dass GVOs weder für das Leben noch für andere Arten oder für das ökologische Gleichgewicht ein Risiko darstellen, würde der Widerstand vieler schwinden. (Fs)

63a Aus religiöser Sicht würde man hingegen argumentieren, dass es nicht auf das Risiko ankomme; dass uns die Erde bloß anvertraut sei und wir nicht an ihrer innersten genetischen Architektur herumhantieren sollen, solange es keine überwiegenden widerstreitenden Belange gibt - egal ob ein solches Herumhantieren eine Gefahr heraufbeschwört oder nicht. GVOs verlangen unserer Gesellschaft schwierige Entscheidungen ab; ich sehe jedoch nur Vorteile darin, in der Diskussion ein Spektrum an Überlegungen zu Wort kommen zu lassen, das so breit ist wie möglich. Keine Furcht also vor einem Trojanischen Pferd; vielmehr: offene Tore für die willkommene Helena. (Fs)

63b Der aufmerksame Leser wird auch die zweite Prämisse bemerken. Meine ganze Argumentation für eine Bezugnahme auf Gott oder das Christentum in der europäischen Verfassungsikonographie (neben den aufklärerischen Passagen) scheint sich selbst auf die Prämisse des liberalen Pluralismus zu gründen. Ich finde dies überhaupt nicht widersprüchlich oder heikel. (Fs) (notabene)

63c Man könnte mit einer gewissen triumphalen Befriedigung feststellen, dass ein Glaubender wie ich es nötig hat, auf die liberale laizistische Prämisse zurückzugreifen, um die Aufnahme des religiösen Empfindens in die europäische Verfassung zu verlangen, während, wenn man sich von einer religiösen Prämisse aus bewegte, diese niemals einen Bezug auf die aufklärerische laizistische Tradition erlauben würde. Ich bin nicht beleidigt. Ich freue mich, dass mein Argument so gelesen wird. Nur für das Protokoll: Obwohl ich religiös bin, ist im Verständnis, das ich von meiner Religion habe, die tolerante pluralistische Ordnung in der Organisation der politischen Sphäre nicht nur akzeptabel, sondern Teil des religiösen Gebots selbst. (Fs)

64a Und was das Christentum betrifft, so stimme ich mit jenen überein, die im Licht von Enzykliken wie Redemptoris Missio, Centesimus Annus und Fides et Ratio glauben, dass die postkonziliare Kirche in ihrer Lehre über Staat und Zivilgesellschaft die nämlichen Werte der Freiheit, des Rechtsstaats und der Demokratie für ihre Lehre angenommen zu haben scheint - darüber hinaus eingebettet in eine Optik, die der Würde der Personen einen privilegierten Raum gewährt und so die Grenzen und Pathologien der Moderne überwindet. (Fs)

Ich habe bislang darauf bestanden, dass ein Ausschluss der religiösen Sensibilität aus dem Verfassungsgut keine wahrhafte, alles einschließende europäische Wahl wäre, da sie den offenkundigen Pluralismus der europäischen Verfassungslandschaft nicht angemessen widerspiegeln würde. (Fs)
64b Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass mein Anliegen nicht nur darin besteht, dass die europäische Verfassung in einem formalen Sinne ihre konstituierenden Elemente repräsentiert. (Fs)

64c Ich glaube, dass die europäische Verfassungslandschaft, die die verschiedenen Verfassungstraditionen Frankreichs und Irlands, Italiens und Deutschlands in Bezug auf Religion und Staat einschließt, einen tiefen politischen Wert verkörpert, der für die heutige Welt von vitaler Bedeutung und der integraler Bestandteil der Eigenart und Originalität Europas ist. (Fs)

64d Europa setzt sich für Demokratie ein - weltweit. Aber nach europäischer Auffassung muss die Demokratie auf friedlichem Wege verbreitet werden, durch Überzeugung, nicht durch Waffengewalt. Eines der größten Hindernisse für die Ausbreitung der Demokratie in vielen Gegenden der Welt ist die weithin vertretene Ansicht, dass Religion und Demokratie einander feindlich gegenüber stünden; dass die Annahme der Demokratie als Staatsform die Verbannung Gottes und der Religion aus dem öffentlichen Raum bedeute und diese zu einer privaten Angelegenheit mache. In der Tat ist dies die Botschaft, die das französisch-amerikanische Modell (seltsame Bettgenossen) von Verfassungsdemokratie der Welt überbringt. (Fs)

65a Diese wechselseitige Feindschaft mag im Hinblick auf die Beziehung von Kirche und Staat zur Zeit der Französischen und Amerikanischen Revolution tatsächlich bestanden haben. Doch ist das auch die Botschaft, die Europa der Welt von heute übermitteln will? Soll die europäische Verfassung auch verkünden, dass Gott aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden muss? Wie lange müssen wir noch Gefangene dieser mehr als 200-jährigen historischen Tradition bleiben? Der Staat hat sich gewandelt und die Kirche noch mehr. (Fs) (notabene)

65b Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, kann Europa ein Beispiel geben und eine Alternative zum amerikanischen und französischen Modell der strikten Trennung von Staat und Religion anbieten. Ein Europa, das ein Frankreich und ein Dänemark als legitime Partner akzeptiert und dessen Verfassung diese doppelte Akzeptanz widerspiegelt, kann zum lebendigen Beispiel dafür werden, dass die Religion keine Angst mehr vor der Demokratie und die Demokratie keine Angst mehr vor der Religion hat. Wahrer Pluralismus vermag beides wirkungsvoll zu gewährleisten: Freiheit zu und Freiheit von Religion. Er erkennt andererseits den lebendigen Glauben vieler Bürger furchtlos an und spiegelt ihn sogar in seinen Verfassungsdokumenten wider. Allein dieses Modell hat überhaupt Chancen, all die religiösen Vereinigungen zu überzeugen, die nach wie vor die Demokratie mit Misstrauen und Ablehnung betrachten. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Christophobie: 8 Argumente

Kurzinhalt: Ich möchte dieses Phänomen der Entfernung des Christentums aus den Verfassungstexten der Europäischen Union "Christophobie" nennen, ... 3. Die Aversion gegen das Christentum hat auch ideologischpsychologische Motive.

Textausschnitt: 75b Die vorangegangene verfassungsrechtliche Analyse könnte an ein Plädoyer vor Gericht erinnern, vielleicht auch vor dem Gericht der öffentlichen Meinung - als Kritik am Ausschluss eines Bezugs auf Gott oder das Christentum im Text, den der Konvent zur Zukunft Europas vorgeschlagen hat. Aber das Thema hat für mich, wie ich bereits angedeutet habe, eine Bedeutung, die weit über diese juristisch-politische Gelenkstelle hinausgeht. In der Tat spiegelt die Verfassungsdebatte in sehr bezeichnender Weise nicht nur die juristisch-verfassungsrechtliche Frage des Verhältnisses Staat - Kirche wider, sondern vielmehr die kulturelle, soziale und politische Frage des Verhältnisses Kirche - Gesellschaft - Staat im Europa des fin-de-siècle. Der Widerstand, auf den die Aufnahme des Gottesbezuges gestoßen ist, lässt sich nicht allein oder auch nur hauptsächlich als Ergebnis einer objektiven verfassungsrechtlichen Analyse erklären, wie jener, von der ich im vorangehenden Abschnitt ein Beispiel gegeben habe. Er findet seine Erklärung hingegen auf der Grundlage anderer Faktoren, denen gegenüber meiner Meinung nach das verfassungsrechtliche Argument nur ein Vorwand war. (Fs)

76a Der Ausgangspunkt muss hier der Konvent sein, der die Grundrechtscharta ausgearbeitet hat. Der am Ende vorgeschlagene Kompromiss ging dahin, einen Bezug auf die religiöse Überlieferung Europas aufzunehmen. Aber sogar diese eher schmerzlindernde Formulierung wurde als inakzeptabel zurückgewiesen. Für diese Ablehnung konnte es wirklich keine ernsthaften verfassungsrechtlichen Gründe geben. Der Beweis kam einige Jahre später, als der Konvent, der den Verfassungsentwurf vorbereitete, diesen Bezug aufnehmen wollte. Wenn man nun die relative Schwäche der verfassungsrechtlichen Argumentation mit der Heftigkeit der Opposition gegen jeden ausdrücklichen Bezug auf Gott (wie wir ihn zum Beispiel in der deutschen oder in der polnischen Verfassung finden) oder auf das Christentum (wie in der griechischen, irischen, dänischen, maltesischen und natürlich auch in der ungeschriebenen Verfassung Großbritanniens) vergleicht, fühlt man sich gedrängt, nach anderen Motiven zu suchen, um die Positionen erklären zu können, die am Ende in den beiden Konventen die Oberhand gewonnen haben. (Fs)

76b Ich möchte dieses Phänomen der Entfernung des Christentums aus den Verfassungstexten der Europäischen Union "Christophobie" nennen, ein allgemeiner Begriff, mit dem ich eine Form des Widerstandes andeuten will, der sich nicht aus prinzipiellen verfassungsrechtlichen Gründen ableitet, sondern aus Motiven soziologischer, psychologischer und emotionaler Art. (Fs)

76c Meines Erachtens gibt es ein Gewebe von Gründen, die mit unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen sozialen Segmenten, und besonders unter den meinungsbildenden Eliten, gewirkt haben. (Fs)

1. Unter den Motiven für das Schweigen über die Religion gibt es eine (nicht zweitrangige) Komponente christlicher Schuld, die sich speziell der Gemeinschaft der Gläubigen zuschreiben lässt. Ein Teil dieser Schuld ist wiederum mit dem Holocaust verbunden. Nach dem eher tendenziösen Werk von Hochhuth, "Der Stellvertreter" von 1963, ist eine Art Hexenjagd gegen den Vatikan und gegen die katholische Kirche zur Mode geworden und hat, bisweilen verleumderisch, ein Ansehen beschädigt, das, obschon nicht ohne schweren Makel, berechtigter- und angemessenerweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit von den Überlebenden anerkannt worden ist. Trotzdem gibt es im Verhalten des protestantischen wie des katholischen Klerus während des Krieges vieles, das heute die Christen tief enttäuscht (was für sie spricht), und jeden Versuch bremst, anderen religiösen Minderheiten die Tore zu öffnen. (Fs)

77a
2. Die christliche Schuld ist nicht nur mit dem Holocaust verbunden. Bedenkt man unsere gewachsene Sensibilität für die Toleranz gegenüber den Anderen, so gibt es viel in der Geschichte des Abendlandes, das heute abstoßend und beschämend wirkt. In den Medien, in der Literatur, in der Politik existiert eine ganze Generation von Meisterdenkern, die heute fünfzig oder sechzig Jahre alt sind, die Generation der Politiker, die jetzt an der Macht sind, von Straw bis zu Fischer und anderen derselben Generation, die in Opposition zum klassischen "Abendland" erzogen worden sind und so ihre "Rebellion" gegen die Exzesse des Kapitalismus, des Imperialismus und anderer "Ismen" geführt haben. Es gibt eine nicht ganz falsche Identifizierung des Gedankens der abendländischen Kultur mit dem Christentum. Einige, vor allem von der Linken, verstehen die Kirche und das Christentum selbst als integralen Bestandteil der Welt, gegen die sie gekämpft haben, und empfinden wahre und wirkliche Feindschaft. Andere assoziieren Kirche und Christentum weniger mit jener Sicht der Welt, und auch ohne (direkte) Feindschaft zu verspüren, schämen sie sich in gewisser Weise der Kirche und des Christentums und lassen sich von jeder Form der Militanz entmutigen. (Fs)

78a
3. Die Aversion gegen das Christentum hat auch ideologischpsychologische Motive. Für viele, die einer bestimmten Generation angehören, ist der Zusammenbruch des Kommunismus eine existentielle Enttäuschung gewesen, eine demütigende Niederlage, die einen tiefen inneren Riss bei dem hinterlassen hat, der an jene Verheißung von Emanzipation glaubte. Daher gibt es ein ganz natürliches und verständliches Ressentiment gegenüber jenem, der als der "Feind" erscheint, gegenüber dem, was als eine Art christlicher Triumphalismus empfunden werden könnte ("Wir haben es euch ja gesagt"), und - auch auf der Ebene des Unbewussten - gegenüber der Figur des Papstes: nicht nur, weil er institutionell gerade das Wertsystem vertritt, das offenbar als Sieger aus diesem ideologischen Konflikt hervorgegangen ist, sondern auch wegen seiner mutigen Rolle, die er persönlich beim Zusammenbruch des Sowjetreiches gespielt hat. (Fs)

4. Dann gibt es natürlich die eigentliche politische Praxis, die der Parteien und Wahlen. In den fünfziger Jahren war die christliche Erfahrung für viele ein wenig spirituelles Umfeld: Der christliche Glaube übersetzte sich tatsächlich in eine Treue zu politischen Parteien wie die Democrazia Cristiana in Italien und ähnlichen Parteien in anderen europäischen Ländern. Alle Energie und praktisch alle Bedeutung der religiösen Entscheidung erschöpften sich in der Opposition zum Kommunismus und im Bemühen, Stimmen fur "nahe" Parteien zu sammeln. Für die Generation, die diese Erfahrung gemacht hat, ist es schwer, heute die Haltung völlig zu ändern. Für viele sind Kirche und Christen nur eine Art politischer Kraft, die durch das Vokabular des Evangeliums Machtpositionen verfolgt. Oft gibt es in der antireligiösen Opposition eine Art Verbissenheit, die gerade aus der Vorstellung erwächst, die Kirche und die Glaubenden selbst seien Krypto-Politiker. (Fs)

5. Ein weiterer Aspekt, den es bewusst zu halten gilt, ist die augenblickliche rohe, blinde und instinktive Feindschaft zwischen Links und Rechts. In dieser Arena geht es nicht um verfassungsrechtliche Sensibilität oder Verfassungsmäßigkeit und auch nicht um Respekt für die Anderen. Vielmehr handelt es sich um die gewohnten Wahlkämpfe. In ihnen ist, zumindest in einigen Mitgliedstaaten, das Christentum, wenn es sich im öffentlichen Raum manifestiert, traditionell mit dem Mitte-Rechts-Lager verbunden. Die bezeichnendste Wasserscheide in diesem Zusammenhang ist die zwischen politischen Systemen, zwischen vornehmlich auf Konsens angelegten politischen Systemen und vornehmlich auf Konkurrenz ausgerichteten, in denen am Ende allein der Sieger bestimmt. In Ländern, denen Konsens-Vereinbarungen fremd sind, begegnet einem der Widerstand gegen die religiöse und christliche Verfassungssymbolik als politischer Instinkt. Teil des Tagesgeschäfts ist es, das Christentum gewissermaßen als politischen Gegner zu betrachten, gegen den man einfach Opposition zu machen hat. (Fs)

79a
6. Interessanter in der psychologischen und soziologischen Phänomenologie der Christophobie ist die Haltung gegenüber der Kirche bei denjenigen, die engagiert, weniger engagiert oder fernstehend sind, beim Befolgen der aktuellen christlichen Lehre. Bedenken sie das folgende Paradox. In einer Epoche, die vom Kult der celebrities charakterisiert ist, in der Persönlichkeiten wie Madonna (die nach Ansicht mancher singen kann) oder David Beckham (der nach Ansicht mancher Fußball spielen kann) Stadien und Parks mit Hunderttausenden von Zuschauern füllen können, auf eine Weise, von der Politiker nicht einmal träumen können, stellt sich der Papst auf eine ganz andere Ebene. Er zieht buchstäblich Millionen von Menschen an (und in seinem Fall handelt es sich nicht um Unterhaltung). Und dennoch ist seine Lehre, unbeschadet dieses Erfolges, oft Quelle echter Feindschaft. Die kontroversesten Aspekte sind die Sexualethik und Geschlechterrollen. Die Fragen sind hinreichend bekannt: Abtreibung, Frauenpriestertum, Homosexualität, Verhütung (im Zeitalter von AIDS) usw. All dies stellt, in den Augen einiger engagierter Glaubender, einen "Verrat" am 2. Vatikanischen Konzil dar. Und ihre Gefühle können sehr stark sein. Die weniger Engagierten hingegen fuhren (nicht sehr glaubwürdig, wie mir scheint) diese Linie des Papstes oft als Grund für ihren Mangel an Engagement an. Bei den Nichtaktiven wird sie leicht zum Gegenstand feindlicher Äußerungen oder sogar von Beschimpfungen in der Auseinandersetzung mit etwas, das eine reaktionäre, konservative, traditionalistische soziale Kraft zu sein scheint. Ich möchte hier nicht auf die Berechtigung solcher Argumentationen eingehen, sondern einfach das Phänomen registrieren, jenen bezeichnenden Aspekt von gegenwärtig in Europa existierenden Haltungen zur Kirche. (Fs)

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7. Man kann nicht leugnen, dass die Kirche, auch nur als institutionelle Wirklichkeit verstanden, abgesehen von ihrer Rolle als Hüterin der christlichen Lehre, in der Vergangenheit mit Blick auf die Moderne und andere Erscheinungen Positionen hatte, die sich deutlich von jenen unterscheiden, die ihre augenblickliche Praxis und die jüngste Reflexion charakterisieren. Und auch das löst Christophobie aus. In der europäischen Bildung, am italienischen liceo wie am französischen lycée oder am deutschen Gymnasium, existiert eine Art sozio-kulturelle Prämisse, die im Erbe der französischen Revolution verankert ist: Im kollektiven Bewusstsein ist die Überzeugung tief verwurzelt, dass der soziale und wissenschaftliche Fortschritt nicht nur dank dieser Prämisse garantiert worden sei, sondern geradezu eine Errungenschaft darstelle, die historisch kraft eines Gegensatzes zur Kirche erlangt worden sei. Auch viele Glaubende haben diese Vorstellung verinnerlicht und leben mit einem Widerspruch zwischen ihrem Glauben und ihrem historischkulturellen Bewusstsein: eine innere Spaltung, die offenbar zu den symptomatischsten Aspekten der Moderne und der Postmoderne gehört. Dies bringt bisweilen eine Feindschaft gegen die Religion selbst hervor, gegen jede Religion, als per se reaktionäres und illiberales Faktum. Bedenken Sie, dass ein bekannter Verlag, dem ich das Vorwort dieses Buches mit Blick auf eine eventuelle Veröffentlichung zur Ansicht gegeben habe, meine Anfrage - ohne die Bitte, den ganzen Essay lesen zu können -"in aller Offenheit" mit den Worten abgelehnt hat, dass "sich das Projekt in einer Weise darstellt, die sehr weit von der politisch-editorischen Orientierung des Verlags" entfernt sei. Res ipsa loquitur. Glücklicherweise gibt es andere, die aufgeklärter sind. Hier wäre anzufügen, dass die Bejahung der christlichen Symbolik häufig gleichfalls automatisch erscheint, undurchdacht, und aus einem analogen gegenteiligen politischen Instinkt resultiert, der seinerseits Teil des normalen Alltagsgeschäftes ist. Ich stelle mir vor, dass Verlage mit einer anderen politisch-editorischen Linie auf gleiche Weise ein Buchprojekt mit dem Titel "Ein sozialistisches Europa" ablehnen würden, ohne es ganz zu lesen. (Fs)

81a
8. Schließlich gibt es die private, persönliche Dimension. Man kann vom einen Ende Europas zum anderen und vom einen Ende der christlichen Welt zum anderen nicht den Generationenunterschied übersehen: Mit Blick auf das herrschende Bild wenig aufrichtiger religiöser Praxis und leerer Kirchen ist die Gruppe, die sich dieser Tendenz am meisten entgegenstellt, die Jugend. Für sie scheint das Christentum heute für die authentische "Revolution" zu stehen: eine Herausforderung, die anzieht, gerade weil sie "anspruchsvoll" ist, nicht leicht, ein Gegenstrom. Viele Jugendliche von heute nehmen die christliche Botschaft mit demselben radikalen und "militanten" Geist auf, mit dem sich die Generation ihrer Eltern dem Protest gegen jede Autorität und Institution, besonders gegen die Kirche, gewidmet hat. Die einflussreichen Vordenker der Generation, die ich oben erwähnt habe, der jetzt Fünfzig- oder Sechzigjährigen, lassen sich dagegen nicht auf dieses erneute religiöse Engagement ein. Ein Teil der Christophobie - dies habe ich in vielen Gesprächen mit Freunden bestätigt gefunden, die christlicher Herkunft sind, sich aber vom Glauben entfernt haben - geht sicherlich auf die Erbschaft an persönlicher religiöser Erfahrung zurück, die diese Generation in den Jahren ihrer Jugend erlebt hat. Dies hat nichts unmittelbar mit der Ideologie zu tun. Die Kirche der fünfziger und sechziger Jahre war nach der persönlichen Erfahrung vieler sehr klerikal, institutionalisiert, autoritär. Sie war wie die Schule, die Eltern; sie spiegelte ein nicht verinnerlichtes Ensemble von Pflichten wider, zusammengehalten durch die beständige Erinnerung an das Beichten "unkeuscher Handlungen" und ähnlicher Dinge. Man konnte es kaum erwarten, sich zu befreien. In den Filmen aus dieser Zeit sind Priester und Bischof oft als perfekt integrierte Angehörige des Establishments gezeichnet, gegen das man kämpfen musste, oder als Gegenstand von Ironie und Spott. Ich glaube, dass diese Erfahrung verallgemeinerbar ist, natürlich mit vielen Ausnahmen. Eine Folge dessen ist, dass man eine gewisse Dosis von Ressentiment und Abneigung mitgebracht hat. Aber es gibt noch eine viel tiefergehende Folge: ein Verlust des Interesses. Bei der Abfassung dieses Buches habe ich meine nichtpraktizierenden katholischen Freunde unzählige Male sagen hören: Jetzt werde ich dir mal was über die Kirche erzählen." Oder: "Ich weiß schon alles über das Christentum." Was sie allerdings darüber wussten, waren nur die Krumen aus der Kindheit, die unangenehmen Erinnerungen, was ihnen von Firmung und Katechismus geblieben war. Tatsächlich wussten sie oft wenig oder nichts von den letzten fünfundzwanzig Jahren des Lebens der Kirche. Bezeichnenderweise schien es in ihrer Vorstellung von der Selbstbildung gebildeter Menschen nicht wichtig zu sein, sich über die Lehre der Kirche auf dem Laufenden zu halten. Man konnte sich vornehmen, das letzte Buch von Derrida oder Fukuyama oder Eco zu lesen (oder wenigstens die Rezension ...), aber niemand dachte auch nur daran, die letzte Enzyklika des Papstes lesen zu sollen. Ein christliches Europa? Warum? Sind wir etwa gegen die Verhütung? Geht es etwa nicht darum?

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Schweigen der Christen 1

Kurzinhalt: Man kann nicht umhin, die Armseligkeit all dessen hervorzuheben: die große Begegnung zwischen der Welt des Christentums und der europäischen Integration - reduziert auf ein Wort, eingefügt zwischen Hellas und Humanismus!

Textausschnitt: 83b Paradoxerweise könnte man die Weigerung des Konvents, eine direkte Anspielung auf das Christentum aufzunehmen, von vorneherein als einen Segen für jene betrachten, die diesen Bezug am meisten in der Verfassung zu sehen wünschen. Das beste Anschauungsbeispiel für die inneren Mauern des christlichen Ghettos bietet sich, wenn wir uns in einem Gedankenexperiment das gegenteilige Ergebnis vorzustellen versuchen. (Fs)

83c Zuerst wollen wir uns vorstellen, dass die ursprüngliche Forderung einer Bezugnahme auf das christliche Erbe Europas in der Präambel der Grundrechtscharta und/oder des Verfassungsentwurfes akzeptiert worden wäre. Es ist nicht unmöglich, sich dies vorzustellen. Schließlich war das demokratische Selbstverständnis des Konvents einer seiner ausgeprägtesten Züge, und die Forderung stand, wo sie nicht offen unterstützt wurde, zumindest in Einklang mit den Wünschen einer großen Zahl von Europäern. (Fs)

84a Stellen wir uns weiter den Inhalt eines solchen Bezugs vor. In der tatsächlichen Präambel des Konvents finden wir jetzt die Erwähnung der "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben [...]". (Fs)

Im Verlauf der Arbeiten wurde auch eine direktere Anspielung in Erwägung gezogen. Statt auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen" hätte es eine Bezugnahme auf das "griechische, christliche und humanistische Erbe" sein sollen. (Fs)

84b Man kann nicht umhin, die Armseligkeit all dessen hervorzuheben: die große Begegnung zwischen der Welt des Christentums und der europäischen Integration - reduziert auf ein Wort, eingefügt zwischen Hellas und Humanismus!

84c Zweifellos hätte am Ende die Bereitschaft zu einer solchen Anspielung auf die christliche Tradition mit so wenig Aufsehen wie möglich ein brillanter macchiavellistischer Schachzug derjenigen Kräfte sein können, die am meisten gegen jede Verquickung von Staat und Kirche sind. Es hätte einige Christen glücklich gemacht, hätte den größten Teil der anderen gleichgültig gelassen, und das Kapitel wäre so geschlossen worden. Dies steht nicht im Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Die symbolische und soziale Resonanz der Ablehnung ist bei weitem bezeichnender, als es eine Einwilligung des Konvents letztlich gewesen wäre. (Fs)

85a Wir können uns hier ins Gedächtnis zurückrufen, was bereits bei der verfassungsrechtlichen Erörterung gesagt wurde. In ihrer augenblicklichen Formulierung fugt die Präambel des Verfassungsentwurfs das religiöse Erbe zwischen das kulturelle und das humanistische ein. Diese Lösung ist in ihrer Absicht und in ihrer reduktionistischen Wirkung nicht weniger problematisch, insofern sie nicht nur die Religion vom Staat trennt, sondern sogar von der Kultur und vom Humanismus. Und wenn man die "humanistische" Tradition als ein Modell für nichtreligiöse Weltsichten versteht, wird die Präambel sogar noch problematischer. Wenn "Humanismus" als Gegensatz zur Religion zu interpretieren ist, müssen wir dann vielleicht annehmen, dass die Religion nichts mit jenen Werten von Gleichheit, Freiheit und Geltung der Vernunft zu tun hat? Sicherlich könnten wir verleitet werden zu glauben, dass sie diesen Werten gegenüber feindlich sei, eher für Hierarchie und Ungleichheit stehe, für Unterwerfung und Geringschätzung der Vernunft. Der Schatten des Vorurteils, wenn auch nicht bewusst zum Ausdruck gebracht, ist deutlich wahrnehmbar. (Fs)

85b Wie auch immer, die europäischen Christen und die Christen in Europa tragen in hohem Maße die Verantwortung für dieses Schweigen, sowohl durch die Ungeniertheit, mit der der Konvent die Forderungen (einschließlich der des Heiligen Stuhls) abgelehnt hat, einen Bezug auf das Christentum in die Präambel aufzunehmen, als auch - wichtiger noch - durch die Banalisierung, die der ganze christliche Europa-Diskurs erfahren hat. Einer der wichtigsten Gründe, die vorgebracht wurden, um zu erklären, wie die Frage eines Bezugs auf das christliche Erbe Europas so einfach hat gelöst werden können, ist das Faktum, dass dieses Erbe schlichtweg keinen Bestandteil des Gedankenguts der europäischen Identität bildet. Dieses Erbe ist nicht wirklich diskutiert, debattiert, bestritten, bekräftigt worden; und vor allem hat niemand seine Relevanz aufgezeigt: nicht einfach als ikonographisches Symbol, nicht einfach für jene, die eine Vision von der christlichen Welt haben, sondern für alle diejenigen, Gläubige oder Laizisten, die an einem Europa interessiert sind, das eine Stärke und eine tiefe Bedeutung hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist die Wichtigkeit des Christentums für das Projekt der europäischen Integration, für das Selbstverständnis Europas nicht einmal den Christen selber klar. Es gibt unendliche Literatur, wissenschaftlich und unwissenschaftlich, über den Prozess der europäischen Integration. Es gibt Beiträge zu dieser Diskussion von Intellektuellen oder mutmaßlichen Intellektuellen wie auch von uns langweiligen Akademikern, die aus dem Schreiben einen Beruf machen. Alle Politiker halten um die Wette "Reden über Europa": Erinnern Sie sich an die berühmte (anti-europäische) Rede von Thatcher in Brügge? Oder an die Rede (über ein föderales Europa) von Josef (Joschka) Fischer in Berlin? Trotzdem müssten Sie lange suchen, um in dieser breiten Literatur eine Arbeit zu finden, die ernsthaft das Verhältnis zwischen dem christlichen Denken und der europäischen Integration aufgreift. Wir dürfen uns durch die "Subsidiaritäts-Industrie" nicht irreführen lassen. Der Name ist der Soziallehre der katholischen Kirche entliehen, eine Tatsache, die immer wieder auf die verschiedenste Art und Weise hervorgehoben worden ist. Aber meistens enden die Analogien hier. Ein so wichtiges und tiefes Prinzip sozialer Verantwortung es auch sein mag, es ist zu einem wichtigen (aber entschieden weniger tiefen) Verfassungsprinzip der Zuweisung von Kompetenzen, der Regelung der Beziehung zwischen öffentlichen Gewalten gemacht worden. Dies steht im Gegensatz zur christlichen Konzeption der Subsidiarität, die vielmehr darauf zielt, das Individuum und die intermediären Gewalten der Zivilgesellschaft verantwor-tungsbewusst zu machen und wertzuschätzen. So ist der Begriff heute zu einem verfassungsrhetorischen Palliativ geworden, zu einem Exemplar des schlechtesten Eurospeak. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Schweigen der Christen 2: 3 Argumente; Erklärung: Freie Universität Brüssel

Kurzinhalt: Wie erklärt sich das Schweigen der Christenheit in der Diskussion der europäischen Integration, ... Der zweite Grund ist, wenn ich nicht irre, tückischer. Es gibt nämlich auch eine Verinnerlichung anderer Art.

Textausschnitt: 87a Wie erklärt sich das Schweigen der Christenheit in der Diskussion der europäischen Integration, ein umso überraschenderes Schweigen, als sich eine große Zahl von Intellektuellen oder mutmaßlichen Intellektuellen, von Politikern, von Akademikern, die Studien im Gebiet der europäischen Integration veröffentlichen, Christen nennen? (Fs) (notabene)

87b Ich will drei mögliche Erklärungen anbieten. (Fs)

Die erste ist recht einfach: Viele haben die in Italien und Frankreich verbreitet anzutreffende These verinnerlicht, die den laizistischen Staat mit dem neutralen Staat verwechselt und behauptet, dass der Imperativ des agnostischen Staates nach dem positiven Verfassungsrecht auch in die Symbolik der Präambel getragen werden müsse. So wird das Schweigen ein selbstauferlegtes Schweigen, in dem die Menschen verleitet sind zu meinen, dass es tatsächlich inopportun sei, für den Aufbau Europas einen solchen Gottesbezug oder einen Bezug auf das Christentum in der Verfassung zu haben, und sei er auch nur symbolisch. Diese Überzeugung überrascht nicht wirklich, weil sie Teil der Orthodoxie ist, des Dogmas, das unsere juristischen Fakultäten und unsere Fachbereiche für Öffentliches Recht beherrscht, und das Niederschlag in unserem öffentlichen Leben findet. (Fs)

87c Der zweite Grund ist, wenn ich nicht irre, tückischer. Es gibt nämlich auch eine Verinnerlichung anderer Art. In einigen unserer europäischen Mitgliedstaaten zieht man eine Unterscheidung im Binnenbereich der akademischen Welt zwischen Freien Universitäten und Universitäten (die nicht frei sind). So gibt es beispielsweise die Universität Brüssel und die Freie Universität Brüssel. In einigen Ländern ist der Begriff "frei" eine konventionelle Art, um "nicht-katholisch" oder "nicht-christlich" auszudrücken. In einigen Satzungen sind die Professoren, die Mitglied einer Fakultät an einer dieser Freien Universitäten werden, gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, mit der sie sich verpflichten, "freie" Denker zu sein. Ein interessantes Dokument ist in dieser Hinsicht die "Erklärung über freie Forschung", die die Freie Universität Brüssel ihre Professoren unterschreiben lässt:

Freie Universität Brüssel
Erklärung über freie Forschung
Ich, der Unterzeichnete, erkläre bei meiner Ehre, ein Unterstützer und Anhänger der Freien Forschung [Hervorhebung im Original, Anm.] zu sein, d.h. der uneigennützigen Verfolgung der Wahrheit durch die Wissenschaft, die die Ablehnung jedes Prinzips der Autorität im intellektuellen, philosophischen und moralischen Gebiet impliziert, wie auch die Ablehnung jeder geoffenbarten Wahrheit. Ich erkläre, in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten zu handeln. (Fs)
Datum ... Unterschrift ... (Fs) (notabene)

88a Es ist ein erhellender Text, besonders wenn man bedenkt, dass er nicht dem Jahr 1903, sondern 2003 entstammt. Die dieser Praxis zugrundeliegende Idee ist, dass von einem religiösen Blickwinkel aus zu schreiben und zu forschen oder ein praktizierender Christ zu sein, die wissenschaftliche Strenge einer Arbeit kompromittieren könnte. Der Effekt kann in vielen Fällen paradox sein: Gelehrte und Intellektuelle, die sich mit Religion befassen, auch solche, die in katholischen Universitäten arbeiten, unternehmen immense Anstrengungen, um ihre bona fides als "freie Denker" zu beweisen, indem sie jede religiöse Reflexion, Vision oder Sensibilität aus ihren "professionellen" intellektuellen Unternehmungen entfernen (es gibt sogar katholische Universitäten, die es für opportun halten, ihrem Namen die Qualifikation "freie Universität" hinzuzufügen). Manchmal ist in ihren Augen die Nichterfüllung dieser Verhaltensregel sogar ein Scheitern: in der Auseinandersetzung mit den Anderen und mit sich selbst. Viele praktizierende Christen lassen die Amtskirche und ihre persönliche Beziehung zur Kirche außen vor, wenn sie die Universität betreten. (Fs)

89a Sicher ist es möglich, dass die religiösen Überzeugungen einer Person deren wissenschaftliche Arbeit kompromittieren können. Es ist auch möglich, dass dies einem Laizisten passiert, der einer dogmatischen Ideologie anhängt. Die Arbeiten müssen nach den gängigen akademischen und wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden, und nicht ad personam. Vor allem aber gilt es festzuhalten, dass vom Gläubigen vermutet wird, dass er kein freier Denker sei. Schließlich machen sich auch hier oft Ignoranz oder Schubladendenken bemerkbar. Die religiöse Praxis wird als eine ausschließlich spirituelle Erfahrung begriffen, während das reiche intellektuelle Substrat der christlichen Lehre unerforscht bleibt oder beiseite geschoben wird. (Fs)

89b Und der dritte Grund ist, dass auch jener, der die Verwechslung von Neutralität und Laizität, zwischen "freiem Denken" und Säkularität nicht vollständig verinnerlicht hat, gelegentlich Angst um seine Karriere hat. Wenn es sich um beamtete Universitätsangehörige handelt, fest und sicher auf ihrer akademischen Stelle, kann diese Angst auch einfach Konformismus oder geradezu Feigheit sein. Aber für die vielen jungen, die publizieren wollen, um Karriere zu machen, ist die Angst, das muss gesagt werden, bisweilen berechtigt. (Fs)

89c Das christliche Ghetto? Christliches Denken und europäische Integration scheinen sich in zwei Sphären zu bewegen, die sich gegenseitig ausschließen. Das Christentum tritt nicht ins Blickfeld der europäischen Integration, und Europa, wie es scheint, tritt in keiner signifikanten Form ins christliche Blickfeld. (Fs) (notabene)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Redemptoris Missio: heuristischer Rahmen für eine Interpretation der europäischen Integration; Identität durch den anderen; Gedankenexperiment

Kurzinhalt: Zusammenfassend gesagt, offenbart sich an diesem äußeren Punkt gerade die kompromisslose Entschiedenheit von Redemptoris Missio als die gewissenhafteste Art, die Achtung der Identität, der Einzigkeit des Ich und jener des Anderen zu sichern.


Textausschnitt: 104b Und doch gibt es gute Gründe, Redemptoris Missio sorgfältig zu untersuchen. (Fs)

104a Ein Grund ist, dass die Enzyklika tief in Einklang mit dem Telos der europäischen Integration steht. Eine der verbreitetsten Geschichten über den Aufbau Europas ist, dass er als ein Abenteuer mit ausschließlich wirtschaftlichem Charakter begonnen und in jüngerer Zeit zu einem politischen Projekt geworden sei. Das ist wirklich ein Ammenmärchen, wenn man sich die Mühe macht, das Selbstverständnis Europas nochmals (oder vielleicht zum ersten Mal) zu lesen, wie es sich in der Schuman-Erklärung und in der Präambel des Pariser Vertrags zeigt, oder auch in weniger idealisierten historischen Berichten: Europa ist begonnen worden als ein politisches Projekt par excellence, verfolgt durch wirtschaftliche Instrumente. Das findet nochmals seine Bestätigung in der aktuellen Präambel des Verfassungsentwurfs, der jeder Bezug auf einen Markt fehlt, ob einen gemeinsamen oder anderen. Das europäische Gründungs-Telos betrifft also nicht die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes, der unser gemeinsames Wohl vergrößern könnte. Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes ist das Instrument, das Mittel. Das "Ziel", der Fluchtpunkt, um dessentwillen diese Mittel eingesetzt werden, ist "die Integration". (Fs) (notabene)

104b Was versteht man unter diesem Begriff? Auf transnationaler Ebene bedeutet er - nach den Worten der neuen Präambel -, dass verschiedene Völker, "stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte", einschließlich ihrer scharfen Konflikte, lernen, "die alten Trennungen zu überwinden". Die Integration ist das europäische Ideal, das die Art neu bestimmt, in der jede unserer nationalen Gesellschaften in Beziehung zu den Anderen tritt, zu anderen Völkern, mit denen wir die Hoffnung teilen, das "Schicksal gemeinsam zu gestalten". Dies bedeutet unvermeidlich, die Art neu zu bestimmen, in der wir die Anderen unter uns behandeln, im Inneren jeder unserer nationalen Gesellschaften, und auch die Art, in der wir kollektiv, als Union, mit den Anderen außerhalb der Union in Beziehung treten müssen. Nichts in unserem ethischen Bewusstsein, in unserem moralischen Empfinden, in unseren sozialen Gewohnheiten bestimmt wirksamer, wer wir sind, als unsere Haltung gegenüber dem, den die Bibel den Fremden nennt, und der in der aktuellen Terminologie, meiner Meinung nach viel weniger schön, der Andere ist. (Fs)

106a Wie die "Integration" geschehen, wie sie aufgefasst und daher verfolgt werden muss, wird also zu einer der wichtigsten Entscheidungen und entscheidendsten kritischen Überlegungen in der Evolution unserer Verfassungsordnung und unserer politischen Gemeinschaft. Es ist die "europäische Frage" par excellence. (Fs)

106b Es gibt keinen Zweifel, dass Redemptoris Missio das Verhältnis einer Gemeinschaft zu anderen (ad gentes) betrifft. Aber auch wenn dies so ist, muss die Frage neu gestellt werden. Ist - angesichts ihres augenscheinlich hegemonialen Telos und ihres Ethos, das Kompromisse ausschließt ("Wir haben Recht, ihr habt Unrecht") - der Wert ihres Beitrages zur Reflexion über die "europäische Frage" nicht wahrlich gering zu veranschlagen?
106c Wenn man Anleihen bei den Begriffen von Chomsky macht, kann die Oberflächensprache von Redemptoris Missio den Eindruck von Intoleranz und Mangel an Achtung geben. Aber ihre Tiefenstruktur ist das genaue Gegenteil: Sie ist eine Lektion in tiefem Respekt für die eigene Person und für die Anderen; und sie ist mehr als eine Lektion: eine wirkliche und eigentliche Ordnung von Toleranz und Geduld. Sie ist kein "Modell" für Europa. Ich habe es unzählig oft wiederholt: Europa ist keine Religion, die auf der Grundlage des Christentums oder irgendeines anderen Glaubens modelliert werden könnte. Dennoch bietet uns das christliche Denken ein Gesamt an Instrumenten, an konzeptionellen Herausforderungen, an Ideen, die - mit der gehörigen Sorgfalt - extrem nützlich sein können, wenn wir versuchen, die typisch europäische Modalität der Beziehungen ad gentes (im Innern und nach außen) zu definieren. (Fs)

107a Wie vollzieht sich der Übergang von der Oberflächensprache zur Tiefenstruktur? Der erste "Schritt" besteht darin, eine wunderbare Polarität in Redemptoris Missio zur Kenntnis zu nehmen. Einerseits findet sich - in vielfaltiger und offensichtlicher Weise zum Ausdruck gebracht - die klare und kompromisslose Behauptung bestimmter Wahrheiten. Aus diesen Wahrheiten folgen sowohl die Pflicht des Missionsauftrags als auch sein Inhalt. Andererseits finden wir im Herzen der Enzyklika, mit einer in ihrem Aufbau gleichermaßen zentralen Stellung, den kraftvollen und wirksamen Ausdruck dessen, wie diese Wahrheiten aufgefasst und vermittelt werden müssen:
"Andererseits wendet sich die Kirche an den Menschen im vollen Respekt vor seiner Freiheit. Die Mission bezwingt die Freiheit nicht, sondern begünstigt sie. Die Kirche schlägt vor, sie drängt nichts auf. Sie respektiert die Menschen und Kulturen, sie macht Halt vor dem Heiligtum des Gewissens." (Nr. 39)

107b Versuchen wir zunächst, die Bedeutung dieser Polarität zu rekonstruieren und dann seine Relevanz für die europäische Diskussion zu erkunden. (Fs)

Der eine Pol ist die eindeutige und absolute Bekräftigung bestimmter Wahrheiten; und das ist es, was bei einem oberflächlichen Blick so anstößig wirkt und so sehr allen Gewohnheiten der Toleranz entgegenzustehen scheint, wie sie dem Multikulturalismus zu Eigen sind. Indem sich Redemptoris Missio an die Nichtchristen - Juden, Moslems und andere - richtet, behauptet die Enzyklika, dass "das Heil nur von Jesus Christus kommen kann". (Nr. 5)

107c Dem modernen multikulturellen Empfinden zufolge müssten die Juden, die Moslems und alle "Anderen" sich verletzt, brüskiert, zurückgesetzt fühlen. "Auch wenn es wahr ist, behaltet es wenigstens für euch; warum die Anderen brüskieren?" Das postmoderne multikulturelle Empfinden würde auch über den Versuch lachen, diese Überzeugung als Wahrheit zu rekonstruieren: Ein Motiv mehr, um still zu bleiben. Sei es der eine, sei es der andere Grund - dies erklärt den Widerstand (sogar unter den Christen!), sich für den Missionsauftrag einzusetzen. Aber wir können bei dieser ersten instinktiven Reaktion nicht stehenbleiben. (Fs)

108a Die kompromisslose Behauptung dieser Wahrheit ist nicht nur eine religiöse Behauptung per se. Christ zu sein bedeutet zu glauben, dass das Heil nur von Jesus Christus kommen kann. Sie ist daher auch eine Behauptung der christlichen Identität. Banal? Vielleicht. Aber dieser Schritt von der Wahrheit zur Identität, beim In-Beziehung-Treten mit dem Anderen, ist von enormer Wichtigkeit. Vor allem stellt dies die Beziehung auf eine Ebene der Wahrheit: Dies ist es, was ich bin. Aber es ist noch mehr. Es gibt im Phänomen des Begreifens und der Definition der Identität eine unbequeme Wahrheit: Ich kann die Einzigkeit meiner Identität, individuell oder kollektiv, nur begreifen, wenn ich eine bestimmte Grenzlinie ziehe, die mich einschließt und dich ausschließt. Der Andere ist nicht einfach eine soziale Wirklichkeit; er ist ontologisch notwendig, damit es das Ich geben kann. Wenn es keinen Anderen gibt, gibt es kein unterscheidbares Ich. So ist die kompromisslose Bekräftigung der Wahrheit, jener Wahrheit, die anstößig erscheinen könnte, notwendig gerade für die Einzigkeit meiner Identität. Aber zugleich ist sie eine Bekräftigung der Andersheit des Anderen. Sie ist eine Anerkennung seiner Andersheit, seiner Identität. In diesem Sinne respektiert sie ihn tief, ist sie genau das, was ihn ihn und mich mich sein lässt. Machen wir in aller Kürze ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns eine andere Modalität der Begegnung zwischen Christen und den Anderen, zum Beispiel den Juden oder den Moslems vor. Die Christen könnten sagen: "Wir sind alle gleich, wenigstens in dem, was am meisten zählt; schließlich glauben wir alle an denselben Gott et cetera et cetera." Wäre dies etwa weniger anstößig für die Juden oder die Moslems? Ich kann mir vorstellen, dass sich die Juden oder die Moslems angesichts einer solchen Behauptung gedemütigt und unbehaglich fühlen würden. "Glaubt Ihr nicht", würde ich zögernd fragen, "dass das Heil nur von Jesus Christus kommen kann?" Ihr Unbehagen würde nicht einfach von der Tatsache herrühren, dass sie irritiert wären über eine Art, in Beziehung zu treten, die dazu neigt, unbequeme Wahrheiten auszuklammern. Das könnte auch Argwohn, Ressentiment oder Geringschätzung nähren. Argwohn wegen des Mangels an Vertrauen, der dieser Art und Weise, Beziehungen aufzunehmen, innewohnt. Ressentiment wegen der paternalistischen Haltung dessen, der glaubt, unbequeme Wahrheiten müssten, wie vor Kindern, vor einem minderbemittelten Gesprächspartner verborgen werden. Und Geringschätzung gegenüber jemandem, der Angst hat, die Grundlagen seines eigenen Credos zu bekräftigen. "Wenn er nicht seine eigene Identität achtet, wie kann er meine achten?" Es ist nicht einfach nur so, dass die Juden oder die Moslems nicht glauben, das Heil komme nur von Jesus Christus. Gerade die Verneinung der Behauptung, dass das Heil nur von Jesus Christus komme, kann ein wesentlicher Teil ihrer Identität sein. Die Juden und die Moslems würden sich meiner Meinung nach viel mehr zurückgesetzt oder brüskiert fühlen, wenn diese Verneinung verneint oder verdeckt würde. Mehr noch: Wenn die Behauptung der Kirche anderen Leid zufügt, bringt sie doch ebenso das Risiko mit sich, selbst Leid unterworfen zu sein: Indem sie sich an die Juden oder an die Moslems wendet und ihnen sagt, das Heil könne nur von Jesus Christus kommen, geht sie auch das Risiko ein, an der Verneinung durch jene zu leiden. (Fs)

109a Das postmoderne Empfinden bietet keinen größeren Trost. Religion beschäftigt sich mit Wahrheit, mit Der Wahrheit. Oft stoßen in ihrer Interaktion Wahrheiten aufeinander, die sich gegenseitig ausschließen. Ein Teil der Faszination der Enzyklika Redemptoris Missio liegt gerade in der Tatsache, dass sie eine Begegnung darstellt, eine Art und Weise, in Beziehung mit einem Anderen zu treten, einem Anderen, der die größte Herausforderung darstellt, weil die Andersheit des Anderen eine Verneinung dessen sein kann, was zentral für meine eigene Identität ist. Der epistemologische Skeptizismus und die Relativierung der Wahrheit, typisch für die Postmoderne, könnten als eine verführerische Art erscheinen, diese Beziehung zu führen: Es gibt keine authentische Wahrheit, jeder hat seine eigene. Und deshalb wollen wir alle in Liebe und Einverständnis zusammenleben. Ja, wir leben alle in Liebe und Einverständnis zusammen. Aber dass das passiert, ist nicht notwendigerweise wahrscheinlicher, wenn ich den Anderen verneine: nicht nur in dem Sinne, dass ich die Einzigkeit seiner Identität verneine, die sich auf seinen Anspruch auf Wahrheit gründet, sondern auch (mir und) ihm die Fähigkeit abspreche, eine solche Wahrheit zu besitzen. Wir sehen nochmals, dass sich das, was sich als eine Haltung des Respekts darstellt, ins Gegenteil verkehren kann. (Fs) (notabene)

110a Zusammenfassend gesagt, offenbart sich an diesem äußeren Punkt gerade die kompromisslose Entschiedenheit von Redemptoris Missio als die gewissenhafteste Art, die Achtung der Identität, der Einzigkeit des Ich und jener des Anderen zu sichern. (Fs)

110b Blicken wir auf den entgegengesetzten Pol und kommen auf die feierliche Bekräftigung zurück, die da lautet: "Die Kirche schlägt vor, sie drängt nichts auf." Gälte unsere Aufmerksamkeit der Entwicklung der katholischen Kirche, bestünde das Verlangen, die - wie es scheint - historisch überraschende Dimension dieser Manifestation katholischen Selbstverständnisses zu kommentieren: eine Dimension, die auch jenen Nichtglaubenden willkommen ist, die in der Vergangenheit mit einer Kirche zu tun hatten, die ein durchaus anderes Selbstverständnis aufwies. Aber unser Ziel ist ein anderes: Es ist der Versuch, eine Argumentationsstruktur, einen begrifflichen Apparat zu rekonstruieren, um das Verhältnis zum Anderen zu bestimmen. Die offenkundigste Gegebenheit ist, dass die Kirche bei all ihrem intransigenten Bestehen auf der Wahrheit kein Interesse hat, in ihrer Mission ad gentes Zwang auszuüben. Diesbezüglich beruft sich Redemptoris Missio unmittelbar auf eine Behauptung des 2. Vatikanischen Konzils über den Begriff der Religionsfreiheit:

"Die menschliche Person hat das Recht auf religiöse Freiheit. Diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen vor jedem Zwang, sowohl von Seiten einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat oder öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln." (Nr. 8)

111a Aber es geht nicht nur darum. Das Prinzip "Die Kirche schlägt vor, sie drängt nichts auf" betrifft auch die Natur der Wahrheit und ihr Verhältnis zur Freiheit. Eine der Manifestationen dieses Verhältnisses findet sich in der Enzyklika: "Der Mensch ist frei. Der Mensch kann zu Gott sagen: Nein." (Nr. 7). Gerade die Freiheit, "Nein" zu sagen, gibt dem Ja" Bedeutung. In der jüdischen Tradition wird diese Lektion sehr wirkungsvoll und wunderbar mit der Wendung wiedergegeben: "Alles ist in den Händen Gottes, außer die Gottesfurcht."

111b Im Verhältnis zu den Werten und zu den metaphysischen Wahrheiten ist "Die Kirche schlägt vor, sie drängt nichts auf" eine Bekräftigung der Wahrheit über die Wahrheit selbst. Es lohnt sich, auf diesem Punkt zu bestehen. Es ist nicht so, als gäbe es eine Wahrheit, nach der das Heil nur von Jesus Christus kommen könnte, und dann eine Regel der Höflichkeit oder guten Erziehung, die mit jener nichts zu tun hätte und die vorschriebe, jene Wahrheit nicht mit Gewalt durchzusetzen. Die Wichtigkeit der Freiheit, "Nein" zu sagen (einer Freiheit, die dem "Ja" Bedeutung gibt), ist integraler Bestandteil jener Wahrheit, die bekräftigt wird. Die Verneinung der einen beraubt die andere ihrer Bedeutung. (Fs)

112a Die Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit in der conditio humana erlaubt uns, den letzten notwendigen Schritt zu tun, um die Disziplin der Toleranz zu verstehen, die in Redemptoris Missio ausgedrückt ist. Es ist keine schlichte Anerkennung der Religionsfreiheit. Es ist eine Disziplin der Toleranz. Mit diesem Ausdruck meine ich eine ernsthafte und anregende Erziehung zur Toleranz durch die Reinigung der Seelen derjenigen, die sie praktizieren. Um diese Disziplin zu erwerben, müssen wir nun beide Pole zusammenfügen und auf sie wie auf ein organisches Ganzes schauen. (Fs)

112b Warum Toleranz? Fragen wir uns zuerst, was Toleranz ist. Wann bin ich tolerant? Wenn ich etwas akzeptiere, das mich brüskiert. Wenn ich der Versuchung widerstehe, meine Überzeugungen Anderen aufzuzwingen. Wenn ich keine Überzeugungen habe, wenn ich nicht versucht bin, meine Überzeugungen aufzuzwingen, wenn ich dem Anderen gegenüber gleichgültig bin, brauche ich diese Tugend nicht. Je wichtiger, je absoluter, je lebenswichtiger die Wahrheit, desto größer ist die Versuchung, sie allen aufzuzwingen. Uns hat schon Isaiah Berlin die mörderische Gefahr einer für absolut und universal gehaltenen Wahrheit gelehrt. Von jeher sind die schlimmsten Leiden nicht von dem zugefügt worden, der aus Habgier oder Machtstreben gehandelt hat, sondern von den Idealisten, die glaubten, eine solche Wahrheit zu besitzen. Man kann die Toleranz erkaufen, wenn man dieselbe Wahrheit und die Wahrheit selbst in Zweifel zieht. Berlin ermahnt uns zu Recht, dass die Lehre Platons über die universale Wahrheit diese Ergebnisse hervorbringen kann. Aber die Lehre von Berlin läuft ihrerseits Gefahr, als Einladung interpretiert zu werden, die Toleranz um den Preis der Wahrheit zu erkaufen - eine Einladung an den epistemologischen Skeptizismus und den moralischen Relativismus. Redemptoris Missio proklamiert zu Beginn die für gläubige Christen höchste, geoffenbarte Wahrheit. Der Gläubige wird fragen: Wie kann ich der Versuchung widerstehen, jemandem eine Wahrheit aufzuzwingen, die so wichtig ist und von der ich überzeugt bin, dass sie für alle notwendig und wohltuend ist? In den vergangenen Jahrhunderten haben die Christen in der Tat von Zeit zu Zeit nicht widerstanden, manchmal mit blutigen Folgen. Johannes Paul II. ist streng: Widersteht der Versuchung, beherrscht die Versuchung. Die Kirche schlägt vor, sie drängt nichts auf! (Fs) (notabene)

113a Warum eine Disziplin der Toleranz? Weil der Gläubige der Versuchung ausweichen, sich verschließen und den Anderen meiden könnte, der seine Wahrheiten herausfordert. Redemptoris Missio ist hier gleichfalls streng. Sie lässt dem Gläubigen nicht die Möglichkeit, sich zu verstecken, den Anderen zu meiden und damit auch der Versuchung aus dem Weg zu gehen. Sie ist ein Ruf zur Auseinandersetzung mit jenen, die nicht sehen oder nicht teilen könnten, was wir als die Wahrheit begreifen. Sie ist ein Ruf, dies auf eine Weise zu tun, die es erlaubt, die eigene Identität zu bekräftigen und die gerade dadurch auch die Identität der anderen bestätigt. Sie erkennt ihre Andersheit an. Wichtig und absolut, wie nur Die Wahrheit sein kann, Teil dieser Wahrheit, Teil der Erklärung, dass das Heil nur von Jesus Christus kommen kann, ist auch die Wahrheit über die Wahrheit: die Tatsache zu begreifen, dass der Mensch frei ist, sie zurückzuweisen; und dass sie aufzuzwingen sie zu verneinen bedeutet. Der Christ erkennt also nicht nur die Andersheit des Anderen an, sondern akzeptiert und verinnerlicht die notwendige Freiheit des Anderen, "Nein" zu sagen. Ein immenser Wert liegt in dieser Disziplin der Freiheit, aber auch der Toleranz. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; der Bürger als Konsument; Erfolg - spirituelle Krise; Demokratiedefizit; Aristokratie mit Zustimmung der Masse (Sokrates, Perikles); governance der Gemeinschaft

Kurzinhalt: Was folgt, ist ein Versuch, die Hauptaspekte der Kritik an der europäischen Demokratie synoptisch darzustellen ... Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die europäische Integration zum Transfer zahlreicher und immer wichtigerer Regierungsfunktionen ...

Textausschnitt: 132a In vielerlei Hinsicht ist Europa ein enormer Erfolg gewesen. Seine zwei Hauptziele (Frieden und Prosperität zu schaffen) sind in großem Maße erfüllt, wenn auch mit den gewohnten Höhen und Tiefen der klassischen ökonomischen Zyklen. (Fs)

132b Gerade der Erfolg des Aufbaus Europas bietet den Schlüssel, um die erste Dimension seiner spirituellen Krise zu verstehen. Europa hat einen enormen Erfolg gehabt, nicht einfach im Erreichen vieler seiner spezifischen Marktziele, sondern auch in der ununterbrochenen Wirksamkeit - obwohl so oft der Jüngste Tag verkündet wurde - seiner typischen Strukturen und seiner governance-Abläufe und vor allem in dem, was seine Haupterrungenschaft ist: Europa hat mit grundlegendem Erfolg jede ernste politische Opposition im Großteil der Mitgliedstaaten (möglicherweise mit der Ausnahme Großbritanniens) überwunden und wird heute als integraler Bestandteil der politischen Realität gesehen, wie der Nationalstaat selbst. (Fs)

132c Der Erfolg ist aus einem sehr einfachen Grund riskant: Er hat einen stark legitimierenden Effekt. In der Menschheitsgeschichte war es stets so: Gute Ergebnisse legitimieren am Ende in der sozialempirischen Wahrnehmung den Gebrauch von fraglichen Mitteln. (Fs)

132d Welches sind in diesem Zusammenhang die fraglichen Mittel? Es gibt kein Thema, das die Wissenschaftler mehr zum Gähnen brächte und die Politiker mehr langweilte als das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Es ist eine Frage, die ohne harsche Töne angepackt sein will. Aber verschwinden wird sie nicht. Daher müssen wir einen Umweg machen und uns fragen: Worin besteht das berühmte Demokratiedefizit der Europäischen Union? Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass mein Ziel nicht ist, von neuem das Demokratiedefizit zu beklagen. Eher ist es die Reaktion des Unionsbürgers auf das Demokratiedefizit, oder besser seine Nicht-Reaktion, die ein moralisches Zeichen des zerstörerischen Effekts ist, den Markt und politische Strukturen der Union ausüben. (Fs)

133a Was folgt, ist ein Versuch, die Hauptaspekte der Kritik an der europäischen Demokratie synoptisch darzustellen. Legen Sie den Sicherheitsgurt an und machen Sie es sich bequem, und lesen Sie dann, was folgt. (Fs)

133b Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die europäische Integration zum Transfer zahlreicher und immer wichtigerer Regierungsfunktionen nach Brüssel geführt hat, die in den Kreis der ausschließlichen oder konkurrierenden Gemeinschafts- und Unionskompetenzen fallen. Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Auch wenn die politischen Grenzen des Staates formal nicht angetastet worden sind, sind auf den Gebieten, auf denen die Verantwortlichkeiten auf die Union übertragen worden sind, die funktioneilen politischen Grenzen der Ordnung effektiv neu gezogen worden. Wenn die grundlegenden Entscheidungen der öffentlichen Politik, beispielsweise zum Welthandel oder zum Umweltschutz, zum Verbraucherschutz oder zur Einwanderung, oder - seit die Europäische Währungsunion existiert - zur Währungspolitik, ausschließlich oder überwiegend in die Verantwortung der Gemeinschaft fallen, ist der Sitz der Entscheidungen in diesen Materien nicht mehr der Staat, sondern die Union. Auch wenn die Union in ihrem eigenen Regierungssystem dieselbe institutionelle Ordnung reproduzieren könnte, wie sie sich in den Mitgliedstaaten findet, gäbe es eine Verringerung des spezifischen Gewichts, der politischen Bedeutung und des Grades an Kontrolle, die jedes Individuum innerhalb der neugezogenen politischen Grenzen ausüben könnte. Dies - so könnte man behaupten - ist ein unvermeidlicher Effekt der Vergrößerung der Zahl der Teilnehmer an den Entscheidungsprozessen (wenn eine Aktiengesellschaft neue Aktien mit Stimmrecht emittiert, verringert sich der Wert einer jeden Aktie) und der Hinzufügung einer Regierungsebene, die die "polity" weiter von denen entfernt, in deren Namen und für die jede demokratische Regierung ihrem Anspruch nach arbeitet. Das Problem wird sich Schritt für Schritt in dem Maße vergrößern, in dem sich die Union erweitert. (Fs)

134a Wenn Sie ein Etikett für diesen Prozess wünschen, könnte man ihn "umgekehrten Regionalismus" nennen. Alle Vorzüge des Regionalismus, echte und vermeintliche, werden hier umgedreht. Der umgekehrte Regionalismus verringert nicht einfach die Demokratie (im Sinne einer Verminderung der Macht eines jeden Individuums), sondern nährt auch ein weiteres und unterscheidbares Phänomen der Delegitimation. Demokratie und Legitimität sind keine Synonyme. Wir kennen politische Systeme in der Vergangenheit, die mit vernünftigen demokratischen Strukturen und Prozessen ausgestattet waren und zweifelhafte politische Legitimität genossen, und die auf demokratischem Wege durch Diktaturen ersetzt worden sind. Wir kennen auch politische Systeme in Vergangenheit und Gegenwart mit Strukturen und Prozessen absolut undemokratischer Regierungen, die trotzdem einen hohen Grad an sozialer Legitimität genossen haben und weiter genießen. Der umgekehrte Regionalismus wird in dem Maße, in dem er im besagten Sinne zu einer Verringerung der Demokratie beiträgt oder in dem er als ein Prozess wahrgenommen wird, der diese Wirkung hat, auch dazu fuhren, die Legitimität der Union zu schwächen. (Fs)

135a Die nachteiligen Wirkungen des umgekehrten Regionalismus und seine delegitimierende Wirkung werden durch drei Faktoren potenziert (werden):
- Die Tatsache, dass die Gemeinschaft oder die Union in Gebiete eindringt, die klassische Aufgaben des "Staates" sind (oder als solche betrachtet werden), die symbolischen Wert haben und in denen "uns" (Franzosen, Dänen oder Iren) die "Ausländer" nicht sagen dürften, wie wir uns verhalten müssen. Diese Felder, sozial konstruiert und kulturell abgegrenzt, sind nicht statisch fixiert. Sie reichen vom Lächerlichen (Abmessungen des traditionellen Bierhumpens in Großbritannien) bis zum Erhabenen (das Recht auf Leben in der Abtreibungsdiskussion in Irland). (Fs)

- Die Tatsache, dass die Gemeinschaft oder Union in Gebiete eindringt, die wirklich oder vermeintlich den Individuen oder den örtlichen Gemeinschaften überlassen bleiben müssten und in denen die "Regierung" "uns" nicht sagen dürfte, wie wir uns zu verhalten haben. (Fs)

- Die - mehr oder weniger in der Wirklichkeit verankerte - Wahrnehmung der Tatsache, dass es keine wirkliche Grenze und/oder wirksame Kontrolle für die Fähigkeit der Gemeinschaft oder der Union gibt, in Gebiete einzudringen, die herkömmlicherweise der Sphäre zugeordnet werden, die dem Staat oder dem Individuum vorbehalten ist. (Fs) (notabene)

135b Der umgekehrte Regionalismus ist nur ein intrinsischer und unvermeidlicher Zug des vermeintlichen demokratischen Missstandes der europäischen Integration. Ich habe oben geschrieben: "Auch wenn die Union in ihrem eigenen Regierungssystem dieselbe institutionelle Ordnung reproduzieren könnte wie sie sich in den Mitgliedstaaten findet, gäbe es eine Verkleinerung des spezifischen Gewichts, der politischen Bedeutung und des Grades an Kontrolle, die jedes Individuum innerhalb der neugezogenen politischen Grenzen ausüben könnte." Aber natürlich reproduziert die Union nicht die internen demokratischen Mechanismen. (Fs)

136a Eines der Elemente des demokratischen Prozesses in den Mitgliedstaaten - natürlich mit vielen Varianten - ist die Kontrolle, die jedenfalls formal das Parlament über die Regierung ausübt. Insbesondere wenn die politischen Entscheidungen eine legislative Tätigkeit fordern, ist die Zustimmung des Parlaments nötig. Die nationalen Parlamente entfalten über die Ausübung dieser institutionellen Funktionen hinaus auch die Funktion eines "öffentlichen Forums", verschiedentlich als Informations-, Kommunikations- oder Legitimationsfunktion etc. bezeichnet. Die These ist, dass die governance der Gemeinschaft und der Union und die Gemeinschaftsinstitutionen eine verzerrende Wirkung auf diese essentiellen demokratischen Prozesse in den Mitgliedstaaten und in der Union selbst haben. (Fs)

136b Die governance der Gemeinschaft und der Union verzerrt jenes Gleichgewicht zwischen den Exekutiv- und den Legislativorganen, das den staatlichen Ordnungen eigen ist. Was der exekutive Zweig der Mitgliedstaaten ist (die Minister der Regierung), bildet in der Gemeinschaft das Hauptrechtssetzungsorgan, das - wie bereits erwähnt - mit einer weiter wachsenden Entscheidungskompetenz auf immer größeren Feldern von politischer Relevanz ausgestattet ist. Die Dimensionen, die Komplexität und die Zeiten des gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses bewirken, dass die Kontrolle durch die nationalen Parlamente, vor allem der großen Mitgliedstaaten, eher eine Illusion als eine Wirklichkeit sind. In den Materien, in denen die Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, ist die Macht der nationalen Parlamente, die Ergebnisse im Bereich des Ministerrats zu beeinflussen, noch weiter reduziert. Das Europäische Parlament bildet keine wirkliche Alternative. Auch im neuen Verfassungsentwurf bleibt eine beträchtliche Zone der Entscheidungsprozesse formal der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Dieser Lesart zufolge stellt sich die governance der Union am Ende als reine Verstärkung der Macht der Exekutiven der Mitgliedstaaten dar. (Fs)

137a Das Europäische Parlament ist nicht nur durch das Fehlen bestimmter Befugnisse in formaler Sicht geschwächt, sondern auch durch seine strukturelle "Distanz". Technisch ist die Fähigkeit der Mitglieder des Europäischen Parlaments, die realen Teilnehmer des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses zu vertreten und als Mittler zu fungieren, in den größten Mitgliedstaaten einfach aus Gründen der Dimensionen schwerwiegend beeinträchtigt. Auch seine abstrakte Funktion als Vertretung der "Völker" - seine Funktion als öffentliches Forum - ist aus einer Kombination von Faktoren gefährdet: der Ineffektivität seiner Befugnisse (nicht hier werden die wirklichen Entscheidungen getroffen), seiner Arbeitsweise (Zeiten und Orte), des Sprachen-"Problems", der Schwierigkeit, seiner Tätigkeit in den Medien Widerhall zu geben (und der Indifferenz in dieser Hinsicht). Es ist bezeichnend, dass man im Laufe der Jahre eine schrittweise Vergrößerung der dem Parlament formal zugewiesenen Befugnisse verfolgen konnte und parallel eine Verringerung der Beteiligung an den europäischen Wahlen. Wenn diese Wahlen stattfinden, sind sie von der innerstaatlichen politischen Agenda dominiert, sind sie eine Art Prüfung in der Mitte der Legislaturperiode für die Parteien, die in den Mitgliedstaaten an der Macht sind. Auch dies ist ein bezeichnendes Faktum, und es ist exakt dem entgegengesetzt, was sich in der US-amerikanischen Politik zeigt, wo die Wahlen in den einzelnen Staaten oft eine Prüfung in der Mitte der Legislaturperiode für die zentrale Bundesregierung sind. Die Tatsache, dass keine transnationalen europäischen Parteien, die diesen Namen verdienen, entstanden sind, ist ein weiterer Ausdruck des untersuchten Phänomens. Der wirklich kritische Punkt ist, dass es keinen Weg gibt, auf dem es der Ablauf der europäischen Politik der Wählerschaft wirklich erlauben würde, "die Gauner hinauszuwerfen", also das auszuüben, was schließlich oft die einzige dem Volk noch gelassene Befugnis ist: eine Gruppe von Regierenden durch eine andere zu ersetzen. Im augenblicklichen Zustand hat keiner der Wähler bei den Europawahlen das Empfinden, in entscheidender Weise Einfluss auf die politischen Weichenstellungen auf europäischer Ebene zu haben, geschweige denn, zur Bestätigung oder Abberufung der europäischen Regierung beitragen zu können. (Fs)

138a Der verzerrende Effekt der gemeinschaftlichen governance kann auch dann evident erscheinen, wenn man eine neo-korporatistische Sicht des europäischen politischen Systems annimmt. In dieser Sicht hat das government - die exekutiven und legislativen Apparate - das Monopol für politische Entscheidungen: Sie sind nur Akteure, wenn auch wichtige Akteure, in einer größeren Arena, die andere (öffentliche und private) Subjekte umfasst. Die wichtige Funktion des Parlaments ist nach diesem Modell die, diffusen und fragmentierten Interessen Stimme zu verleihen, deren politisches Hauptgewicht einer Kombination aus ihrer Wählermacht und dem Schub entstammt, den sie der Wiederwahl von Politikern im Amt geben können. Andere Akteure, wie beispielsweise die Großindustrie oder die Gewerkschaften, deren Mitgliederschaft viel weniger diffus und fragmentiert ist, üben ihren Einfluss durch andere Kanäle und mit anderen Mitteln aus wie Finanzierung, Kontrolle der Parteiorganisationen und direkten Lobbying-Aktivitäten gegenüber der Administration. Wenn Gebiete politischer Entscheidungen auf Europa übertragen werden, bewirkt dies eine Schwächung der diffusen und fragmentierten nationalen Interessen, als Konsequenz der größeren Schwierigkeit, sich auf transnationaler Ebene zu organisieren, etwa im Vergleich zu einer kompakteren Gruppe der Großindustrien (wie der Tabakindustrie). Darüber hinaus führt analog die strukturelle Schwäche des Europäischen Parlaments zu einer Schwächung der besagten Interessen, auch wenn sie organisiert sind. Die Wählermacht hat einfach ein geringeres Gewicht in der Europolitik. (Fs)

139a Da die Normen, die dem gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren entstammen, den innerstaatlichen Normen vorgehen und "lex suprema" in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten werden, gerät auch die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der normalen Gesetze - in den Systemen, die diese Art der Kontrolle kennen (beispielsweise Italien, Deutschland und Irland) - in Gefahr. Der Europäische Gerichtshof bildet wie das Europäische Parlament keine wirkliche Alternative, da er unvermeidlicherweise von unterschiedlichen Jurisdiktionellen Wahrnehmungsweisen durchsetzt ist, vor allem bei der Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrenzen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten bilden nicht nur das Hauptgesetzgebungsorgan der Gemeinschaft, sondern haben auch die wichtigsten Exekutivfunktionen (sie sind in der Tat viel mehr als die Kommission für die Verwirklichung und Ausfuhrung der Rechtsordnung und der gemeinschaftlichen Politiken verantwortlich); auch sie entziehen daher letztendlich der Kontrolle der nationalen Parlamente (im allgemeinen schwach ausgeprägt) und der der nationalen Richter (im allgemeinen stärker) einen beträchtlichen Teil der eigenen Administrativfunktionen. (Fs)

139b Wahrscheinlich werden auch die politischen Präferenzen im Innern der Staaten in substantieller Weise umgewälzt. Ein Mitgliedstaat kann eine Mitte-Rechts-Regierung wählen und sich trotzdem einer Mitte-Links-Politik unterworfen finden, wenn beispielsweise der Rat durch eine Mehrheit von Mitte-Rechts-Regierungen beherrscht wird. Umgekehrt mag es etwa auch eine Mehrheit von Mitte-Rechts-Regierungen im Rat geben, die sich aber mit einer Minderheit von Mitte-Links-Regierungen konfrontiert sehen - oder auch einer einzelnen Mitte-Links-Regierung - in den Fällen, in denen die Regeln des gemeinschaftlichen Entscheidungsverfahrens die Einstimmigkeit verlangen. Das Prinzip der Verhältniswahl wird sowohl im Rat als auch im Europäischen Parlament durch die Tatsache gefährdet, dass in beiden der Stimme der Bürger der kleinen Mitgliedstaaten wie Luxemburg mehr Gewicht verliehen wird, während den Bürgern der größeren Staaten wie Deutschland wahrscheinlich keine angemessene Stimme zugestanden wird. (Fs)
140a Zu alldem kommen die stets zunehmende Distanz, die Undurchsichtigkeit und die Unzugänglichkeit in der europäischen governance. Eine apokryphe Äußerung, die man Jacques Delors zuzuschreiben pflegt, sagte voraus, dass bis zum Ende der neunziger Jahre achtzig Prozent der Normen aus Brüssel stammen würden. Das Ende des Jahrzehnts liegt hinter uns, und gewiss ist ein enormer Teil der Kompetenzen, wenn auch nicht achtzig Prozent, nach Brüssel gewandert. Die dramatische Tatsache ist, dass keine politisch verantwortliche Stelle eine Kontrolle über diese Prozesse der Normproduktion hat - weder das Europäische Parlament noch die Kommission oder die Regierungen. Auch das Wirken der Presse und der anderen Medien, ein Gut von vitaler Bedeutung in unseren Demokratien, hat nur eine begrenzte Wirkung. (Fs)

Die Warnleuchten sind erloschen. Sie können die Sicherheitsgurte lösen. (Fs)

140b Im Großteil der Fälle wäre eine ähnliche Analyse des Demokratiedefizits eine Plattform für ein Ensemble von Vorschlägen politischer Natur: eine Reform der Europäischen Union zur Verringerung oder Beseitigung des Demokratiedefizits. Dazu gibt es eine beinahe unübersehbare Fülle von Literatur. Es ist nicht meine Absicht, dieser Flut von Beiträgen etwas hinzuzufügen. Vielmehr möchte ich eine andere Spur verfolgen, diejenige, die sich auf den Seelenzustand und auf die Gesamtheit der menschlichen Person in den aktuellen politischen Umständen Europas konzentriert. Dieser Zugang ist unmittelbar inspiriert von der Sensibilität der Enzyklika Centesimus Annus. (Fs)

141a Zunächst eine provokante These. Als Antwort auf alle Punkte, von denen die Rede war, scheint ein sehr wichtiges politisches Faktum hervorzutreten: Der Aufbau Europas ist, unbeschadet des Demokratiedefizits, mehrfach demokratisch bestätigt worden. Die Verträge sind den verfassungsrechtlichen demokratischen Verfahren unterworfen worden, die jeder Mitgliedstaat vorsieht, mit der Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte, der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, und mit jedem der Beitrittsverträge von Seiten neuer Staaten. Diese regelmäßigen Ratifizierungen sind, unbeschadet ihres "Ganz-oder-Garnicht"-Charakters, ein authentischer Ausdruck der demokratischen Institutionen der Mitgliedstaaten und, in einigen Ländern, des europäischen Wahlvolks. Sie konstituieren ein wirkliches "Referendum" über den Erfolg des europäischen Hauses. Stellen sie also nicht doch eine Legitimation für ihn dar?

141b Hier kehren wir zum Paradox des Erfolgs zurück. Sprechen wir die Dinge aus, wie sie sind: Die positiven Ergebnisse dieser "Referenden", die der Europäischen Union eine demokratische Färbung geben, stellen den korrumpierenden Effekt dar, den der europäische Erfolg auf das staatsbürgerliche Empfinden der europäischen Völker und auf die Bedeutung dessen hat, was eine Demokratie sein müsste. Der Erfolg des Marktes, der Reichtum, sogar das Prinzip der Solidarität, von der Union und den Mitgliedstaaten zur Erleichterung ihres Gewissens angewandt, werden so verführerisch, dass den Bürger am Ende das Demokratiedefizit nicht kümmert. Die Legitimation wird, wie zur Zeit des Imperium Romanum, durch das Ergebnis anstatt durch das Verfahren erworben. Die Tatsache, dass der Aufbau Europas mit einer solchen Regelmäßigkeit Zustimmung findet, ohne dass die zweifelhafte Demokratizität seiner täglichen Praxis ernsthaft zum Gegenstand der Diskussion gemacht würde, zeigt, dass Logiken des Marktes dabei sind, in die politische Sphäre einzudringen, durch die die Bürger zu Konsumenten politischer Produkte werden und nicht aktive Teilnehmer am politischen Prozess. Es ist der Prozess, durch den wir dahin kommen, die im Geheimen getroffenen Erwägungen von Funktionären zu schätzen - wegen der Qualität ihres Dialogs oder wegen der Güte ihrer Ergebnisse; aber die Bürger oder ihre Vertreter sind über dieses Wunderwerk an Überlegungen höchstens partiell informierte Konsumenten. In dieser Perspektive scheint Europa einen negativen moralischen spill-over-Effekt hervorzubringen. Die menschliche Würde wird aufs Spiel gesetzt, wenn das Individuum, anstatt sich als Protagonist seiner politischen Umwelt zu fühlen, auch in diesem Bereich zum Konsumenten wird. (Fs)

142a Natürlich wäre es absurd, der EU die Schuld an allen Übeln unserer politischen Systeme zu geben. Wie wir gesehen haben, leidet nicht nur Europa an einem Demokratiedefizit. Die Degeneration der politischen Kultur ist Teil der Geschichte der Demokratie vieler Mitgliedstaaten. Die Zeichen sind ziemlich evident, und hier soll es genügen, einige anzudeuten. Zu ihnen gehört das Vorherrschen des Bildes und der elektronischen Kommunikations- und Informationsmittel im politischen Diskurs: Es verwischt die Grenzen zwischen Politik und Unterhaltung, wie es typisch für eine Gesellschaft ist, die der Starkult charakterisiert. Andere Aspekte sind der Pragmatismus, der die Oberhand über die Ideologien gewinnt, und ferner die Techno-kratie und die technische Kompetenz, die zu den höchsten Kriterien der Legitimität aufsteigen. All dies gäbe es in jedem Fall, mit oder ohne Europäische Union. Aber Europa trägt dazu bei, es zu akzentuieren, zu verschärfen und - dies ist der hinterhältigste Aspekt - es normal zu machen und damit akzeptabel. (Fs)

142b Der äußere Einfluss der Europäischen Gemeinschaft auf die politische Kultur in der Demokratie spiegelt ihr inneres Ethos wider. Die Legitimation durch brillante technokratische Erfolge statt durch die komplexen Wege des demokratischen Prozesses ist auch ein zentrales Charakteristikum der internen Kultur der Kommission geworden. Ein zentraler Zug des Selbstverständnisses der Kommission ist die Vorstellung, eine autonome politische Institution zu sein, die eigener politischer Entscheidungen fähig ist, und (beispielsweise) nicht einfach das Sekretariat des Rates. Diese Art, die eigene Funktion aufzufassen, stellt der Kommission klar vor Augen, wie notwendig es ist, politische Legitimation zu haben: sowohl nach innen, durch Stärkung ihrer institutionellen Natur und ihres inneren Zusammenhalts, als auch nach außen, durch das Erreichen eines Konsenses, der für die Effektivität ihrer Befugnisse angesichts des Fehlens einer politischen Einsetzung durch das Volk essentiell ist, um angesichts der fehlenden politischen Einsetzung durch das Volk die für eine wirksame Nutzung ihrer Befugnisse unbedingt nötige Zustimmung zu erhalten. Die Legitimation durch den Erfolg, die professionelle Effizienz und die Ergebnisse werden so das Surrogat des demokratischen Prozesses und der demokratischen Legitimation. (Fs)

143a Wir haben also einen hin- und herwirkenden oder kreisförmigen Prozess, durch den es die Degeneration der Politik in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft erlaubt, eine eigene Legitimation auf der Basis der erreichten Ergebnisse für sich zu reklamieren und von den Mitgliedstaaten am Ende einer jeden Regierungskonferenz alle Unterstützung zu erhalten, die verfassungsrechtlich vonnöten ist; und diese Legitimation trägt ihrerseits zu einer ausgemachten Degeneration dessen bei, was der Sinn der Demokratie sein müsste. (Fs)

143b Eine tragikomische Manifestation dieser Wirklichkeit finden wir in dem berühmten Zitat, das als Inschrift der neuen europäischen Verfassung vorangestellt ist:
"Die Verfassung, die wir haben... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist." (Thukydides II, 37)

144a Das klingt doch ganz gut, oder? Aber rauen wir die Oberfläche ein wenig auf. Zunächst zur Erklärung: Diese Worte hat Thukydides Perikles bei dessen berühmten Nachruf auf die Athener, die im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges (431/ 430 v. Chr.) gefallen sind, in den Mund gelegt. Perikles ist eine perfekte Ikone für die Europäische Union: formal ein großer Demokrat, aber in Wirklichkeit war auch seine Demokratie eine Ergebnisdemokratie. Er ist es, der fuhrt; er schenkt abweichenden Meinungen keine große Aufmerksamkeit und hat eine unverhohlene Verachtung für das "Bordell" der partizipativen Demokratie. Es ist sicher kein Zufall, dass er als Symbol für die Europäische Union gewählt worden ist. Hören wir, was Sokrates im Gespräch, das ihn Platon im Menexenos fuhren lässt, zur athenischen Demokratie sagt:

"Mancher nennt sie Demokratie, manch anderer nach Gefallen anders; in Wirklichkeit aber ist sie eine Aristokratie mit Zustimmung der Masse."
Ist von Athen oder von der heutigen Europäischen Union die Rede?

144b Hier lässt sich auch ein Wort zu den Grundrechten anfügen. In der Debatte über die europäische Integration sind sie beinahe zum Fetisch geworden. Einerseits sind sie Ausdruck unserer Achtung für die menschliche Würde, wie wir bereits im ersten Teil des Essays gesehen haben. Andererseits aber werden die Menschenrechte zu einem Ersatz der politischen Rechte, eine Ware, die man dem Individuum verkauft, damit es sich wichtig und geschützt fühlt - aber geschützt gegen wen? Gegen eben die politische Autorität, in deren Entscheidungsprozessen seine Rolle so minimiert ist. Welche Würde hat eine Person, wie sehr sie auch von Kopf bis Fuß von Grundrechten beschützt sein mag, wenn sie nicht die Entscheidungen und normativen Prozesse kontrolliert, die für ihr Leben bestimmend sind? Sokrates nannte dies "Aristokratie mit Zustimmung der Masse"; wir nennen es konsumistische Marktmentalität, auf die politische Arena übertragen. Gerade gegen die Exzesse dieser Mentalität richtet sich die Enzyklika Centesimus Annus. (Fs) (notabene)
145a Wenn wir alle diese Argumente zusammen bedenken, hebt sich die Vision einer Zukunft ab, die voll von Erfolgen ist und in der Wohlstand und Sicherheit überborden; eine Zukunft, in der wir auch einen europäischen dritten Weg in der Gestaltung der sozialen Beziehungen und der Umverteilungspolitiken haben mögen, in der jedoch einer der wichtigsten Ansprüche der "Neuen Dinge" schrittweise immer mehr gefährdet werden wird: die Subjektstellung des Individuums. (Fs)

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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; homo eligens; Faschismus (Nolte) - Moderne; heuristischer Rahmen: Redemptoris Missio, Centesimus Annus, Fides et Ratio;


Kurzinhalt: ... Position der europäischen Integration im öffentlichen Leben: Sie ist nicht mehr wie im Moment der Gründung die Antwort auf eine Vertrauenskrise, sondern nach fünfzig Jahren einer der Gründe für diese Krise.

Textausschnitt: 145b Das Paradox des Erfolges hat eine zweite, tiefere Dimension. In seinem Gründungsmoment wurde der europäische Bau als Teil eines moralischen Imperativs mit Blick auf das Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs aufgefasst. Die Regierungen und die Staaten hätten ihr nationales Interesse still verfolgen können, doch man kleidete das europäische Projekt in den vornehmen Mantel eines wiedergefundenen Idealismus. In Europa ist der Krieg zweifellos undenkbar geworden, genau wie die Gründerväter es vorhergesehen haben; und mit diesem enormen Erfolg bei der Erreichung seines Hauptziels stellt sich Europa nun als Zuteilungsinstanz von panem et circenses dar. Nimmt man den moralischen Imperativ und den Mantel an Idealen fort, so sieht sich die europäische Politik regelmäßig mit dem entmutigenden Sachverhalt konfrontiert, dass es bei Wahlen nicht gelingt, in Europa "die alten Gauner hinauszuwerfen". (Fs)

145c Vermutlich hat das öffentliche Verhalten noch tiefere Beweggründe. Wir kommen hier zu einer tieferschürfenden Erwägung, auf deren Grundlage man begreifen kann, wie die Europäische Union nicht einfach einen Verlust ihrer ursprünglichen geistigen Werte erlitten hat, sondern vielmehr eine echte Quelle von sozialem Ressentiment ist. Genau hier kulminiert ein Thema, das mehr als eine stichwortartige Behandlung verdienen würde. (Fs)

146a In seinen prä-cholerischen [eg: sic] Tagen schrieb Ernst Nolte einen faszinierenden Essay über die Ursprünge des Faschismus in seinen verschiedenen europäischen Spielarten. Er betrachtet auf eine Weise, die erschauern lässt, das Aufkommen des Faschismus in Italien, Frankreich und Deutschland in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. In seiner tiefsinnigen vergleichenden Analyse der politisch-kulturellen Wurzeln des Phänomens identifiziert er den gemeinsamen Ursprung in der Reaktion auf einige Manifestationen der Moderne. (Fs)

146a Auf praktischer Ebene sind die Hauptmanifestationen der Moderne die gewachsene Bürokratisierung des öffentlichen und privaten Lebens, die Entpersönlichung des Marktes (mit Massenkonsum, Verbreitung von kommerziellen Marken u. ä.) und die Kommerzialisierung der Werte; die "Abstraktheit" des sozialen Lebens, besonders durch untereinander in Wettbewerb stehende Formen der Mobilität (man spricht über Armut, ohne die Armen zu sehen; man spricht über Arbeitslosigkeit, aber während der Frühstückspause); die rapide Verstädterung und die Zentralisierung der Macht. (Fs)

146b Auf epistemologischer Ebene setzte die Moderne die Absicht voraus (und erfuhr sie), die Welt auf verständliche Begriffe zu reduzieren, die durch Vernunft und Wissenschaft verstanden werden mussten: abstrakte und universale Kategorien. Dieser Interpretation zufolge war der Faschismus eine Antwort auf die Furcht, die diese praktischen und erkenntnismäßigen Herausforderungen erzeugten, und zugleich eine Ausnutzung dieser Furcht. Bis hierher handelt es sich um eine wohlbekannte Geschichte. (Fs)

146c Auf beunruhigende Weise scheint die Europäische Union in diesem neuen fin-de-siecle wirklich oder in der subjektiven Wahrnehmung von Einzelnen oder Gesellschaften einige dieser Charakteristika zu wiederholen: Sie stellt bereits, und sei es auch unberechtigt, die Verkörperung der Bürokratisierung und der Zentralisierung dar. Je mehr man über "Subsidiarität", "Verhältnismäßigkeit", "Kompetenzen" und ähnliches spricht, desto mehr weiß man, dass Europa in Wahrheit das Problem der Überausdehnung seiner Tätigkeitsbereiche hat. Eine seiner sichtbarsten Politiken, die gemeinsame Argrarpolitik, hatte historisch das Ziel, die Agrarbetriebe zu "rationalisieren", was im Ergebnis Verstädterung bedeutete. Der gemeinsame Markt kann mit seiner Betonung der Wettbewerbsfähigkeit und des transnationalen Verkehrs der Güter als ein moderner Anstoß zu einer noch größeren Kommerzialisierung der Werte gesehen werden (man braucht nur daran zu denken, wie die Logik der Gemeinschaft dazu zwingt, Abtreibung als "Dienstleistung" zu behandeln, für die es einen Markt gibt) sowie zu einem Verlust der Identität aller nationalen Märkte. Sind die berühmten italienischen Autos wirklich italienisch, wenn sie ganz daraufhin ausgelegt sind, dass sie für den deutschen, britischen oder irischen Verbraucher Anziehungskraft haben? Und wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass das für europäische Märkte bestimmte Olivenöl extravergine wirklich extravergine ist? Nicht nur die lokalen Produkte werden in Schwierigkeiten gebracht, sondern auch die nationalen haben ihre charakteristischen Eigenarten verloren. Der im eigentlichen Sinne transnationale Charakter der Union, der anfangs als eine Wiederentdeckung des Idealismus der Aufklärung gefeiert wurde, ist genau dies: universal, rational, transzendent - mit einem Wort: "modern". (Fs)

147a Jenseits dieser sogenannten und meiner Meinung nach nie gelösten "Angst der Moderne" haben wir auch andere fin-de-siècle -Erscheinungen, wie Thomas Fitzgerald brillant gezeigt hat. (Fs)

148a Um diese Phänomene zu fassen, können wir auf das rekurrieren, was Jose Ortega y Gasset creencias genannt hat, die Lebensgewissheiten, die keines Beweises bedürfen, sei es in der natürlichen, sei es in der sozialen Welt: Wasser fließt nach unten; es gibt einen Unterschied zwischen Maschinen und menschlichen Wesen; die entwickelteren Formen des Lebens unterscheiden sich nach Geschlecht usw. Zu dem, was als Herausforderung der Moderne bezeichnet wird, tritt eine tiefgehende Zertrümmerung der fundamentalsten creencias hinzu, und eine noch tiefere Zertrümmerung der Fähigkeit, an irgendetwas zu glauben. Es lohnt sich, einige Manifestationen dieses Prozesses zu umreißen. (Fs)

148b Zunächst sei auf den im vergangenen Jahrhundert durch die Sozialwissenschaften lange Zeit gewaltsam verbreiteten Reduktionismus hingewiesen: Nicht nur sind die Dinge nicht, was sie zu sein scheinen, sondern ihre Wirklichkeit hat immer eine zynische Tücke. Die Politik und ihre Codes sind eine Maske, die Ausbeutung und Machtausübung verbirgt; das Privatleben mit seinen Codes ist eine Maske, die die Herrschaft kaschiert. Mit unvermeidlicher Logik hat sich dieser Angriff gegen sich selbst gewendet, und so sind die diesen Intuitionen geschuldeten Entdeckungen kein Vehikel der Befreiung, sondern der Manipulation des Menschen geworden. Die epistemologische Herausforderung der Postmoderne verschärft die Zertrümmerung. In der modernen Sichtweise von einst gab es wenigstens eine Wahrheit zu erkunden und zu beanspruchen, auch wenn diese Wahrheit Macht, Ausbeutung und Herrschaft ausdrückte. Die verschiedenen Freuds, Marx' und Durkheims versuchen, sich die "wirkliche" Erklärung der sozialen Phänomene anzueignen, aber sie glaubten wenistens an die Möglichkeit einer "wirklichen" Erklärung. Man kann den postmodernen Egozentrismus mit seiner ironischen und spöttischen Haltung abstoßend finden. Aber, ohne ein Urteil über die philosophische Gültigkeit seiner epistemischen Prämisse abzugeben, besteht kein Zweifel, dass die Vorstellung, alle Beobachtungen seien relativ zur Wahrnehmung des Beobachters, und alles, was wir besitzen, seien nur verschiedene gleichermaßen mögliche miteinander konkurrierende Erzählungen, anfangs eine philosophische Position war, die sich dann in eine soziale Wirklichkeit gewandelt hat. All dies ist Teil der politischen Diskussion: Auf dieser Grundannahme basieren der Multikulturalismus, der Zusammenbruch der (politischen, wissenschaftlichen, sozialen) Autorität und das Vorherrschen einer Kultur, die den Individualismus und die Subjektivität betont. Die Objektivität selbst wird geradezu als Fessel für die Freiheit betrachtet. Eine seltsame Freiheit, frei von Gehalt. (Fs)

149a Schließlich hat die Zertrümmerung so vieler creencias (des Gedankens von creenda selbst) einen wirkmächtigen Ausdruck im Forum der Öffentlichkeit gefunden; dies wird vom Fernsehen beherrscht, also von den Bildern, von einem nichtaktiven Diskurs, von vermittelten Informationen, von der Einsamkeit: ein vertikales Forum von Einzelnem zu Einzelnem, kein horizontaler Diskurs. Zur Angst der Moderne kommen die Fragmentierung der Informationen, typisch für das fin-de-siecle, das Verschwinden eines kohärenten Weltbildes, der Schwund des Vertrauens in die Möglichkeit, an etwas zu glauben, und in die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, gar sie zu kontrollieren. (Fs)

149b Es gibt zahlreiche soziale Antworten auf diese Phänomene. Eine von ihnen besteht für viele darin, sich an irgendeine Kraft zu wenden, die "Sinn" anzubieten scheint. Es ist fast paradox (vielleicht aber nicht zur Gänze): Die ständige Berufung auf den Nationalstaat und der in vielen Gesellschaften anzutreffende Erfolg extremer Formen des Nationalismus (gemessen nicht nur an der Zahl der Wählerstimmen oder der Mitglieder, sondern auch der Fähigkeit dieser extremen Formen, sich ins Zentrum der öffentlichen Debatte zu postieren) sind teils offensichtlich der Tatsache geschuldet, dass Nation und Staat besonders wirksame Instrumente sind, um auf das existentielle Bedürfnis nach Sinn und Ziel zu antworten, das die Moderne und die Postmoderne zu negieren scheint. Die Nation und der Staat bieten mit ihren Ordnungsmythen von Schicksal und Bestimmung eine Antwort, die für viele anziehend und beruhigend ist. (Fs)

150a Auch hier ist das Versagen Europas kolossal. Wie Europa die Angst der Moderne nährt (wie ich bereits vertreten habe), so gibt es auch der Angst der Postmoderne Nahrung: Gigantisch und gleichzeitig fragmentiert, eher auf das Bild als auf Substanz hin konstruiert, ist Europa schließlich unverständlich und fordert immer mehr die creencias des täglichen Lebens innerhalb der Nationen heraus. Ich behaupte nicht, dass Europa nah daran sei, eine Rückkehr des Faschismus zu erleben; und vor allem soll diese Analyse, wenn sie irgendeinen Sinn hat, den fin-de-siecle-Chauvinisten keinerlei Genugtuung verschaffen, deren Ware heute so widerwärtig ist, wie sie es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war. Mir geht es vielmehr um eine tiefgreifende Veränderung der Position der europäischen Integration im öffentlichen Leben: Sie ist nicht mehr wie im Moment der Gründung die Antwort auf eine Vertrauenskrise, sondern nach fünfzig Jahren einer der Gründe für diese Krise. (Fs) (notabene)

150b Hier kommen wir dahin, eine der tiefen Paradoxien der europäischen Integration zu verstehen. Gerade diese Werte - die ihren juristischen und praktischen Ausdruck beispielsweise in der gestiegenen Mobilität, in der Überwindung der örtlichen Märkte und im Einbruch universaler Normen in die nationalen Kulturen finden - sind auch Teil der tiefen Beunruhigung der Moderne und Postmoderne vor der Zugehörigkeit zu Europa, und sie gehören zu den Wurzeln der Angst und der Entfremdung von Europa. (Fs)

150c Auch hier möchte ich behaupten, dass es viel von der augenblicklichen christlichen Lehre zu lernen gibt. Bis jetzt haben wir einige Aspekte aus dem Inneren erkundet. Nun möchte ich eine zusammenfassende Lektüre dieser Lehre vorschlagen, die von außen, als einen einheitlichen Komplex, drei seiner großen Äußerungen betrachten kann: die Enzykliken Redemptoris Missio, Centesimus Annus und Fides et Ratio. Sie bieten eine sehr kühne Antwort auf die zeitgenössische Krise. Die Probleme der Moderne und der Postmoderne sind nicht neu: Sie sind die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts selbst. Die Reaktionen, die sie hervorgerufen haben, sind bekannt. Eine Antwort auf diese Probleme könnte die Einladung sein, zur Prämoderne zurückzukehren, indem man Vernunft und Fortschritt, Technologie und Markt und die Demokratie selbst ablehnt. Dies wäre eine Sackgasse. Eine andere Antwort könnte sein, totalitären Utopien anzuhängen - mit den bekannten Folgen, die das zwanzigste Jahrhundert zu einem Gipfelpunkt der menschlichen Niedertracht gemacht haben. Die dritte mögliche Antwort ist eine Reaktion des Verzichts, die jegliches Ideal verachtet, sich am materiellen Erfolg ausrichtet und einen Zynismus gegenüber der Wahrheit und der Güte kultiviert. Die Unterweisung, die uns die drei genannten Enzykliken bieten (wenn ich den Sinn ihrer Botschaft exakt verstanden habe), ist angesichts der Moderne nicht eben zaghaft, wendet ihr aber auch nicht den Rücken zu. Sie bekräftigt im Gegenteil den Wert der Vernunft, der Wissenschaft und der Technologie, das Wohlergehen, das der freie Markt hervorbringen kann, und die Wichtigkeit der Demokratie auf dem Feld der Politik. Vor allem integriert sie die Vorstellung von Entscheidung, dieses wesentlichen Elements der Moderne, ins Herz des religiösen und menschlichen Empfindens. Immerhin ist der moderne Mensch vor allem homo eligens. Aber der homo eligens ist sich in der Sicht dieser Enzykliken seiner Grenzen bewusst, seiner moralischen Bindungen gewärtig, demütig vor den transzendenten Wahrheiten. Auch die Gesellschaft, obwohl modern, ja, die Moderne voll bejahend, ist sich ihrer Grenzen bewusst und verliert nie die Tatsache aus dem Blickfeld, dass im Zentrum der Mensch, die Familie, die menschlichen Gemeinschaften mit ihren Verantwortlichkeiten bleiben, die einen Teil ihrer Würde ausmachen und einer der Königswege sind, durch die sich ihre Liebe ausdrückt. Dieses Stück der zeitgenössischen Lehre der Kirche ist also eine Botschaft von "menschlicher Moderne". (Fs)

152a Die spirituellen Herausforderungen Europas sind groß. Dennoch soll dieses Kapitel, und damit dieser Essay, mit einer Botschaft der Hoffnung schließen. Wie bereits angemerkt, endet die Präambel des Verfassungsentwurfs mit der Bekräftigung der Überzeugung, dass das Europa der Union "einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann." So wird es sein, wenn auch wir lernen werden, wie man die lange Brücke der Moderne und der Postmoderne überschreiten kann, ohne die menschliche Würde und Liebe aufs Spiel zu setzen. Das Wichtige ist, keine Angst zu haben. (Fs)

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