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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Dostojewskij, Die Brüder Karamasow (Iwan, Aljoscha); Sinn: für mich - an sich; Resignation vor dem Unbedingten


Kurzinhalt: Mir scheint, daß die fast ganz Europa überziehende, auch ehemals kernkatholische Familien nicht verschonende Verdunstung des Glaubens einer ähnlichen Haltung entspringt, wie sie Iwan in Dostojewskijs Roman «Die Brüder Karamasow» einnimmt.

Textausschnitt: 12a Dostojewskij hat in mehreren seiner Romane und Novellen gezeigt, daß jeder Mensch - ob er sich dessen bewußt ist oder nicht - eine Welt postuliert, in der kein einziges Menschenschicksal, nicht einmal eine Sekunde der Zeit, nicht ein einziges Atom des Kosmos, aus dem Zusammenhang herausfällt, den wir mit dem Wörtchen «Sinn» bezeichnen. In Dostojewskijs Roman «Die Brüder Karamasow» sagt Iwan zu seinem tief gläubigen Bruder Aljoscha, daß er aus den Nachrichten immer ganz bestimmte Dinge sammle, die nach seiner Meinung mit einer guten Schöpfung ganz einfach unvereinbar sind. Mit einem Zeitungsbericht über das Eindringen der Türken in Bulgarien tritt er auf Aljoscha zu und sagt: «Stell dir vor: ein Säugling in den Armen seiner zitternden Mutter, ringsherum die eingedrungenen Türken. Sie haben sich etwas Lustiges ausgedacht: sie liebkosen das kleine Kind, lachen es an, um es zum Lachen zu bringen, und es gelingt ihnen, der Säugling lacht. In diesem Augenblick richtet ein Türke aus nächster Nähe eine Pistole auf das Gesicht des Kindes. Der kleine Junge lacht freudig, streckt die Ärmchen aus, um nach der Pistole zu greifen, und plötzlich drückt dieser Tausendsasa die Pistole ab, dem Kinde mitten ins Gesicht, und zerschmettert ihm das Köpfchen ... virtuos nicht wahr?» Und dann: «[...] ich habe sehr, sehr viel über russische Kinder gesammelt, Aljoscha. Da wurde zum Beispiel ein fünfjähriges kleines Mädchen von ihrem Vater und ihrer Mutter gehaßt, die waren. [...] Dieses fünfjährige Mädchen wurde von ihren gebildeten Eltern allen möglichen Mißhandlungen unterzogen. Sie schlugen es, peitschten es, stießen es mit Füßen, ohne selbst zu wissen weswegen, bis sein ganzer Körper mit blauen Flecken bedeckt war; schließlich dachten sie sich eine ganz raffinierte Folter aus: in der Kälte, bei Frost, sperrten sie das Kind die ganze Nacht über im Abtritt ein, und das dafür, weil es sich nachts nicht gemeldet hatte - als ob ein fünfjähriges Kind, das seinen engelsreinen tiefen Schlaf schläft, in diesem Alter lernen könnte, sich zu melden! -, sie beschmierten ihm zur Strafe dafür das ganze Gesicht mit seinem eigenen Kot und zwangen es, diesen Kot zu essen, dazu zwang es die Mutter, die eigene Mutter! Und diese Mutter konnte schlafen, während nachts das arme Kind stöhnte, das in dem gemeinen Ort eingesperrt war. Kannst du das fassen: ein kleines Geschöpf, das noch nicht einmal begreifen kann, was mit ihm geschieht, schlägt sich an dem gemeinen Ort, in Dunkelheit und Kälte, mit seinen winzigen Fäustchen an die Brust und fleht mit arglosen sanften Tränen seinen an, Er solle es beschützen - kannst du diesen Aberwitz fassen, mein Freund und Bruder, du mein demütiger Gottesnovize, kannst du es fassen, wozu dieser Aberwitz notwendig und geschaffen ist?»1 Aljoscha, «sage mir geradeheraus, ich fordere dich dazu auf, antworte: stell dir vor, du selbst errichtetest das Gebäude des Menschenschicksals mit dem Endziel, die Menschen zu beglücken, ihnen endlich Frieden und Ruhe zu geben, aber du müßtest dazu unbedingt und unvermeidlich nur ein einziges winziges Geschöpf zu Tode quälen, beispielsweise jenes kleine Kind, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug, und auf seine ungerächten Tränen dieses Gebäude gründen - wärest du unter dieser Bedingung bereit, der Architekt zu sein? Sag es, ohne zu lügen!> - , sagte Aljoscha leise.»2

14a Wenn Sinn der vom Schöpfer intendierte Zusammenhang alles Wirklichen und nicht nur der stets relative Zweck für dieses oder jenes Individuum ist, wenn es nicht nur «Sinn für mich», sondern «Sinn an sich» gibt, dann darf nichts, auch nicht ein einziges Kind, aus diesem Sinn herausfallen. Diese Feststellung durchzieht Dostojewskijs Gesamtwerk - nicht nur seine großen Romane, sondern auch seine Kurzgeschichten. In der Novelle vom «Traum eines lächerlichen Menschen» träumt ein Selbstmörder seinen Selbstmord, indem er an den Sinn appelliert, den er soeben durch einen Kopfschuß als nicht existent proklamiert hat. Dostojewskij will sagen: Der Selbstmörder löscht sein Leben gerade deshalb aus, weil er nach dem Sinn schreit, weil er den Sinn unbedingt postuliert, den er de facto in seinem Leben nicht gefunden hat3. Anders formuliert: Der Mensch ist immer auf der Suche nach dem Sinn und kann davon im letzten seines Wesens nicht lassen. Diesen Grundwillen, der ohne Grenzen und unendlich ist, kann niemand in sich aufheben, es sei denn durch integrale Daseinsverneinung, deren Äußerung der Selbstmord wäre. Doch auch der Selbstmörder schreit nach dem Sinn, an dem er mit seiner letzten Tat verzweifelt. (Fs)

15a Mir scheint, daß die fast ganz Europa überziehende, auch ehemals kernkatholische Familien nicht verschonende Verdunstung des Glaubens einer ähnlichen Haltung entspringt, wie sie Iwan in Dostojewskijs Roman «Die Brüder Karamasow» einnimmt. Es ist eine Haltung der Resignation vor dem Unbedingten, vor dem «Sinn an sich». Die zeitgenössische Philosophie ist geprägt von einer regelrechten Metaphysikfeindlichkeit. Und auch Menschen, die ganz einfach «Kinder ihrer Zeit» sind, ohne je den Zeitgeist zu reflektieren, praktizieren bewußt oder unbewußt einen Haß auf alles Unbedingte, natürlich auch auf den Absolutheitsanspruch des Christentums und die These, daß es entweder eine oder keine Wahrheit gibt. (Fs) (notabene)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Neuzeit: Wende zum Subjekt (Entrückung Gottes); Nominalismus, devotio moderna; Thomas von Kempen (Imitatio Christi); Martin Luther - Ignatius (sentire ecclesiam)

Kurzinhalt: Luther verurteilt zwar die Werk- bzw. Macherfrömmigkeit der Devotio moderna, bleibt aber dem Gottesbild der Nominalisten treu. Und Ignatius spricht zwar von dem trinitarischen Gott, der herabsteigt, kann aber nicht verhindern, daß seine Exerzitien ...

Textausschnitt: a) Die Entrückung Gottes

17b Die sogenannte «via moderna» des abendländischen Denkens ist im Unterschied zur «via antiqua» der hochscholastischen und antiken Philosophie durch den Nominalismus bedingt. Am Anfang dieser Wende vom Mittelalter zur Neuzeit liegt die Aristotelesrezeption der hochscholastischen Philosophie und Theologie; näherhin der Versuch, alles Seiende aus seinen Ursachen zu erklären. Doch während Aristoteles Gott selbst als unbewegten Beweger und mithin als Ursache aller Ursachen (als Letztursache) wie den Schlußstein einer in sich geschlossenen Kathedrale definiert, insistieren die Scholastiker auf der biblisch bezeugten Freiheit bzw. Personalität Gottes. Gott ist für Thomas von Aquin nicht der Schlußstein des Weltgebäudes, sondern dessen Schöpfer. Der Schöpfer - so lehrt er - hat sich willentlich an die Ordnung gebunden, die er selbst erschaffen hat. Und er hat dem Menschen die Fähigkeit geschenkt, die Gedanken des Schöpfers «nach-zu-denken». Ja, das menschliche Erkennen alles Seienden ist nach Thomas von Aquin nichts anderes als das «Nach-Denken» der Gedanken des Schöpfers. Von daher gilt im Hochmittelalter nicht die Physik, nicht die Wissenschaft von der «physis» der Dinge, sondern die «Meta-Physik», die Wissenschaft von den Gedanken des Schöpfers, die «hinter der physis» der Dinge liegen, als die Königin aller Wissenschaften. (Fs)

18a Diese Harmonie zwischen Gott, Welt und Mensch mußte zerbrechen, sobald die Freiheit Gottes nicht mehr als Selbstbindung des Schöpfers an die Schöpfung und an den Adressaten aller Schöpfung, den Menschen, sondern als «ab-solute» (als «los-gelöste») Freiheit im Sinne unbedingter Allmacht verstanden wurde. Die nominalistischen Denker des ausgehenden Mittelalters verstehen Gott als absolut transzendente Freiheit. Und sie fragen: Kann es nicht sein, daß der Mensch seine eigenen Gedanken in die von ihm wahrgenommenen «Fakten» seiner Umwelt hineinliest, statt die Gedanken des Schöpfers aus ihnen herauszulesen? Für Wilhelm von Ockham steht apriori fest, daß der Schöpfer auf Grund seiner absoluten Freiheit auch eine ganz andere als die von uns wahrgenommene Schöpfung hätte schaffen können, daß man deshalb aus der Schöpfung keine Information über Gott entnehmen kann, daß alles, was wir von Gott zu wissen vorgeben, auf das zu beschränken ist, was er uns positiv über sich selbst mitgeteilt hat. Wenn der Reformator Martin Luther Gott nicht aus der Schöpfung, sondern ausschließlich aus der Schrift («sola scriptura») erkennen will, sagt er eigentlich nur, was er von seinen nominalistischen Lehrern gelernt hat. (Fs) (notabene)

19a Dem Nominalismus gilt als erkennnbar und damit als wahr nur das empirisch Gegebene, das Feld der vielen Einzeldinge. Die Namen, die nomina, durch die der Mensch viele einzelne Dinge unter jeweils einen Begriff zusammenfaßt, sind bloße Konvention und sagen über das Wesen der Dinge nichts und erst recht nichts über die Gedanken des Schöpfergottes. Die Welt erscheint nicht mehr als von Gott geordnet, sondern als ein Chaos von Einzelnem, in das der Mensch selbst durch seine nomina, durch seine Methoden, schließlich durch seine Techniken Ordnung bringen muß. So entspricht dem allmächtigen Willkürgott der Nominalisten der Mensch als «Macher». (Fs)

19b Diese Bezeichnung darf nicht im Sinne autonomer Willkür mißdeutet werden; der Mensch des 15. Jhs. weiß sich durchaus als Gegenüber Gottes. Aber Gott ist der ganz Andere, der uns durch Christus und die Hl. Schrift seinen Willen offenbart hat. Die mit dem Etikett «devotio moderna» versehene Frömmigkeit der beginnenden Neuzeit sieht im Erlöser vornehmlich eine an den Sünder gerichtete «Instruktion» Gottes. Wer Christus sieht, ist zum Tun (zum «Machen») aufgefordert. (Fs)

19c In dem berühmtesten Dokument der Devotio moderna, der fälschlicherweise Thomas von Kempen zugeschriebenen «Imitatio Christi», ist Jesus Christus nicht eigentlich der in diese Welt, in unsere Endlichkeit, in einen konkreten Menschen herabgestiegene Gott, sondern unübertroffenes Beispiel einer Askese, die diese Welt gering achtet und alles daransetzt, wie Jesus aus dieser Welt fort zum transzendenten Vater zu gehen. Da heißt es zum Beispiel1:

I-1,12: «Das ist höchste Weisheit: die Welt gering werten und sich an die himmlischen Bereiche halten.»
I-3,36: «Wahrhaft klug ist, wer , um Christum zu gewinnen (Phil 3,8).»
I-7,1: «Eitel ist, wer seine Hoffnung auf Menschen oder Geschöpfe setzt.»
I-20,4: «Die großen Heiligen mieden möglichst den Umgang mit Menschen, sie zogen den stillen Dienst für Gott vor.»
I-25,1-2: «Sei wachsam und fleißig im Dienste Gottes. Denke oft: wozu bin ich hier? Warum habe ich die Welt verlassen? Sicher doch: um Gott allein zu leben und ein geistlicher Mensch zu werden!»
I-25,26: «Du mußt dich sehr schämen beim Blick auf das Leben Christi. Du willst dich ihm nicht ähnlicher formen, obschon du so lange im Leben Gottes stehst.»
I-25,51: «Du kommst so weit voran, als du dir Gewalt antust.»
II-1,24: «Christus wollte leiden und geschmäht werden, und du wagst dich zu beklagen?»
II-7,9: «Wenn du dich von jedem Geschöpf abzusetzen verstündest, müßte Jesus gern bei dir wohnen.»
11-12,29: «Das ganze Leben Jesu war Kreuz und Martyrium, und du suchst Freude und Frieden für dich?»
III-13,11: «Lerne deinen Willen brechen und dich jedem Gebot beugen.»
III-47,15: «Dich, Herr Jesus, gelüstete nicht nach heiteren Tagen in dieser Zeit, du freutest dich vielmehr, für Gott Drangsal zu dulden. Unter Menschen für nichts zu gelten, hieltest du für den größten Gewinn.»
III-56,16: «Herr Jesus, dein Weg war schmal und von der Welt verachtet, laß mich dir durch Verachtung der Welt folgen.»

21a Obwohl der vierte und letzte Teil der «Nachfolge Christi» von der sakramentalen Verbundenheit des Christen mit Christus in der Eucharistie handelt, dominiert auch dort der Imperativ. Der eucharistische Christus wird vor allem als Stärkung der eigenen Anstrengungen auf dem Weg aus dieser Welt fort in das Leben mit Gott hinein beschrieben. «Bringe dich» - so heißt es da - «mit voller Ergebung und reinem Willen zur Ehre des göttlichen Namens dar!»

Für die vom Nominalismus geprägte Frömmigkeit der Devotio moderna entscheidet sich das Christsein für jeden einzelnen an der Kampflinie «zwischen Diesseits und Jenseits, Sichtbarem und Unsichtbarem, Innen und Außen, Körper und Geist, Welt und Gott»1. Die Kirche ist innerhalb dieses Denkens nur eine von Menschen gemachte Institution, letztlich nur eine Methode, um das durch Jesus verkündete Wort zu tradieren und jedem Menschen den Erlöser als Beispiel des eigenen Tuns vor Augen zu führen. (Fs)
21b Welche Folgen diese weltflüchtige, heilsindividualistische, letztlich anti-inkarnatorische und deshalb auch unkirchliche Frömmigkeit hatte, läßt sich an den großen Gestalten des 16. Jhs. verifizieren, die sich als Kinder ihrer Zeit zu einer anderen Frömmigkeit durchgerungen haben: an Martin Luther ebenso wie an Ignatius von Loyola. (Fs)

22a «Wie finde ich einen gnädigen Gott?», fragt der junge Luther. Heilsangst treibt ihn ins Kloster. Und dort bedeutet ihm das tägliche Meßopfer nicht ein befreiendes Geschenk, sondern Aufforderung, sich selbst ebenso dem Vater zu opfern wie der gekreuzigte Jesus. «Es ist wahr», so bekennt er, «ich bin frommer Mönch gewesen und habe meinen Orden so streng gehalten, daß ich sagen darf: Ist je ein Mönch in den Himmel gekommen durch Möncherei, so wollt ich auch hineingekommen sein. Das werden mir alle meine Klostergesellen, die mich gekannt haben, bezeugen. Denn ich hätte mich, wenn es noch länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.» (WA 38,143). - Es dauert lange, bis Luther die Augen aufgehen, bis er beim Lesen des Römerbriefes erkennt, daß Christus nicht Beispiel, sondern Gnade ist, die wir nicht durch Werke verdienen, sondern «nur» glauben müssen. (Fs) (notabene)

22b Auch bei Ignatius, dem großen Protagonisten der Gegenreformation, finden wir zunächst die Frömmigkeit des Imperativs (des «Machens»). Nach seiner Entscheidung, nicht mehr Offizier seines Fürsten, sondern Soldat Jesu Christi sein zu wollen, zieht er nach Manresa und versucht durch Nachahmung des leidenden Jesus möglichst viele Verdienste aufzuhäufen - gemäß der lutherischen Frage: «Wie finde ich einen gnädigen Gott?». Er fastet, geißelt sich, schläft draußen auf einem Stein, versucht sich die härteste Askese aufzuerlegen und wird doch immer unglücklicher, ja denkt sogar an Selbstmord. Und dann erfährt Ignatius ähnlich wie der Reformator in seinem Wittenberger Turmerlebnis eine totale Wendung. Doch während Gott für Luther auch in der Erfahrung der ihn bedingungslos rechtfertigenden Gnade der ganz Andere bleibt, den ich nur im Sprung des Glaubens aus meiner Sünderhaut heraus erreiche, erfährt Ignatius Gott als den, der herbsteigt in diese Welt, der sich mitteilt, und zwar so, daß wir nicht nur seine Empfänger, sondern Subjekte seiner eigenen Selbstmitteilung sind. Ignatius weiß sich vom Vater dem Fleisch gewordenen, herabgestiegenen, fußwaschenden, eucharistischen Christus «zugesellt» und nennt deshalb seinen später gegründeten Orden die «Gesellschaft Jesu». So wird er zum großen Wiederentdecker der Kirche. Denn für ihn ist sie keine Anstalt zur Belehrung, keine bloße Institution, kein bloßes Instrument, sondern die Stelle, wo er den Christus fühlen kann, der sich mit jedem seiner sogennannten «geringsten» Brüder und Schwestern identifiziert hat. Das ignatiamsche «sentire ecclesiam» wird zu einem Motto der Gegenreformation. Ignatius möchte in seinem berühmten Exerzitienbüchlein allen Menschen zu derselben Erfahrung verhelfen, die ihm die Augen geöffnet hat für den Gott, der nicht äußerlich bleibt, sondern in die Armseligkeit des Sünders herabsteigt, ja sogar seiner bedürfen will. Ignatius will mit seinem Exerzitienbüchlein ausdrücken, daß jeder Mensch mit seinen Begabungen und Grenzen eine einmalige Berufung ist; daß Gott zu jedem einzelnen Menschen durch jedes Detail von Schöpfung und Geschichte spricht; und daß nichts im Leben so wichtig ist wie die Erkenntnis und Annahme dieser Berufung. (Fs) (notabene)

23a Wenn man den Nominalismus als den Beginn der «via moderna» bezeichnet, sind Luther und Ignatius «unmodern» - allerdings nur partiell. Denn Luther verurteilt zwar die Werk- bzw. Macherfrömmigkeit der Devotio moderna, bleibt aber dem Gottesbild der Nominalisten treu. Und Ignatius spricht zwar von dem trinitarischen Gott, der herabsteigt, kann aber nicht verhindern, daß seine Exerzitien weithin mißverstanden wurden - als Aufforderung zu einer die Natur kreuzigenden Askese oder zu «soldatischer Werk-Frömnugkeit». (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Neuzeit: Wende zum Subjekt (Entrückung des Gegenstandes); Nominalismus, Pico della Mirandola, Kopernikus, .F. Bacon, Descartes, Menschen- und Bürgerrechte von 1789; via moderna -> Machbarkeitsdenken -> Nihilismus





Kurzinhalt: Mit der industriellen Revolution und der kapitalistischen Ökonomie des 19. Jhs. gelangt die «via moderna» an ihr Ziel ... Das Subjekt der via moderna, das die ganze Welt zur Funktion seiner selbst, zu etwas Machbarem, erklärt hat, erfährt sich selbst ...

Textausschnitt: b) Die Entrückung des Gegenstandes

24a Vom Nominalismus führt ein direkter Weg zu jenen gewöhnlich als «typisch neuzeitlich» bezeichneten Denkansätzen, die den Menschen als autonom beschreiben, als «maître et possesseur» der Wirklichkeit. Die Übergänge sind fließend. Pico della Mirandola (1463-1494) betont zwar, daß der Mensch auf Grund seiner ihm von Gott geschenkten Freiheit das sein kann, was er sein will; aber er weiß zugleich, daß die geschöpfliche Freiheit sich selbst zerstört, wenn sie die Endlichkeit der Welt nicht transzendiert und sich also auf ihren Ursprung bezieht1. So differenziert man Pico della Mirandola und andere Autoren der Renaissance beurteilen muß, es liegt in deren Freiheitspathos doch eine Tendenz zur Autonomie des Subjekts. Der Weg zum Deismus und zur theoretischen und praktischen Konstituierung der Welt durch das denkende und handelnde Ich kündigt sich an. (Fs)

24b Nachdem Nikolaus Kopernikus 1543 sein Werk mit dem bezeichnenden Titel «De revolutionibus orbium coelestium» veröffentlicht hat, scheint endgültig bewiesen, daß die Ordnung des Universums nicht vorgegeben, sondern Aufgabe des Menschen ist. Der Mensch, der sein Weltbild (die Erde als Mittelpunkt einer kosmischen Ordnung) zerbrechen sieht, erklärt sich selbst zum Mittelpunkt der Ordnung. René Descartes (1596-1650) bezeichnet das allem Zweifel und Schwanken enthobene «ich denke, also bin ich» (cogito - ergo sum) zum unerschütterlichen Fundament, zum archimedischen Punkt, von dem aus das Ich in Selbstgewißheit, Selbstvertrauen und Freiheit die Welt vorstellend und beherrschend rekonstruieren kann. Descartes erklärt das Ich des Menschen als denkende Sache (res cogitans) und stellt dieser alle anderen Sachen (res extensa) als Material zur Selbstentfaltung gegenüber. Auch der eigene Körper gehört zu diesem Feld der verfügbaren Dinge. Denn, so Descartes wörtlich, soviel ist «gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann»2 - eine Position, die der biblischen Anthropologie diametral widerspricht. Das Jahrhundert Descartes' hat sich selbst zum «großen Jahrhundert» der Mathematisierung, Geometrisierung und Mechanisierung der Natur erklärt. Descartes hält das gesamte Universum für eine perfekte Maschine, die nach bestimmten Gesetzen abläuft - nach Gesetzen, die man nur konsequent anwenden muß, um das Ganze und jedes Detail innerhalb des Ganzen zu beherrschen. Indes: Descartes erklärt die Tatsache, daß der Mensch denkend über alles Endliche ausgreifen kann, also die Idee des Unbegrenzten, durch eine aller Reflexion vorausliegende Selbstmitteilung Gottes3. Das heißt: Bei ihm ist der absoluten Selbstherrlichkeit des Subjekts noch eine Schranke gesetzt. Diese fällt jedoch, wo die Gottbezogenheit von Mensch und Natur geleugnet wird, wo die Natur zum reinen Mittel des menschlichen Subjekts erklärt wird. (Fs)

26a In diesem Sinne hatte - schon vor Descartes - Francis Bacon (1561-1626) in England ein mechanistisches Weltbild propagiert. In dessen programmatischer Schrift «De dignitate et augmentis scientiarum» (1623) entspricht der Subjektwerdung des Menschen «die Verdinglichung der Welt, deren integrale Gestalt zerlegt, auseinandergeschnitten oder abgeblendet wird zugunsten von Konstrukten, deren sich der Mensch kraft seiner analysierenden und entwerfenden Vernunft bemächtigen kann»4. Bacon verkehrt die biblische Reihenfolge von Gen 1,26-28 «Gottebenbildlichkeit - Herrschaftsauftrag» in ihr Gegenteil. Bei ihm ist Gottebenbildlichkeit nicht mehr die Bedingung des dominium terrae, der rechten Herrschaft über die Erde, sondern: Aus eigener Kraft, nämlich durch die tätige Unterwerfung der Erde, muß der Mensch sich selbst zum Ebenbild Gottes machen. Anders gesagt: Das dominium terrae wird dem Menschen nicht anvertraut, sondern er muß es durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt erkämpfen. Eine Sache erkennen - so formuliert Thomas Hobbes (1588-1679) - bedeutet wissen, was man mit ihr machen kann, wenn man sie hat - «ein Denkansatz, der nicht nur eine sehr eingeschränkte Erfahrung der Wirklichkeit bedingt, sondern sich auch gegen die ethische Grundfrage, ob denn der Mensch auch machen darf, was er kann, von vornherein immunisiert»5. Dieser Verabsolutierung des Subjekts entspricht die Gleichsetzung der Freiheit mit Autonomie und Selbstbestimmung6, wie sie in Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zum Ausdruck kommt: «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern; diese Grenzen kann allein das Gesetz festlegen.»7 So wird das Recht des Individuums nur durch die Interessen des anderen Individuums, nicht aber durch eine «an und für sich» bestehende Rechtsordnung begrenzt. (Fs) (notabene)

Mit der industriellen Revolution und der kapitalistischen Ökonomie des 19. Jhs. gelangt die «via moderna» an ihr Ziel. Das kann niemand so deutlich demonstrieren wie der schärfste Kritiker des Kapitalismus, nämlich Karl Marx. Indem Marx die Hegelsche Philosophie, wie er selbst sagt, vom Kopf auf die Füße stellt, sieht er den Menschen nicht durch den Besitz der Vernunft oder durch die Erfahrung von Schönheit oder gar durch die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse bestimmt, sondern durch die Fähigkeit zur zweckgerichteten Produktion. Für ihn sind Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst nur besondere Weisen der Produktion. Denn - so seine Begründung - weil das Bewußtsein und seine Inhalte keine eigenständige Wirklichkeit besitzen, weil sie nur der Überbau bestimmter Produktionsverhältnisse sind, ist jede Aussage über Wesen und Sinn der Versuch, bestimmte Verhältnisse theoretisch zu rechtfertigen. Marx bezeichnet die erst noch zu produzierende Welt der klassenlosen Gesellschaft als «wissenschaftlich» im Unterschied zur ideologisch (durch Metaphysik und Theologie) verbrämten Welt der herrschenden Klassen. Er, der den Menschen von der Entfremdung des ausbeuterischen Kapitalismus befreien wollte, erklärt den Menschen als Abbild der Produktionsverhältnisse und bleibt so bei all seiner Kritik an der Unterdrückung von Natur und Mensch durch eine Welt des Machen- und Habenwollens Gefangener einer Philosophie, die Wahrheit mit Machen gleichsetzt. Indem Marx in seiner berühmten zweiten These zu Feuerbach bemerkt: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.», ist er ein getreuer Sohn der skizzierten «via moderna». (Fs)

28a Wenn die Welt nur noch das Viele ist, das der Mensch ordnen und zu etwas Sinnvollem - und das heißt dann: für ihn selbst Zweckhaftem - machen muß, und wenn Gott apriori als nicht existent betrachtet wird, dann ist nichts mehr «an und für sich» sinnvoll, sondern nur noch relativ auf den einzelnen Menschen oder relativ auf eine Mehrzahl von Menschen, die sich, wie Wittgenstein mit seiner Sprachspieltheorie sagt, über etwas verständigen. Nichts (nihil -> Nihilismus), auch der Mensch nicht, ist an und für sich etwas, sondern er ist nur das, was er für andere zum Beispiel auf Grund seiner Funktionen oder Leistungen bedeutet. Funktionen und Leistungen aber sind immer austauschbar und ersetzbar. Wenn alles machbar ist, gibt es nichts Unbedingtes mehr. Das Machbarkeitsdenken mündet in den Nihilismus Nietzsches, und Nietzsche gilt zu Recht als Vater des postmodernen Relativismus. (Fs) (notabene)

29a Das Subjekt der via moderna, das die ganze Welt zur Funktion seiner selbst, zu etwas Machbarem, erklärt hat, erfährt sich selbst als machbare, als austauschbare Funktion. Und das auf sehr konkrete Weise: Der Mensch, der alles machen kann, wird selbst machbar im Reagenzglas des Gentechnikers und in den Experimenten von Psychologen und Soziologen1. Nicht nur in den Wohnsilos der Großstädte haben Menschen das Gefühl: «Ob es mich gibt oder nicht gibt, ist gleichgültig; nicht einmal der Nachbar kennt meinen Namen; und für die Gesellschaft bin ich eine Ziffer im Computer, ein Objekt der Karteien und Statistiken». (Fs) (notabene)

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Fußnote zu oben:
14 «Denn gerade indem das autonome, sich selbst bestimmende Subjekt, alles andere als obiectum für sich proklamiert und konstituiert, schlägt diese objektivierte Wirklichkeit auf das Subjekt zurück. Dies geschieht einmal dadurch, daß das Subjekt sich freiwillig darin gefällt, auch sich selbst zu objektivieren (Stichwort: Psychoanalyse, aber auch der neuzeitliche , alle moralische Verantwortung von sich weg , die Gesellschaft, -----

30a Die Anonymität reicht bis zur anonymen Urnenbestattung. Und selbst in den Institutionen, die sich dem einzelnen zuwenden wollen, wird der Mensch immer häufiger zum Objekt einer perfekten Organisation, zum bloßen Fall einer Regel oder Ausnahme. Entwicklungstheoretiker brandmarken jede zweite Neugeburt als besser vermiedenen Beitrag zur Bevölkerungsexplosion. Hunderttausende von Kindern werden wie ein jederzeit ersetzbares «Eigenprodukt» ihrer Eltern abgetrieben. In aller Offenheit wird über Euthanasie diskutiert. Der einzelne wird nach seinem Nutzwert taxiert. Millionen erfahren ihre Ersetzbarkeit am Arbeitsplatz. Sie werden buchstäblich von Maschinen ersetzt. Und es fragt sich, wieviele von ihnen wissen, daß sie viel mehr und etwas ganz anderes als ihr Job und ihre Leistung sind. Das Tauschdenken geht bis zum Ersatz der echten Mutter durch eine bezahlte Leihmutter. (Fs)

30b Vor dem Hintergrund dieser Beispiele wird deutlich, warum eine Kirche, die von einem einzelnen Menschen, nämlich von Jesus, sagt, daß er nicht nur ein Sinn, nicht nur eine Wahrheit, nicht nur exemplum, sondern der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, dem Zeitgeist der zur Vollendung gelangten Moderne diametral widerspricht. Wo, so fragt der Münchener Psychoanalytiker Albert Görres1, ist in diesem Denken Platz für eine Kirche, die in jedem Menschen das Einmalige sieht: in Gerechten und Ungerechten, in Sympathen und Umsympathen, in Gescheiten und Dummen, in Helden und Feiglingen, in Großherzigen und Kleinlichen, auch in Neurotikern, Psychopathen, Sonderlingen, Heuchlern, in zwanghaften Legalisten, hysterisch Verwahrlosten, Infantilen, Süchtigen, Perversen, herzlosen Bürokraten und Fanatikern ebenso wie in der Minderheit von gesunden, ausgeglichenen, reifen, seelisch und geistig begabten, liebesfähigen Menschen. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Neuzeit: Wende zum Subjekt (Verneinung alles Unbedingten) Fritjof Capra, New Age, Enomiya-Lassalle: Aufhebung des einzelnen in das Ganze; Devotio postmoderna




Kurzinhalt: Wenn ich das Universum im Fragment bin, dann bin nicht ich es, der denkt und handelt, sondern das Universum handelt und denkt durch mich ... Das Subjekt, das sich alles unterwerfen wollte, will sich nun in «das Ganze» aufheben.


Textausschnitt: c) Die Verneinung alles Unbedingten


31a Auch wenn man in der Regel mit dem Begriff «Postmoderne» nicht die mit dem Etikett «New Age» versehenen Versuche benennt, eine Antwort auf die via moderna zu finden, möchte ich mich denen anschließen, die mit dem Attribut «postmodern» nicht nur die Verabschiedung jeder Sinnsuche, den totalen Relativismus und Funktionalismus radikaler Pluralität, sondern auch die Beantwortung dieses Phänomens durch alle möglichen Ansätze der Verneinung des Subjekts bezeichnen. Denn das Subjekt, das alles machen zu können meinte (via moderna), erfährt sich nicht nur als gänzlich relativ, als austauschbar und ersetzbar, sondern es möchte sich selbst auflösen; es möchte zurück «in die Unschuld des Anfangs». (Fs) (notabene)

31b Fritjof Capra, der den Begriff «New Age» maßgeblich geprägt hat, sieht die Gegenwart bestimmt von einem objektivierenden und instrumentalisierenden Umgehen des Menschen mit der Wirklichkeit. Und deshalb fordert er die Umkehr der neuzeitlichen Wende zum Subjekt. Der Mensch ist, so sagt er, nicht das transzendentale Subjekt im Sinne Kants und schon gar nicht der von Bacon beschriebene Herr der Natur; er darf sich nicht objektivierend, analysierend und experimentierend zu seiner Umwelt verhalten, sondern er muß existentiell verinnerlichen, was die moderne Physik neu entdeckt hat: die «integrierte Ganzheit». Capra wörtlich: «Im Gegensatz zur mechanistischen kartesianischen Weltanschauung kann man die aus der modernen Physik hervorgehende Weltanschauung mit Worten wie organisch, ganzheitlich und ökologisch charakterisieren. Man könnte sie auch ein Systembild nennen, im Sinne der allgemeinen Systemtheorie. Das Universum wird nicht mehr als Maschine betrachtet, die aus einer Vielzahl von Objekten besteht, sondern muß als ein unteilbares, dynamisches Ganzes beschrieben werden, dessen Teile auf ganz wesentliche Weise in Wechselbeziehung stehen und nur als Strukturen eines Vorganges von kosmischen Dimensionen verstanden werden können.»1 Die Erkenntnis der Physik, daß die kleinsten Teilchen der Materie nicht objektiviert, nicht definiert oder lokalisiert, sondern nur als Beziehungen beschrieben werden können, veranlaßt Capra zu einer «neuen Weltanschauung», die alles mit allem so vernetzt, daß jedes Teilchen aus allen anderen Teilchen besteht. In einem seiner Hauptwerke mit dem bezeichnenden Titel «Das Tao der Physik» beschreibt er die große Übereinstimmung zwischen der chinesischen Weisheitslehre des Tao und der modernen Physik. Capra führt seine neue Sicht alles Seienden auf ein Schlüssel- bzw. Bekehrungserlebnis zurück: «Ich förmlich» - so berichtet er - «wie sich aus dem Weltenraum Kaskaden von Energie ergossen, in denen in einem rhythmischen Impuls Teilchen erzeugt und zerstört wurden. Ich , wie sich die Atome der Elemente und jene meines Körpers an diesem kosmischen Tanz der Energien beteiligten; ich fühlte dessen Rhythmus, und ich dessen Klang, und in diesem Augenblick wußte ich, daß dies der Tanz Shivas war»2. (Fs)

33a Der Jesuit Hugo M. Enomiya-Lassalle, «der sich in neueren Veröffentlichungen offensichtlich dem New-Age-Weltbild sehr angenähert hat»3, plädiert in seinem Buch mit dem Titel «Am Morgen einer besseren Welt» (Freiburg 1984) für eine Rückkehr aus dem «mentalen» ins «archaische Bewußtsein». Und darunter versteht er nichts anderes als die Aufhebung des eigenen Ich in das allumfassende Ganze einer als heilig bezeichneten Natur. Der einzelne muß sich, so fordert Enomiya-Lassalle, immer intensiver als das Ganze im Fragment verstehen. Entsprechend verweist Eugen Drewermann auf die Archetypenlehre C. G. Jungs; denn in ihr geht es um die Ausschaltung des verfügenden Ich zugunsten des kollektiven Unbewußten, das den einzelnen mit dem Ganzen von Welt und Natur verbindet. (Fs) (notabene)

33b In einer Welt, die Habermas mit dem Buchtitel «Neue Unübersichtlichkeit» gekennzeichnet hat, ist die Versuchung groß, die eigene Verantwortung an ein übergreifendes Ganzes abzutreten, das alles umfaßt, aber von keiner Vernunft kritisch befragt wird. Das Bewußtsein, daß alles mit allem «vernetzt» ist, hat sich zwar auf vielen Feldern wie z. B. im Umgang mit der Natur als segensreich erwiesen; aber eine undifferenzierte Einbeziehung der menschlichen Subjektivität in das von Capra beschriebene Paradigma der Vernetzung verunmöglicht die Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft und führt in letzter Konsequenz zur Verleugnung der Einmaligkeit (Freiheit; Personalität) des einzelnen. Wenn ich das Universum im Fragment bin, dann bin nicht ich es, der denkt und handelt, sondern das Universum handelt und denkt durch mich. Wenn auch der Mensch nur als Phänomen jenes Ganzen betrachtet wird, das alles mit allem verbindet, dann entsteht die Gefahr der Entmündigung und Manipulation, dann steht die unantastbare Würde des einzelnen Menschen in Frage. (Fs)

34a In Mitteleuropa haben Organisationen Zulauf, die zumeist in kleinen Gruppen die Aufhebung des einzelnen in das Ganze trainieren1. Ich zitiere folgende Berichte und Kommentare über eine große Veranstaltung aus dem Jahre 1987, die an verschiedenen Orten unter dem Titel «Harmonische Konvergenz» stattfand:

«Zum 16./17. August 1987 hatten eine Reihe von Einzelpersonen und Gruppen im New Age-Netzwerk zu einem geomantischen Fest zur Heilung und Befriedigung der Erde aufgerufen. Weltweit sollten sich Menschen an bestimmten , an , auf heiligen Bergen und an den Kultzentren alter Kulturen zusammenfinden zur . [...] Indem die ersten Abgesandten bei Einbruch der Morgendämmerung der Feuer-Licht-Zeremonie folgen, legen sie ihre Körper in Kreisformation an Schlüsselpunkten des Planeten nieder, die Köpfe auf das Feuer gerichtet, die Füße nach außen gekehrt, rücklings gen Himmel blickend. Die neue Welt dämmert. Planetische Harmonisierung hat sich erfüllt. [...] In Peru sollen sich zur gleichen Zeit 14 auserwählte Menschen mit einem außerirdischen getroffen und von ihm einen bestimmten Ton empfangen haben. Durch Abstimmen dieses Tones während eines Rituals wird die atomare Struktur bzw. Schwingungsfrequenz dieses Kristalls in der Erdmitte so erhöht, daß die latente Energie dieses Kristalls freigesetzt wird. Die Energie, die dadurch - seit dem 16.8. - im Erdinnern frei wird, strahlt radial zur Erdoberfläche, und das bewirkt die Reinigung der Erde.»2

35a Das Subjekt, das sich alles unterwerfen wollte, will sich nun in «das Ganze» aufheben. Eine neue «Frömmigkeit» macht sich breit, die ich als «Devotio postmoderna» bezeichnen möchte. Sie sucht das Unbedingte weder im Menschen, noch in Gott; und erst recht nicht in einem geschichtlichen Ereignis (in Jesus Christus). Die von Fritjof Capra immer wieder bemühte Relativitätstheorie weist schon mit ihrem Namen darauf hin, daß Relativität die Kategorie ist, die das postmoderne Denken und Fühlen insgesamt beherrscht. Entsprechend sieht der Biochemiker Rupert Sheldrake «die morphogenetischen Felder aller Organismen durch morphische Resonanz miteinander verbunden». Für Capra und Sheldrake ist alles mit allem verbunden; und der einzelne Mensch ist in dem Maße «richtig», als er seine Verbundenheit mit dem Ganzen existentiell einholt. (Fs)

Auch wenn die zitierten Beispiele extrem erscheinen, signalisieren sie doch eine Tendenz, die dem Selbstverständnis des Christen und den zentralen Inhalten des Evangeliums entgegensteht. Die Kirche bekennt, wie gesagt, von einem einzelnen Menschen, daß er nicht nur ein Beispiel erlösten Daseins, sondern der Weg, die Wahrheit und das Leben für alle Menschen aller Zeiten ist; und daß jeder Christ und jede Christin berufen ist, durch, mit und in Jesus Christus eine je einmalige Sendung zu sein bzw. zu erfüllen. Wenn die Kirche ein Kind tauft, dann nicht, weil es andernfalls nicht selig werden könnte, sondern weil es eine einmalige Berufung durch, mit und in Christus ist und diese Berufung in seinem Leben entfalten soll. Analog empfangen Christen das Altarssakrament nicht, weil sie andernfalls keine Gemeinschaft mit Christus haben könnten, sondern um Christus auf je einmalige Weise sichtbar machen zu können. (Fs)

36a Die christliche Anthropologie basiert auf der Anerkennung des einzelnen; auf der auch phänomenologisch aufweisbaren Tatsache, daß die Person des Anderen durch keine Wissenschaft, durch keine Biologie und Medizin, durch keine Psychologie und Soziologie, sondern nur durch Anerkennung ihrer unbedingten Einmaligkeit bzw. Freiheit «erfaßt» wird. Weil der andere unbedingt «der Andere» ist, kann man sein Eigentlichstes, nämlich seine Liebe, nicht begreifen und nicht erzwingen, sondern nur als Geschenk seiner Freiheit (seiner Einmaligkeit) erfahren. Aus dem schmerzlichen Scheitern des alles begreifen und machen wollenden «homo modernus» zieht das Christentum nicht die «postmoderne» Konsequenz der Relativierung des Subjekts, sondern ganz im Gegenteil die Konsequenz einer unbedingten Anerkennung seiner Einmaligkeit - allerdings einer Einmaligkeit, die niemand selbst leisten kann, sondern im gleichzeitigen Empfangen und Geben liebender Anerkennung als Geschenk erfährt. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Moderne Kunst - als Indikator d. Subjektivismus; Übergang: Mythos -> Logos; Unterschied d. Kunst: Antike - Mittelalter (Wert d. Vielen); das Göttliche im Geschöpflichen (Gedanke Gottes); Ikonenmalerei


Kurzinhalt: Dem Künstler des christlichen Mittelalters geht es anders als dem der griechischen Antike nicht um die Erreichung eines an unbedingter Einheit orientierten Ideals, sondern um die Entdeckung des göttlichen Gedankens oder Willens in jedem Geschöpf.

Textausschnitt: 37a Da die Kunst nicht weniger als die Philosophie Indikator des Zeitgeistes ist, soll in einem Exkurs gezeigt werden, daß die moderne Malerei alle Schritte der skizzierten Entwicklung widerspiegelt. Dabei sei im voraus eingeräumt, daß der im folgenden eruierte Zusammenhang die Kunst aus der Perspektive des Philosophen betrachtet und in diesem Sinne einseitig bleibt. (Fs)

a) Die moderne Malerei als Spiegel der philosophischen via moderna

37b Jedwede Kunst beruht auf der Unterscheidung, die den Übergang vom Mythos zum Logos kennzeichnet. In der vom Mythos bestimmten Welt ist alles einschließlich des Menschen mit all seinem Denken, Handeln und Planen Phänomen des Göttlichen. Das Göttliche wird nicht dargestellt oder abgebildet, sondern es erscheint in jedweder Gestalt von Welt und Geschichte. Erst wo der Mensch zu fragen beginnt1, was der Vielzahl der Götter und ihrer Phänomene als das Verbindende zugrundeliegt, kommt es zur Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Wirklichkeit, zwischen Urbild und Abbild, zwischen Mythos und Logos. Die griechische Philosophie gründet in dem Primat der Einheit vor der Vielheit; und die Einheit ist der Logos bzw. das Gedachte (Ideelle), während die Vielheit das Materielle, das Vordergründige, Vorübergehende, Nichtige und also nur scheinbar Wirkliche ist. Das, was z. B. allen einzelnen Steinen als das Bleibende zugrundeliegt, ist die Idee «Stein». Der Logos ist das eigentlich Wirkliche und als solches «das Eine», das als «Weltseele»2 in allem Vielen erscheint - auch im einzelnen Menschen, in ihm aber so, daß er sich - seiner selbst bewußt - auf das Eine beziehen kann. Er kann sich selber im ethischen Sinne immer vollkommener zum Abbild des Logos (des Einen) machen; und er kann alle Dinge auf den Logos (auf das Eine) beziehen. Letzteres geschieht auch durch die Kunst. Eine antike Statue ist kein Porträt, sondern der Versuch, das vom Logos vorgegebene Ideal des Menschen darzustellen; je vollkommener dies gelingt, desto schöner ist das Kunstwerk. Der antike Künstler ist sich zwar bewußt, daß das von ihm erstellte Abbild nicht identisch ist mit dem Göttlichen, geht aber davon aus, daß er selbst und alles Viele nichts anderes ist als Beziehung zum Göttlichen, zum Logos, zum Einen. (Fs) (notabene)

38a Die Welt der griechischen Philosophie von den Vorsokratikern bis zu Plotin bleibt dem mythischen Weltbild verhaftet, weil auch in ihr alles, was ist, göttlich ist. Es wird zwar unterschieden zwischen der Einheit, die göttlich ist, und dem Vielen, das nicht göttlich ist; aber das Viele ist «an und für sich» nichts; es «ist» nur, indem es vom Einen her gedacht wird; es «ist» nur als Teilhabe am Logos bzw. Einen. Das Viele ist Abbild des Einen und deshalb in eben dem Maße wirklich, als es das Urbild abbildet. (Fs)

39a Erst auf der Basis des jüdisch-christlichen Schöpfungsgedankens ist das Viele nicht mehr das Nichtige. Der Schöpfer ist zwar der Grund aller Geschöpfe; dies aber nicht im Sinne des Aristoteles als Anfang einer Ursachenkette, sondern als die Liebe, die allmächtig ist, weil sie nicht abhängig, sondern frei macht. Weil der trinitarische Gott in sich selbst die unbedingte Anerkennung des Anderen als des anderen (keine monolithische Einheit, sondern Vater und Sohn und Geist, also nicht Einheit trotz Vielheit, sondern Einheit als Vielheit) ist, ist die Vielheit der Geschöpfe eine von Gott gewollte Vielheit. Die christliche Philosophie des Mittelalters relativiert die Phänomene der sinnlich wahrgenommenen Realität nicht auf eine gedachte Einheit hin, sondern eruiert in jedem Geschöpf das, was sich der Schöpfer gedacht hat, als er die Dinge schuf. Entsprechend läßt sich die Kunst des Mittelalters als Darstellung der Gedanken des Schöpfer- und Erlösergottes definieren. Die Kathedrale von Chartres z. B. sieht in jedem Tier eine Anrede des Schöpfers an den Menschen, einen Mosaikstein der von Gott geschaffenen und vom Menschen zu hütenden Ordnung. Dem Künstler des christlichen Mittelalters geht es anders als dem der griechischen Antike nicht um die Erreichung eines an unbedingter Einheit orientierten Ideals, sondern um die Entdeckung des göttlichen Gedankens oder Willens in jedem Geschöpf. Daß in diesem Horizont das Werk des Künstlers auch als quasi-reale Erscheinung des Abgebildeten verstanden werden kann, beweisen die Ikonen und Gnadenbilder, die zum Teil bis heute als wundertätig verehrt werden. Dennoch steht hinter der Ikonenmalerei nicht die mythische Vorstellung vom Erscheinen des Göttlichen im Endlichen, sondern die Auffassung, daß der Künstler das Göttliche im Geschöpflichen ebenso zum Ausdruck bringen kann wie der Philosoph hinter der «Physis» das «Meta-Physische» eruiert. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Moderne Kunst - als Indikator d. Subjektivismus 2; Nominalismus -> gothische Kathedrale - Perspektive (Malerei); Renaissancekunst; Barock

Kurzinhalt: Der Standpunkt des Künstlers hat sich umgekehrt: Nicht mehr Gott und seine Offenbarung ist das Erste, sondern der Mensch und seine Perspektive.

Textausschnitt: 40a Die nominalistische Frage, ob der Mensch nicht seine eigenen Gedanken in die Dinge hineinliest statt Gottes Gedanken aus ihnen heraus, führt zur Trennung der Schöpfung von ihrem Schöpfer. Das Spätmittelalter beschreibt Gott als die absolute Freiheit, die sich durch die Fakten der biblischen Heilsgeschichte zwar so und nicht anders geäußert hat, die aber auch eine ganz andere als die bestehende Welt hätte schaffen können. Unter dieser Voraussetzung ist die Schöpfung ein Chaos von Fakten, auf das der Mensch in doppelter Weise reagieren kann: indem er sich weltflüchtig ausstreckt nach dem ganz anderen (transzendenten) Gott; oder indem er das besagte Chaos ordnet. Die gotischen Kathedralen greifen geradezu nach der Transzendenz; und ihre Fenster erzählen, was Gott in Wort und Tat de facto mitgeteilt hat. Zugleich entsteht die perspektivische Malerei; der Mensch ordnet das Vielerlei der von ihm wahrgenommenen Phänomene durch die eigene Perspektive. Somit ist die Ordnung der Dinge nicht mehr eine von Gott vorgegebene, sondern eine vom Menschen erstellte. Der Standpunkt des Künstlers hat sich umgekehrt: Nicht mehr Gott und seine Offenbarung ist das Erste, sondern der Mensch und seine Perspektive. Es geht um seine Beziehung zu dem transzendenten Gott, um seine Belehrung und um eine Ordnung, die ihm dient. (Fs)

40b Entsprechend steht im Mittelpunkt der Renaissancekunst der Mensch, der sich als Herr der Schöpfung versteht. Und im Barock bestätigt sich die vom Nominalismus eingeleitete "Wende von der Theo- zur Anthropozentrik in den Welt- und Himmelsbühnen, die nicht nur die empirisch wahrnehmbare, sondern ebenso die geglaubte Wirklichkeit zu einer alles und jeden umfassenden Ordnung gestalten. Der Mensch der Barockzeit fühlt sich in die von ihm selbst entworfene Ordnung einbezogen; von dem Hiatus, den Descartes mit seiner Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa aufreißt, ist noch keine Rede; aber der Versuch, die Welt nicht nur zu ordnen, sondern auch zu machen, kündigt sich an. Wie Kant die Erreichung des «Dings an sich» für unmöglich und alle Wahrheit zum Produkt des erkennenden Individuums erklärt, so erfährt die Kunst des 19. Jhs. eine Revolution, indem sie sich in die Grenzen des wahrnehmenden Subjekts zurückzieht. (Fs) (notabene)


41a Vor dem Hintergrund dieser Revolution soll die moderne Malerei nicht chronologisch geschildert, sondern als komparativischer Weg in die Subjektivität des Subjekts beschrieben werden. Dabei unterscheide ich vier Stilrichtungen: den ästhetischen Subjektivismus der Wahrnehmung (Impressionismus und Suprematismus), den rationalen Subjektivismus des Verstandes (Kubismus und Konstruktivismus), den intuitiven Subjektivismus des Unbewußten (Surrealismus und Automatismus) und den expressionistischen Subjektivismus des Willens (Expressionismus und Abstrakter Expressionismus). (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Malerei; Subjektivismus der Wahrnehmung: Impressionismus und Suprematismus (Überwindung d. Spaltung: Subjekt - Objekt); Seurat, Malewitsch



Kurzinhalt: Malewitsch fordert mit seiner Kunst die Überwindung des Grabens zwischen Subjekt und Objekt. Er sehnt sich nach dem, was oben als «Sinn an sich» ... Er will dem Subjekt das Objekt verbieten.

Textausschnitt: aa Der Subjektivismus der Wahrnehmung: Impressionismus und Suprematismus

42a Die Impressionisten versuchen den Eindruck des wahrnehmenden Subjektes ins Bild zu bannen. Sie wollen nicht das An-und-für-sich einer Landschaft oder eines Menschen wiedergeben, sondern einen momentanen Eindruck. Die sogenannten Pointillisten Paul Signac (1863-1935) und Georges Seurat (1860-1891) haben selbst beschrieben, wie sie zu einer bestimmten Maltechnik gelangten, die es ihnen erlaubte, z. B. eine Landschaft so zu malen, wie sie dem Betrachter in einem bestimmten Augenblick erscheint, und nicht, wie sie «an sich» ist1. Der impressionistisch malende Künstler deckt den Gegenstand seines Bildes so ähnlich mit den Kategorien der eigenen Subjektivität zu wie Kant das «Ding an sich» mit den Anschauungsformen und Kategorien des wahrnehmenden Individuums. (Fs)

42b Das Objekt soll in die Empfindung und Anschauung des Subjekts aufgehoben werden. Dieses Ziel verfolgt mit aller Konsequenz eine Kunstrichtung, die zwar oft als Steigerung des Kubismus dargestellt wird, in Wahrheit aber wohl eher der Komparativ des Impressionismus ist: der Suprematismus. Während die Impressionisten sich im Kantschen Sinne immer noch auf etwas Objektives (auf das «Ding an sich») beziehen, wollen die Suprematisten das Objekt zum Verschwinden bringen (supremare = unterdrücken). Der russische Maler Kasimir Malewitsch (1878-1935), einer der Repräsentanten des Suprematismus, hat in seiner kunsttheoretischen Abhandlung mit dem Titel «Suprematismus - Die gegenstandslose Welt» sein Ziel beschrieben, eine Kunst zu überwinden, die wie die zeitgenössische Wissenschaft und Technik alles zum Gegenstand macht und damit der Natur entfremdet. Mit dem Begriff «Natur» bezeichnet Malewitsch eine Welt, in der im mythischen Sinn alles Phänomen einer gegenstandslosen Einheit ist. «Der Mensch aber, gleichsam losgetrennt von der Ganzheit der Natur, will [...] in sie eindringen, indem er sie zu erkennen versucht. Aus den gewonnenen Erkenntnissen erfindet er Mittel, mit deren Hilfe er die Natur zu überwinden hofft. Und hierin liegt seine Täuschung, denn es ist nichts da, was überwunden werden könnte. Man kann sich nur anpassen, um in der Natur aufzugehen. In diesem Sinne ist [...] jede gegenständliche Darstellung als Folge der verfälschten Begriffe und der Vorstellung von Überwindung und Vergewaltigung zu betrachten.»2 Malewitsch fordert mit seiner Kunst die Überwindung des Grabens zwischen Subjekt und Objekt. Er sehnt sich nach dem, was oben als «Sinn an sich» oder als «das Unbedingte» beschrieben wurde. Aber er versucht die Realisierung dieser Sehnsucht durch Verdrängung. Er will dem Subjekt das Objekt verbieten. Und er tut dies konkret, indem er schwarze Quadrate auf weißem Grund malt - Quadrate, die den Betrachter zu einer Spontaneität führen sollen, die alles formende, unterscheidende und begreifende Interpretieren vermeidet. (Fs) (notabene)

43a Im Kubismus erkennt Malewitsch einen ersten Schritt in die richtige Richtung, weil kubistische Bilder ihren Gegenstand zerlegen und damit ein Stück weit zerstören bzw. «supremieren»3. Aber man kann den Kubismus auch ganz anders als Malewitsch verstehen. Denn im allgemeinen sieht die Kunstgeschichtsschreibung im Kubismus nicht den ersten Schritt zur Supremierung des Gegenstandes, sondern ganz im Gegenteil den Versuch, das Nicht-Ich durch das Ich zu bewältigen. Ich schließe mich dieser Sichtweise an, indem ich den Kubismus als erste Stufe und den Konstruktivismus als zweite Stufe einer Subjektivität rationaler Operation kennzeichne. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Der Subjektivismus des Verstandes: Kubismus (analytisch, synthetisch) und Konstruktivismus (Hegel); Gris, Braque, Picasso; Cézanne; Mondrian, van Doesburg



Kurzinhalt: Die Konstruktivisten propagieren eine durch exakte Mathematik erzielte Aufhebung alles Individuellen in das Universelle. Der Konstruktivismus kann mit dem hegelianischen Ziel der Aufhebung aller Gegensätze verglichen werden; er hat etwas Verzweifeltes ...

Textausschnitt: ab Der Subjektivismus des Verstandes: Kubismus und Konstruktivismus

44a Der kubistische begnügt sich im Unterschied zum impressionistischen Künstler nicht mit der von Kant inspirierten Feststellung, daß das wahrnehmende Subjekt das «Ding an sich» erst zum Gegenstand macht; sondern er möchte sichtbar machen, was das wahrnehmende Subjekt zur Konstituierung eines Gegenstandes beiträgt. Nicht also um den Gegenstand zu supremieren (wie Malewitsch irrtümlich meinte), sondern um all das sichtbar zu machen, was das wahrnehmende Subjekt mitdenkt, wenn es etwas als Gegenstand identifiziert, zerlegt der kubistische Maler sein Bild in «Kuben» bzw. Formen, aus denen der Betrachter den Gegenstand durch Realisierung derselben Logik zusammensetzen muß, mit der ihn der Künstler zerlegt hat. Weil jedes kubistische Kunstwerk seine Mathematik hat, wird der Kubismus auch als «art conceptuel» definiert. Juan Gris (1887-1927), der sich mit Georges Braque (1882-1963) und Pablo Picasso (1881-1973) als Vertreter des synthetischen im Unterschied zum bloß analytischen Kubismus des späten Paul Cézanne (1839-1906) versteht1, sagt über seine Maltechnik: «Ich versuche das, was abstrakt ist, zu konkretisieren; ich entwickle aus dem Allgemeinen das Besondere; d. h. ich gehe aus von etwas Abstraktem, um von da aus das Reale zu erreichen. [...] Cézanne macht aus einer Flasche einen Zylinder; ich dagegen gehe vom Zylinder aus, um etwas ganz Bestimmtes zu schaffen, aus einem Zylinder eine Flasche, eine ganz bestimmte Flasche.»2 Ähnlich bemerkt Albert Gleizes (1881-1953) über seinen Kubismus, daß er von den allgemeinen Elementen der Geometrie ausgehe, um von daher die einzelne Gestalt als Konkretisation eines Allgemeinen darzustellen3. Dieses Allgemeine entspricht den synthetischen Urteilen apriori in Kants Erkenntnislehre. Der einzelne Gegenstand verdankt sich der Konstruktion durch das darstellende Bewußtsein. Der Verstand greift mittels seiner Anschauungsformen und Kategorien über alle endlichen Gestalten hinaus, kann aber niemals den Zusammenhang alles Einzelnen, sondern immer nur eine konkrete Gestalt des Allgemeinen erfassen. Insofern spiegelt auch die kubistische Malerei den besagten Hiatus zwischen dem, was dem einzelnen Subjekt zugänglich ist (»Sinn für mich»), und dem, was alles Konkrete nicht nur übersteigt, sondern auch verbindet (»Sinn an sich»). (Fs)

Kommentar (14.03.10): Zu oben: "Dieses Allgemeine entspricht den synthetischen Urteilen apriori in Kants Erkenntnislehre." Das Allgemeines oben entspricht den Kantischen Anschauungsformen und Kategorien; dem synthetischen Urteil a priori entspräche das Konkrete.

46a Weil der Gegenstand des kubistischen Malers ein Konstrukt ist, versteht sich von selbst, daß der vor allem von den Niederländern Theo van Doesburg (1883-1931) und Piet Mondrian (1872-1944) repräsentierte Konstruktivismus als Komparativ des Kubismus zu verstehen ist. Die Konstruktivisten wollen das, was die Kubisten in Analogie zu den transzendentalen Anschauungsformen und Kategorien der Kantschen Erkenntnislehre das Allgemeine nennen, nicht länger in der Konkretion bestimmter Gegenstände darstellen. Sie lassen eine gewisse Affinität zum Suprematismus erkennen. Doch während Kasimir Malewitsch in reiner Passivität bzw. Rezeptivität den Weg zum Verzicht des Subjekts auf jede Vergegenständlichung der Natur sieht, wollen die Konstruktivisten dasselbe Ziel (Gegenstandslosigkeit) durch eine Art Mathematik erreichen, durch die unbedingte Ausbalancierung der Gegensätze von vertikal und horizontal, breit und schmal, groß und klein4. In bezug auf die Architektur seiner Zeit bemerkt Mondrian: Man sieht, wie sie «sich läutert und vereinfacht, aber nur selten, daß sie den plastischen Ausdruck des Abstrakten verwirklicht. Als unmittelbare Erscheinung des Universellen macht die abstrakte Gestaltung das Individuelle unwirksam»5. Die Konstruktivisten propagieren eine durch exakte Mathematik erzielte Aufhebung alles Individuellen in das Universelle. Der Konstruktivismus kann mit dem hegelianischen Ziel der Aufhebung aller Gegensätze verglichen werden; er hat etwas Verzweifeltes an sich, weil er durch das Subjekt die Grenzen der Subjektivität sprengen will, weil er den «Sinn an sich» machen bzw. konstruieren will. (Fs)
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Fußnote zu oben 4:
«Der große Fortschritt des exakt gestalteten Kunstwerks besteht darin, daß das ästhetische Gleichgewicht durch reine Kunstmittel und durch nichts anderes erreicht wird. Im exakt gestalteten Kunstwerk kommt die Gestaltungsidee zu einem unmittelbaren realen Ausdruck durch ständige Aufhebung der Ausdrucksmittel: so wird horizontale Lage durch vertikalen Stand aufgehoben, ebenso das Maß (groß durch klein) und die Proportion (breit durch schmal). Eine Fläche wird aufgehoben durch eine sie begrenzende oder eine zu ihr in Beziehung stehende Fläche usw., dasselbe gilt für die Farbe: eine Farbe wird durch eine andere (z. B. Gelb durch Blau, Weiß durch Schwarz) aufgehoben, eine Farbgruppe durch eine andere Farbgruppe und alle Farbflächen werden aufgehoben durch nicht-farbige Flächen und umgekehrt.» (Th. van Doesburg, Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst, hrsg. v. H. M. Wingler, Mainz-Berlin 1966, 33).

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Der Subjektivismus des Unbewußten: Surrealismus und Automatismus; Pittura Metafisica; Breton, Chirico, Miró


Kurzinhalt: Der Maler soll nichts mehr «tun», sondern sich den Pinsel von den Eingebungen des Unbewußten bzw. des Augenblicks führen lassen. Das Bild soll nicht entworfen werden, sondern «automatisch» (-> Automatismus) entstehen.

Textausschnitt: ac Der Subjektivismus des Unbewußten: Surrealismus und Automatismus

48a Von dem ästhetischen (Impressionismus und Suprematismus) und rationalen (Kubismus und Konstruktivismus) unterscheide ich den intuitiven Subjektivismus des Unbewußten (Surrealismus und Automatismus). Dem rational operierenden Ich von Kubismus und Konstruktivismus entspricht im Surrealismus das von der zeitgenössischen Psychoanalyse erforschte Unbewußte. Der surrealistische Maler will die Bilder, die in seinem Unbewußten verborgen sind, symbolisch und assoziativ zum Ausdruck bringen. Wie der Psychoanalytiker aus seinem Patienten Bilder hervorholt, so will der surrealistische Maler sich selbst und den Betrachter seiner Kunst von Verdrängungen befreien. «Um den Kräften des Emotionalen, d. h. des Traumes und des Unbewußten, den Durchbruch in die bewußte Verfügbarkeit zu ermöglichen, fordert André Breton [der Haupttheoretiker des literarischen Surrealismus] den absichtlichen Verzicht des surrealistischen Künstlers auf die Vernunftkontrolle und auf den Imperativ des Sittenkodex, da sich nur durch eine antikonformistische Lebenshaltung die Unmittelbarkeit einer impulsiv freien Entäußerung der Emotion realisieren läßt, d. h. Breton proklamiert die alogische Revolution des Geistes.»1 (notabene)

49a Die Kunstgeschichtsschreibung kennzeichnet die beiden italienischen Maler Carlo Carra (1881-1966) und Giorgio de Chirico (1888-1978) durch den Begriff «Pittura Metafisica» und siedelt den belgischen Maler René Magritte (1898-1967) auf Grund einer stets genau bedachten Zuordnung von dargestelltem Gegenstand und symbolischem Bezugsrahmen zwischen dem rationalen und dem intuitiven Subjektivismus an. Aber Carra, De Chirico und Magritte können als intuitiv schaffende Künstler des Unbewußten dem Surrealismus ebenso zugeordnet werden wie Salvador Dali (1904-1989), Max Ernst (1891-1976), André Masson (1896-1987) oder Oscar Dominguez (1906-1957). (Fs)

49b Wie der Impressionismus im Suprematismus und der Kubismus im Konstruktivismus, so erfährt der Surrealismus im Automatismus eine Radikalisierung in Richtung «Gegenstandslosigkeit». Der katalanische Maler Joan Miró (1893-1983) zum Beispiel fordert die schrankenlose Auslieferung der Imagination an die Einbildungskraft des psychischen Augenblicks. Der Maler soll nichts mehr «tun», sondern sich den Pinsel von den Eingebungen des Unbewußten bzw. des Augenblicks führen lassen. Das Bild soll nicht entworfen werden, sondern «automatisch» (-> Automatismus) entstehen. Miró will die Bilder, die er malt, nicht aus seinem Innern hervorholen oder befreien, sondern sich vom eigenen Pinsel im Sinne eines Psychogramms selbst darstellen lassen. Von daher ist er sich mit Suprematisten und Konstruktivisten in dem Ziel einig, jede Gegenständlichkeit auszuschalten, die Subjekt-Objekt-Beziehung zu überwinden und so das Subjekt zum Inbegriff des Unbedingten (des «Sinns an sich») zu erklären. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Der Subjektivismus des Willens: Expressionismus und Abstrakter Expressionismus; Mythos - E.; Gegenstandslosigkeit (Klee, Kandinsky); abstraker E.: transzendentale Strukturen der Wahrnehmung



Kurzinhalt: Wie in der Welt des Mythos alles Erscheinung des Göttlichen ist, so ist in den Bildern des Expressionismus alles Ausdruck des Subjekts, das sich ausstreckt nach dem «Ganzen» von Sinn

Textausschnitt: ad Der Subjektivismus des Willens: Expressionismus und Abstrakter Expressionismus


50a Wenn nach den geschilderten Subjektivismen der Wahrnehmung, des Verstandes und des Unbewußten der expressionistische Subjektivismus des Willens an vierter Stelle behandelt wird, dann nicht aus Gründen der Chronologie oder Präferenz. Im Gegenteil: Der Subjektivismus des Willens zieht sich wie eine verbindende Klammer durch alle genannten Formen moderner Malerei. Denn auch der ästhetisch, rational oder intuitiv arbeitende Künstler streckt sich aus nach dem Unbedingten, das ich philosophisch «Sinn an sich» genannt habe. In allen Kunstwerken der via moderna findet sich zumindest ansatzweise jenes voluntaristische Streben, das im Expressionismus1 am reinsten und unmittelbarsten zum Ausdruck kommt. (Fs) (notabene)

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Fußnote 1 oben:
32 «Für die Herkunft des Wortes Expressionismus werden die verschiedensten Quellen genannt. Die einen sehen den Ursprung bei dem Maler Julian August Hervé, der 1901 im in Paris akademisch-realistische Naturstudien zeigte, die er unter der Bezeichnung Expressionismus zusammenfaßte. Andere glauben, der Begriff habe seinen Ausgangspunkt bei dem Kritiker Louis Vauxcelles, der Bilder von Henri Matisse expressionistisch» genannt hat. Wieder andere meinen, das Wort sei zum ersten Male bei einer Jury-Sitzung der Berliner Sezession gefallen, als jemand vor einem Bilde Max Pechsteins gefragt habe, ob das noch als Impressionismus bezeichnet werden könne. Paul Cassirer habe daraufhin geantwortet, nein, das sei Expressionismus.» (W.-D. Dube, Die Expressionisten, Frankfurt-Berlin-Wien 1973, 18).
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51a Karin Thomas charakterisiert den Expressionismus aller Spielarten wie folgt: «Die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit dient [...] nur noch als auslösender Impuls für das innere Erlebnis oder als Sinnbildträger für eine spezifische Seelenlage. So sind die Werke des Expressionismus durchweg ein sublimierter Aufschrei des um Befreiung ringenden, aber ohnmächtigen Individuums2. Sie besitzen eine lapidar einfache, direkte Bildsprache, deren Vokabular aus einer ungebrochenen, starken, großflächigen Farbigkeit, einer expressiven spannungsgeladenen Pinselführung und einer ausdruckssteigernden Deformierung der Form besteht»3. Die verschiedenen Zentren des Expressionismus - Die «Fauves» in Chatou, die «Brücke» in Dresden und Berlin, der «Blaue Reiter» in München - bilden eigene Merkmale aus; aber ihnen allen gemeinsam ist die Einholung des Objektiven in das Subjektive - besonders klar zu beobachten in Bildern wie dem des norwegischen Expressionisten Edvard Munch (1863-1944) mit dem Titel «Der Schrei»; nicht nur der dort dargestellte Mensch schreit, sondern die ganze Welt. Auch die Bilder eines Vincent van Gogh (1853-1890), Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901), André Derain (1880-1954), Maurice de Vlaminck (1876-1958), Georges Rouault (1871-1958) oder Marc Chagall (1889-1985) spiegeln die Beseelung der Umwelt durch den eigenen Gefühlsimpuls. Wie in der Welt des Mythos alles Erscheinung des Göttlichen ist, so ist in den Bildern des Expressionismus alles Ausdruck des Subjekts, das sich ausstreckt nach dem «Ganzen» von Sinn4. Paul Klee (1879-1940) hat in seinen kunsttheoretischen Betrachtungen beschrieben, wie das Auge des Ich mit dem Auge des Du und der Welt insgesamt zu vermitteln ist. Und er hat auch festgehalten, was ihm und anderen Expressionisten vorgeworfen wurde: nämlich Schimpfworte wie «Vollsynthetiker hinaus! Hinaus Totalisator! [...] Romantik! Kosmik! Mystik!»5

52a Die «Brücke-Künstler» Erich Heckel (1883-1970), Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) und Emil Nolde (1867-1956) stellen ausdrücklich eine Beziehung her zwischen dem Schrei nach unbedingtem Sinn in Dostojewskijs Romanen und den eigenen Versuchen, künstlerisch den Hiatus zwischen «Sinn für mich» und «Sinn an sich» zu überwinden. Im Großstadt-Expressionismus von Oskar Kokoschka (1886-1980), George Grosz (1893-1959) oder Max Beckmann (1884-1950) ist der Glaube an Sinn dem Schrei der Verzweiflung gewichen. Das voluntaristische Auslangen nach dem «Ganzen» bleibt auch in ihren Bildern; aber die Qual antwortloser Fragen überwiegt. (Fs) (notabene)

52b Wie der ästhetische, rationale und intuitive Subjektivismus, so mündet auch die expressionistische Subjektivität des Willens in die Gegenstandslosigkeit. Als Vorboten des «Abstrakten Expressionismus» können Paul Klee und Wassily Kandinsky (1866-1944) gelten. Klee studiert die Kunst der Antike, weil er den Hiatus zwischen Subjekt und Gegenstand überwinden will; aber er erkennt immer deutlicher, daß dieses Ziel unzeitgemäß ist, weil sich das Subjekt nicht hinter den von Kant beschriebenen Graben zwischen Subjekt und Objekt zurückziehen kann. Klee malt in seinen späten Werken nur noch mögliche Welten, die aus den abstrakten Formen der Subjektivität hervorbrechen. So sehnt er sich nach «dem Ganzen», läßt aber gleichzeitig erkennen, daß die Subjekt-Objekt-Spaltung unüber-windbar ist. (Fs)

53a Kandinsky ist noch abstrakter als der späte Klee, weil er die erstrebte Ganzheit ungegenständlich bzw. rein intuitiv (z. B. durch Färb- und Formkompositionen) ausdrückt. Deshalb führt von Kandinsky ein direkter Weg zu jenen Vertretern eines «Abstrakten Expressionismus»6, die in der Abstraktion von allen Gegenständen (in den transzendentalen Strukturen der Wahrnehmung und des Verstandes) eine alles umfassende Ordnung entdecken wollen. In den Werken von Arshile Gorky (1905-1948) ergibt sich aus einem diffusen Linienlabyrinth die Andeutung einer Gestalt. Und Jackson Pollock (1912-1956) will gerade durch Verzicht auf jede reflektierte Bildstruktur, z. B. durch Malhandlungen (Action Painting), die eine Leinwand spielerisch mit Farben und Linien überziehen, die «Ordnung an sich» aufscheinen lassen. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Bildende Kunst als Spiegel der philosophischen via postmoderna: Pop-art (der Gegenstand als Scheinwirklichkeit), Dadaismus; F. Bacon, Lichtenstein, Warhole; der Mensch als Ware

Kurzinhalt: Das, was sich «Neuer Realismus» bzw. «Pop-art» und «Dadaismus» nennt, ist keine Überwindung, sondern eine Potenzierung der via moderna ... Das sich verabsolutierende Subjekt degradiert alles zu seinem Objekt bzw. Konsumartikel und macht sich damit ...

Textausschnitt: b) Die bildende Kunst als Spiegel der philosophischen via postmoderna

54a Alle vier geschilderten Zweige der via moderna sind Ausdruck einer Subjektivität, die das Objekt bzw. die Wirklichkeit nicht mehr erreicht und deshalb im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos wird. Das Subjekt kann den «Sinn für sich» nicht zum «Sinn an sich» machen; und also lotet es die Abgründe seiner selbst aus. Solange die via moderna der Malerei versucht, vom Subjekt her den Gegenstand bzw. die Wirklichkeit zu erreichen, ist sie je nach Ansatz (ästhetisch, rational, intuitiv, voluntativ) impressionistisch, kubistisch, surrealistisch oder expressionistisch. Sobald sie sich aber auf die Wahrnehmung, rationale Operation, Intuition oder Sehnsucht des Subjekts zurückzieht, wird sie gegenstandslos: suprematistisch, konstruktivistisch (nur noch abstrakt), automatistisch (unreflex assoziativ) oder willkürlich im Sinne der Malhandlungen des «Abstrakten Expressionismus». (Fs) (notabene)

54b Wenn die Gegenwart dennoch von Kunstrichtungen bestimmt wird, die Gegenstände mit höchster Präzision und Detailverliebtheit darstellen, dann nicht, weil die via moderna und mit ihr der Hiatus zwischen «Sinn für mich» und «Sinn an sich» überwunden ist. Im Gegenteil: Das, was sich «Neuer Realismus» bzw. «Pop-art» und «Dadaismus» nennt, ist keine Überwindung, sondern eine Potenzierung der via moderna. Die Pop-art und der Dadaismus entsprechen der Philosophie der via postmoderna. (Fs)

aa Pop-art: Der Gegenstand als Scheinwirklichkeit

55a Die Pop-art setzt Gegenstände nicht deshalb ins Licht, weil sie «die wahre Wirklichkeit» (die Einheit von Subjekt und Objekt bzw. die Einheit zwischen «Sinn für mich» und «Sinn an sich») demonstrieren will, sondern um den gemalten oder ausgestellten Gegenstand als das Banale, Nichtige, Austauschbare, Ersetzbare und Käufliche zu entlarven. (Fs) (notabene)

Indem der englische Maler Francis Bacon (1909-1992) Menschen in ausweglosen, alptraumhaften Situationen - häufig durch Linien wie in einem Käfig eingesperrt - zeigt, sagt er direkt, was die Pop-art indirekt durch einen hypertrophen Realismus ausdrückt: nämlich daß die Wirklichkeit, die der Mensch zu sein oder zu beherrschen meint, nur Schein ist. Viele Vertreter der Pop-art (z. B. Richard Lindner [1901-1978] und Wayne Thibaud [*1920]) stellen in immer neuen Variationen die Gegenstände der Reklame dar, um so die Banalität all dessen zu entlarven, worum sich das Denken und Streben der großen Masse dreht. Die Collagen von Tom Wesselmann (*1931) und die übergroßen Raumgemälde von James Rosenquist (*1933) sind der Spiegel irgendeines «alltäglichen Zeitabschnittes, der seine Fixierung von den Banalitäten eines Fernsehprogramms, eines Schlafzimmers, eines Walt Disney-Heftes bezieht»1. Und was Andy Warhol (1930-1987) mit seiner Sammlung stereotyper Reklamegesichter demonstriert, unterstreicht Roy Lichtenstein (*1923) durch seine Comic-strip-Gestalten: Das sich verabsolutierende Subjekt degradiert alles zu seinem Objekt bzw. Konsumartikel und macht sich damit selbst zur käuflichen, austauschbaren Ware. (Fs)

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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Dadaismus: Der Gegenstand als das Absurde; Duchamp (Urinal); Hans Richter: Deklaration des Nichts; A-Kunst; Tzara (Zufallsgedichte), Hans Richter (Theoretier des D.)



Kurzinhalt: Der Dadaismus geht von der postmodernen Prämisse aus, daß alles, was «ist», nur «etwas für», also eine Funktion, und also «an und für sich» nichts (nihil -> Nihilismus) ist ... «Die Kunst ist gedacht, in Nichts aufgelöst. Das Nihil ist ...

Textausschnitt: 56a Von der Darstellung des Banalen in der Pop-art ist es nicht weit bis zur Darstellung des Absurden im Dadaismus. Der deutsche Schriftsteller Hugo Ball (1886-1927), der als Mitbegründer des dadaistischen «Club Voltaire» in Zürich seine «absurden Lautgedichte» (Verse ohne Worte) schuf, erklärt den Begriff «Dadaismus» wie folgt: «Dada heißt im Rumänischen ja, ja; im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.»1
56b Der Dadaismus geht von der postmodernen Prämisse aus, daß alles, was «ist», nur «etwas für», also eine Funktion, und also «an und für sich» nichts (nihil -> Nihilismus) ist. Um diese Erkenntnis zu demonstrieren, ließ Marcel Duchamp (1887-1968) ein Urinbecken in einer Umgebung ausstellen, in der es «seinen Sinn», nämlich seine «Funktion für», verloren hatte und nur noch als «das Absurde» erscheinen konnte. Fazit: Ein Gegenstand ist seine Funktion und ansonsten bloße Faktizität, also das schlechthin Nicht-Rationale, das Absurde oder Nichtige. (Fs)

56c Die Dadaisten verzichten auf das Abbilden des Gegenstandes, weil jede Abbildung die Tendenz einer Interpretation oder Sinngebung impliziert. Sie zielen auf den nackten Gegenstand in einer Umgebung, die ihn jeder Funktion entreißt. Hans Richter (1888-1976), der bedeutendste Theoretiker des Dadaismus, konstatiert: «Die Kunst ist gedacht, in Nichts aufgelöst. Das Nihil ist alles, was übrig bleibt. Eine Illusion ist mit Hilfe der Logik beseitigt. An Stelle der ist ein Vakuum getreten, das weder moralische noch ethische Qualitäten hat. Es ist die Deklaration des NICHTS, die weder zynisch noch bedauernd ist. Es ist eine Feststellung, mit der man sich abzufinden hat! Eine Entdeckung von Tatsachen, die mehr konstatiert als herbeigeführt zu sein scheinen. Duchamp nennt deshalb, um selbst einer negativen Stellung der Kunst gegenüber auszuweichen, seine Haltung nicht Anti-kunst, sondern A-Kunst.»2

57a Wie Duchamp den Gegenstand als das Absurde zur Schau stellt, so wollen Hans Arp (1887-1966), Marcel Janco (1895-1984) und Kurt Schwitters (1887-1948) den Gegenstand als Zufall entlarven. Sie bilden ihre Skulpturen und Collagen aus dem, was sie zufällig finden, vornehmlich «aus den Abfallprodukten der Zivilisation: Schuhsohlen, Drähten, Scheuerlappen, Billets, Streichhölzern, Tuchfetzen, Geschäftspapieren»3. Aber auch wenn sie zunächst dasselbe Ziel wie Duchamp verfolgen, kündigt sich in ihren Darstellungen des Zufalls das an, was man die postmoderne Sehnsucht nach der Welt des Mythos nennen kann. Das Subjekt, das sich von Absurdität umgeben sieht, haßt sich selbst, will sich geradezu auslöschen und flieht deshalb in eine Welt, in der alles, auch es selbst, Zufall ist. Der zu den Züricher Gründern des Dadaismus zählende Schriftsteller Tristan Tzara (1896-1963) «zerschnitt Zeitungsartikel in kleinste Teilchen, jedes nicht länger als ein Wort. Dann tat er diese Wörter in eine Tüte, schüttelte sie tüchtig und ließ dann alles auf den Tisch flattern. In der Ordnung und Unordnung, in der die Worte fielen, stellten sie ein dar, ein Gedicht von Tzara»4. In diesem Vorgang wird deutlich: Der Dichter will nichts mehr komponieren; er will nicht Subjekt eines von ihm geschaffenen Objekts sein; er will seine Subjektivität aufheben in ein Geschehen, das nicht er macht, sondern das ihn ergreift. Ähnlich kann die Säule gedeutet werden, die Schwitters in seinem Haus in Hannover errichtet hat. An dieser Säule brachte er nach und nach Relikte seiner Besucher an: eine Haarlocke, einen Bleistift, ein Schuhband, eine Krawatte usw.; und er legte Wert auf die Feststellung, daß nicht er die Säule entworfen habe, sondern daß sein Ich in jedem Teil der aus Zufällen entstandenen Säule sei. (Fs)
58a Die via moderna mündet in die via postmoderna; und diese zeigt sich in der Tendenz zur Aufhebung eben des Subjektes, das sich im Gefolge des Nominalismus nicht nur in den Reflexionen von Descartes, Kant, Sartre und Nietzsche, sondern auch in den künstlerischen Subjektivismen eines Kasimir Malewitsch, Theo van Doesburg, Joan Miró oder Wassily Kandinsky verabsolutiert hat. (Fs)

58b Obwohl am Ende dieses Weges alles beliebig, banal und absurd erscheint und vollkommener Relativismus alles als austauschbare Funktion oder Zufall deklariert, so ist doch gleichzeitig eine tiefe Sehnsucht nach dem ganz Anderen, nach dem Nichtbeliebigen, nach Einmaligkeit und unbedingtem Sinn aufgebrochen. Hier wurzelt die Anfälligkeit unzähliger Menschen für fundamentalistische Heilslehren, die sich mit der Behauptung esoterischer Erfahrungen gegen jede Kritik immunisieren. Hier wurzelt aber auch die Chance, den Menschen der Gegenwart die christliche Offenbarung als die Wahrheit zu vermitteln, die nichts vor der Kritik des neuzeitlichen Subjekts versteckt, sondern im Gegenteil das Subjekt zu sich selbst befreit. (Fs)

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