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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - dogmatische, theologische Unsicherheit

Kurzinhalt: Wenn nun Priester und Ordensleute etwas anderes lehrten, mußte der Glaube des Volkes erschüttert werden; die einen folgten der neuen Botschaft, andere verwarfen jede Lehre, nur wenige hatten die Kraft und die Selbständigkeit ...

Textausschnitt: I Die Schwächen auf katholischer Seite

15b Um den Anteil ermessen zu können, den das Tun oder das Unterlassen der deutschen Bischöfe an der Ausbreitung der protestantischen Irrlehre hatte, ist es nötig, wenigstens kurz die übrigen Ursachen für den Erfolg der lutherischen Bewegung anzugeben. Die Tatsache, daß der Protestantismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen in vielen Ländern ein starkes Echo und zahlreiche Anhänger fand, wird auf protestantischer Seite gewöhnlich auf zweifache Weise erklärt. Man verweist einmal auf die angeblich übergroßen Schäden der katholischen Kirche, die nach einem radikalen Heilmittel gerufen hätten, und zum anderen auf die vermeintliche Kraft des "Evangeliums", das Luther und die übrigen "Reformatoren" gegenüber der "Verderbnis" der katholischen Kirchenlehre freigesetzt hätten. Demgegenüber stellen sich mir die Fakten anders dar. (Fs)

1. Die dogmatische Unsicherheit und die theologische

15c In protestantischen Darstellungen der Geschichte der sogenannten Reformation werden oft drastische Beispiele der religiösen Unwissenheit unter dem Katholizismus angeführt wie mangelnde Kenntnis der Heiligen Schrift, ja der Zehn Gebote. Diese Schilderungen sind meist durchaus zutreffend. Es besteht kein Zweifel, daß die Mehrheit des Volkes und auch ein großer Teil des Adels zu Beginn des 16. Jahrhunderts religiös unwissend waren. Allerdings ist diese Unwissenheit weitester Kreise keine Besonderheit der hier in Frage stehenden Zeit. Abgesehen von Perioden relativen religiösen Hochstandes wie jener, die mit dem Tode Pius' XII. zu Ende ging, war das religiöse Wissen der Gläubigen häufig in der Geschichte unbefriedigend. Diese Beobachtung trifft zu für die Angehörigen der katholischen Kirche, aber auch und vielleicht erst recht für die Anhänger der neuen Lehre. Für die letzteren liegen in den Visitationsberichten des 16. Jahrhunderts aufschlußreiche Schilderungen vor, die den kümmerlichen Wissensstand bei den Protestanten dartun. Erst recht gilt dies für die Gegenwart. Ich frage: Wenn heute eine Visitation unter den Protestanten gehalten würde - nach über 450 Jahren protestantischer Erziehung -, wie viele müßten dann ihre Unkenntnis der Bibel und des Dekalogs eingestehen? Trotz der religiösen Unwissenheit weiter Kreise der Gläubigen bejahte das Volk im 16. Jahrhundert den katholischen Glauben und hing ihm an, zwar vielfach unreflex, aber doch auch meist unangefochten. Der katholische Glaube war mitnichten erstorben, sondern zeigte fast überall Äußerungen kräftigen Lebens. (Fs)

16a Die religiöse Unwissenheit vieler Gläubigen hatte zur Folge, daß die religiöse Neuerung sie unsicher machte. Die sogenannten Reformatoren rissen herunter, was ihnen bisher heilig war, und zerfetzten, woran sie geglaubt hatten, und das waren doch zum größten Teil Priester und Mönche, häufig solche, die ihnen noch gestern das Wort Gottes nach der Lehre der Kirche gepredigt hatten; jetzt lehrten sie anders, verwarfen als Irrtum und Mißbrauch, wozu sie soeben noch das Volk angeleitet hatten. Die Gläubigen waren dem Ansturm der neuen Lehre theologisch nicht gewachsen. Sie verfügten nicht über die Kenntnisse, um den Scheinargumenten der Neuerer begegnen zu können. So begannen sie ihren katholischen Instinkt zu verlieren. Sie ruhten nicht mehr in der Gewißheit der Wahrheit des katholischen Glaubens. Der Zweifel begann in ihnen aufzusteigen. Die religiöse Praxis ließ nach. Es mangelte an Geistlichen, die dank eines gründlichen theologischen Wissens und kraft ihres erhebenden Lebenswandels in der Lage waren, die Zweifel der Gläubigen zu zerstreuen und die Wankenden zu festigen. Das Volk hatte den Unterricht über den Glauben in der Hauptsache von den Geistlichen empfangen; es war mithin in seinem Verständnis der Heilswahrheiten weitgehendst von der Unterweisung des Klerus abhängig. Wenn nun Priester und Ordensleute etwas anderes lehrten, mußte der Glaube des Volkes erschüttert werden; die einen folgten der neuen Botschaft, andere verwarfen jede Lehre, nur wenige hatten die Kraft und die Selbständigkeit, bei dem überkommenen Glauben zu verharren. Dennoch darf der Erfolg der protestantischen Zerstörungsarbeit nicht übertrieben werden. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil hielt gerade ein beträchtlicher Teil der Gebildeten an dem katholischen Glauben fest. Die treuen Katholiken wehrten sich auch gegen die Aufzwingung der Irrlehre. An so manchen Orten, wie beispielsweise in Ansbach, gab es sogar beträchtlichen Widerstand von katholischer Seite. Auch in den Reichsstädten fanden sich überzeugte Katholiken und zeigte sich mancher mutige Protest gegen die Pro-testantisierung. (Fs)

16b Eine weitere Folge der religiösen Unwissenheit war das Unvermögen, über die durch die Glaubensneuerung entzündeten Streitfragen eine begründete eigene Stellungnahme abzugeben. "Die übergroße Masse der religiös Unwissenden und Unerfahrenen konnte sich ja kein selbständiges Urteil bilden" (Ernst Tomek). Die Unwissenheit und die Urteilsunfähigkeit in theologischen Dingen waren bei den Bauern ebenso verbreitet wie bei den Adligen. Aleander schrieb im Dezember 1520 aus Worms, die Massen ließen sich von Schlagworten und Leidenschaften bestimmen, ohne viel von den Grundlagen der lutherischen Lehre zu verstehen. Der Nuntius Pighino sah am 5. November 1548 die breite Masse des Volkes aus Unwissenheit und mangelndem Unterscheidungsvermögen zum Protestantismus verführt; die Prädikanten würden ihren Sinnen schmeicheln, die Fürsten gäben ihnen ein schlechtes Beispiel, das traurige Verhalten des katholischen Klerus bestärke sie in ihrem Irrtum. (Fs)

17a Freilich gab es einzelne Laien, die von Anfang an oder jedenfalls sehr früh klar die irrigen Lehren der sogenannten Reformatoren durchschauten. Der Herzog Georg von Sachsen z. B. wußte nach einer einzigen Predigt, die er gehört hatte, wessen Geistes Kind Luther war. Aber diese Erkenntnis war nicht Allgemeingut der Fürsten und schon gar nicht des Volkes, und es geschah zu wenig, sie zu verbreiten, den Nebel zu zerstören, der über den Aufstellungen der sogenannten Reformatoren hing. Die Schaffung völliger Klarheit in Glaubensdingen war die dringendste und notwendigste Aufgabe, die der Hierarchie der Kirche gestellt war. (Fs)

17b Weil die Masse der Menschen zu einem eigenen Urteil über die Glaubensfragen nicht imstande war, ist nicht anzunehmen, daß sie, von der nunmehr aufgegangenen "Wahrheit" gleichsam bezwungen, aufgrund eines Gewissensentscheides die Wittenberger Lehre angenommen und eine Überzeugung begründet hätte. Diese Meinung scheitert schon an der einfachen Überlegung, daß dem durchschnittlichen Menschen kaum an etwas weniger gelegen ist als an der Wahrheit. Es kann keine Rede davon sein, daß die Mehrheit des Volkes nun auf einmal die Wahrheit erkannt zu haben glaubte und sie über alles setzte, daß sie, von Gott gedrungen und Gott allein gehorchend, dem Gewissen folgte und aus lauter Gewissenhaftigkeit von sich warf, woran sie bisher gehangen hatte. Es wäre ein völliges Mißverständnis, zu meinen, die Masse der Menschen habe die neue Lehre, von Einsicht bezwungen und vom Gewissen genötigt, mit Überzeugung angenommen. Die meisten Zeitgenossen folgten vielmehr den Stimmführern, die populäre Parolen unter das Volk warfen und dadurch eine breite Strömung hervorriefen. Es ist generell zu fragen, wie viele Menschen die Eingliederung in eine Massenbewegung mit einer Gewissensentscheidung verwechseln. (Fs) (notabene)

17c Die protestantische Geschichtsschreibung der sogenannten Reformation hat es schwer. Sie muß nämlich versuchen, den Abfall so vieler von der Kirche und vom Glauben als Wandel der Überzeugung zu erklären. Dabei erhebt sich die schwerwiegende Frage, wie es um die neue Überzeugung der Männer und Frauen bestellt war, die anscheinend so rasch und leicht ihre alte Überzeugung fahren ließen. In Wirklichkeit dürfte bei vielen die katholische "Überzeugung" nicht allzu tief gegangen sein, aber auch und erst recht nicht die protestantische "Überzeugung". Aus den religiösen Kämpfen und Streitigkeiten zur Zeit der Französischen Revolution ist bekannt, daß nur eine kleine Minderheit der Menschen tiefgegründete und abgeschlossene Überzeugungen besitzt. Die große Menge will religiös sein, aber es liegt ihr wenig an den theologischen Unterschieden. Sie wünscht den Geistlichen, jedoch kommt es ihr nicht entscheidend darauf an, ob er von dieser oder einer anderen religiösen Richtung ist. Das Volk in seiner Gesamtheit verstand nichts von den subtilen Fragen, die der Eid auf die Zivilkonstitution des Klerus aufwarf. Ob sich eine Gemeinde für oder gegen den konstitutionellen Kult aussprach, dafür war der persönliche Einfluß des Priesters ausschlaggebend. Ähnlich war es in der Zeit der sogenannten Reformation. Die meisten Menschen waren zu einem eigenen Urteil nicht imstande. Nicht wenige dürften jeder festen katholischen Überzeugung entbehrt haben. Was sie an religiösem Wissen besaßen und an religiöser Praxis übten, hatten sie nicht wirklich sich geistig angeeignet, sondern es war ihnen überkommen und wurde mechanisch betrieben. Bei ihnen brauchte es keinen heftigen Anstoß, daß sie an der ererbten Religion irre wurden und sich den neuen Ideen zuwandten. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß ein beträchtlicher Teil der Menschen dem neuen "Evangelium" freudig, ja begeistert zufiel. Der durchschnittliche Mensch nimmt bekanntlich alles jubelnd auf, was Erleichterung und Entlastung verspricht, was modern und neu ist oder sich so gibt. Luther selbst war von der tiefen Verwurzelung des neuen "Evangeliums" in den Menschen nicht überzeugt. Denn sonst hätte er nicht 1532 erklären können, es stehe in seiner Macht, mit zwei oder drei Predigten alle wieder in das Papsttum zurückzuführen. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Schwächen im Klerus

Kurzinhalt: Von Anhängern wie Gegnern der religiösen Neuerung des 16. Jahrhunderts wird mit seltener Einmütigkeit die Lage im Klerus als ein, wenn nicht als der Hauptgrund für den großen Abfall angegeben.

Textausschnitt: 2. Die Schwächen im Klerus

18a Von Anhängern wie Gegnern der religiösen Neuerung des 16. Jahrhunderts wird mit seltener Einmütigkeit die Lage im Klerus als ein, wenn nicht als der Hauptgrund für den großen Abfall angegeben. In seiner Schrift "Über die eigentliche Ursache der Häresien und Schismen und ihres Wachstums" sah beispielsweise Nausea den primären Grund der Glaubensspaltung in der sittlichen Verderbnis des Klerus, während er die dogmatischen Irrtümer als sekundär betrachtete. Daß ein beträchtlicher Teil des Klerus und der Ordensleute zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht auf der Höhe des Ideals stand, ist unbestritten. Allerdings ist dies zu keinem Zeitpunkt der Kirchengeschichte der Fall gewesen. Gewiß bestehen in den einzelnen Epochen Unterschiede des Niveaus, aber sie sind lediglich graduell. Die Geistlichen und die Klosterinsassen bleiben allezeit hinter den Anforderungen zurück, die Christus an sie stellt. Wollte man diese Tatsache zum Anlaß nehmen, den Glauben zu ändern, so wäre die katholische Lehre längst vergessen. (Fs)

18b Was zunächst die religiösen Kenntnisse angeht, so ist sicher, daß ein beträchtlicher Teil der Geistlichen eine durchaus zureichende theologische Bildung besaß. Durch das Studium an Universitäten und Ordensanstalten sowie durch eigene Bemühung hatten sich viele Diözesanpriester und noch mehr Ordensangehörige ein solides Wissen in Dogmatik, Heiliger Schrift und Kanonistik erworben. Nicht jeder, der etwas von Theologie verstand, war jedoch in der gesunden Lehre zuhause. In der mittelalterlichen Theologie gab es eine erhebliche Spannungsbreite. Die verschiedenen Schulen differierten teilweise nicht nur im theologischen Ansatz; es gab auch irrige Meinungen. Unter den Geistlichen waren daher bis zu einem gewissen Grad falsche Auffassungen verbreitet. Die Verurteilung Luthers durch den Papst blieb u. a. deswegen wirkungslos, weil weithin konziliaristische Vorstellungen von der Überlegenheit des Konzils über den Papst die Geister verwirrten. (Fs)

19a Ebenso aber steht der Mangel hinreichender theologischer Bildung bei vielen Priestern und erst recht bei anderen Klerikern fest. Dem Unterricht und der Ausbildung der Weltgeistlichen und der Ordensleute wurde nicht immer und überall genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Für die Unzulänglichkeit der theologischen Studien und der aszetischen Formung ist Luther selbst das beste Beispiel. Nur läßt sich dieser Mangel schlecht als Argument zugunsten der sogenannten Reformation verwenden. Denn deren "Früchte" auf dem Gebiet des Glaubens sind nur zu gut bekannt. Die meisten Lehren der sogenannten Reformatoren waren lediglich Glieder in einer langen Reihe von Häresien. Gerade wenn, wie viele protestantische Autoren nachdrücklich hervorheben, so überaus zahlreiche Geistliche theologisch ungenügend gebildet, ja unwissend waren, ist ihr massenhafter Übergang zu der lutherischen Bewegung für diese wenig schmeichelhaft. Der Orden, dessen Angehörige, insgesamt gesehen, theologisch am besten gebildet waren, der Dominikanerorden, hielt denn auch der Neuerung relativ am festesten stand. (Fs)
19b Was sodann die sittlichen und disziplinären Verhältnisse im Klerus betrifft, so ist auch hier zuzugeben, daß aus verschiedenen Gründen ein nicht zu übersehender Teil der Geistlichen aus den Banden von Sittlichkeit und Recht notorisch ausbrach. Es gab teilweise ein Mißverhältnis zwischen den Erwartungen der Gläubigen einerseits und dem Leben und der Leistung der Geistlichen anderseits, viel gerechte Empörung über ihre ungenügende Bildung, ihre Vernachlässigung der Seelsorge, ihren weltlichen Sinn, ihren Hang zum materiellen Besitz und zum Wohlleben, ihre Bevorrechtigung, ihre Übertretung klerikaler Gebote. Die traurigen Spuren des Verfalls und der Zerrüttung erfüllten ohne Zweifel urteilsfähige Männer von sittlichem Ernst mit Abscheu und Widerwillen. Für den Mangel an Ordnung im privaten und dienstlichen Leben ist Luther selbst das beste Beispiel. Die Oberen des Ordens, dem er angehörte, ließen es von Anfang an völlig an festem Durchgreifen gegen den Agitator fehlen. Der Generalvikar Staupitz unterstützte ihn vielfältig. Auf die moralische Schwäche Huldreich Zwinglis sei nur hingewiesen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die sittlichen Mängel, die im vorreformatorischen Klerus bestanden, zum erheblichen Teil ihre Wurzel in Mängeln des Glaubens hatte. Die Gläubigkeit vieler Geistlicher war nicht genügend tief, nicht hinreichend lebendig und nicht hinlänglich opferwillig. Der objektive Glaube war nicht genug persönlicher Besitz, innerstes Anliegen und tiefste Überzeugung geworden. Deswegen vermochte er auch das Leben nicht entscheidend zu prägen. Aber auch bei diesem Punkt darf man sich weder von den Übertreibungen der Protestanten noch der (um eine echte Reform besorgten) Katholiken in die Irre führen lassen. Es gab bei Beginn der Neuerung viele katholische Geistliche, die sittenrein lebten und fromm waren. Daß die würdigen Geistlichen, ihre Leistungen und ihre Verdienste verhältnismäßig selten erwähnt werden, erklärt sich aus mehreren Gründen. Einmal war der antikatholischen Polemik daran gelegen, die gesamte Kirche als verrottet darzustellen; lichte Stellen hätten das dunkle Gemälde nur gestört. Zum anderen waren aber auch die katholischen Erneuerer darauf bedacht, die Farben stark aufzutragen, um damit ihren Reformforderungen desto mehr Nachdruck zu verleihen. Auf diese Situation traf nun die protestantische Irrlehre. Der Klerus wurde durch die lutherische Agitation in seinem Glauben unsicher gemacht. Er begann an seiner Sendung zu zweifeln. Weil er nicht mehr in fragloser Gewißheit sein Priestertum ausübte, kam es zu Nachlässigkeiten und Ordnungswidrigkeiten, brach die Disziplin zusammen und suchten viele in massiven irdischen Dingen einen Ersatz für die fragwürdig gewordenen geistlichen Wirklichkeiten. Herzog Georg von Sachsen gab 1523 Luther die Schuld an dem Verfall der klösterlichen Disziplin. Die Zusammenbrüche im katholischen Klerus in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vermitteln eine Ahnung davon, was die Erschütterung des Glaubens durch irrige Aufstellungen von Theologen und Untätigkeit von Bischöfen für Verwüstungen in den Seelen anzurichten vermag. Nachdem sie sich aber einmal von der Kirche getrennt hatten, galt: Die abgefallenen Geistlichen und Ordensleute "wurden um so heftigere Verteidiger der neuen Lehre, je stärker die Vorwürfe waren, die ihnen das Gewissen machte" (Ernst Tomek). (Fs) (notabene)

20a Die Mißstände im Klerus waren das propagandistisch wirksamste Motiv der Abspaltung. Die Sittenlosigkeit vieler Geistlicher und Mönche war der Grund, weshalb das Volk die Lehre mit den Lehrern verwarf. Die (immer ungünstiger werdenden) Zustände im Klerus gaben den Religionsneuerungen in den Augen des Volkes ihre Berechtigung. Bei einfachen Leuten gelten eben reine Gesinnung und unbescholtener Lebenswandel mehr als theologische Korrektheit. Die Masse der Menschen war (und ist) unfähig, Person und Sache zu unterscheiden. Auf die religiösen Verhältnisse angewandt, bedeutet dies: Die meisten Menschen schließen von dem beispielhaften Lebenswandel auf den Wert der ihm zugrundeliegenden Überzeugung. So nahmen sie die ungeistliche Aufführung katholischer Geistlicher zum Anlaß, über den Glauben und die Kirche den Stab zu brechen, und hielten das exemplarische Leben einzelner Anhänger der neuen Lehre für einen genügenden Grund, sich ihr anzuschließen. Es war ein hohes Maß von Glaubenstreue und Abstraktionsfähigkeit verlangt, um unter der Menge von Entartungserscheinungen und dem Andrang der Irrlehre an dem göttlichen Kern in der Kirche festzuhalten und ihn nicht mit der modernden Hülle abzustoßen. (Fs)

20b Weiter ist es nicht so, daß alle oder auch nur die überwiegende Zahl der Geistlichen ohne weiteres, d. h. aus eigenem Antrieb und ohne Druck, zum Protestantismus übergegangen wären. In allen Bistümern gab es, wenn auch in unterschiedlicher Zahl, Diözesanpriester und Ordensgeistliche, die treu am Glauben festhielten und dem Abfall mit aller Kraft entgegenwirkten. Namentlich viele von der älteren Generation blieben dem Glauben treu. Überall fanden sich katholische Priester und Mönche, die dem Einfluß der Neuerer entgegenarbeiteten. Viele wurden wegen ihres Festhaltens am Glauben vertrieben, mißhandelt und beraubt, einige sogar ermordet. Für Baden-Durlach etwa ist bezeugt, daß von ca. 65 Geistlichen, die man vor die Alternative stellte, protestantisch zu werden oder auszuwandern, 57 dem Glauben treu blieben und das Land verließen. Ebenso ist erwähnenswert, daß beispielsweise in den schwäbischen Reichsstädten, Kempten und Lindau ausgenommen, kein Pfarrer bzw. Pfarrverweser "Luthers Ruf folgte", wie Matthias Simon sich ausdrückt. Zudem gab nicht jeder Geistliche, der sich äußerlich den lutherischen Gebräuchen anpaßte, um seine Gläubigen nicht verlassen zu müssen oder um seine Stelle nicht zu verlieren, den Glauben auf. Nicht nur manche Gemeindemitglieder, sondern auch scheinbar zum Luthertum übergetretene Geistliche blieben im Herzen katholisch. Die Visitatoren der Landesherren vermochten nicht in das Innere der Pfarrer zu schauen, die sie examinierten. (Fs)

21a Es ist unzutreffend, daß die Bevölkerung überall oder auch nur in der Mehrzahl der Orte im Konflikt mit den Geistlichen und Ordensleuten gelebt hätte. Gewiß bestanden Gegensätze der Interessen, aber diese berührten in den seltensten Fällen die gesamte Einwohnerschaft einer Stadt, vielmehr regelmäßig nur bestimmte Kreise. Es gab auch viele Pfarreien, in denen die Gläubigen an ihren Seelsorgern hingen und nicht von ihnen lassen wollten, und es fehlt nicht an Beispielen eines nahen, vertrauten Verhältnisses von Klöstern der Bettelorden zu der Bürgerschaft. (Fs)

21b Vor allem aber ist darauf hinzuweisen, daß die sogenannte Reformation die Verhältnisse im Klerus nicht besserte, sondern verschlechterte. Der schlimmste Zustand des Klerus wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts erreicht, also nach jahrzehntelangem Wirken der sogenannten Reformatoren. Die seit langer Zeit eingewurzelte Gewohnheit des Konkubinats der Geistlichen war durch die Lehren der Reformatoren und durch die Forderung der Priesterehe durch den Kaiser auf dem Konzil von Trient verstärkt worden. Wenn ein großer Teil der katholischen Geistlichen ungebildet und unwissend war, so waren die Zustände bei den Prädikanten noch viel schlechter. Wurde bei den ersteren über Sittenlosigkeit geklagt, so waren die Verhältnisse bei letzteren nicht besser. Es ist bekannt, daß es gerade die sittliche Unfruchtbarkeit der sogenannten Reformation war, die zahllose ihrer früheren Anhänger in das Lager der Täufer trieb. Auch hier ist der Vergleich des Verhaltens von Klerus und Volk gegenüber der progressistischen Woge, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Kirche überschwemmte, aufschlußreich für die Lage im 16. Jahrhundert. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Warten auf das Konzil

Kurzinhalt: Nichts hat der katholischen Sache so sehr geschadet wie das Abwarten, Zögern und Aufschieben. Zu viele Männer der Kirche empfahlen ein geduldiges und mildes Verhalten gegenüber den Neuerern.

Textausschnitt: 3. Das Warten auf das Konzil

21c Nichts hat der katholischen Sache so sehr geschadet wie das Abwarten, Zögern und Aufschieben. Zu viele Männer der Kirche empfahlen ein geduldiges und mildes Verhalten gegenüber den Neuerern. Vor allem der unheilvolle Einfluß des Erasmus von Rotterdam, der zum Dulden, Abwarten und zu Gesprächen riet, lähmte viele auf katholischer Seite. Da sollten die Reichstage die Lösung der Streitfragen bringen, oder es wurden Aussichten auf Beilegung des Zwistes durch die Zusammenkunft von Fürsten eröffnet, oder man sah in Religionsgesprächen das geeignete Mittel für den Ausgleich. Manche hofften auf die Einsicht und die Umkehr von Männern wie Melanchthon und Butzer und warnten davor, die angeblich darauf hinlaufende Entwicklung zu stören. Immer wieder machte man sich Hoffnungen und nährte Erwartungen, die niemals in Erfüllung gehen konnten, die aber die Verantwortlichen von der Verpflichtung, zu handeln, scheinbar entbanden. Man vergaß die alte Erfahrung, die Friedrich II. von Preußen später in die Worte faßte: "Hoffnungen dienen zu nichts, als bloß zu Lahmlegung aller Tätigkeiten in dem Kriege wie in der Politik."

22a Dies gilt vor allem für die Eröffnung des so oft und so nachdrücklich geforderten Allgemeinen Konzils. Daß das Konzil lange Zeit nicht zusammentrat, war für viele altkirchliche Kräfte ein Grund oder ein Vorwand, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Wir haben in unserer Zeit erlebt, wie viele Bischöfe und Priester von einem Konzil die Lösung der Fragen erwarteten, die allein ihr eigener schonungsloser Einsatz hätte herbeiführen können, und wie das Konzil nicht der Beginn der Erneuerung, sondern das Signal eines beispiellosen Zusammenbruchs wurde. Ähnlich war es im 16. Jahrhundert. Indem die katholischen Stände oft und oft erklärten, keine Änderung im Gottesdienst bis zu dem Konzil vornehmen zu wollen, schwächten sie ihre Position. Denn sie gaben damit zu, daß evtl. halt doch etwas geändert werden könne oder müsse, und lieferten so den Lutheranern das Stichwort für deren triumphierende Behauptung, sie hätten eben die notwendigen Änderungen schon vorgenommen. Die Gegner der Kirche dachten nicht daran, bis zum Zusammentritt des Konzils still zu halten und das Weitertreiben der Neuerung zu unterlassen. Daß die Päpste lange Zeit besorgt den Ruf nach dem Konzil vernahmen, ist bekannt, aber auch verständlich. Schließlich ermutigten die Erfahrungen aus dem 15. Jahrhundert nicht gerade zu seiner Einberufung. Die vielen verweltlichten deutschen Bischöfe hatten an einem Konzil, das, wie sie fürchteten, auch sie nicht mit einschneidenden Reformen verschonen würde, kein Interesse. Außerdem waren die Erwartungen, die sie an diese Versammlung stellten, sehr verschieden und teilweise gegensätzlich. Vor allem aber war es eine Illusion, darauf zu hoffen, das Konzil könne die Glaubensspaltung beseitigen. Wer von dem Konzil die Wiedervereinigung der Protestanten mit der Kirche erwartete, verkannte das Wesen der lutherischen Bewegung. Denn bei ihr ging es nicht um die Beseitigung von Mißständen und die Korrektur der einen oder anderen Lehrmeinung, sondern um einen Angriff auf das Zentrum des katholischen Christentums. Es ist unerweislich, daß diejenigen, welche die Entscheidungen früherer Konzilien über den Haufen warfen, sich an die Beschlüsse eines neuen Konzils hätten halten wollen. Seit der Leipziger Disputation mußte jedem nüchternen Beobachter klar sein, daß sich Luther niemals der Autorität eines katholischen Konzils unterwerfen würde. Diese Erwartung wurde durch seinen theologischen Ansatz ausgeschlossen. Es war ja gerade das Prinzip Luthers, daß er an die Stelle jeder anderen kirchlichen Autorität seine eigene setzte. In der Bulle "Exsurge Domine" steht der richtige Satz, daß jener vergeblich die Hilfe des Konzils anrufe, der öffentlich bekenne, daß er dem Konzil nicht glaube. Die von einem Konzil erhoffte Befriedung konnte angesichts der unaufhebbaren Gegensätze in der Lehre nicht eintreten; sie lag auch gar nicht in der Absicht der Protestanten. Der Nuntius Pighino erklärte am 5. November 1548 richtig, die Urheber und Wortführer des Protestantismus könnten Frieden in der Kirche nicht gebrauchen, weil sie dann die Autorität und den Kredit beim Volke verlören. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Lähmung durch den Kompromisskatholizismus

Kurzinhalt: Der Kompromißkatholizismus war weiter von einem irrationalen Wunschdenken geprägt. Viele seiner Anhänger konnten es nicht glauben, daß der Zustand der religiösen und kirchlichen Trennung ein endgültiger bleiben würde ...

Textausschnitt: 4. Die Lähmung durch den Kompromißkatholizismus

23a Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Ausbreitung des Protestantismus leistete die im katholischen Bereich lange Zeit währende Meinung, zwischen der katholischen Kirche und den Neuerern bestünden keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern lediglich Meinungsverschiedenheiten, die sich bei gutem Willen von beiden Seiten ausräumen ließen. Aus dieser Überzeugung entstand der sogenannte Kompromißkatholizismus, bildete sich die sogenannte Vermittlungspartei. (Fs)

23b Der Kompromißkatholizismus erwuchs einmal aus der Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit so mancher Katholiken. Sie wollten einfach nicht wahrhaben, daß die Protestanten lieber die Abspaltung von der Kirche in Kauf nehmen als auf ihre Sondermeinungen verzichten würden. Es zeigte sich schon hier ein Zug, der sich durch die Jahrhunderte gleichblieb: Im Durchschnitt sind Katholiken gutmütiger, nachgiebiger und weicher als Protestanten, im Durchschnitt sind Protestanten härter, selbstbewußter und mehr auf ihren Vorteil bedacht als Katholiken. (Fs)

23c Der Kompromißkatholizismus beruhte sodann auf einem Denkfehler. Seine Anhänger verkannten, daß es sich bei dem Gegensatz zwischen Luthertum und katholischem Glauben nicht um Lehrstreitigkeiten handelte, die innerhalb des kirchlichen Glaubens verblieben, sondern um revolutionäre Aufstellungen, die das gesamte kirchliche System sprengten. Die Meinung, die Männer wie Karl V. und Contarini lange Zeit hatten, nämlich es gehe bei den Religionsstreitigkeiten im wesentlichen um Mißverständnisse und sie seien daher mit geduldiger Aufklärung und demütiger Liebe aus der Welt zu schaffen, war falsch. Die Vermittlungstheologen hätten nur Luther genau ins Auge zu fassen brauchen, um zu erkennen, daß dieser selbst eine Übereinstimmung in der Lehre für seine Anhänger und die Katholiken als unmöglich ansah. Dabei lagen Zeugnisse klar denkender Männer über die Unvereinbarkeit von Luthertum und katholischer Kirche frühzeitig vor. Die Kölner Universität verurteilte schon am 30. August 1519 Luthers Thesen. Dem Bischof John Fisher war es 1524 klar, daß Luther nicht zurückgeholt werden könne. Campeggio schätzte in seinem Schreiben vom 5. Januar 1525 das Luthertum als die gefährlichste Irrlehre der Kirchengeschichte ein. (Fs)

23d Der Kompromißkatholizismus war weiter von einem irrationalen Wunschdenken geprägt. Viele seiner Anhänger konnten es nicht glauben, daß der Zustand der religiösen und kirchlichen Trennung ein endgültiger bleiben würde; sie redeten sich vielmehr ein, daß es über kurz oder lang zu einer Vereinbarung und einem Ausgleich kommen werde. Nach wie vor betrachteten sie sich und ihre Gegner als der einen Kirche zugehörig. Allzu lange gaben sich viele Katholiken der Illusion hin, durch Gespräche, Konzessionen und Neuformulierungen eine Versöhnung herbeiführen zu können. Die Kompromißkatholiken glaubten durch Zugeständnisse und Hintansetzung der dogmatischen Unterschiede die Einheit der Katholiken und der Protestanten erreichen zu können. Man kann nur staunen, welchen Selbsttäuschungen sich nicht wenige Bischöfe hingaben, wenn sie meinten, die Neuerer seien mit Zugeständnissen wie dem Laienkelch und der Priesterehe zu beschwichtigen. Der Kompromißkatholizismus vergaß den alten Erfahrungssatz: Wer jedem etwas gewähren will, vermag keinen zu befriedigen. (Fs)

24a Die Hoffnungen der Vermittlungstheologen gründeten sich teilweise auf einzelne Personen im Lager der sogenannten Reformatoren, die angeblich für einen Ausgleich zu gewinnen waren. Vor allem die Geschmeidigkeit Melanchthons wurde mit der Geneigtheit zum Entgegenkommen verwechselt. So stützte sich die Meinung, die Gewährung von Laienkelch und Priesterehe könne die kirchliche Eintracht wiederherstellen, vermutlich auf Äußerungen des letzteren auf dem Augsburger Reichstag von 1530, wonach die Einräumung dieser beiden Erlaubnisse die erwähnte Wirkung haben würde. Tatsächlich machte die ihm eigene Konzilianz den Melanchthon zu keinem Zeitpunkt geneigt, die Dogmen der Kirche ausnahmslos wieder zu bejahen. Cochläus schrieb einmal richtig über ihn, er heuchele zwar in den meisten seiner Schriften den Wunsch nach Frieden und Eintracht, sobald man aber ernstlich mit ihm über die Einigung verhandele, sei niemand so unzugänglich, verschmitzt und frech wie er. (Fs)

24b Die Kompromißkatholiken waren verständlicherweise zuerst unter dem Klerus anzutreffen. Es sei an Männer wie den Augsburger Bischof Christoph von Stadion und den Naumburger Bischof Julius Pflug erinnert. Aber auch unter den Fürsten und Räten hatte der Kompromißkatholizismus viele beharrliche Anhänger. Die Politik Karls V. war fast immer auf Ausgleich der streitenden Parteien und die Versöhnung der Protestanten ausgerichtet. In seiner Umgebung gab es nicht wenige, die diese Bestrebungen mit Hingabe unterstützten. Vor allem die beiden Granvella zielten durchwegs in diese Richtung. Karl V. unterlag allzu lange einer falschen Ansicht über die Protestanten. Er meinte jahrzehntelang, mit Entgegenkommen und Konzessionen ihre Rückkehr zur Kirche erreichen zu können. Er übersah, daß die irdischen Vorteile, die das Luthertum seinen Anhängern gewährte, für diese schwerer wogen als die Einheit im Glauben. Die Nuntien wurden nicht müde, ihm vorzustellen, daß nicht wenige Geistliche lieber ihren Glauben preisgäben als ihre Konkubinen, und deckten damit einen entscheidenden Grund für die Anhänglichkeit vieler an das Luthertum auf. Niemand hat klarer gesehen als Morone, daß den Protestanten an der Einheit lediglich insofern gelegen war, als sie hofften, ganz Deutschland werde ihrer Lehre zufallen. Ähnlich schrieb Campeggio am 6. November 1540 aus Worms, den Protestanten sei es nicht darum zu tun, eine Einigung zu erzielen, sondern neue Anhänger zu werben. Die Enttäuschung, die der Kaiser mit dem Interim erlebte, scheint ihm endlich die Augen geöffnet zu haben. Mit der Abdankung Karls V. war die Vermittlungspartei jedoch keineswegs verschwunden. Vielmehr ging weiterhin eine breite Strömung des Kompromißkatholizismus, wie ihm beispielsweise Kaiser Maximilian II. anhing, durch Deutschland und betörte viele. Sie erreichte zu dieser Zeit sogar die größten Konzessionen. Am 16. April 1564 gestand Pius IV. dem Kaiser und dem Herzog von Bayern den Laienkelch für ihre Länder zu. Einsichtigen Beurteilern der Lage war es klar, daß ein Entgegenkommen gegenüber den Protestanten nicht diese gewann, sondern ihnen weitere Vorteile verschaffte. "Kompromisse beschleunigen nur den Untergang der Religion", schrieb Petrus Canisius an den Würzburger Bischof Friedrich von Wirsberg. Seit dem Regierungsantritt Rudolfs II. (1576) wurden die Fronten klarer, und die sogenannte Mittelpartei, die meinte, die Formen katholischen Glaubens mit reformatorischer Einstellung verbinden zu können, verlor an Boden. Aber unwiederbringlich verloren waren die Jahrzehnte, in denen Illusionen den Kampfgeist gelähmt hatten. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Hemmungen der Politik

Kurzinhalt: Die sogenannte Reformation war ebenso sehr eine politische wie religiöse Bewegung. Von Anfang an steckte sich Luther hinter die weltliche Gewalt, um Schutz und Förderung zu erlangen.

Textausschnitt: 5. Die Hemmungen der Politik

25a Die sogenannte Reformation war ebenso sehr eine politische wie religiöse Bewegung. Von Anfang an steckte sich Luther hinter die weltliche Gewalt, um Schutz und Förderung zu erlangen. Er schrieb schon am 21. März 1518 an Johann Lang, daß der Kurfürst von Sachsen seiner Lehre gewogen sei und nicht dulden werde, daß er zur Verantwortung nach Rom gezogen werde. So war es ihm leicht, "mutig" zu sein. Als Kardinal Kajetan den sächsischen Herrscher am 25. Oktober 1518 aufforderte, Luhter auszuliefern oder wenigstens auszuweisen, lehnte der Kurfürst beides ab. Die Bedeutung des Schutzes, den der Irrlehrer fand, kann nicht leicht überschätzt werden. "Was wäre aus Luther und der Reformation geworden, wenn Kursachsen nicht drei Herrscher gehabt hätte, die ihn nicht nur gewähren ließen, sondern ihn mit dem weltlichen Arm aufs stärkste unterstützten!" (Robert Stupperich). Die politischen Mächte in Deutschland förderten ganz überwiegend die protestantische Bewegung. Der Protestantismus hat seine rasche und rücksichtslose Ausbreitung zum erheblichen Teil den Fürsten, dem Adel und den Städten zu verdanken. Ihnen war jedes Mittel recht, wenn es darum ging, ihre Macht und ihren Einfluß auszudehnen. Vor allem bedienten sie sich des Hoch- und Landesverrats, um ihre Sache voranzubringen. Es darf ja nicht vergessen werden, daß der Protestantismus eine verfassungsfeindliche Bewegung war. Richtig bezeichnet Hermann Tüchle den Schmalkaldischen Bund als "geradezu revolutionäre Opposition gegen Kaiser und Reich". Das Recht wurde von den Protestanten mit Füßen getreten. Sie dachten beispielsweise nicht daran, sich an den Geistlichen Vorbehalt zu binden. Ihm zum Trotz wurden zahlreiche Stifter und Klöster in den Ländern protestantischer Fürsten aufgelöst. (Fs)

25b Der Werbekraft, die von den zeitlichen Gewinnen, irdischen Erleichterungen und fleischlichen Konzessionen ausging, welche der Protestantismus seinen Anhängern versprach, konnte und mußte politische und militärische Stärke entgegengesetzt werden. Aber dazu vermochten sich die katholischen Obrigkeiten lange Zeit nicht zu entschließen. Das Luthertum, der Zwinglianismus und der Kalvinismus waren bei ihrem Auftreten, rechtlich gesehen, in einer schlechten Situation. Denn sie fielen als Ketzereien, exorbitante Lehrabweichungen, verfassungsfeindliche Bestrebungen und Friedensstörungen unter strengste Verbote und Sanktionen des Reichsrechtes. Man brauchte sie nur konsequent gegen die Irrlehre einzusetzen, um sie zu unterdrücken. Aber das geschah aus mehreren Gründen nicht. Zu viele Katholiken hofften immer noch auf die Macht des Rechts, während doch die Neuerer das Prinzip der Gewalt aufgerichtet hatten. Ein Mann wie Kurfürst Friedrich von Sachsen warnte davor, gewaltsam gegen Luther vorzugehen, weil dies gefährliche Unruhen hervorrufen könnte, während in Wahrheit die allergefährlichste Unruhe durch das Auftreten und Gewährenlassen Luthers entstand. Indem man aus Furcht vor etwaigen schädlichen Auswirkungen eines energischen Eingreifens gegen Luther tatkräftige Maßnahmen immer wieder aufschob, verschlimmerte man die Lage stets mehr, weil man dem Agitator Gelegenheit zu weiterer Aufwiegelung bot. Aufgrund der schlauen Taktik Luthers, immer wieder friedliche Versicherungen und verharmlosende Erklärungen abzugeben, wurde die Entscheidung gegen ihn lange Zeit verschleppt und aufgeschoben. Es hätte den katholischen Reichsfürsten klar sein müssen, daß die Zeit für die Abfallbewegung arbeitete und daß deswegen rechtzeitig die eines Tages doch unerläßlichen Maßnahmen getroffen werden mußten. Johann Eck war in seinem Schreiben vom 13. März 1540 an Contarini richtig der Meinung, daß es am Anfang, nach der Disputation zu Leipzig, noch möglich gewesen wäre, den kleinen Funken zu ersticken. Eine gewisse Parallele zu dem Vorgehen Luthers, freilich in wesentlich verschiedenem Maßstab, bietet das Verhalten des Schweizer Theologen Hans Küng in der Gegenwart. Ebenso ist die Reaktion der kirchlichen Hierarchie gegen ihn zu vergleichen mit ihrer Haltung im 16. Jahrhundert. (Fs)

26a Die entscheidenden Reichstage wurden ihrer Aufgabe, das Reichsrecht und den Glauben zu schützen, nicht gerecht. Teilweise begünstigten sie sogar, ungewollt oder gewollt, die Religionsneuerung. Nach dem Recht der Kirche und des Reiches hätte der Exkommunikation Luthers ohne weiteres die Verhängung der Reichsacht folgen müssen. Aber die Reichsstände bewogen den Kaiser, die Sache Luthers auf dem Reichstag zu Worms selbst zu prüfen. Damit wurde ein verhängnisvoller Präzedenzfall geschaffen. Die sogenannte Reformation wurde als Angelegenheit der Reichsstände behandelt und fortan hin- und hergeschoben, bis das Ergebnis von Augsburg (1555) sie zur Gleichberechtigung mit der Kirche erhob. Daß, wie der Nürnberger Reichstagsabschied vom 6. März 1523 forderte, das Evangelium wahr, rein, lauter und heilig zu verkündigen sei, war eine Selbstverständlichkeit auch für Katholiken. Aber der Begriff des Evangeliums, den die Protestanten verwendeten, war eben nicht mehr derselbe. Sie konnten daher aus dem Reichstagsabschied einen Freibrief für die Protestantisierung ableiten. Der Nürnberger Reichstagsabschied vom 18. April 1524 sprach lediglich die Erwartung aus, daß die Stände dem Wormser Edikt "so viel ihnen möglich" Gehorsam leisten sollten. Durch diese Formulierung wurde jede Sabotierung des Ediktes schon von vornherein sanktioniert. Auf dem Reichstag zu Speyer 1526 wurde beschlossen, die Reichsstände sollten sich in der Frage der Religion so verhalten, "wie ein jeder solches vor Gott und kaiserlicher Majestät hoffet und trauet zu verantworten". Die Protestanten verstanden diesen Beschluß dahin, daß das Reich die Regelung der Religionsangelegenheiten den Ständen überlasse. Auf dem Augsburger Reichstag von 1530 zeigte es sich, daß die Verhältnisse stärker waren als die Absicht des Kaisers, die religiösen Wirren durch seine Vermittlung beizulegen. Aber die notwendigen Folgerungen wurden aus dieser Erkenntnis nicht gezogen. Die Politik des Lavierens dauerte an. Am 8. Juli 1531 befahl der Kaiser dem Reichsfiskal, bis zum nächsten Reichstag keinen Prozeß wegen der Religion einzuleiten. Der Frankfurter Anstand von 1539 sah den Zusammentritt einer Kommission von katholischen und protestantischen Theologen und Laien vor, um eine "löbliche christliche Vereinigung" zustande zu bringen. Dabei mußte jedem, der halbwegs unterrichtet war, klar sein, daß die bestehenden Gegensätze durch kein Gespräch mehr beseitigt werden konnten. Aber die Protestantisierung ging, durch den erneuten Aufschub der Entscheidung gedeckt, weiter. (Fs)

27a Ein militärisches Vorgehen gegen Luther, seinen Anhang und seine Beschützer wäre rechtlich zulässig, ja geboten gewesen. Die sogenannte Reformation war Unrecht nach göttlichem und menschlichem Recht, und nur durch Rechtswidrigkeiten ohne Maß und Zahl konnte sie sich durchsetzen. Die ungeheure Menge der Rechtsbrüche und der Gewaltakte, deren sich die Neuerer schuldig gemacht hatten, ermächtigte nach Reichsrecht den Kaiser, mit der Waffe das zertretene Recht wiederherzustellen. Vor allem mit dem Kurfürsten von Sachsen und dem Landgrafen von Hessen als den Hauptstützen der protestantischen Bewegung hätte von vornherein ganz anders verfahren werden müssen; ihre Rechtsbrüche hätten viel früher mit der Gewalt der Waffen geahndet werden müssen. Aber niemals ist die Reichsgewalt gegen den sächsischen Kurfürsten Friedrich eingeschritten, der ja den Herd des Abfalls schützte. Hätte man rechtzeitig Philipp von Hessen und Friedrich von Sachsen niedergeworfen, dann hätte auch eine ansehnliche Landmasse zur Verfügung gestanden, die an zuverlässige Reichsstände hätte aufgeteilt werden können. Die treuen und entschiedenen Fürsten hätten durch Vergrößerung ihrer Gebiete auf Kosten der protestantischen Landesherren gestärkt werden müssen. So hätte etwa die Macht des Herzogs Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel vermehrt werden müssen, und so hätte den bayerischen Herzögen viel früher, als es wirklich geschah, territorialer Gewinn ermöglicht werden müssen. Kurfürst Joachim von Brandenburg und Herzog Georg von Sachsen erkannten, daß Warten, gutes Zureden und Disputationen gegenüber den Neugläubigen sinnlos waren und daß allein die rasche Anwendung der bestehenden Gesetze Abhilfe schaffen konnte. Allerdings gingen auch sie nicht daran, den Herd der Rebellion auszuräumen und in einer Zangenbewegung die Ordnung wiederherzustellen. (Fs)

27b So mancher Beobachter und Beteiligter der ungeheuerlichen Ereignisse der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erkannte, daß dem gebeugten Recht durch die Macht aufgeholfen werden müsse. Nikolaus Ellenbog sah in seinen Schreiben vom 25. Juli 1529 und 11. Juli 1531 die Anwendung von Waffengewalt als unerläßlich an. Campeggio erklärte oft, z. B. am 24. Juni 1531, daß die Waffen sprechen müßten. Er wies den Kaiser darauf hin, daß ihn die geistlichen Fürsten dabei unterstützen würden, denn es sei besser, die Kirchengüter für die Beseitigung der Häresie zu verwenden als sie in die Hände der Lutheraner fallen zu lassen. Cochläus empfahl in seiner Ausarbeitung vom 17. Juni 1540 die Anwendung der Reichsgesetze gegen die Rebellen, wie es Rom 13 vorgesehen sei, notfalls mit Waffengewalt, die nicht wegen des Evangeliums, sondern wegen Rechtsverletzungen gebraucht würde. Was Tatkraft und Konsequenz vermochten, das zeigte später Maximilian I. von Bayern in der Donauwörther Streitsache. (Fs)

28a Der Kaiser war durch die Verwicklungen der europäischen Politik schwer beeinträchtigt. Die ständigen außenpolitischen Verwicklungen hinderten ihn daran, seine Macht zur Bekämpfung der Irrlehre einzusetzen. Karl V. war zudem ein kranker Mann. Die Gicht suchte ihn mit starken Schmerzen heim. In seinen Erinnerungen berichtet er von 17, oft langwährenden Anfällen dieser Krankheit. Neun Jahre lang, von 1521 bis 1530, war der Kaiser schließlich vom Deutschen Reich abwesend. Das Reichsregiment war schwach. Während der Abwesenheit des Kaisers konnte sich die Irrlehre in wichtigen Territorien etablieren. Im Osten drückten die Türken auf das Reich, im Westen die Franzosen. Die Protestanten standen in Verbindung mit allen Feinden des Kaisers, ob es sich um Frankreich, die Türken oder die Republik Venedig handelte. So propagierte beispielsweise Georg Erasmus Tschernembl, der Führer der Protestanten in Oberösterreich, wiederholt das Bündnis mit den Türken gegen die Katholiken. Das Verhalten der Protestanten kann nicht anders als schamlose Erpressung bezeichnet werden. Der Kaiser vermochte den Kampf gegen die Türken regelmäßig nicht allein mit den Kräften seiner Hausmacht zu führen; er bedurfte der Hilfe des Reiches, mithin auch der protestantischen Reichsstände. Diese aber ließen sich ihre pflichtmäßige Unterstützung durch Zugeständnisse teuer bezahlen. So erkaufte der Kaiser 1532 die Unterstützung der Protestanten durch die Konzessionen des sogenannten Nürnberger Religionsfriedens. So paradox es klingt, so wahr ist es: Der deutsche Protestantismus hat niemandem mehr zu verdanken als den Türken. Das Wort ging um: "Der Türk ist der Lutherischen Glück." "Die Belastung mit der Grenzwacht gegen die Türken ist seit dem Beginn der Reformation das Haupthindernis gewesen, das einem energischen Kampf des Kaisertums gegen den deutschen Protestantismus im Wege gestanden hat" (Arnold Oskar Meyer). Das protestantische Lexikon "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" räumt ein, daß die Angriffe der Türken "von entscheidender Bedeutung für die Ausbreitung der Reformation in Deutschland" wurden (F. Taeschner). (Fs)

28b Außerordentlich schwer wiegt auf der Waage der Geschichte das Verhalten der französischen Könige angesichts der Glaubensspaltung in Deutschland. Die Herrscher Frankreichs im 16. Jahrhundert haben ihre Pflichten gegenüber der katholischen Religion schlecht erfüllt. Anstatt sich mit den katholischen Fürsten zur Verteidigung der Kirche zusammenzutun, verbanden sie sich mit den Protestanten. Während der Kaiser die Einheit der Kirche zu retten bemüht war, fielen sie ihm in den Rücken, paktierten mit seinen Feinden im Reich und hetzten die Türken gegen ihn auf. Überall, wo Widerstand gegen Kaiser und Reich aufflammte, waren Emissäre des französischen Königs mit Geld und Versprechungen zur Stelle. Fünf Kriege mußte Karl V. gegen Frankreich führen. Um gegen diese Macht die Hände frei zu bekommen, mußte er sich immer wieder den Protestanten beugen und ihnen den erwünschten Zeitgewinn lassen. Unter seinen Nachfolgern Ferdinand II. und Philipp II. (von Spanien) war es nicht anders. Als beispielsweise die spanische Armee daran war, den Aufstand der Niederlande in den Griff zu bekommen, trat in Frankreich der protestantische Heinrich IV. die Regierung an, und Philipp II. mußte seine Truppen nach Süden richten. (Fs)

29a Der Kaiser war häufig schwerfällig und ermangelte auch der Härte, die jene Zeit verlangt hätte. Die nach dem Sieg des Jahres 1531 bestehende Chance, die Schweiz für den katholischen Glauben zurückzugewinnen, wurde nicht genutzt. Alle Bemühungen Campeggios waren nicht imstande, den Kaiser zur Unterstützung der katholischen Kantone zu bewegen. Ebensowenig wurde 1547/48, nach dem Sieg über die Schmalkal-ener, reiner Tisch gemacht. Karl V. verstand es vielfach nicht, klare und dauerhafte Lösungen zu schaffen, eine Sache wirklich zu Ende zu führen und Gefahrenherde für immer auszuräumen. In seiner Anständigkeit war er so skrupellosen Naturen wie Philipp von Hessen und Moritz von Sachsen nicht gewachsen. Karl V. hat während der ganzen Zeit seiner Regierung daran geglaubt und sich darum bemüht, daß durch Gespräche und Formulierungen ein Ausgleich zwischen Katholiken und Protestanten gefunden würde. (Fs)
29b Freilich haben auch viele andere Fürsten versagt. Der polnische König beispielsweise hätte die Macht besessen, in Preußen aufzuräumen. Er zog es vor, sich das Land von dem abgefallenen Hochmeister unterstellen zu lassen. Zu Beginn des Aufstandes in Böhmen (1618) besoldete Fürst Karl Emanuel von Savoyen das Heer des Söldnerführers Ernst von Mansfeld, das gegen den Kaiser zog. Lange Zeit bereitete den deutschen Fürsten, auch den katholischen, die wachsende Macht des Hauses Habsburg Sorge, und diese lähmte bei manchen den Willen zum Zusammenschluß und zu entschiedenem Vorgehen gegen die neugläubigen Kollegen. Selbst die bayerischen Herzöge taten wegen ihrer Eifersucht gegen das Haus Habsburg dem Kampf gegen die Irrlehre im Reich jahrelang schweren Eintrag. In einem entscheidenden Augenblick, als Herzog Heinrich von Braunschweig, aus seinem Lande vertrieben, in Bayern Hilfe suchte (1542), versagte sich Herzog Wilhelm der Bitte; die antikaiserliche Komponente der bayerischen Politik war damals stärker als die antilutherische. Es gab auch auf katholischer Seite Leute, die das unentbehrliche Bündnis mit Spanien nicht gern sahen oder ihm sogar entgegenarbeiteten; sie ließen sich lieber von einer deutschsprachigen Soldateska berauben als von spanischen Söldnern ausplündern. (Fs)

29c Auch die Politik der Päpste war nicht stets zuoberst auf die Überwindung des Protestantismus gerichtet. Andere Ziele und Interessen schoben sich gelegentlich in den Vordergrund. Vor allem Paul III. hat mit seiner Begünstigung des französischen Königs und seiner mangelnden Unterstützung Karls V. schwere Schuld auf sich geladen. Aus politischen Erwägungen fügte er der Sache der Kirche größten Schaden zu. Seine Familienpolitik war ein Verhängnis. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - der rationalistische Aspekt

Kurzinhalt: Neben die Reduktion der (notwendig anzunehmenden) Lehre trat deren Verflachung und Umdeutung, die sie den Menschen plausibel machen sollte, indem sie das Mysterium zurückdrängte oder auflöste.

Textausschnitt: Die Appelle an die Emotionen

30a Wer die Massen in Bewegung setzen will, muß ihnen Parolen liefern, die an ihre Emotionen rühren. Denn sie werden stärker von Gefühlen als von Einsichten bestimmt. Diese Beobachtung zeigt sich deutlich in der protestantischen Bewegung. Ihre Urheber und Vorkämpfer verstanden sich meisterhaft auf die Psychologie der Massen. (Fs)

1. Der rationalistische Aspekt

30b Ein wesentlicher Faktor, der zu dem Erfolg der protestantischen Bewegung beitrug, war der rationalistische Aspekt derselben. Darunter ist die Berufung auf das angeblich Vernunftgemäße und Verstandesmäßige, auf die sogenannte Wissenschaft und die vermeintliche Klarheit zu verstehen, die bei Luther und seinen Anhängern üblich war. Man behauptete, die "Kirche" habe die Laien absichtlich in Unwissenheit gehalten, aus der sie nun durch Luther befreit würden. Es ist verständlich, daß diese Parole willig aufgegriffen wurde. (Fs)

30c Schon in seiner Schrift "Eine Freiheit des Sermon päpstlichen Ablasses und Gnade belangend" von 1518 erklärte Luther, er nehme (nur das) an, "was der Heilige Vater mit Schrift oder Vernunft beweist". Mit diesem Satz wurde implizit die kirchliche Autorität vernichtet und an ihre Stelle die Hoheit der Schrift, ja in letzter Linie der (eigenen) Vernunft als deren Interpretin etabliert. Luther trat mit dem (hybriden) Anspruch auf, nach Jahrhunderten falscher Interpretation der Bibel die richtige Auslegung zu bringen. Die "Vernunft" war es, die nach ihm über die Schriftauslegung entscheidet. Die Exegese untersteht der Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist. "Die Schriftauslegung wird damit zum weltlichen Geschäft, dem kühlen Wind der kritischen Vernunft hingegeben, der Forderung auf Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit ausgesetzt" (Heiko A. Oberman). (Fs) (notabene)

30d Aus dieser Auslegung erwuchs schon unter der Hand Luthers eine Reduktion der Lehre. Der Protestantismus verwarf Glaubensgegenstände, die nach dem katholischen Glauben als von Gott geoffenbart anzunehmen sind. Ich erinnere nur an so fundamentale Wahrheiten wie die von der hierarchischen Verfassung der Kirche und von dem Weihepriestertum. Eine inhaltlich verringerte und dadurch einfachere Lehre pflegt nun die Menschen mehr anzusprechen als eine materialreiche und formal komplizierte Lehre. Diese Beobachtung erklärt bekanntlich die Erfolge der Propaganda des Islam gegenüber der Mission der Kirche. Ähnlich war es aber auch im Verhältnis von Protestantismus und katholischem Glauben im 16. Jahrhundert. Die rationalistische Neigung im Menschen mußte an Luthers Verfahren Befriedigung finden. Die Beseitigung zahlreicher Lehren und Einrichtungen der Kirche, die Luther vornahm, konnte dem auf Einfachheit und Übersichtlichkeit ausgehenden Denken einleuchtend erscheinen. Die Zurückdämmung des sakramentalen Lebens durch die Leugnung von fünf Sakramenten vermochte den Beifall rationalistischen Empfindens zu finden. (Fs)

31a Neben die Reduktion der (notwendig anzunehmenden) Lehre trat deren Verflachung und Umdeutung, die sie den Menschen plausibel machen sollte, indem sie das Mysterium zurückdrängte oder auflöste. Luther bediente sich geschickt auch hier bis zu einem gewissen Grade des Rationalismus, um sich Anhang zu verschaffen. In seiner Sakramentenlehre, vor allem bei seiner Ablehnung der Wesensverwandlung und des Opfercharakters der Messe, räumte er Glaubenswahrheiten aus, die dem Verstehen Schwierigkeiten bereiten, und kam so der latenten Tendenz im Menschen, das Nichtzuverstehende zurückzudrängen, entgegen. Es mußte dem Kalkül schmeicheln, wenn Luther erklärte, im Altarssakrament vollziehe sich keine Verwandlung, sondern Christus sei lediglich unter dem Brot und Wein gegenwärtig. Die Leugnung des Opfercharakters der hl. Messe beseitigte Denkschwierigkeiten, die im 16. Jahrhundert noch nicht vollends aufgearbeitet waren. Einzelne seiner Anhänger gingen bekanntlich noch weiter. König Ferdinand I. schrieb am 31. Mai 1527 aus Prag an seinen Bruder Karl, man sage öffentlich, daß das Altarssakrament bloßes Brot und daß Gott darin nicht enthalten sei, eher der Teufel. Der Zwinglianismus, der dem Rationalismus umfangreichere Zugeständnisse machte als das Luthertum, mußte für dieses eine ernste Konkurrenz bedeuten. Selbstverständlich betrat der Protestantismus mit seiner angeblich verstandesmäßigen Kritik an katholischen Lehren eine schiefe Ebene. Es ist ja kein Grund ersichtlich, weshalb die menschliche Vernunft bei der Bibel stehenbleiben und warum sie nicht diese selbst der Kritik unterziehen soll. Dennoch ist an dem Erfolg solchen Vorgehens nicht zu rütteln. Die rationalistische Reduktion der Geheimnisse des Glaubens führte dem Protestantismus zweifellos nicht wenige Anhänger zu. Schwarmgeister und Freidenker begrüßten die Bewegung. Voltaire und Rousseau haben ebenfalls große Eroberungen unter den Geistern gemacht, weil eben der Deismus für viele verführerisch war und sie ihn dem Offenbarungsglauben vorzogen. (Fs)

31b Neben Reduktion und Uminterpretation unaufgebbarer katholischer Lehren räumte Luther auch auf dem Gebiet der religiösen Praxis mit vielen katholischen Einrichtungen und Übungen auf. Der Protestantismus hatte den Dünkel, die Religion von angeblich abergläubischen Gebräuchen reinigen zu müssen. Dazu rechnete er u. a. Prozessionen und Wallfahrten, vor allem die Verehrung des sakramental gegenwärtigen Herrn. So beliebt diese Übungen des gläubigen Volkes einerseits waren, so angreifbar waren sie für ehrfurchtslose und vor allem für ungläubige Geister. Die Neigung, die Existenz von etwas zu leugnen, dessen Daseinsweise man nicht versteht, ist ja latent in jedem Menschen. Jetzt wurde sie von Theologen und (ehemaligen) Priestern gefördert und bestätigt. Auch die Vernichtung der hohen Ideale, die mit dem Ordensleben verbunden waren, mußte einem flachen Verstand eingehen. Denn er sah eben das Auswirken der körperlichen Kräfte, also auch des Sexualtriebs, als das Naturgegebene und Normale an. (Fs)

32a In den Kreis der rationalistischen Komponente in der protestantischen Bewegung gehört das Pochen Luthers auf seine Würde als theologischer Doktor. Luther war Theologe, Doktor und Professor, und er wußte dies ins Spiel zu bringen. Was er vortrug, galt als Wissenschaft, und es ist bekannt, wie leicht Nichtwissenschaftier bereit sind, etwas anzunehmen, was ihnen im Namen der Wissenschaft vorgelegt wird. So bildete sich der Schein, als stehe in seinem Kampf Wissenschaft gegen Hierarchie. Rationalistisch war auch die Meinung Luthers, er habe recht gegen die ganze Kirche, weil seine Ansicht besser begründet sei. (Fs)

32b Die rationalistische Komponente in der lutherischen Bewegung erklärt zum erheblichen Teil den Dünkel und die Arroganz ihrer Anhänger. Ein geradezu unheimliches Selbstgefühl und eine kaum normale Überheblichkeit prägten schon Luther; er vermittelte beides dem Protestantismus. Dieser verstand es, seiner Gefolgschaft das Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Katholiken einzupflanzen; diese wurden als abergläubisch und rückständig gegenüber den aufgeklärten und modernen Protestanten ausgegeben. Indem protestantische Lehrer bestimmte katholische Lehren unter Berufung auf die Vernunft verwarfen, verschafften sie jenen ihrer Anhänger, bei denen diese Argumentation verfing, das wohltuende Bewußtsein geistiger Stärke. Wenn man die Schwierigkeiten der Rekatholisierung und den Widerstand gegen sie darstellt, muß man sich zur Erklärung auch an das Gefühl der Überlegenheit, das die Prädikanten ihren Anhängern eingeimpft hatten, sowie an die Geringschätzung der Katholiken, die sie ihrer Gefolgschaft beigebracht hatten, erinnern. Es war kein Wunder, daß die Parteigänger der neuen Lehre von dem angeblich höheren Niveau nicht auf ein niederes herabsteigen wollten. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - humanistische Kritik

Kurzinhalt: Zu Beginn der reformatorischen Bewegung erwies sich der Humanismus als ihr wichtiger Wegbereiter und Verbündeter. Der Humanismus war eine breite Strömung, welche die Gebildeten in ihren Bann schlug, ja eine Großmacht, die einen ungeheuren Einfluß ausübte.

Textausschnitt: 2. Die humanistische Kritik

32d Zu Beginn der reformatorischen Bewegung erwies sich der Humanismus als ihr wichtiger Wegbereiter und Verbündeter. Der Humanismus war eine breite Strömung, welche die Gebildeten in ihren Bann schlug, ja eine Großmacht, die einen ungeheuren Einfluß ausübte. Die humanistische Kritik an Einrichtungen und Lehren der Kirche sowie am Klerus und an den Ordensleuten schuf ein Klima der Gereiztheit, der Feindseligkeit und der Ablehnung, das sich Luther und seine Anhänger zunutze machten. Die Humanisten pflegten und verbreiteten ein idealisiertes Bild der Alten Kirche und stellten ihm die angebliche oder wirkliche Verlotterung in der Gegenwart gegenüber; "Zurück zur Urzeit" war ihr Schlachtruf. Die scholastische Theologie wurde erbarmungslos verurteilt und ihre Ersetzung durch eine auf die Schrift und die Väter gegründete Theologie gefordert. Die Humanisten attackierten Tradition und Autorität. Manche bezeichneten kirchliche Zeremonien als abergläubisch. Sie wetterten über Gebote und Satzungen von Menschen und nannten ihre Häufung Gewissenstyrannei. Sie brandmarkten die kirchliche Strafpraxis. Das Äußere und Sichtbare der Kirche wurde abgewertet, das Innere und Unsichtbare überbewertet. Das Objektive trat hinter dem Subjektiven zurück. Sie bezichtigten die Kirche und ihre Diener der Geldgier und der Habsucht. Leute wie Erasmus und Ulrich von Hütten verbreiteten Abneigung und Verachtung gegen die Mönche. Der Spott, mit dem die Humanisten den Klerus und den Ordensstand überhäuften, war besonders populär. Denn der durchschnittliche Mensch fühlt sich durch deren Lebensweise, Ideale und Lehren beunruhigt; sie stören seine innerweltliche Behaglichkeit. Erfährt er jetzt, daß es mit all dem nichts auf sich hat, weil angeblich alle oder die meisten, die dieser Lebensform angehören, verlogen und korrupt sind, dann fühlt er sich gleichzeitig entlastet und gehoben. Er wird frei von dem (lästigen) Anruf des Ideals; es gibt angeblich niemanden, der sittlich über ihm steht. Zwischen dem Programm der Humanisten hinsichtlich einer "Reform" der Kirche und den Bestrebungen Luthers bestand zumindest anfangs eine weitgehende Übereinstimmung. Diese Tatsache verschaffte zahllosen gebildeten und ungebildeten Anhängern der Neuerung das erhebende Gefühl, daß der Geist und die Wissenschaft auf ihrer Seite stünden. Wenn es in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts so etwas gab wie den Zeitgeist, dann war er maßgebend durch die humanistische Kritik an der Kirche bestimmt. Luther hatte den Zeitgeist für sich und gestaltete ihn nach seinen Vorstellungen. Die Wirkungen der humanistischen Kritik an der Kirche waren schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu spüren. Lange vor Ausbruch der religiösen Neuerung hören wir, daß an nicht ganz wenigen Orten viele Personen an den Sonn- und Feiertagen die Messe und die Predigt nicht besuchten. Allerdings wurden diese Versäumnisse nach und infolge der protestantischen Agitation unvergleichlich viel schlimmer. Die allgemeine Nachlässigkeit im Besuch des Gottesdienstes setzte erst nach 1517 ein. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Appell an Geltungsdrang und Ressentiment

Kurzinhalt: Der Geltungsdrang wurde aber nicht nur beim Klerus und bei den Klosterleuten angesprochen, sondern auch bei den Laien.

Textausschnitt: 3. Der Appell an Geltungsdrang und Ressentiment

33a Kein geringerer als John Fisher sah im Ehrgeiz oder Geltungsdrang die entscheidende Triebkraft Luthers. Diese Beobachtung gilt auch für zahllose seiner Anhänger. Sehr wirksam für die Verbreitung der Wittenberger Lehre erwies sich der Appell an Ehrgeiz, Geltungsdrang und Ressentiment. Luther war schlau. Er wußte, wo er die Menschen packen konnte, welche Saiten bei ihnen leicht zum Klingen zu bringen sind und welche Argumente bei ihnen verfangen; er wußte, was "ankommt". Aus namenlosen Klerikern, die unter der Autorität von Bischöfen und Klosteroberen standen, wurden sie nun durch ihn zu Kritikern der Kirche, ihrer Lehren, Einrichtungen und Amtsträger, ihrer Übungen und Gebräuche, sowie zu (angeblich) selbständigen Auslegern der Schrift und Richtern des Glaubens. Diese Emanzipation und diese Erhöhung mußten den Geistlichen und den Ordensleuten schmeicheln. Eine Lehre, die ihnen solche Vorteile brachte, erschien ihnen anziehend und einnehmend. Der Geltungsdrang wurde aber nicht nur beim Klerus und bei den Klosterleuten angesprochen, sondern auch bei den Laien. Luther propagierte Freiheit und Gleichheit aller Getauften in religiösen Dingen. Jeder habe das Recht, sich seinen Glauben aus der Heiligen Schrift selbst zu erheben ohne Rücksicht auf eine menschliche Autorität. Niemand sei durch ein Gesetz in seinem Gewissen gebunden, wenn er es nicht für gut erachte. In der Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation" forderte er die Fürsten und die Adligen auf, sich der angeblichen Not und Beschwerung der Christenheit zu erbarmen und die "Besserung" der Kirche in die Hand zu nehmen. Damit gab er dem Adel die ideologische Waffe, um in den geistlichen Reichsfürsten die landesherrliche Gewalt zu bekämpfen. (Fs)

34a Zu Ehrgeiz und Geltungsdrang traten Unterlegenheitsgefühl und Groll, um dem neuen "Evangelium" den Weg zu bahnen. Schon vor dem Auftreten Luthers bestand aus verschiedenen Gründen ein gefährlicher Gegensatz zwischen Klerus und Laien. Die Überordnung der Geweihten über die Nichtgeweihten in der Kirche wurde von manchen bitter empfunden; man erinnere sich zum Verständnis nur der Lage in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Erst recht kam die Unterordnung der (hochgestellten) Laien unter die Geistlichen viele schwer an. Die Ausübung der geistlichen Gerichtsbarkeit war mit manchen Demütigungen verbunden, die Traumata schufen. Vor allem gegen den Send bestand eine verbreitete Abneigung. Weiter erregte die wirtschaftliche Vorzugsstellung des Klerus den Neid der Konkurrenten in Handel und Gewerbe. Die Feindschaft gegen die Geistlichen in den großen Städten war im Wachsen. Es zeigten sich bedrohliche Symptome der Auflehnung gegen die geistliche und weltliche Gewalt der Bischöfe. Auch im Klerus selbst gab es starke Gegensätze, Groll und Verbitterung. Die ungleiche und teilweise ungerechte Verteilung der materiellen Subsistenzmittel auf die Angehörigen desselben wurde nicht von allen geistlich bewältigt. Der Vorbehalt der hohen Stellen (in Domkapiteln) und der Bischofsstühle für Angehörige des Adels wurmte manche Geistliche aus bürgerlichen oder bäuerlichen Verhältnissen. Die Nachlässigkeit und die Pflichtvergessenheit hoher Würdenträger empörten Priester, die für ein häufig karges Auskommen den geistlichen Dienst verrichteten. (Fs)

34b In die gereizte Atmosphäre warf der Wittenberger seine Parolen; er wußte, wo er die Menschen fassen mußte. Geschickt verstand es Luther, das Ressentiment der Nichtgeweihten gegen die Geweihten aufzustacheln, das allgemeine Priestertum gegen das besondere auszuspielen. Er beseitigte den Unterschied zwischen Geweihten und Nichtgeweihten, erklärte das besondere Priestertum für abgeschafft und entzog damit die Laien dem geistlichen Regiment. Es nimmt nicht wunder, daß diese neue Lehre den Menschen schmeichelte, ihnen Freiheit vorgaukelte und sie in ihrem Selbstbewußtsein stärkte. Die Kirchenverfassung, die hierarchische Ordnung, die sakramentale Weihe, der Unterschied zwischen Klerus und Laien wurden als schriftwidriges Menschenwerk und teuflischer Mißbrauch ausgegeben. Jeder einzelne sei ein Priester, und andere Priester als diese gebe es nicht. Jeder habe die Gewalt zu predigen. Die Prediger der neuen Lehre wurden nicht müde zu wiederholen, daß jeder einzelne berufen sei, die Heilige Schrift auszulegen, und daß es einem jeden zukomme, souverän in Sachen der christlichen Lehre zu richten. Der christlichen Gemeinde, also allen Gläubigen in gleicher Weise, sprach er das Recht zu, die Entscheidung zu fällen, ob ein Prediger die reine Lehre verkündet, und die Vollmacht, Lehrer des Wortes zu berufen. Auch mit der Forderung nach dem Laienkelch gelang es Luther vorzüglich, das Ressentiment in den Dienst seiner Sache zu stellen und emanzipatorische Gelüste wachzurufen. Unermüdlich machte er sich zum Anwalt des niederen Klerus gegen die höhergestellten Geistlichen, vor allem gegen die Hierarchie. Das Ressentiment gegen adelige Stifte und hochmütige Domkapitel war rasch geweckt. Kapläne und Vikare als Angehörige des geistlichen Proletariats traten als Sprecher der volkstümlichen Opposition gegen die bevorrechtete soziale Stellung der Geistlichkeit auf. Es nimmt nicht wunder, daß diese Lehren Luthers einen gewaltigen Nachhall und begeisterte Aufnahme fanden. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Verführung durch das Schriftprinzip

Kurzinhalt: Das Prinzip "Durch die Schrift allein" war wirksam für die protestantische Agitation, aber es war falsch. Dieser angeblich die Schrift in ihr Recht einsetzende Grundsatz hatte in der Schrift selbst keine Grundlage.

Textausschnitt: III Die theologischen Argumente

36b Die lutherische Bewegung bediente sich auch theologischer Argumente, um die Menschen an der katholischen Kirche irre zu machen und für ihre Lehre zu gewinnen. Die auf diesem Gebiet ausgegebenen Parolen waren ebenfalls höchst werbewirksam. Es kann an dieser Stelle selbstverständlich auch nicht annähernd eine ausführliche Darstellung der protestantischen Theologie geboten werden; vielmehr soll lediglich auf einige Punkte hingewiesen werden, die, unter die Massen geworfen, ein lebhaftes Echo wecken mußten. (Fs)
1. Die Verführung durch das Schriftprinzip

36c Die propagandistische und agitatorische Begabung Luthers zeigte sich vor allem in dem ununterbrochenen Bestreben, seine Sache mit dem Evangelium, der Heiligen Schrift, der Wahrheit zu identifizieren. Wenige Gegenstände seiner Lehre haben ihm unter den Geistlichen und den gebildeten Laien so viele Anhänger zugeführt wie die doppelte Behauptung, es dürfe in der christlichen Lehre nichts geglaubt werden, was nicht klar in der Heiligen Schrift enthalten sei, und eben diesen Grundsatz stelle er wieder her. Das Prinzip "Durch die Schrift allein" war der geniale Kunstgriff, mit dem die sogenannten Reformatoren es verstanden, ihre Lehren als das "Evangelium" auszugeben. Das von Luther aufgestellte Schriftprinzip übte auf die Menschen stärkste Wirkung aus. Denn indem er sagte: Nichts als die Schrift und alles aus der Schrift, schien er Gottes Autorität selbst hinter sich zu haben. Mit dem "Es steht geschrieben" stand er, so hatte es den Anschein, auf unerschütterlichem Grunde und setzte seine Gegner ins Unrecht, weil sie nicht in der Lage waren, für jede ihrer Lehren den Schriftbeweis, wie er ihn verstand, zu führen. Durch ihre scheinbar in der Bibel begründeten Attacken verschafften die Prädikanten ihren Anhängern Selbstbewußtsein und ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den angeblich im Heidentum steckengebliebenen und vom "Evangelium" abgefallenen Katholiken. Dünkel und Überheblichkeit trugen nicht wenig dazu bei, die Katholiken verächtlich zu machen und zu entmutigen. Das Sola-scriptura-Prinzip entfaltete seine verführerische Macht. Es erweckte in Geistern, die nicht nachdachten, die Vorstelllung, die religiösen Einrichtungen des Protestantismus seien durch die Autorität Christi gedeckt, jene der katholischen Kirche jedoch nicht. Der Gotthold Ephraim Lessing, der diesen Irrtum zerstörte, war im 16. Jahrhundert nicht zur Stelle. Durch das protestantische Schriftprinzip einmal auf einen falschen Weg gelockt, war es den Lutheranern leicht, ihre Aufstellungen den theologisch Ungebildeten plausibel zu machen. Man redete, gestützt auf das Bibelprinzip, den Leuten so lange vor, daß in der katholischen Kirche Aberglaube und Götzendienst herrschten, bis sie davon überzeugt waren. (Fs)

37a Das Prinzip "Durch die Schrift allein" war wirksam für die protestantische Agitation, aber es war falsch. Dieser angeblich die Schrift in ihr Recht einsetzende Grundsatz hatte in der Schrift selbst keine Grundlage. Die Bibel sagt nirgendwo, daß in ihr alle religiöse Wahrheit ausdrücklich und entfaltet zu finden sei; sie lehrt vielmehr das Gegenteil. (Fs)

37b Das Schriftprinzip ist auch logisch unhaltbar. Denn die Schrift selbst ist keine lebendige Entscheidungsinstanz. Eine solche aber ist nötig, wenn Kontroversen um den rechten Sinn der Schrift entstehen. Wenn von protestantischer Seite gefordert wurde, ihre Position müsse aus der Schrift widerlegt werden, so war damit nichts gewonnen. Denn die entscheidende Frage blieb, wer denn verbindlich feststelle, ob die Widerlegung aus der Schrift gelungen sei oder nicht. Luther erklärte sich zwar bereit zu allen Dingen, falls er nur aus der Schrift überführt würde. Das Urteil darüber aber, ob er die Schrift wider sich habe, behielt er sich selbst vor. (Fs)

37c Das Schriftprinzip bedeutet, daß der Glaube nach der Meinung des einzelnen zu verstehen ist. Wer das "Sola scriptura" zum Prinzip erhebt, dem ist jeder Weg verbaut, irgendeine Lehre dogmatisch zu fixieren; er muß vielmehr, wenn er konsequent ist, jede Position ständig erneuter Überprüfung unterwerfen. Die Lutheraner mußten ja selbst die Erfahrung machen, daß Prediger mit einem vom Luthertum abweichenden "Evangelium" unter ihren Anhängern großen Zulauf fanden; es sei nur an einen Mann wie Kaspar Schwenkfeld erinnert. Auch die Wiedertäufer waren zumindest ursprünglich und weithin für immer Bibelchristen und huldigten dem Biblizismus. Sie hielten wie Luther den Text der Schrift für "heiter und klar", allerdings nur für jene, die den Geist Gottes hatten. Die Wiedertäufer waren felsenfest davon überzeugt, die rechte Erkenntnis der Schrift zu besitzen; sie meinten, durch göttliche Erleuchtung dazu gelangt zu sein. In Wirklichkeit führte Luther das Schriftprinzip selbst nicht konsequent durch. Er hielt Positionen fest, die durch die Bibel nicht gedeckt sind, und er gestand anderen nicht dieselbe Freiheit zu, die er für sich in Anspruch nahm, nämlich durch eigene Auslegung der Schrift zur Wahrheit zu gelangen. Luther und seine Anhänger vermochten die "Wahrheit" ihres Bekenntnisses nur dadurch zu sichern, daß sie mögliche andere Interpretationen zurückwiesen und verboten. Joseph Lortz stellt fest, "daß Luthers persönliches, an der Bibel erarbeitetes Urteil sich zum Maßstab für Verkündigung und Lehre machte". (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - "evangelische" Propaganda

Kurzinhalt: Das von ihm aufgestellte Bibelprinzip benutzte Luther, um seine Lehre schlicht als das "Evangelium" auszugeben.

Textausschnitt: 2. Die "evangelische" Propaganda

38a Das von ihm aufgestellte Bibelprinzip benutzte Luther, um seine Lehre schlicht als das "Evangelium" auszugeben. Er stellte sie gegen den angeblich verderbten katholischen Glauben und baute einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen "Evangelium" und Papsttum auf. Erzherzog Ferdinand schrieb am 14. August 1524 von der Lehre Luthers, "die man jetzt evangelisch nennen will". Der Ruf nach dem reinen, lauteren Evangelium war ein Schlagwort, aber ein geniales Schlagwort. Allein von der Bezeichnung des protestantischen Religionssystems als des "Evangeliums", d. h. des ursprünglichen, in Christus zutage getretenen göttlichen Erlösungswerkes, ging eine ungeheure Werbewirkung, ja eine "magische Kraft" (Ignaz Döllinger) aus. Weniges hat der Sache Luthers so genützt wie ihre Gleichsetzung mit dem Evangelium. Wer mit dem lutherischen Verständnis von Evangelium "freie Predigt des Evangeliums" forderte, war propagandistisch gewaltig im Vorzug gegenüber dem, der die (so verstandene) Predigt nicht gestatten wollte. Aus dieser Berufung auf das "Evangelium" erklärt sich das gute Gewissen, mit dem ein erheblicher Teil der Anhänger Luthers sich von der katholischen Kirche abwandte. Es gab zweifellos Männer und Frauen, die im Protestantismus ein geläutertes Evangelium und einen reinen Gottesdienst sahen. Da man dem Volk unaufhörlich einredete, das Evangelium sei bisher nicht lauter verkündet worden, forderte es die Predigt des reinen Evangeliums. Wie der Protestantismus berief sich die religiöse Bewegung Frankreichs in den Jahren 1789-1793 auf die "evangelische Armut", die "Reinheit des Anfangs" und die "Einfachheit der Urkirche". (Fs)

38b Die Gleichsetzung seiner Lehre mit dem "Evangelium" wurde Luther bei wenigen Gegenständen so leicht gemacht wie bei der Propagierung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt; kaum irgendwo war er scheinbar so sehr im Einklang mit der Lehre Christi wie mit dem Ruf nach dem Laienkelch. Die Forderung nach der Austeilung der Kommunion unter beiden Gestalten war vielleicht die eingängigste. Sie war jedoch lediglich ein populärer Schlachtruf. Daß sie einer nennenswerten Zahl von Personen ein unaufgebbares geistliches Anliegen gewesen sei, ist unerweislich. Umgekehrt legte Paumgartner am 27. Juni 1562 in Trient dar, wie die Protestanten die Verweigerung der Kommunion unter beiderlei Gestalt als äußerst wirksames Mittel der Agitation benutzten. (Fs)

39a Die fehlende Legitimation für Luthers Berufung auf das Evangelium und der wahre Charakter seiner Lehre wurden frühzeitig erkannt. Kaiser Maximilian urteilte in seinem Schreiben an den Papst vom August 1518 zutreffend, daß Luther an die Stelle der Einheit des Glaubens und der überlieferten Wahrheiten des Heiles private Meinungen setze. Ebenso wurde die notwendige Bindung des Evangeliums an die Kirche deutlich ausgesprochen. In dem Mandat des Reichsregiments vom 6. März 1523 wurde richtig gefordert, daß das heilige Evangelium "nach auslegung der Schriften von den cristenli-chen kirchen approbirt und angenommen gepredigt" werde. Erst recht ließ sich ein Mann wie Herzog Georg von der Parole, Luther bringe das Evangelium, nicht imponieren. Er schrieb am 6. März 1526 an Landgraf Philipp: "Ich habe das Evangelium Christi, seit ich zur Vernunft gekommen bin, angenommen und gehört." Luther hat auch gar nicht auf die ganze Heilige Schrift gehört, sondern sie nur in subjektiver Auswahl benutzt. Joseph Lortz hat beispielsweise hervorgehoben, daß bei ihm die synoptischen Evangelien ebensowenig "zu ihrem vollen Recht" kommen wie das johanneische Schrifttum. "Luther war Paulinist" (Joseph Lortz). Aber nicht einmal die ganze Lehre des Paulus wurde von ihm rezipiert, sondern in der Hauptsache die Botschaft von der Rechtfertigung. In dem Blickwinkel dieses herausgerissenen Stückes interpretierte er die ganze Schrift, und dies notwendig falsch. "Der große Hörer des Wortes Martin Luther war nicht Vollhörer des Wortes" (Joseph Lortz). Er sah "nie die Schrift als eine Einheit, als eine einheitlich verpflichtende Verkündigung" an (Joseph Lortz). (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Verführungskraft des "Neuen"

Kurzinhalt: Wenn sich das "Neue", "Moderne" und "Zeitgemäße" überdies als das "Ursprüngliche', "Reine" und "Geläuterte" auszugeben versteht, dann ist seiner Werbekraft beinahe keine Grenze gesetzt.

Textausschnitt: 3. Die Verführungskraft des "Neuen"

39b Der durchschnittliche Mensch ist durch Parolen und Schlagworte leicht verführbar. Wer eingängige Devisen für sich und seine Vorstellungen ins Feld zu führen versteht, findet regelmäßig rasch Gefolgschaft. Die Verführungskraft des "Neuen", des "Modernen", des "Zeitgemäßen" ist bekannt. Zahllose Menschen fallen einer Sache allein deswegen zu, weil sie sich mit diesen Prädikaten schmückt. Solange eine Parole neu ist, ersetzt die Neuheit zum erheblichen Teil die innere Einsichtigkeit ihrer Begründung. Die verschiedenen "Reform"-Wellen etwa, die das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt hat, bezogen ihren Schwung regelmäßig nicht aus ihrer argumentativen Kraft, sonern aus der Tatsache, daß sie als neu galten. Wenn sich das "Neue", "Moderne" und "Zeitgemäße" überdies als das "Ursprüngliche', "Reine" und "Geläuterte" auszugeben versteht, dann ist seiner Werbekraft beinahe keine Grenze gesetzt. Was dagegen alt ist, das gilt nicht nur als bekannt, sondern vielfach als verbraucht, überholt, lebensfremd. Alt wird rasch mit veraltet gleichgesetzt. Die Menschen, die beim Alten bleiben, erscheinen leicht als unbeweglich, rückständig, und nicht selten werden sogar ihre Motive in Zweifel gezogen. (Fs)

40a Eben dies alles war bei der protestantischen Bewegung der Fall. Der Protestantismus besaß den Reiz der Neuheit. Er brachte eine Botschaft, welche die Zeitgenossen so noch nie gehört hatten. Das Neuheitserlebnis zog die Menschen an und gewann sie für sich. "Daß die Gegenseite - theologisch so schwach - ein Neues besaß, das war ihre Kraft" (Joseph Lortz). Dieses Neue wurde mit ungeheurem propagandistischen Aufwand an das Volk herangetragen, durch Mundagitation, durch Schriften, durch Lieder und durch Predigten. Da die meisten Menschen nicht nachdenken, ließen sie sich von dem Wortschwall und der Leidenschaft Luthers mitreißen. "Das furchtbare Gewicht" (Joseph Lortz) der öffentlichen Meinung sah eben den Protestantismus als das Richtige, das Bessere, das Zeitgemäße, das Moderne, das Ursprüngliche und das Gottgewollte an. Sich ihm zu entziehen, setzte so viel Mut und Freiheit von Menschenfurcht voraus, wie sie dem durchschnittlichen Zeitgenossen nicht gegeben war. Das Neue besitzt regelmäßig aus sich schon eine Stoßkraft. Im Falle des Protestantismus verband es sich mit einem pseudomissionarischen Drang. Luther und die Lutheraner waren fortwährend im Angriff, trugen die Offensive immer neu vor, setzten unermüdlich zu weiteren Eroberungen an. Die katholische Lehre wurde als überholt und überwunden ausgegeben. Noch heute hat man ein ungutes Gefühl, wenn in Darstellungen der sogenannten Reformationsgeschichte von der "alten" Kirche und den "Altgläubigen" die Rede ist. Die Katholiken waren in der Verteidigung, suchten zu widerlegen und abzuwehren. Damit gerieten sie von vornherein, einmal abgesehen von der Berechtigung und Güte ihrer Sache, ins Hintertreffen. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Zauber der "Reform"

Kurzinhalt: Wenige Worte erlangten im 15. und 16. Jahrhundet solche Bedeutung wie das der "Reform". Lange vor dem Auftreten Luthers sprach man allenthalben in der Kirche von notwendigen und wünschenswerten Reformen.

Textausschnitt: 4. Der Zauber der "Reform"

40b Reform ist ein positiv befrachtetes Wort. Es bedeutet so viel wie Fortschreiten zum Besseren. Wer in der Lage ist, seine Gedanken und Forderungen als Reform auszugeben, ist von vornherein in der Vorhand gegenüber den Verteidigern des Status quo. Ihm bleibt die Notwendigkeit, seine Pläne rational zu rechtfertigen, zumindest bis zu einem gewissen Grade erspart. Die suggestive Kraft des Wortes "Reform" sichert ihm von vornherein einen Teil des Erfolges. Jedermann ist davon überzeugt, daß Reformen notwendig sind, aber nur wenige fragen nach der Berechtigung des Zieles, auf das sie hinauslaufen. So ist es beispielsweise in unserer Zeit üblich geworden, die Erleichterung der Ehescheidung, also etwa den Übergang vom Verschuldensprinzip zum Zerrüttungsprinzip, als "Reform" zu bezeichnen. Die Gegner der "Reform" werden regelmäßig sachlich und moralisch disqualifiziert. Sie gelten als inkompetent, kurzsichtig, eigennützig und unbeweglich. (Fs)

40c Wenige Worte erlangten im 15. und 16. Jahrhundet solche Bedeutung wie das der "Reform". Lange vor dem Auftreten Luthers sprach man allenthalben in der Kirche von notwendigen und wünschenswerten Reformen. Wer von "Reformen" redete und "Reformen" forderte, der gewann die Menschen für sich. Sie wurden auch von vielen Bischöfen insofern in Angriff genommen, als sie dahingehende Gesetze erließen. "Wäre die Kirche mit Erlassen zu retten gewesen, so hätte es unbedingt geschehen müsen; denn an Erlassen fehlte es weder in Eichstätt noch in Regensburg. Allein die Krankheit lag tiefer; die Reformdekrete standen auf dem Papier, im Klerus und Volk aber wucherte das Übel weiter. Alles schrie nach Reformen, niemand aber wollte sich reformieren lassen" (Johann Baptist Götz). (Fs)

41a Luther trat nun auf als der große "Reformator", und mit dieser Bezeichnung ist er ja in die Geschichte eingegangen. Er erhob den Anspruch, mit seiner Lehre die von so vielen ersehnte Reform zu bringen. Viele gutgesinnte Männer wähnten in den ersten Jahren des Auftretens Luthers, in ihm ein auserwähltes Werkzeug einer wahren kirchlichen Erneuerung zu erkennen; sie meinten, die lutherische Bewegung sei die Erfüllung der Sehnsucht nach einer Reform der Kirche. Ganz richtig weist Ernst Tomek darauf hin, daß die Menschen "schon dem allzeit wirksamen Zauber des Wortes Reform" verfielen. Die offenkundige Reformbedürftigkeit der Kirche lieferte dem Protestantismus das beste Werbematerial. "Die Beseitigung von Mißständen wurde in einer emotional geladenen Atmosphäre nicht in Angriff genommen, und erst diese Unterlassung, nicht die Mißstände selbst, führte in ihrer Konsequenz zur Zertrümmerung der sichtbaren Kirche" (Winfried Becker). Es kann selbstverständlich keine Rede davon sein, daß die Zustände in der katholischen Kirche das Auftreten von Männern wie Luther, Zwingli und Calvin notwendig gemacht hätten. Aber eine wahre Erneuerung war unerläßlich. Wegen der Werbekraft des Begriffes Reform haben die besten Männer des 16. Jahrhunderts nicht aufgehört, darauf zu drängen, daß der sogenannten Reformation die echte katholische Reform entgegengestellt werde. (Fs)

41b Die Berufung auf die "Reform", die er angeblich vornehme, führte Luther nicht nur ungezählte Anhänger zu, sondern erklärt auch, weshalb viele Menschen die von ihm inaugurierten Änderungen in der Lehre, in der Kirchenverfassung und im Gottesdienst entweder widerspruchslos oder doch in gutem Glauben hinnahmen. Sie meinten, es handle sich dabei um die Wiederherstellung des ursprünglichen, gottgewollten Zustandes. Durch die Agitation der sogenannten Reformatoren wurde fast das ganze Volk von dem Schlagwort Reform ergriffen, ohne zu erfassen, daß Protestantisierung nicht Erneuerung, sondern Zerstörung der Kirche bedeutete. Katholiken und Protestanten verstanden unter dem Wort "Reform" völlig verschiedene Dinge. Entscheidend war die Stellung zu der Autorität der kirchlichen Oberen und zum Glauben: entweder eine Erneuerung mit Papst und Bischöfen auf der Grundlage der katholischen Lehre oder eine Modelung ohne die Hierarchie im Abfall vom Evangelium. Echte Reformen werden, da sie höhere Anforderungen an die Menschen stellen, von der Masse nicht mit Begeisterung begrüßt, sondern stoßen auf ihren Widerstand. Daß Luther nicht reformierte, sondern zerstörte, ergibt sich u. a. aus der Abwendung zahlreicher ursprünglicher Anhänger von seiner Lehre, die von einer "Reform" nichts oder zu wenig verspürten. Die "ungeheure Anhängerschaft" (Elsa Bernhofer-Pippert), welche die Täufer vielerorts fanden, erklärt sich in der Hauptsache aus der Enttäuschung über die sogenannte Reformation und der Unzufriedenheit mit den aus dieser hervorgehenden religiösen Verbänden. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Lehre vom Glauben allein

Kurzinhalt: Von großer Tragweite für die Abziehung der Menschen von der katholischen Kirche war die von Luther erfundene Lehre der Rechtfertigung "durch den Glauben allein" (sola fide).

Textausschnitt: 1. Die Lehre vom Glauben allein

45b Von großer Tragweite für die Abziehung der Menschen von der katholischen Kirche war die von Luther erfundene Lehre der Rechtfertigung "durch den Glauben allein" (sola fide). Danach ergreift der Sünder durch den von Gott geschenkten Fiduzialglauben die Gerechtigkeit Christi und deckt damit seine Sünden zu. Mehr und anderes ist nicht erforderlich, um das Heil zu gewinnen. Mit unversöhnlichem Haß zog Luther gegen gute Werke und Verdienst los. "Seit seinen Klosterkämpfen leidet er an einem wahren Trauma der Werkerei" (Joseph Lortz). (Fs)

45c Die katholische Kirche setzte der lutherischen Lehre die Botschaft des Evangeliums entgegen, wonach nur der durch die Liebe formierte Glaube (fides caritate formata) rechtfertige. Zu dem Glauben müssen heilsame Furcht, hoffendes Vertrauen, (wenigstens der Anfang der) Liebe und guter Vorsatz treten. Es wurde also ein Mittun und Mitwirken des Menschen verlangt, das freilich unter dem Antrieb der Gnade steht. Ebenso wurden Notwendigkeit, Nutzen und Verdienstlichkeit der guten Werke festgehalten. (Fs)

46a Die Hervorhebung des bloßen Glaubens und die Herabsetzung der Werke durch Luther und seine Gefolgsleute tat den Ohren sehr vieler Menschen wohl. Die Botschaft der fides wurde dahin verstanden, daß es jetzt nicht mehr auf das Tun und Lassen ankomme, um das Heil zu gewinnen, sondern lediglich auf die gläubige Annahme der zugerechneten Verdienste Christi. Es war eine eingängige Botschaft, der Mensch habe hinsichtlich des sittlich Guten keinen freien Willen und könne zum Guten nicht mitwirken, sondern Gott allein bewirke dasselbe ganz, so daß dem Menschen die Unterlassung des Guten und die Verübung des Bösen nicht zugerechnet werden könne. Nichts ist dem durchschnittlichen Menschen lieber als die Erklärung, daß er im Grunde aller Anstrengung enthoben ist. Das neue "Evangelium" schien den Menschen religiös aller lästigen Pflichten wie Beichten, Bußetun und Fasten ledig zu machen, weil er lediglich das Vertrauen zu Jesus brauche. Der Jubel der solcherart "befreiten" Menschen mußte dem neuen Propheten sicher sein. Es klang vielen angenehm in den Ohren, der Mensch werde durch den Glauben allein gerechtfertigt und der ewigen Seligkeit teilhaftig, folglich seien gute Werke weder zum ersten noch zum letzten erforderlich. Nach dem neuen "Evangelium" war es nicht mehr verdienstlich, Almosen zu geben, Meßstipendien zu reichen, Stiftungen zu errichten und Opfer darzubieten. Das viele Beten wurde ebenso als überflüssig hingestellt wie das Bringen von Opfern. Der Erfolg dieser Irrlehre Luthers war ungeheuer. Die angeblich jetzt wieder ans Licht getretene "evangelische" Lehre, wonach allein der Glaube der Weg zum Himmel sei und die gesetzlichen Forderungen der Papstkirche unnötig oder unmöglich seien, führte zu erdrutschartigen Abfällen. "Die protestantische Imputationslehre also mit ihren Prämissen und Consequenzen, ihrer Aufhebung aller kirchlichen Übungen war der mächtige Magnet, der die Massen - hoch und nieder - in die Gemeinschaft der neuen Kirche hinüberzog" (Ignaz Döllinger). Georg Witzel hat beschrieben, mit welcher Begeisterung die Menschen hörten, die Werke seien bedeutungslos, die Sünden würden den Gläubigen nicht zugerechnet und Christus wolle ein weltliches Leben. "Was dem irdischen Adam schmeichelt, zieht schnell durchs ganze Land."

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - der (falsche) Trost der neuen Lehre

Kurzinhalt: Luther erklärte, daß keine Sünde das Gewissen zu beunruhigen brauche außer der Unglaube.

Textausschnitt: 2. Der (falsche) Trost der neuen Lehre

46b Wenn die strenge Wahrheit und der behagliche Irrtum in Konkurrenz zueinander treten, bleibt gewöhnlich die erste auf der Strecke. Die Lehre Luthers beseitigte aus der katholischen Glaubenslehre jene Wahrheiten, die den Menschen erschrecken, beunruhigen und ängstigen können. Aus der Bibel suchte man die Stellen heraus, die der Menge angenehm in den Ohren klangen, und überging andere, die sie in Furcht versetzt hätten. Das Wittenberger "Evangelium" wurde von der Masse zumindest aufgefaßt als Theologie des Trostes ohne Zorn, ohne Drohung und ohne Strafe. Die protestantische "Trosttheologie" verstand es, dem ärgsten Sünder mit Leichtigkeit Gewissensruhe zu verschaffen. Der Trost, den Luther spendete, war jedoch ein falscher Trost, weil er darauf beruhte, daß den Menschen wesentliche Bestandteile der katholischen Lehre vorenthalten wurden. (Fs)

47a Im einzelnen sah die protestantische Trosttheologie wie folgt aus. Die Sünden wurden bagatellisiert. Luther erklärte, daß keine Sünde das Gewissen zu beunruhigen brauche außer der Unglaube. Nach Erteilung der Sündenvergebung schade nichts, "wie viel, groß, oft gesündigt werden mag". Angesichts dieser Stelle fragt selbst der Protestant Wilfried Joest, ob Luther hier nicht das tue, was Paulus in Rom 6,15 verwirft, und beurteilt solche Worte als "theologische Entgleisungen". Selbstverständlich hatte diese Lehre einen großen Erfolg. Georg Witzel schrieb 1537: "Je weltlich gesinnter und fleischlicher einer ist, desto schneller schließt er sich dieser Sekte an, in der dem alten Adam zu tun gestattet ist, was in der Kirche für schwere Sünde galt."

47b Die Vergebung der Sünden war jetzt leicht und bequem. Durch einen einzigen Glaubensakt konnte sofort und ohne weiteres die tröstliche Gewißheit der göttlichen Verzeihung erlangt werden. Trostreich war es, daß kein vollständiges Bekenntnis der schweren Sünden nach Art und Zahl zur Nachlassung der Sünde nötig sein sollte. An die Stelle der Einzelbeicht trat ein allgemeines Sündenbekenntnis, und die "Absolution" wurde über alle zugleich gesprochen. Als trostreich wurde Luthers Verwerfung der (regelmäßig anstrengenden) Genugtuung bei der Buße empfunden. Es war trostreich, von Luther zu hören, daß Gott jedem, dem er die Schuld nachläßt, auch die Strafe erlasse. (Fs)

47c Einen gewaltigen Erfolg hatte die Irrlehre mit ihrem Fiduzialglauben, d. h. dem subjektiven Erlebnis, daß man die Gerechtigkeit Christi erworben habe; jeder Zweifel daran und jede Ungewißheit wurde verworfen. Die Verkündigung der Heilssicherheit tat den Menschen wohl und übte große Anziehungskraft auf sie aus. Das Gottesbild Luthers war bequemer als das katholische. Er nahm den Menschen mit seinen Aufstellungen die (begründete) Furcht vor der Verdammnis und beseitigte den Glauben an das Fegfeuer, dessen Leiden vielen Menschen Ängste bereitet und sie zu Guttaten angespornt hatten. Luther befreite die Menschen von der Sorge, sie könnten sich nicht genügend anstrengen, um für ihr Heil zu wirken. Buße, Aszese und Abtötung wurden als überflüssig, ja verderblich hingestellt oder wenigstens verstanden. Die Leugnung des freien Willens hörte sich gut an; denn sie schien den Menschen seiner Verantwortlichkeit zu entheben. (Fs)

47d Die katholische Lehre, wonach die Kommunion lediglich für den richtig disponierten, d. h. durch Empfang des Bußsakramentes von schweren Sünden gereinigten Gläubigen bestimmt sei, wurde verworfen. Zum Abendmahl konnte man jetzt ohne Beichte, mit Sünden beladen, gehen, denn nach der Ansicht der Neuerer war es eingesetzt, damit man sich durch die Teilnahme an ihm Vergebung der Sünden hole. Um die begeisterte Annahme dieser Lehre zu begreifen, braucht man sich nur die Kommunionpraxis in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und die dazugehörigen Bußandachten anzusehen. Unangenehm waren die Kirchenstrafen, die von der mittelalterlichen Kirche häufig, zu häufig verhängt wurden. Luther wußte auch hier Rat, indem er (zunächst) die Exkommunikation als kraftlos erklärte. (Fs)

48a Der Erfolg dieser Theologie eines falschen Trostes war ungeheuer. "Nichts empfahl die neue Lehre bei Hohen und und Niedrigen, Gelehrten und Ungelehrten, Jungen und Alten mehr, als daß sie so überaus tröstlich war" (Ignaz Döllinger). (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Freiheit von Gesetzen

Kurzinhalt: enige Aufstellungen Luthers ebneten seiner Bewegung so sehr den Weg wie seine Botschaft von der Freiheit und seine Attacken auf das Recht.

Textausschnitt: 3. Die Freiheit von Gesetzen

48b Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß gern gehört wird, wer die Notwendigkeit einschneidender bestehender Ordnungen in Frage stellt und den Zwang lästiger geltender Gesetze attackiert. Jedermann vernimmt bereitwillig die Botschaft von der Freiheit. Im Falle der Konkurrenz zwischen Strenge und Bequemlichkeit fällt den Menschen die Entscheidung nicht schwer. Wer den Menschen Erleichterungen verspricht, ist immer im Vorteil gegenüber jenem, der ihnen Beschwernisse auferlegt. (Fs)

48c Man muß sich einmal die Lage vorstellen, die durch die Predigt der neuen Lehre im 16. Jahrhundert entstand. Katholisch sein und bleiben bedeutete Unterstellung unter den Bischof, unter seine lästige Gesetzgebung und seine noch lästigere Gerichtsbarkeit. Katholisch sein und bleiben beinhaltete Beobachtung der strengen, tief in das Leben eingreifenden und die Eßlust störenden Fastengebote. Katholisch sein und bleiben bedeutete Unterwerfung unter die Bußdisziplin der Kirche mit ihrem Gebot der Einzelbeicht aller schweren Sünden nach Art und Zahl. Die sittlichen Zustände im Volk waren vor Beginn der lutherischen Bewegung gewiß vielerorts ungünstig. Trunksucht, Spielsucht und Unzucht waren weit verbreitet. Aber es gab ein Regulativ. Die Lehren und die Vorschriften der Kirche beschränkten vielfältig die Sinnenlust, und selbst wenn sie übertreten wurden, ließen sie in dem Gewissen die heilsamen Vorwürfe entstehen. Die Verpflichtungen, welche die Kirche auferlegte, wurden nun von vielen als lästig empfunden. Sie minderten die persönliche Freiheit und störten den Lebensgenuß. Der Zeitgeist sprach daher für eine Erleichterung der kirchlichen Gebote. (Fs)

48d Nun trat der Wittenberger auf. Er verkündete das "Evangelium" von der "Freiheit" und führte einen unnachsichtigen Feldzug gegen das Recht. Wenige Aufstellungen Luthers ebneten seiner Bewegung so sehr den Weg wie seine Botschaft von der Freiheit und seine Attacken auf das Recht. Die Freiheit von Papst und Hierarchie, die Freiheit von Satzungen und Strafen, die Freiheit von Abgaben und Taxen, das alles mußte ihm die freudige Gefolgschaft der Massen einbringen. Die strengen Gesetze und die feste Ordnung der katholischen Kirche galten auf einmal nicht mehr; an ihre Stelle traten Freiheit und Selbstbestimmung, nicht selten Gutdünken und Willkür. Was die Neugläubigen verkündeten, war die Freiheit des Fleisches oder wurde jedenfalls so verstanden. Die Bedenken und die Vorwürfe des Gewissens, die den Übertreter und den Verächter der Gebote und der Vorschriften getroffen hatten, hörten auf. Das Luthertum befreite die Menschen davon, indem es jene Lehren und Satzungen aufhob, ja verwarf. (Fs)

49a Zeit seines Lebens führte Luther einen erbitterten Kampf gegen das Kirchenrecht, das er ja in schwerster Weise selbst übertreten und dessen Strafsanktionen er sich zugezogen hatte. Er bedachte das kanonische Recht mit den schlimmsten Schimpfworten und warf es weg. Fast das gesamte Recht der Kirche wurde als Menschenwerk abgetan, das gegen Gottes Wort stehe, ja des Antichrists Gebot sei. Sein Kampf gegen das Kirchenrecht mit seinen teilweise lästigen und einengenden Bestimmungen - man denke nur an seinen Kampf gegen die Ehehindernisse - mußte von der Masse begeistert begrüßt werden. Ebenso konnte die Aussicht, der geistlichen Gerichtsbarkeit in religiösen und sittlichen Fragen ledig zu werden, auf die Menschen nur faszinierend wirken. Denn in jedem Menschen lebt nun einmal, eingestanden oder uneingestanden, die Sehnsucht nach der Freiheit des Fleisches. Der Erfolg dieser Botschaft ist denn auch vielfältig bezeugt. Kein anderer als Melanchthon schrieb: "Begierig werden jene auf Beifall berechneten Predigten aufgenommen, welche die Freiheit erweitern und die Zügel der Leidenschaften lockern" (Avide accipiuntur illae tribunitiae conciones, quae libertatem amplificant et frenos cupiditatibus laxant). Johann Brenz erklärte im Jahre 1534: "Die Obrigkeit strebet nach der Klöster Gütern und dem Einkommen der Pfaffen, der Pöbel aber nach Freiheit, nach allem seinem Mutwillen straflos zu leben." Im Jahre 1537 schrieb Georg Witzel: "Durch den Kunstgriff, ihren Zuhörern ein fleischliches Leben zu gestatten, laden unsere Häretiker die Völker zu sich ein und halten sie bei sich fest." Der Ottobeurener Benediktiner Nikolaus Ellenbog schrieb am 13. Dezember 1542, die Protestanten seien nicht ununterrichtet, sondern mit Wissen vom Glauben abgefallen (Nee enim ignari sed scientes a fide orthodoxa deficiunt). Als Grund gab er die fleischliche Freiheit an (ob libertatem - nescio quam - carnalem, quam in velamen malitiae praetendere laborant). (Fs)

49b Im einzelnen fielen durch den protestantischen Aufstand zahlreiche einschneidende Vorschriften dahin. Die Pflicht zur Beobachtung vieler Feiertage wurde aufgehoben. Man versprach sich davon wirtschaftlichen Gewinn, was zu der ganzen diesseits gerichteten Grundhaltung des Protestantismus paßte, nahm aber auch die stärkere Ausbeutung der Arbeitskraft bewußt in Kauf, was an die Verwandtschaft von Kapitalismus und Protestantismus erinnert. Die Verpflichtung zum Besuch der Messe und zur Teilnahme am Gottesdienst an den Sonn- und Feiertagen entfiel, jedenfalls zunächst, bis das Volk zwangsweise dem protestantischen Kult zugeführt wurde. In der Gestaltung des Gottesdienstes gab es oder nahm man sich große Freiheit. Die"Hauptsache war, daß alles spezifisch Katholische unterblieb, also vor allem der große und der kleine Kanon fortgelassen wurden. Die lateinische Sprache wurde zum größten Teil aufgegeben, und man ging zur Landessprache über. Das Volkstümliche an dem neuen Religionssystem wirkte bestechend. Deutsche Lieder, deutsche Psalmen und deutscher Gottesdienst stießen in der Bevölkerung auf begreifliche Vorliebe. Man denke an die sogenannten Reformen, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche durchgeführt wurden. Einen Riesenerfolg hatte der Protestantismus mit dem Abbau der Bußdisziplin. Dem durchschnittlichen Christen war es angenehm, daß Fasten und Beichten entfielen. Es ist bezeichnend, daß nicht selten der Bruch mit dem katholischen Glauben sich zuerst im Fleischessen während der Fastenzeit kundtat. Was den anfänglichen Erfolg der allgemeinen, offenen Beicht betrifft, so erinnere man sich zum Verständnis des zuerst großen Zuspruchs, den die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingeführten Bußgottesdienste fanden; sie gestatteten dem lauesten Katholiken, ohne Mühe zu einem (scheinbar) guten Gewissen zu kommen. (Fs)

50a Die Ursachen, die bei dem Abfall zum Protestantismus wirksam waren, entfalteten ihre Macht auch bei dem Bemühen, die Menschen für den katholischen Glauben zurückzugewinnen. Daß es, allerdings in sehr verschiedenem Umfang, Widerstand unter der Bevölkerung gegen die Rekatholisierung gab, ist alles andere als unverständlich. Der Mensch gewöhnt sich bekanntlich an nichts schneller als an Annehmlichkeiten. Die Erleichterungen der neuen Lehre wurden daher nicht nur von vielen begierig aufgegriffen, sondern auch hartnäckig festgehalten. Sie wollten die "Errungenschaften" der sogenannten Reformation nicht aufgeben und zu den lästigen Geboten der katholischen Kirche zurückkehren. Sie hatten keine Lust, die Fastenzeit und die Freitage sich von Speisen zu enthalten, kirchliche Feiertage zu begehen und ihre Sünden in einem-persönlichen Einzelbekenntnis darzulegen. Sie dachten nicht daran, die Ehescheidung wieder preiszugeben, die ihnen das neue Evangelium großzügig einräumte. Man hatte keine Sehnsucht, die strenge kirchliche Gerichtsbarkeit wieder aufgerichtet zu sehen und vor dem Sendgericht erscheinen zu müssen, um dort vor der Öffentlichkeit bloßgestellt zu werden. Man erinnere sich nur der großen Zahl derer, die in kirchlich ungültigen Ehen lebten und die sich nach einer Wiederherstellung der katholischen Religion hätten trennen müssen, weil ihre Verbindung unheilbar nichtig war. Daß sie dem katholischen Glauben erbittert Widerstand leisteten, ist begreiflich. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - die neue Lehre von der geschlechtlichen Sittlichkeit

Kurzinhalt: Luthers Agitation gegen den Zölibat und die Ordensgelübde rief eine regelrechte "Heiratsbewegung" (August Franzen) hervor.

Textausschnitt: 4. Die neue Lehre von der geschlechtlichen Sittlichkeit

50b Einen großen Erfolg hatte Luther auch mit seiner Lehre von der Ehe und von der geschlechtlichen Sittlichkeit. Denn auf diesen Gebieten bot er den Menschen vielfältige Erleichterungen an und befreite sie von lästig empfundenen Schranken. Besonders beeindruckt zeigten sich die Menschen einmal von Luthers Predigt über das Recht jedes Menschen, seinen Geschlechtstrieb befriedigen zu können. Die zahllosen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen außerstande waren, zu heiraten und eine Familie zu gründen, hörten jetzt von den sogenannten Reformatoren, daß die von der Kirche geforderte Enthaltsamkeit eine gottwidrige, unmögliche Zumutung sei und daß sie dem Naturtrieb nicht widerstehen könnten und sollten; die Jungfräulichkeit wurde verspottet, die Ehe überhöht. Die zahlreichen Insassen von Klöstern vernahmen von den Predigern des neuen "Evangeliums", daß es um die gottgeweihte Jungfräulichkeit, um den klösterlichen Stand und um die Gelübde nichts sei, daß vielmehr all dies verwerflicher Zwang, unnatürliche Folter und gottwidriger Mißbrauch sei. Auf einmal bot sich eine Möglichkeit, auf ehrenhafte Weise einer Lebensform zu entfliehen, die nicht leicht war und von vielen zweifellos als hart und drückend empfunden wurde. Ja, angesichts der demagogischen Hetze gegen das Ordenswesen und des von den Prädikanten gegen die Ordensleute entfachten Hasses mußte die Flucht aus dem Kloster als Befreiung erscheinen. Wurde die Priesterehe freigegeben, dann konnten Geistliche, die unenthaltsam lebten, nicht mehr bestraft werden, ihre finanzielle Lage besserte sich und die Stellung ihrer Kinder gewann Legalität. Der Erfolg solcher "Freiheit" stellte sich augenblicklich ein. Luthers Agitation gegen den Zölibat und die Ordensgelübde rief eine regelrechte "Heiratsbewegung" (August Franzen) hervor. Schon unter normalen Umständen entscheidet sich der durchschnittliche Mensch, vor die Wahl zwischen Ehe und gottgeweihter Ehelosigkeit gestellt, für den ersten Stand. Erst recht muß dies gelten für eine Zeit, in der die letztere maßlos verunglimpft und als unmöglich hingestellt wurde. (Fs)

51a Die Ehe wurde sodann als ein "weltlich Ding" jedenfalls grundsätzlich der Jurisdiktion der Kirche entzogen. Damit wurde die Strenge der Ordnung wesentlich abgeschwächt. Diese Überwindung der "Gesetzlichkeit" mußte allen eingehen, die in ihrer Ehe litten oder die vor dem Risiko der unauflöslichen Ehe zurückschreckten. Der weltlichen Obrigkeit wurde ein beträchtlicher Zuwachs an Macht verschafft. Das Gericht über die Ehe wurde von dem bischöflichen Offizial auf den Rat übertragen. Damit war regelmäßig eine erhebliche Erleichterung und Nachsicht verbunden. (Fs)

51b Die Eingehung der Ehe wurde weiter nicht nur den durch Gesetz oder Gelübde daran Gehinderten eröffnet, sondern allgemein erleichtert. Eine Reihe von Ehehindernissen entfiel, andere wurden in ihrer Reichweite beschränkt, so zum Beispiel das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft. (Fs)

51c Einen Riesenerfolg hatte Luther schließlich mit der Preisgabe der Unauflöslichkeit der Ehe. Er führte mindestens bösliches Verlassen und Impotenz als Scheidungsgründe ein. Seine Anhänger fügten diesen weitere hinzu; mit rasender Geschwindigkeit langte man bei den Scheidungsgründen des heidnischen römischen Rechtes an. Mit der Auslieferung der Ehe an die weltliche Obrigkeit ging auch die Vollmacht zur Trennung an diese über, und so war ihr die grundsätzliche Möglichkeit zur Scheidung auch aus anderen Gründen, ja zur Auflösung jeder Ehe übertragen. Zahlreiche Männer verließen jetzt ihre Frauen. In den meisten Fällen wurde den Geschiedenen die Eingehung einer neuen Verbindung gestattet. Diese Freiheit allein mußte Luther zahlreiche Anhänger zuführen. Die Aufhebung der Unauflöslichkeit der Ehe durch die sogenannten Reformatoren kann in ihrer Bedeutung für die Zuwendung zu der neuen Lehre gar nicht überschätzt werden. Niemand hat die Erfolge Luthers deutlicher auf dessen bequeme Lehren zurückgeführt als Thomas Müntzer. Luther selbst hat mehr als einmal beklagt, daß das "Evangelium" weithin als "Bauchpredigt" verstanden werde. Canisius sah die drei C als die Hauptursache des Erfolges der Protestanten an, nämlich calix (Laienkelch), caro (Fleisch) und coniux (Aufhebung der Ehelosigkeit für Geistliche und Ordensleute). Es gehörten ein starker Glaube und gute religiöse Kenntnisse dazu, um angesichts derartiger Verlockungen, wie die Wittenberger Lehre sie bot, in der Kirche zu bleiben. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Verführung der Geistlichen und Ordensleute

Kurzinhalt: Die Lehre Luthers von Ehe, Geschlechtlichkeit und Zölibat mußte auf die Geistlichen und Ordensleute einen starken Eindruck machen. Denn sie bestritt die klerikale und die klösterliche Lebensform prinzipiell.

Textausschnitt: 5. Die Verführung der Geistlichen und Ordensleute

52a Die lutherische Bewegung wäre im Sande verlaufen, wenn sie nicht für diejenigen, die sich ihr anschlössen, massive irdische Vorteile mit sich gebracht hätte. Der Hang zum bequemen Leben ist beim durchschnittlichen Menschen stärker als die Neigung, unter Einbußen und Verlusten dem Befehl des Gewissens zu folgen. Diese Beobachtung gilt leider auch für viele gottgeweihte Personen, jedenfalls von dem Augenblick an, in dem der Glaube in ihnen zusammenbricht. Eben dies war im 16. Jahrhundert weithin der Fall. Die protestantische Agitation erschütterte viele Priester und Ordensleute in ihrer Gläubigkeit. Wenn all das zutraf, was Luther über Priestertum und Sakramente, vor allem über das Meßopfer, vortrug, dann war nicht mehr des Bleibens im geistlichen Stande. Der Zusammenbruch des Glaubens war in aller Regel die Ursache für die Aufgabe des gottgeweihten Standes. (Fs)

52b Die Lehre Luthers von Ehe, Geschlechtlichkeit und Zölibat mußte auf die Geistlichen und Ordensleute einen starken Eindruck machen. Denn sie bestritt die klerikale und die klösterliche Lebensform prinzipiell. Nach der neuen Lehre wollte Christus, daß die Menschen vernunftgemäß und bürgerlich, d. h. weltlich leben. Es sollte kein unter besonderen Gesetzen stehendes Leben der Geistlichen und der Klosterangehörigen geben. Die Verwerfung von Zölibat und Ordensgelübden durch Luther und die Hetze gegen diese Einrichtungen hatten die öffentliche Meinung mehrheitlich für die Priesterehe gewonnen. Die Geistlichen und die Ordensleute wurden nicht mehr von der Achtung und Verehrung, aber auch nicht vom Verständnis und der Zustimmung der Allgemeinheit zu ihrem Lebensstand getragen. Luther lieferte ihnen die Ideologie für ihren Abfall. Seine Schrift über die Klostergelübde ebnete zahllosen Mönchen und Nonnen einen Weg, die beschwerlichen Pfade des klösterlichen Lebens zu verlassen und sich den irdischen Freuden in die Arme zu werfen. Der Anschluß an den Protestantismus erschien vielen unsicher gewordenen Geistlichen als geeignetes Mittel und als willkommene Gelegenheit, um eine Ehe einzugehen und ein Familienleben zu führen. Nicht ohne Grund schrieb Erzherzog Ferdinand am 12. Mai 1523 an seinen Bruder Karl, daß jetzt mancherorts die Fastenzeit nicht mehr gehalten werde und Priester und Mönche sich verheiratet hätten. Gerade das, was die sogenannten Reformatoren "reformieren" wollten, also die geistliche Erschlaffung und das Darniederliegen der Ordnung, ebnete dem Luthertum den Weg. Luther selbst war alles andere als ein vorbildlicher Ordensmann; er ging 1525 eine Verbindung mit einer ehemaligen Nonne ein. Dazu kam, daß Luther geschlechtliche Betätigung, von nicht ins Gewicht fallenden Ausnahmeberufungen abgesehen, als unausweichlich erklärte und somit jeden, der nicht verheiratet war, unter den grundsätzlichen Verdacht der Unzucht und des Lasters stellte. Der Kampf der Prädikanten gegen den Konkubinat war in Wahrheit ein Feldzug gegen den Zölibat und für die Priesterehe. Durch den Übergang zum Protestantismus entzogen sich sittlich anrüchige Geistliche der Verfolgung durch das Geistliche Gericht. Der sächsische Kanzler Melchior von Ossa berichtet eine bezeichnende Äußerung von undisziplinierten Stiftsherren: "Ehe sie sich reformieren ließen, wollten sie lutherisch werden."

53a Um so höher zu schätzen ist das Zeugnis jener Mönche und Nonnen, die trotz einer ganzen Welt, die um sie herum zusammenbrach, ihrem Ideal treu blieben, und ihrer waren nicht wenige. Sie entbehrten häufig des regelmäßigen katholischen Gottesdienstes, es fehlte ihnen vielfach die katholische Predigt, nicht selten wurden ihnen die Subsistenzmittel entzogen und sie selbst zahllosen Schikanen ausgesetzt. Man denke etwa an die mecklenburgischen Klöster Ribnitz und Dobertin, wo 1556 bzw. 1569 die Schwestern noch als "Papistinnen" bezeichnet wurden. Das Heldentum dieser Ordenspersonen ist eine Anklage gegen den gesamten unseligen Vorgang der sogenannten Reformation. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Verantwortung der Päpste

Kurzinhalt: Fast alle Päpste der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren ihrem Amt nicht gewachsen und haben der Kirche schweren Schaden zugefügt.

Textausschnitt: VII. Die Hemmnisse erfolgreicher Abwehr der Irrlehre

65a Nachdem die Gründe namhaft gemacht wurden, die ohne Rücksicht auf das Verhalten der Bischöfe das Voranschreiten der Glaubensneuerung in Deutschland erklären, soll nunmehr der Blick auf die Bischöfe selbst gerichtet und gefragt werden, welchen Anteil ihr Tun oder Unterlassen an dem großen Abfall hatte. Dabei dürfen die Schwierigkeiten, mit denen die Oberhirten des 16. Jahrhunderts zu kämpfen hatten, nicht verkannt werden; sie waren groß und vielfältig. Es besteht kein Zweifel, daß auch die besten Bischöfe die Lawine, die Luther auslöste, nicht hätten aufhalten können. Dennoch waren Charakter und Verhalten der Diözesanoberhirten für den Gang der Entwicklung nicht unbeachtlich. Die Persönlichkeit und die Aktivität bzw. Passivität der Bischöfe war vielmehr für die Ausbreitung und die Festigung des Protestantismus in hohem Maße bestimmend. Zeitgenössische Beobachter, denen niemand Sachkenntnis und Willen zur gerechten Beurteilung absprechen kann, gaben der Überzeugung Ausdruck, daß die Hirten der Kirche zum erheblichen Teil ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. So nannte beispielsweise Johannes Eck die Schuld von Bischöfen und Papst an dem Erfolg der Religionsneuerung deutlich beim Namen. Herzog Georg von Sachsen sah sogar den Ursprung der Wirren in dem Versagen der meisten Bischöfe. (Fs)

1. Die Verantwortung der Päpste

65b Die Sache Luthers.war in Deutschland entstanden, aber sie zog die gesamte Kirche in Mitleidenschaft. Die Päpste als das sichtbare Oberhaupt der Kirche waren aufgerufen, dazu Stellung zu nehmen. Sie haben das in gewissem Umfang getan. Am 15. Juni 1520 erklärte Leo X. in der Bulle "Exsurge Domine" 41 Sätze Luthers als verworfen, ketzerisch und ärgerniserregend, verbot seine Schriften und forderte ihn innerhalb 60 Tagen zur Rückkehr zur Kirche auf. Die Bulle "Exsurge Domine" hatte indes bei aller Verdienstlichkeit ihre Schwächen; vor allem legte sie nicht fest, welche Sätze Luthers, die sie verurteilte, lediglich anstößig und welche häretisch waren. Am 3. Januar 1521 erließ Leo X. die Bulle "Decet Romanum Pontificem", in der Luther und seine Anhänger als der Exkommunikation verfallen erklärt und alle Bischöfe aufgefordert wurden, die Exkommunikation zu verkünden. Dem nachträglichen Betrachter fällt die Langsamkeit des Vorgehens auf. Von der Anzeige Luthers durch Erzbischof Albrecht von Mainz im Dezember 1517 bis zu der Bulle "Decet Romanum Pontificem" vom Januar 1521 brauchte der Apostolische Stuhl drei Jahre, um dem Wittenberger Irrlehrer den Prozeß zu machen. Die Römische Kurie hat dennoch die Gefährlichkeit dieses Gegners rascher erfaßt und mehr getan, um ihn unschädlich zu machen, als die meisten deutschen Bischöfe. (Fs)

66a Die Päpste ergriffen auch fernerhin eine Reihe von Maßnahmen, um des Abfalls Herr zu werden. Sie entsandten Nuntien nach Deutschland, unter denen viele bedeutende, ja hervorragende Männer waren. Ihr Anteil an der Erhaltung und an der Wiederaufrichtung der katholischen Religion ist beträchtlich. Große Verdienste um die Besserung von Mißständen und die Bekämpfung des religiösen Umsturzes erwarben sich sodann die von den Päpsten in Gang gesetzten Visitationen. Man braucht nur an den Namen von Felician Ninguarda zu erinnern, um den Segen dieser Prüfungsbesuche in den Blick zu bekommen. Der Apostolische Stuhl unterstützte weiter die katholische Sache im Reich mit Truppen und Subsidien, aber nicht in genügendem Maße und nicht immer. Die Päpste begriffen auch, daß eine außergewöhnliche Lage außergewöhnliche Mittel verlangte. So überwanden beispielsweise mehrere von ihnen, die als ausgesprochene Männer der Reform gelten müssen, ihre Abneigung gegen die Kumulation von Benefizien. Ein Bischof, der mehrere Bistümer in seiner Person vereinigte, vermochte nämlich die gesammelte Kraft dieser Stifte in das Spiel der politischen Mächte einzubringen. Pius V. gründete endlich am 23. Juli 1568 eine ständige Kardinalsdeputation zur Bekehrung der Häretiker jenseits der Alpen. Ende des Jahres 1572 rief Gregor XIII. die Congregatio Germanica ins Leben. In diesen Gremien widmeten sachkundige Männer den deutschen Angelegenheiten die gebührende Aufmerksamkeit. (Fs)

66b Dieser positiven Bilanz stehen beträchtliche Negativposten gegenüber. Fast alle Päpste der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren ihrem Amt nicht gewachsen und haben der Kirche schweren Schaden zugefügt. Die unglaubliche Pflichtvergessenheit der Päpste, von denen manche mehr an ihre Verwandten als an die Kirche dachten, war gleichzeitig ein schweres Hindernis für die katholische Erneuerung. So beförderte beispielsweise in Dezember 1534 Paul III. zwei seiner Enkel, die im Alter von 14 und 15 Jahren standen, zu Kardinalen. Julius III. war ein schwankendes Rohr und am meisten um seine Familie besorgt. Die Päpste waren lange Zeit nicht imstande oder nicht gewillt, den Bischöfen in ihren Diözesen die kraftvolle Jurisdiktionelle Stellung zu verschaffen, ohne die weder die Abwehr der Irrlehre noch die katholische Erneuerung wirksam betrieben werden konnte; vor allem die bischöfliche Position gegenüber dem Domkapitel und den klösterlichen Verbänden war schwach. Die reichen Privilegien der Bettelorden entzogen sie zu weitgehend der Jurisdiktion der Bischöfe. Lange Zeit entnervten die Päpste die kirchliche Disziplin durch fortwährende Ausnahmeregelungen. Sie waren nicht der Tatsache eingedenk, daß Dispensen dem Gesetz Wunden schlagen. Johannes Eck hat die laxe Dispenspraxis der Römischen Kurie scharf getadelt. Der Heilige Stuhl war schließlich zu nachsichtig gegenüber den Bischöfen. Er ließ es zu, daß sich die Administratoren von Bistümern lange Zeit nicht die Weihen erteilen ließen und ein dementsprechend ungeistliches Leben führten. Er gestattete, daß Bischöfe von der Residenzpflicht in ihren Diözesen befreit wurden. Der Heilige Stuhl hatte regelmäßig Geduld und Nachsicht, zu viel Geduld und zu viel Nachsicht mit den unbrauchbaren Bischöfen. Er ließ gewöhnlich lange Zeit hingehen, ehe überhaupt etwas gegen sie unternommen wurde, und was dann meist geschah, waren Mahnungen und Untersuchungen, nicht aber die erforderlichen Maßnahmen. Ein Mann wie der Salzburger Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau beispielsweise hätte niemals jahrzehntelang auf seinem Bischofsstuhl geduldet werden dürfen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die Gründe, die das Stillhalten so manches Bischofs angesichts von Mißständen entschuldigen oder wenigstens erklären, auch für den Heiligen Stuhl galten. Mehr als einmal mußte der Papst einen unwürdigen Bischof in seinem Amte dulden, damit man ihn nicht bei scharfem Vorgehen den Protestanten in die Arme triebe. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Ernennung Ungeeigneter zu Bischöfen

Kurzinhalt: Es besteht kein Zweifel, daß es im 16. Jahrhundert eine beträchtliche Zahl von Bischöfen gab, die für ihr Amt entweder rechtlich oder charakterlich oder in beiderlei Hinsicht nicht geeignet waren.

Textausschnitt: 2. Die Ernennung Ungeeigneter zu Bischöfen

67a Es besteht kein Zweifel, daß es im 16. Jahrhundert eine beträchtliche Zahl von Bischöfen gab, die für ihr Amt entweder rechtlich oder charakterlich oder in beiderlei Hinsicht nicht geeignet waren. Ausdruck der Tatsache, daß vielfach Ungeeignete auf Bischofsstühle erhoben wurden, war die sehr häufige Ersetzung der Wahl durch die Postulation. Die Wahl der Bischöfe lag bei den Domkapiteln. Diese waren hauptsächlich von Mitgliedern der deutschen Adelsgeschlechter besetzt; unter ihnen waren nicht wenige Protestanten oder protestantisierende Personen sowie ungeistliche oder unwürdige Männer. Die protestantisch gesinnten oder sittlich verkommenen Mitglieder der Domkapitel gaben bei Wahlen vorzugsweise Kandidaten, die zu ihnen paßten, ihre Stimme. So erklärt es sich, daß die Domkapitel in zahlreichen Fällen ungeeignete Personen zu Bischöfen wählten bzw. postulierten. Menschliche Rücksichten, finanzielle Überlegungen und Familienpolitik spielten dabei eine große Rolle. Die höchsten geistlichen Stellen wurden allzu häufig für die Versorgung von Söhnen der Fürsten und des hohen Adels verwendet. Manche von ihnen spürten, daß sie dafür weder geeignet noch geneigt waren, und wehrten sich. Aber man drang in sie und beschwor sie, um der Familie willen ihren Widerstand aufzugeben. Nicht ganz selten wurden Fürstensöhne zuerst in den geistlichen Stand und dann in die bischöfliche Würde regelrecht hineingezwungen. Die fast ausnahmslose Besetzung der höchsten Kirchenämter mit nachgeborenen Söhnen adeliger und fürstlicher Häuser war ein schlimmer Schaden für die Kirche. Einmal fehlten diesen Männern vielfach Eignung und Neigung, um ihrem hohen Berufe genügend nachzukommen. Zum anderen gerieten sie in den Sog der Familienpolitik. Die Herren und Fürsten gedachten, ihr Einkommen und ihre Macht durch ihre Verwandten auf den Bischofsstühlen zu vermehren. Häufig wurden auch Bistümer als Belohnung für politische Dienste vergeben. Die Männer, die auf diese Weise zur Bischofswürde gelangten, waren teilweise gewandte Diplomaten und tüchtige Verwalter, aber nicht von Seeleneifer erfüllte Oberhirten. Minutio Minucci führte in seiner Denkschrift von 1588 aus, die Domkapitulare trachteten nach dem Episkopat nicht in der Absicht, dieses Amt auszuüben und ihre Kirche zu regieren, sondern um sich der Bezüge und der Fürstenwürde zu erfreuen; sie dächten nicht an die Notwendigkeit des Zölibats und an die anderen kirchlichen Tugenden. Es gehört zu den schlimmsten Versäumnissen des 16. Jahrhunderts, daß von der Schar erleuchteter und energischer Verteidiger des katholischen Glaubens fast niemand auf einen Bischofsstuhl erhoben wurde. Ein Mann wie Eck beispielsweise, den Aleander für geeignet hielt, Bischof zu werden, blieb Pfarrer und Professor. (Fs) (notabene)

68a Die Päpste waren an der Ernennung der Bischöfe regelmäßig durch das Recht der Bestätigung beteiligt; erst die Konfirmation verschaffte den Gewählten normalerweise den Bischofsstuhl. Die Bestätigung konnte jedoch aus mancherlei Gründen ihre regulierende Funktion häufig nicht ausüben. Denn die Wahl hatte eine Tatsache geschaffen, die nicht mehr ohne weiteres aus der Welt geschaffen werden konnte. Sie war oft das Ergebnis fürstlicher Politik, und ihre Kassierung konnte der Kirche böse Feindschaft und große Verluste eintragen. In einer Zeit weitverbreiteten Ungehorsams und allgemeiner Empfindlichkeit, ja Gereiztheit gegen den Apostolischen Stuhl war es vielfach ein Risiko, einem rechtmäßig Gewählten die Bestätigung zu versagen. Die Autorität des Apostolischen Stuhles war geschwächt. Ein dem Protestantismus zuneigender Kaiser wie Maximilian II. gab dem Erwählten schon vor und auch ohne päpstliche Konfirmation die Regalien, so daß er als Landesherr regieren konnte. Der Gewählte war nun im Besitz der weltlichen Macht, und es war gefährlich, ihm die geistliche Jurisdiktion vorzuenthalten. In zahlreichen Fällen mochte der Apostolische Stuhl die Bestätigung trotz schwerer Bedenken nicht verweigern, weil er davon noch Schlimmeres befürchtete. Denn womöglich behauptete sich der Gewählte trotz Ausbleibens der Bestätigung in dem angemaßten Amt, dann aber gewöhnlich voll Ressentiment gegen den Heiligen Stuhl, oder es wurde jemand gewählt, der womöglich noch weniger für die Würde geeignet war. Angesichts dieser Verhältnisse waren die Päpste häufig bestrebt, im Vorfeld der Wahl die Aufmerksamkeit der Domkapitel auf geeignete Persönlichkeiten hinzulenken. Sie suchten für bestimmte Kandidaten zu werben, und manchmal setzten sie sich auch durch. Auf diese Weise kam beispielsweise Franz Wilhelm von Wartenberg nach Osnabrück. (Fs)

68b Angesichts der geschilderten Verhältnisse begreift man, daß es eine der obersten Aufgaben der tridentinischen Reform war, gute Bischöfe zu erhalten. Der Weg zu diesem Ziel war schwierig, weil das Problem komplex war. Er mußte mit der Reinigung und Hebung der Domkapitel beginnen. Sodann mußten genügend geeignete Persönlichkeiten für die Bischofswürde zur Verfügung stehen, was eine entsprechende Auslese und Ausbildung voraussetzte. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - der Hemmschuh der Wahlkapitulationen

Kurzinhalt: Das Urteil über die Domkapitel im 16. Jahrhundert muß differenziert ausfallen. Einerseits besteht kein Zweifel, ...

Textausschnitt: 3. Der Hemmschuh der Wahlkapitulationen

69a Das Urteil über die Domkapitel im 16. Jahrhundert muß differenziert ausfallen. Einerseits besteht kein Zweifel, daß die Domkapitel bzw. Mitglieder derselben unter den Verteidigern der katholischen Kirche an vorderster Stelle zu nennen sind. In zahlreichen Fällen haben sie die Irrlehre bekämpft und ihr Fortschreiten gehemmt, vereinzelt sogar den Glauben in einem Bistum gerettet. Andererseits waren das Standesbewußtsein, der Eigennutz und das Selbständigkeitsstreben gegenüber dem Bischof in vielen Kapiteln so ausgebildet, daß sie ein schweres Hemmnis für einen wirksamen gemeinsamen Abwehrkampf bildeten. Die Domkapitel waren häufig in erster Linie darum besorgt, daß ihre Macht erhalten blieb und nicht von den Bischöfen beeinträchtigt wurde. Die Geschichte des 16. Jahrhunderts ist daher angefüllt mit Streitigkeiten zwischen Bischof und Domkapitel. Dadurch wurden die katholischen Kräfte zersplittert und der gemeinsame Kampf gegen die Irrlehre behindert. Nicht selten waren auch Mitglieder von Domkapiteln sittlich korrupt. Ihr schlechtes Beispiel mußte auf den Klerus verheerend wirken. (Fs)

69b Die Domkapitel betrachteten sich als neben dem Bischof zur Regierung von Bistum und Hochstift berechtigt, verfolgten ihre eigene Politik und besaßen handfeste Interessen. Um die Bischöfe an ihre Bestrebungen zu binden und ihre Rechte und Freiheiten zu wahren, legten sie ihnen vor der Übertragung des Amtes Bestimmungen auf, die sie beschwören mußten, die sogenannten Wahlkapitulationen. Es wäre falsch, diese Einrichtung als in jedem Falle schädlich zu bezeichnen. In gewissem Umfang hatte sie durchaus förderliche Wirkungen. Dank ihrer blieben Rechte und Besitz von Hochstiften erhalten, ja wurde mitunter der katholische Glaube gesichert. In vielen Fällen waren jedoch die Wahlkapitulationen kein Bollwerk für die heilige Religion, sondern ein Hindernis jeder Erneuerung. In den Wahlkapitulationen, welche die Bischöfe beschwören mußten, suchten die Domkapitel ihnen die Hände zu binden, daß sie nicht gegen ihre Disziplinlosigkeiten einschritten. Auch sonstige Hemmnisse der Diözesanregierung, z. B. einer energischen Rekatholisierung, resultierten aus diesen Auflagen. Nun wäre es ja möglich gewesen, daß ein Bischof, der zu der Erkenntnis gekommen war, daß Bestimmungen der Wahlkapitulation der Ausübung seines Hirtendienstes entgegenstanden, versuchte, sich darüber hinwegzusetzen. Aber einmal hatten manche deswegen mit Gewissensbedenken zu ringen, und zum anderen führte ein solches Vorgehen regelmäßig einen unheilvollen Streit mit dem Domkapitel herauf. So fanden sich viele Bischöfe, um Ruhe zu haben, mit den lästigen Vorschriften ab. Die Sache des Glaubens hatte von dieser Nachgiebigkeit den Schaden. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Macht der Protestanten

Kurzinhalt: Die politische Lage und die militärische Kraft waren in diesem mit allen Mitteln durchgefochtenen Kampf in weitem Ausmaß für Erfolg oder Mißerfolg sowohl der Glaubensneuerung als auch der Gegenmaßnahmen ausschlaggebend.

Textausschnitt: 4. Die Macht der Protestanten

69c War ein Bischof in den unangefochtenen Besitz seines Amtes gelangt, konnte er nicht ohne weiteres anordnen und durchführen, was ihm notwendig und nützlich erschien, um die heilige Religion zu erhalten und zu fördern; er mußte sich vielmehr fragen, welche Macht ihm zur Verfügung stand. Die politische Lage und die militärische Kraft waren in diesem mit allen Mitteln durchgefochtenen Kampf in weitem Ausmaß für Erfolg oder Mißerfolg sowohl der Glaubensneuerung als auch der Gegenmaßnahmen ausschlaggebend. Zahlreiche Fürsten, Herren und Reichsstädte fielen früh zum Protestantismus ab. Unter den protestantisch gewordenen Gebieten waren so mächtige Territorien wie Sachsen und Brandenburg. Die Lutheraner verfügten über Männer, die an Listigkeit, Rücksichtslosigkeit, Skrupellosigkeit und Sittenlosigkeit ihresgleichen suchten. An erster Stelle sind hier die sächsischen Kurfürsten Friedrich, Johann und Johann Friedrich zu erwähnen. Ihre zugleich tückische und gewalttätige Haltung war ein mächtiges Hindernis für alle Versuche, das Unheil rechtzeitig abzuwenden oder anzuhalten. Man denke weiter an einen so würdigen Vertreter des neuen "Evangeliums" wie den Landgrafen von Hessen, Philipp, der nach menschlichem Urteil fast immer in der Todsünde lebte, oder an den Herzog bzw. Kurfürsten von Sachsen, Moritz, für den Treue und Wahrhaftigkeit Fremdworte waren. An ihre Seite ist Fürst Christian von Anhalt-Bernburg, ein Intrigant und Agitator, Verräter und Desperado ersten Ranges, zu rücken. Es sei schließlich auf Männer wie Albrecht Alcibiades, Markgraf von Kulmbach-Bayreuth, und Albrecht III., Graf von Mansfeld, verwiesen, die als grausame militärische Anführer überall Furcht und Schrecken verbreiteten. Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel war ihnen ebenbürtig; er trägt den Namen "der tolle Halberstädter", den ihm die Geschichte gegeben hat, zu Recht. Zu diesen und anderen Fürsten, die ihre Mittel für die neue Lehre einsetzten, traten zahlreiche Reichsstädte. Sie besaßen Menschen und Geld in gleicher Weise. Man denke an so bedeutende Gebilde wie Nürnberg, Augsburg und Ulm, Bremen, Hamburg und Lübeck. Die Macht der großen Reichsstädte, die entweder völlig protestantisiert worden waren oder in denen der Protestantismus herrschend geworden war, fiel schwer ins Gewicht. Ihre gewaltige Finanzkraft kam der Neuerung zugute. Die kleineren Herren und die Ritter endlich lieferten die Anführer der verwegenen Scharen, die nach Beute lüstern waren, Klöster einzogen, überfielen und ausplünderten, die Hochstifte erpreßten und auf ihre Art das "Evangelium" voranbrachten. Die Protestanten waren agil und entschlossen; viele von ihnen kannten weder rechtliche Schranken noch sittliche Bedenken. Was 1529 in Speyer geschah, war eine Rebellion; die neugläubigen Reichsstände zerbrachen hier die Einheit des Reiches und legten den Keim zum Religionskrieg. Der bald danach abgeschlossene Schmalkaldische Bund war zeitweilig infolge seiner inneren Geschlossenheit und seiner Zusammenfassung der reichsständischen Opposition gegen das Haus Habsburg die stärkste Macht in Deutschland. Daß auch ein mutiger und von seiner Sendung erfüllter Bischof mit diesen Kräften rechnen mußte, ist selbstverständlich. Auf dieser Erde sind nun einmal Macht und Gewalt regelmäßig stärker als die Wahrheit. Noch niemals hat eine Sache sich allein deswegen durchgesetzt, weil sie im Recht war. (Fs)

71a Viel hing für die Haltung, das Wirken und den Erfolg der Bischöfe von der Einstellung der Landesherren ab. Solange beispielsweise Männer wie Herzog Georg von Sachsen und Herzog Heinrich von Braunschweig lebten bzw. im Besitz ihres Landes waren, konnten sich die benachbarten Bischöfe auf sie verlassen und sich an sie anlehnen. Als sie aber starben bzw. ihr Land verloren, waren sie schutzlos dem Druck und Terror der Protestanten ausgeliefert. Ihr eigenes Land war regelmäßig zu klein, um ihnen die Machtmittel zu liefern, die für eine erfolgreiche Behauptung gegen die protestantischen Kräfte erforderlich waren. Mochten sie immerhin im Hochstift noch der Neuerung wehren, so stand ihnen außerhalb desselben in den Ländern, deren Herren zum Protestantismus abgefallen waren, der weltliche Arm nicht mehr zur Verfügung. Die Bischöfe waren aber bei Maßnahmen gegen Geistliche, die nicht ihrer Landeshoheit unterstanden, regelmäßig auf den guten Willen der Territorialherren angewiesen und konnten nur mit deren Hilfe etwas gegen sie ausrichten; fehlte sie ihnen, so waren ihre gutgemeinten Anordnungen und Entscheidungen zur Erfolglosigkeit verurteilt. Das Beispiel des Meißener Bischofs redet hier eine deutliche Sprache. Selbst im eigenen Lande blieb den Bischöfen angesichts ihrer Machtlosigkeit in manchen Fällen nichts anderes übrig, als gewisse Schäden hinzunehmen, um nicht durch allzu rasches und strenges Vorgehen die Lage zu verschlimmern. Die Anhänger der neuen Religion fanden regelmäßig Rückhalt im Ausland, bei den protestantisch gewordenen Fürsten, Herren und Städten. Wenn irgendwo gegen Protestanten vorgegangen wurde, dauerte es gewöhnlich nicht lange, bis sich protestantische Reichsstände mit Fürsprache, Mahnungen oder Drohungen einmischten. In zahlreichen Fällen erreichten diese Interventionen ihren Zweck zur Gänze oder teilweise; geplante Maßnahmen unterblieben, die verhängte Strafe wurde gemildert, die Vollstreckung von Strafen wurde aufgeschoben oder unterlassen. Mochte mancher Bischof aus Feigheit und Schwäche zurückweichen und nachgeben, so war doch in anderen Fällen die Macht der Verhältnisse stärker als der gute Wille. Kardinal Otto Truchseß von Waldburg schrieb jedenfalls in einem Gutachten, daß die Bischöfe viele Mißstände duldeten, sei nicht böser Wille, sondern die Not der Zeit binde ihnen die Hände. (Fs)

71b Auf katholischer Seite fehlte meist die überlegene Macht, um den Protestantismus zurückzuwerfen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts waren Ost-, Mittel- und Norddeutschland zwar nicht etwa lückenlos protestantisch, aber ganz überwiegend in den Händen protestantischer Fürsten und Städte. Nun besaßen ja die meisten Bischöfe auch ein weltliches Gebiet, über das sie als Fürsten, häufig sogar als Reichsfürsten herrschten. Mochte dieses Territorium auch in vielen Fällen klein sein, so gab es doch auch Hochstifte, die einen ansehnlichen Umfang besaßen; man denke an die Stifte Bremen, Münster, Trier, Würzburg und Salzburg. Es war aber gerade das Unglück, daß ein großer Teil der mächtigeren Hochstifte entweder sehr früh wegen Abfalls zum Protestantismus für die katholische Sache ausfiel, wie Bremen und Magdeburg, oder jahrzehntelang von Bischöfen regiert wurde, die als Versager oder Verräter zu gelten haben, wie Münster und Osnabrück. Die Macht der übrigen reichte entweder nicht aus, um den (häufig mit Frankreich konspirierenden) protestantischen Kräften mit Aussicht auf Erfolg zu begegnen, oder wurde nicht zielbewußt und risikobereit eingesetzt. Die Ämterkumulation, die der Heilige Stuhl richtig als Mittel zur Konzentration politischer Macht verwandte, wurde leider auch von protestantischer Seite betrieben. So kam es, daß in Norddeutschland jahrzehntelang und mehr als einmal mehrere Hochstifte in der Hand eines schwankenden oder abgefallenen Mannes vereinigt waren; ihre Kraft fehlte der katholischen Sache. Der Mangel an hinreichenden Mitteln ist in Rechnung zu stellen, wenn es darum geht, die Bischöfe des 16. Jahrhunderts zu beurteilen. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - die Last der fürstlichen Würde

Kurzinhalt: Die deutschen Bischöfe des 16. Jahrhunderts hatten fast allesamt eine Doppelstellung; sie waren gleichzeitig Oberhirten eines Bistums und Landesherren eines mehr oder weniger ausgedehnten Gebietes, ...

Textausschnitt: 5. Die Last der fürstlichen Würde

72a Die deutschen Bischöfe des 16. Jahrhunderts hatten fast allesamt eine Doppelstellung; sie waren gleichzeitig Oberhirten eines Bistums und Landesherren eines mehr oder weniger ausgedehnten Gebietes, also Fürstbischöfe. Diözese und Hochstift deckten sich nicht. Das Stift bildete regelmäßig nur einen (kleinen) Teil des Bistums oder lag sogar weitgehend außerhalb desselben. Die zweifache Würde der Bischöfe brachte Vor-und Nachteile mit sich. Einmal war der Besitz eines Gebietes, über das ein Bischof als Landesherr regierte, regelmäßig ein Faktor, der ihm (gewöhnlich bescheidene) Macht und Finanzmittel einbrachte. In diesem Gebiet trat er den Einwohnern in doppelter Eigenschaft, als geistlicher Hirt und weltlicher Fürst, gegenüber, was seine Stellung als Bischof jedenfalls in gewisser Hinsicht verstärkte. Denn er konnte seine geistlichen Anordnungen mit den Mitteln des weltlichen Amtes durchsetzen lassen. Die Bischöfe betrachteten regelmäßig das Hochstift als die Grundlage ihrer Existenz. Sie waren überzeugt, daß sie nicht mehr würden Bischöfe sein können, wenn sie aufhörten, Fürsten zu sein. Manche trachteten darum die Religionsneuerung allein oder hauptsächlich deswegen von ihrem Gebiet fernzuhalten, weil sie ihre eigene Stellung durch sie gefährdet sahen. Umgekehrt suchten die Religionsneuerer mit dem Reichsfürstenstand der Bischöfe gleichzeitig den katholischen Glauben zu vernichten. Für die Erhaltung der katholischen Kirche in Deutschland mußte den Territorien der geistlichen Fürsten entscheidende Bedeutung zukommen. Denn angesichts des Abfalls der Mehrzahl der weltlichen Fürsten lag das Schwergewicht des Katholizismus nunmehr in ihren Gebieten. Brach der Glaube in den geistlichen Fürstentümern zusammen, mußte ganz Deutschland der Irrlehre verfallen. (Fs)

72b Zum anderen war die weltliche Regierung der Hochstifte, die den Bischöfen oblag und die doch in vielen Diözesen wenigstens Reste des Katholizismus erhalten hat, zugleich eine schwere Bürde. Zeitgenossen bestätigen, daß die Sorge für die zeitlichen Angelegenheiten viele Bischöfe derart mit Beschlag belegten, daß sie das Amt des Bischofs auch nicht entfernt wahrnahmen; sie vermochten kaum die Hälfte ihrer Zeit und Kraft ihrem geistlichen Dienst zu widmen. Die Position als weltliche Regenten war aber auch vielen wichtiger als ihre kirchliche Sendung. So mancher Fürstbischof sah in seiner Stellung als Landesherr ein Alibi dafür, daß er sich seinen geistlichen Pflichten persönlieher und amtlicher Art entzog. Kaiser Maximilian II. beklagte nach dem Bericht Morones vom 19. Juni 1576 die Nachlässigkeit der Bischöfe, welche die Hirtensorge hinter den zeitlichen Angelegenheiten zurücktreten ließen und damit dem Volk ein schlechtes Beispiel gäben. Das Amt des Landesherrn verführte sodann manchen Bischof dazu, allzu sehr an die Stärkung oder die Versorgung der Familie zu denken, der er entstammte. Bei nicht ganz wenigen fürstlichen Inhabern von Bischofsstühlen hatte die Hauspolitik den Vorrang vor den geistlichen Pflichten. Weiter bestanden vielfach in den Hochstiften Konflikte zwischen dem bischöflichen Herren und den Landständen. Zahlreiche Mitglieder der letzteren wechselten aus Opposition gegen den Bischof die Religion; der politische Hintergrund so manches Konfessionswechsels ist eindeutig. Die Abhängigkeit von den Landständen und das Bemühen, die landesherrliche Stellung zu behaupten, verführte einzelne Bischöfe zu unzulässigen Konzessionen. In einigen Fällen verstanden sich Bischöfe (wie weltliche Fürsten) dazu, den Landständen gegen Geldbewilligung die Ausübung der lutherischen Religion zuzugestehen. Ganz allgemein ist festzustellen, daß die Landstände in den Hochstiften eine bedeutsame Rolle bei Fortschritt oder Abwehr der Irrlehre spielten. Die Einstellung und das Verhalten des Domkapitels, des Landadels und der Reichsritter konnten das Vorgehen des Bischofs in hohem Maße hemmen oder fördern, vereiteln oder zum Erfolg führen. Die fortwährenden Kämpfe - gegen die aufrührerischen Bauern und gewalttätige Ritter und Fürsten - hinderten die Bischöfe daran, ihre und ihrer Hochstifte Macht voll zur Bekämpfung der Irrlehre einzusetzen. Das Amt des Fürsten, das die Bischöfe innehatten, bot schließlich an sich bis zu einem gewissen Grade die Gewähr, daß es in Ausbildung und Erziehung berücksichtigt wurde, daß die künftigen Bischöfe also wenigstens grundsätzlich für das Regieren vorbereitet wurden und daß auch bei der Auswahl der Personen, die für das Amt des (Fürst-)Bischofs in Frage kamen, wenigstens prinzipiell bedacht wurde, daß seiner Regierungsaufgaben warteten. Dennoch waren viele Bischöfe ihrer Aufgabe als Landesherren nicht gewachsen. Sie besaßen weder die erforderlichen Eigenschaften noch die notwendigen Kenntnisse, um ein Territorium zu regieren. Manche waren sogar in der maliziösen Absicht erkoren worden, ihre fehlende Begabung für die Regierungsaufgaben werde die Macht beim Domkapitel (und bei den übrigen Landständen) belassen. Mangelndes Talent und fortwährende Plackereien ließen manche Bischöfe ihrer fürstlichen Würde überdrüssig werden. Mancher Bischof des 16. Jahrhunderts hat sich danach gesehnt, von der Bürde seines weltlichen Amtes frei sein und sich allein den geistlichen Aufgaben widmen zu dürfen. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - das fehlende Vertrauen des Klerus und des Volkes zu den Bischöfen

Kurzinhalt: Zwischen Bischof und Klerus bestand im 16. Jahrhundert regelmäßig keine enge Verbindung, geschweige denn ein Vertrauensverhältnis, ...

Textausschnitt: 6. Das fehlende Vertrauen des Klerus und des Volkes zu den Bischöfen

73a Zwischen Bischof und Klerus bestand im 16. Jahrhundert regelmäßig keine enge Verbindung, geschweige denn ein Vertrauensverhältnis, vielfach nicht einmal ein lockerer Kontakt. Die fürstliche Stellung der Bischöfe hatte meist eine Lebensweise zur Folge, die sie vom Klerus schied. Der Bischof lebte in Schlössern und hielt hof, der Klerus führte überwiegend ein bescheidenes Leben. Bischof und Klerus waren nicht miteinander verbunden und schon gar nicht verwachsen. Das unzureichende Einkommen vieler Geistlicher war der Grund, daß sie dem Bischof grollten, der sie ihrer Meinung nach zu hoch besteuerte, und daß sie mit den Verhältnissen unzufrieden waren. Die Strafgelder, die der Bischof von konkubinarischen Geistlichen einheben ließ und die durch Wiederholung beinahe den Charakter von Gebühren annahmen, vertieften die Kluft zwischen Hirten und Oberhirt; sie warfen dem Bischof vor, er beute die sittlichen Verfehlungen des Klerus fiskalisch aus. Das Recht, zugunsten von Kindern, die aus dem Konkubinat hervorgingen, ein Testament zu errichten, ließ man sich wiederum bezahlen. Es gab tatsächlich so etwas wie einen Klassengegensatz zwischen Diözesanoberhirt und Geistlichkeit. Ihn machte sich die protestantische Irrlehre zunutze. (Fs)

74a Der Klerus selbst war ebensowenig eine Einheit. Zu verschieden waren Bildung, Stellung und Einkommen. Man denke etwa an den Abstand zwischen Stiftsgeistlichkeit und Seelsorgeklerus. Auch zwischen Welt- und Ordensklerus bestanden nicht ganz selten scharfe Differenzen. Die Gegensätze im Klerus wurden durch die Privilegien des Adels bei der Besetzung von Benefizien verschärft. Der Irrlehre hätte durch eine geschlossene Front des Klerus Widerstand geboten werden müssen, aber eine solche gab es nicht. Die Geistlichen bildeten keine geeinte Phalanx. Eine Elite, die gespalten ist, schaufelt sich selbst das Grab. (Fs)

74b Ähnliches wie für die Beziehung von Bischof und Klerus gilt für das Verhältnis von Bischof und Laien. Um das Volk gut zu führen, muß man es kennen und verstehen und darum ein Stück weit sein Leben teilen. Davon konnte im 16. Jahrhundert keine Rede sein. Der Abstand von Bischof und Volk war groß, zu groß. Die Abstammung der meisten Bischöfe aus adligen und fürstlichen Häusern war nicht geeignet, ein festes Band um den Oberhirten und seine Herde zu schlingen. Ihre Tätigkeit erreichte häufig das Volk nicht, weil es eine solche gar nicht gab. Der Kontakt, der durch die regelmäßige Predigt und durch die Spendung der Firmung zwischen Bischof und Gläubigen hergestellt wird, bestand in vielen Bistümern nicht, weil ihr Oberhirt weder predigte noch firmte. Viele Bischöfe besaßen nicht die Gabe volkstümlicher Sprache, falls sie sich überhaupt mit der Rede an das Volk wandten. Die meisten Bischöfe bewegten sich zu wenig unter dem Volk. Sie zogen nicht rastlos und unermüdlich von einem Ende ihrer Diözese zum anderen, mahnend und warnend, aufrichtend und tröstend, sich der Kranken annehmend und die Unwissenden belehrend. Auch das Finanzwesen der Kirche führte zur Ferne, ja zur Entfremdung von Hirt und Herde. Der kirchliche Fiskalismus, der ja bis zu einem gewissen Grad notwendig war und doch auch dem Volk zugute kam, wurde zumindest übertrieben und verzerrt dargestellt. Das schlechte Verhältnis von Bischof und Volk mußte die lutherische Bewegung begünstigen. Wie die Erfahrung zeigt, hängt bei vielen Menschen ihr schwacher Glaube zum erheblichen Teil von dem Kredit ab, den sie führenden Persönlichkeiten, also zuerst den Bischöfen, entgegenbringen. Da nun das Vertrauen zahlloser Gläubiger zu ihren Oberhirten fehlte, vermochte die lutherische Agitation ihre Verwüstungen in den Seelen anzurichten. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Mangel an zuverlässigen Mitarbeitern

Kurzinhalt: Der beste Bischof kann sein Bistum nicht zur Höhe führen und seine Erneuerungsabsichten nicht durchsetzen, wenn er keine oder zu wenige Gehilfen besitzt, die mit ihm an einem Strang ziehen.

Textausschnitt: 7. Der Mangel an zuverlässigen Mitarbeitern

75a Es ist schwierig, gute Gläubige zu haben, ohne gute Pfarrer zu besitzen, und es ist nicht weniger schwierig, gute Pfarrer zu erhalten ohne gute Bischöfe. Aber auch umgekehrt gilt: Der beste Bischof kann sein Bistum nicht zur Höhe führen und seine Erneuerungsabsichten nicht durchsetzen, wenn er keine oder zu wenige Gehilfen besitzt, die mit ihm an einem Strang ziehen. Dieser Mangel läßt sich vielfach im 16. Jahrhundert beobachten. Häufig fehlte es den Bischöfen an geeigneten Mitarbeitern in ihrer nächsten Umgebung. In vielen Bistümern gab es hochgestellte Personen, die offen oder geheim gegen die Kirche arbeiteten und die Irrlehre begünstigten. Diese Feststellung gilt in erster Linie für das Domkapitel, aus dem schon damals häufig der Generalvikar und der Offizial und die Beamten für die Temporalienverwaltung entnommen wurden. Teile der deutschen Domkapitel haben ohne Zweifel die größten Verdienste bei der Erhaltung des Glaubens und bei der Abwehr der Irrlehre. Ebensowenig aber kann übersehen werden, daß zahlreiche Mitglieder der Domkapitel innerlich oder äußerlich zum Protestantismus abfielen oder wenigstens eine schwankende Stellung einnahmen, religiös nichts bedeuteten und sittlich auf niederem Niveau standen. Zu viele Kanoniker waren ungeistlich gesinnt. Eine wirkliche Reform stieß bei ihnen auf heftigsten Widerstand. Es war doch ein Minimalerfordernis, daß die Angehörigen des wichtigsten kirchlichen Gremiums einer jeden Diözese auf dem Boden des katholischen Glaubens standen, aber dieses war nicht gewährleistet. Petrus Canisius forderte daher nicht grundlos, daß niemand in ein Domkapitel aufgenommen werden dürfe, der nicht die Professio fidei abgelegt hatte, und daß vor einer anstehenden Bischofswahl nochmals ein Eid geleistet werde. (Fs)

75b Sehr viel für die Regierung der Diözesen hing sodann von den Räten ab, mit denen sich die Bischöfe umgaben. Diese waren teils Geistliche, teils Laien. Um die Gesinnung beider Gruppen war es mancherorts und zeitweise schlecht bestellt. Unter den engsten Beratern so manchen Bischofs befanden sich offene oder geheime Anhänger Luthers. Daß von ihnen nichts für die Abwehr der Irrlehre und die katholische Erneuerung zu erwarten war, ist selbstverständlich. Sie berieten den Bischof falsch, bestärkten seine Befürchtungen, um ihn in seiner Tatenlosigkeit zu erhalten, und sabotierten Mandate und Maßnahmen, falls es zu solchen kam. Manche dieser Räte hatten mit den Neuerern Verbindung und leisteten ihnen gegen Bestechungsgelder gute Dienste. Der Verrat spielte eine beträchtliche Rolle. Die katholischen Reichsstände, die Bischöfe und die Domkapitel konnten kaum eine gemeinsame Unternehmung gegen die Abtrünnigen und Aufrührer verabreden, ohne daß sie durch Verräter den Neugläubigen zugetragen wurde. Aber diese unseligen Menschen wurden lange Zeit nicht entfernt. Es ist bekannt, daß manche Bischöfe bis in die Reformzeiten hinein häretische oder zumindest verdächtige Räte in ihrer Umgebung duldeten. Sie hatten nicht die Kraft, die Vorliebe von Personen den Erfordernissen ihres Amtes zu opfern. Zu häufig und zu lange förderten sie Männer und hielten sie an Favoriten fest, die der Kirche längst entfremdet waren und schweren Schaden zufügten. (Fs)

76a Für die Vornahme der Weihefunktionen gab es in fast allen deutschen Diözesen Weihbischöfe. Da viele Diözesanbischöfe die Bischofskonsekration nicht empfangen hatten, waren sie für die Spendung der Weihen und der Firmung unentbehrlich. Die Koadjutoren wurden von den Diözesanbischöfen ausgewählt und bedurften an sich der päpstlichen Bestätigung. Unter den Hilfsbischöfen des 16. Jahrhunderts gab es nun ohne Zweifel eine beträchtliche Zahl theologisch gebildeter, sittlich einwandfreier und religiös lebendiger Männer. Häufig stammten sie aus Orden. Ihr Anteil an der Abwehr der Irrlehre war mitunter beträchtlich. Es läßt sich aber nicht übersehen, daß unter den Hilfsbischöfen auch sittlich defekte und im Glauben schwankende Persönlichkeiten waren. Der Schaden, den sie anrichteten, war groß. Die Geistlichen hatten an ihnen keinen Halt, der Diözesanoberhirt fand an ihnen keine Stütze; teilweise arbeiteten sie ihm entgegen. (Fs)

76b Fast überall standen den Bischöfen im 16. Jahrhundert nicht genügend qualifizierte Geistliche zur Verfügung. Es fehlte an seeleneifrigen, gelehrten und sittenreinen Priestern. Die Seelsorge war von dem Mangel an theologisch ausgewiesenen, geistlich geprägten und sittlich hochstehenden Priestern stärker betroffen als andere Tätigkeitsfelder der Kirche. Diese Verhältnisse brachten die Diözesanbischöfe und ihre Generalvikare in eine Zwangslage. Entweder sie duldeten ungeeignete oder unwürdige Geistliche auf den Pfarrstellen. Dann lieferten sie den Feinden der Kirche willkommenes und häufig wirksames Agitationsmaterial. So mußten sie den Vorwurf hören, daß sie für die Zahlung von Geldbußen die konkubinarischen Geistlichen unbehelligt ließen. Oder sie setzten die ungeeigneten bzw. unwürdigen Priester ab. Dann gingen diese entweder in ein anderes Bistum oder schlössen sich den Protestanten an. Blieben die von ihnen verlassenen Stellen unbesetzt, dann bestand die Gefahr, daß die Gemeinden oder die Patrone protestantische Prediger beriefen. Die Bischöfe stellten sich daher mehrheitlich auf den Standpunkt, ein schlechter Pfarrer sei besser als gar keiner, eine Ansicht, die begreiflich, aber dennoch falsch ist. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Mangel an Eifer

Kurzinhalt: Der Eifer ging ihnen ab, weil es ihnen an Tiefe der Glaubensüberzeugung und an Willen zur Selbstaufopferung gebrach.

Textausschnitt: VIII. Fehler und Versäumnisse der Bischöfe

76c Bei aller gebührenden Berücksichtigung der äußeren und inneren Schwierigkeiten, die einer kraftvollen Regierung der Bischöfe im 16. Jahrhundert entgegenstanden, kann nicht übersehen werden, daß ein beträchtlicher Rest in der Bilanz von Tun und Unterlassen bleibt, der den Bischöfen zugerechnet werden muß. Kurz gesagt: Es besteht kein Zweifel, daß ein erheblicher Teil der deutschen Bischöfe des 16. Jahrhunderts ihrem Amt und den von der Zeit gestellten Aufgaben nicht gewachsen war. Ihre Unfähigkeit und ihre Pflichtvergessenheit zogen schlimme Folgen nach sich. Durch die Versäumnisse, Fehler und Laster der Oberhirten wurden Klerus und Volk wankend und unsicher. Georg Schwaiger sieht die Auflösungserscheinungen der katholischen Kirche im Deutschen Reich des 16. Jahrhunderts "wesentlich als Versagen der Bischöfe in der Stunde höchster Gefahr". Obwohl es einzelne tüchtige Bischöfe gegeben habe, hätten "die überragenden Führergestalten" und, von Ausnahmen abgesehen, "die großen religiösen Persönlichkeiten" gefehlt. Das Urteil über die Hilflosigkeit und die Nachlässigkeit der Bischöfe ist nicht eine nachträgliche Feststellung von Historikern; es wurde vielmehr von den eifrigsten und treuesten Zeitgenossen der Glaubensspaltung in völliger Einmütigkeit ausgesprochen. (Fs)

1. Der Mangel an Eifer

77a Vielen Bischöfen des 16. Jahrhunderts fehlte es an Regsamkeit und Glut, um Gottes und der Kirche Sache gebührend zu schützen und voranzubringen. Der Eifer ging ihnen ab, weil es ihnen an Tiefe der Glaubensüberzeugung und an Willen zur Selbstaufopferung gebrach. Wegen der Nachlässigkeit und der Saumseligkeit der Bischöfe wurden Initiativen unterlassen, Gelegenheiten versäumt, Mittel nicht angewandt, die der Erhaltung des wahren Glaubens gedient hätten. Es besteht kein Zweifel, daß an vielen Orten der neuen Lehre hätte Einhalt geboten werden können, wenn die Bischöfe die Pflichten ihres Amtes erfüllt hätten. Schon bei der Verkündigung der Bannbulle waren die meisten deutschen Bischöfe nachlässig. In der Folgezeit begingen sie eine Fülle von Versäumnissen. Bei wichtigsten Entscheidungen waren die Bischöfe nicht zur Stelle. Ihre Anwesenheit auf dem wichtigen Reichstag zu Speyer 1526 war beschämend gering. Auf dem Speyerer Reichstag von 1529 erschienen zahlreiche Bischöfe überhaupt nicht, andere verspätet. Manche Fürsten und Städte waren eifriger für die Erhaltung der katholischen Religion besorgt als viele Bischöfe. Fortwährend mußte der Nuntius Aleander sie drängen, ihre Pflicht zu tun. Die Domkapitel übertrafen häufig die Bischöfe an Aktivität für die Erhaltung des Glaubens. Auf der zur Abwehr der lutherischen Neuerung einberufenen Mainzer Versammlung kamen bezeichnenderweise nicht die Bischöfe selbst zusammen, sondern Mitglieder der Kathedralkapitel. (Fs)

77b Es hätte eine propagandistische Offensive größten Stiles gegen den Protestantismus einsetzen müssen. Die Städte und die Dörfer hätten mit Schriften und Bildern eingedeckt werden müssen, in denen die Haltlosigkeit, die Ungereimtheiten und die Schädlichkeit der Irrlehre durchschlagend und eingängig aufgezeigt wurden. Aber die meisten Bischöfe wußten die Macht und die Wirkung von Agitation und Propaganda nicht recht einzuschätzen. Der Massensuggestion, die von den Religionsneuerern ausging, standen sie hilflos gegenüber. Sie verkannten die Bedeutung, welche die Stimmung der Massen für die Erhaltung und für die Zerstörung der Religion besitzt, sie verfügten nicht über das Instrumentarium und schufen es nicht, mit dem sie hätten zündende Parolen in die Bevölkerung werfen können. Nur wenige Bischöfe trugen ernsthaft dafür Sorge, daß die Gläubigen durch Predigten und Schriften über die Verderblichkeit der Irrlehren aufgeklärt wurden. Verhältnismäßig spät und keineswegs überall wurden Druckereien eingerichtet, die katholische Schriften druckten. Es ist vielleicht ein typisch katholischer Fehler, das Feld der Beeinflussung der Öffentlichkeit und der Einwirkung auf die Menschen zu vernachlässigen. Von den Protestanten hätten die Katholiken lernen können, was Propaganda ist und vermag. Aber sie gingen bei diesen nicht in die Schule, beschränkten sich meist auf die Verteidigung, bereiteten ihre eigenen Aktionen publizistisch nicht oder nicht genügend vor und verstanden sich nicht auf die Kunst, das Unrecht der anderen Seite allgemein plausibel zu machen. (Fs)

78a Jahrzehntelang klagten die Männer, denen die Verteidigung und die Erneuerung der Kirche am Herzen lag, über mangelnden Eifer der Bischöfe. Johannes Cochläus bezeichnete in dem Gutachten zur Reform der Kirche, das er während seines Aufenthaltes in Rom 1523/4 verfaßte, die Bischöfe seiner Zeit als "schlaftrunkene Hirten". Johannes Eck schrieb am 17. September 1525 nach seiner großen Reise an Clemens VII., zu den von den Fürsten drohenden Gefahren trete die Trägheit und die Lauheit der Bischöfe (multorum Episcoporum segnities et tepiditas). Johannes Fabri bemerkte am 9. September 1525, die deutschen Bischöfe hätten in der Abwehr der lutherischen Irrlehre ihre Pflicht nicht getan (fuerunt profecto et sunt, ut veritatem libere loquar, Germaniae Episcopi satis in hac re negligentes). Der sächsische Dominikaner Petrus Sylvius stellte 1526 die Frage: "Sintemal nur wenige Prälaten die Verteidigung der Kirche zu Herzen nehmen, was kann ich oder meinesgleichen, mit Armut und Elend beschwert, dazu tun?" Auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 klagte Herzog Georg von Sachsen über "die Wächter des Heiligtums", die zu schlafen schienen, während der Wolf in die Herde einbreche, und fragte, ob die Bischöfe denn nicht Gottes Gericht angesichts ihrer Nachlässigkeit fürchteten. Aleander bemerkte am 9. Oktober 1531, kaum jemand tue seine Pflicht, ein jeder suche nur seinen Vorteil und vernachlässige die Sache Christi. Im Jahre 1540 schrieb Eck an Kardinal Contarini von der ungeheuerlichen Nachlässigkeit der deutschen Bischöfe (supinam habent negligentiam in religionis causa). Das Kölner Provinzialkonzil von 1549 stellte mit Bezug auf die Unterlassung der Visitation fest: "Bisher haben die Bischöfe, was sich nicht bestreiten läßt, in tiefem Schlafe dahingelebt." Der Nuntius Delfino sah in seinem Schreiben vom 21. September 1556 den Glauben im Reich und vor allem in den österreichischen Erbländern in größter Gefahr. Als Gründe gab er die Notlage des Königs und die Lauheit fast aller Prälaten an (la tiepideza de quasi tutti li nostri prelati). Delfino stellte am 20. April 1561 erneut fest, bei den deutschen Bischöfen sei wenig Eifer im Dienste Gottes zu finden; der katholische Klerus füge der Kirche mehr Schaden zu als die offenen Häretiker. Petrus Canisius schrieb am 23. Juli 1567 an Commendone von den deutschen Bischöfen, daß sie schlüfen, statt für das Wohl ihrer Herde zu wachen (eos dormire magis quam gregi suo pas-cendo advigilare). "Selten visitieren die Bischöfe ihre Diözesen, noch seltener erreicht eine Visitation einen Nutzen. Dies kommt vor allem daher, daß sie nicht wissen, was zu verbessern und was anzuordnen ist, oder weil ihnen der nötige Eifer und die geistige Schwungkraft zur Erreichung des Notwendigen fehlt", bemerkte er im Sommer 1576. In vielen Diözesen ließen sich die Bischöfe so selten bei ihren Gläubigen sehen, daß der päpstliche Nuntius Ninguarda im Jahre 1577 bemerken konnte, es seien Greise vorhanden, die nicht wüßten, daß es eine Firmung gibt. Kardinal Ludwig Madruzzo schrieb am 15. März 1582 von der "üblichen Nachlässigkeit der Katholiken" (la ordinaria ne-gligenza di catholici). Minutio Minucci beklagte noch 1588 die "Kälte" (freddezza) vieler deutscher Bischöfe. Diesen Urteilen von Zeitgenossen über den mangelnden Eifer zahlreicher Bischöfe in der Erfüllung ihres Amtes ließen sich ebenso viele Feststellungen von Historikern an die Seite stellen. Richtig schreibt Edmund Aelschker: "Überhaupt fehlte es vielen Kirchenoberhäuptern an dem gehörigen Nachdrucke oder dem Verständnisse, die Bewegung einzudämmen, solange sie sich noch nicht zur reißenden Flut gestaltet hatte." Joseph Schmidlin sagt von den Diözesanbischöfen nach dem Konzil von Trient: "Die Bischöfe ... kamen größtenteils ihren kirchlichen Berufspflichten gar nicht oder lässig nach." Für die Zeit des Papstes Sixtus V. stellt Ludwig von Pastor fest, daß "nur einzelne Oberhirten" ihrer Verantwortung "völlig gerecht" wurden, während "nicht wenige andere" es nach wie vor "an dem nötigen Eifer fehlen" ließen. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Fehlen des Reformwillens

Kurzinhalt: Es fehlte vielen Bischöfen der entschiedene, ernste Wille, eine Reform, die diesen Namen verdiente, vorzunehmen. Sie vermochten weder die Kraft noch die Konsequenz aufzubringen, ...

Textausschnitt: 2. Das Fehlen des Reformwillens

79a Es fehlte vielen Bischöfen der entschiedene, ernste Wille, eine Reform, die diesen Namen verdiente, vorzunehmen. Sie vermochten weder die Kraft noch die Konsequenz aufzubringen, ohne die eine (echte) Reform nicht durchgeführt werden kann. Georg Pfeilschifter stellt für die Jahre 1520 bis 1570 fest, "daß der deutsche Episkopat im genannten Zeitraum kaum je von sich aus in der Reformfrage tätig geworden ist". Der festgestellte Mangel an Willen zur Reform läßt sich nicht durch den Hinweis etwa auf das von Pfeilschifter gesammelte Material entkräften. Denn nicht das Fassen von Entschlüssen zeigte schon die echte Absicht an, die Erneuerung in Angriff zu nehmen, sondern ihre Durchführung, und hierbei wieder die eigene Bekehrung. "Reformieren besteht nicht im Erlassen neuer Gesetze, sondern in der Befolgung der bestehenden Gesetze", erklärte das Konzil von Trient. Daran aber fehlte es. Es gab sogar Bischöfe, die nicht nur selbst nicht an eine Reform herangingen, sondern ihr, wenn sie von anderen versucht wurde, noch Widerstand entgegensetzten. So ist beispielsweise aus Würzburg bekannt, daß Lorenz von Bibra dem Domprediger Johann Reyß in den Weg trat, als dieser den Kampf gegen das Glücksspiel im Ratskeller aufnahm. Wenn es doch hie und da zu Reformansätzen kam, dann ging die Initiative regelmäßig von außen aus. Der Regensburger Reichstagsabschied vom 29. Juli 1541 beispielsweise legte den Bischöfen die Vornahme einer Reform in ihren Sprengein nahe. (Fs)

79b Die Gründe für den Mangel an echtem Reformwillen waren einmal meist das eigene religiöse und sittliche Ungenügen. Weil die Bischöfe nicht von einem opferbereiten Glauben erfüllt und von aszetischer Kraft getragen waren, setzten sie nicht zu Maßnahmen der Erneuerung an. Sie waren selbst nicht gewillt, die erforderlichen Anstrengungen und Beschwerden auf sich zu nehmen, die eine Haupt und Glieder umfassende Reform von ihnen verlangt hätte. Johannes Eck warf den Bischöfen vor, sie ließen den Geistlichen den unsittlichen Lebenswandel deshalb durchgehen, weil sie selbst korrupt seien. Sodann fürchteten die Bischöfe die Schwierigkeiten und die Konflikte, in die der Versuch einer echten Erneuerung sie bei Klerus und Volk gestürzt hätte. Reformen, die diesen Namen verdienen, tun weh, weil sie ins Fleisch schneiden, und es braucht den Einsatz aller natürlichen und übernatürlichen Mittel, um sich und andere dazu zu bringen, sich den Reformen zu beugen. Die meisten Bischöfe aber wollten niemandem wehe tun und unterließen wegen dieser Schwäche energische Reformversuche. Vorgesetzte, die ernsthafte und durchgreifende Reformen vornehmen, gewinnen weiter regelmäßig nicht die Liebe ihrer Anvertrauten, weil sie Feinde der Bequemlichkeit und des Schlendrians sind. Der Gefahr, unbeliebt zu sein, mochten sich aber viele Bischöfe (aller Zeiten) nicht aussetzen. Sie besaßen nicht die Kraft, um Gottes und der Kirche willen Verstimmung und Unmut ihrer Untergebenen auf sich zu nehmen. Es gab Bischöfe, die selbst alles andere als vorbildlich waren, die aber Maßnahmen echter Reform ins Werk setzten. Dieser Zwiespalt von Leben und Handeln bot jedoch den von der Reform Betroffenen ein beliebtes Argument, sich gegen sie zu wehren. (Fs)

80a Der Mangel an Reformwillen zeigte sich auch in der Einstellung zu dem Konzil von Trient, nach dem die Bischöfe so oft und so lange gerufen hatten. Auf der ersten Sitzungsperiode des Trienter Konzils war nicht ein einziger deutscher Diözesanbischof anwesend. Die Trienter Reform wurde in der Hauptsache von eifrigen Bischöfen der romanischen Länder beschlossen. Der deutsche Episkopat nahm die Dekrete des Trienter Konzils mehrheitlich nur widerstrebend an und machte sich zögernd an ihre Veröffentlichung und Durchführung. Wie ein Bischof zu der kirchlichen Reform stand, das zeigte sich regelmäßig in seiner Einstellung gegenüber den Jesuiten. War er diesen gewogen und suchte er sie in seine Diözese zu ziehen, dann war er gewöhnlich auch ein Freund der tridentinischen Erneuerung. Wollte er dagegen von den Jesuiten nichts wissen, dann fehlte es ihm meist auch an Reformwillen. Schließlich hieß reformieren vielfach mühsames Säen ohne Aussicht, die Ernte in die Scheune zu bringen. Der Erfolg der notwendigen Maßnahmen zeigte sich nicht sogleich. Die wenigen Bischöfe, die auf der Grundlage der Trienter Beschlüsse die Saat ausstreuten, sahen die Frucht vielfach nicht mehr reifen. Um die Last solchen Dienstes auf sich zu nehmen, bedurfte es starken Glaubens und großer Selbstlosigkeit. Viele Bischöfe brachten beides nicht auf. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Abwesenheit der Einigkeit

Kurzinhalt: "Während der ganzen Reformationszeit ist es nie zu einem gemeinsamen Vorgehen aller Kirchenfürsten gekommen" (Theodor Wolters).

Textausschnitt: 3. Die Abwesenheit der Einigkeit

80b Einigkeit macht stark. "Vereint sind auch die Schwachen mächtig" (Friedrich Schiller). An dieser Einigkeit fehlte es die längste Zeit im 16. Jahrhundert, obwohl sie angesichts der ungeheuren Bedrohung bitter notwendig gewesen wäre. Einigkeit ist nur möglich, wenn Weitblick, Unterordnung und Opferbereitschaft zusammentreffen. Aber diese Tugenden waren meist nicht bei den Trägern des Bischofsamtes vorhanden. (Fs)
81a Die Bischöfe waren sich einmal untereinander nicht einig. Sie fanden sich nicht zu raschen Maßnahmen zusammen und unterstützten auch den Kaiser nicht genügend. Zu keinem Zeitpunkt der Epoche der Glaubensspaltung vermochten sich die deutschen Bischöfe zu einem vereinten Handeln aufzuraffen. "Während der ganzen Reformationszeit ist es nie zu einem gemeinsamen Vorgehen aller Kirchenfürsten gekommen" (Theodor Wolters). Die Verantwortung für das Ganze war nicht bei allen Bischöfen genügend ausgebildet. Manche sahen nur sich und ihren Bereich. Ein Verräter wie Franz von Waldeck stand sogar auf der Gegenseite und bemühte sich jahrelang um Aufnahme in den Schmalkaldischen Bund. (Fs)

81b Es bestand sodann keine Einigkeit unter den katholischen Reichsständen. Mehrfach wurden Vereinigungen katholischer Reichsfürsten gegründet; niemals aber gelang es, alle Fürsten oder auch nur alle geistlichen Fürsten dafür zu gewinnen. Dem in Nürnberg 1538 geschlossenen "heiligen Bund" zur Abwehr der Schmalkaldener gehörten nur zwei Bischöfe, die Metropoliten von Salzburg und Magdeburg, an. Der Nuntius Morone trat mit Recht unzählige Male dafür ein, das Bündnis der katholischen Fürsten zu festigen. Er entwickelte beispielsweise am 6. Juli 1539 den Plan eines Vorgehens. Es solle ein Bündnis der katholischen Fürsten in religiöser und militärischer Hinsicht zusammengebracht werden, dem sich womöglich Frankreich und der Papst anschließen sollten. Auf diese Liga gestützt, solle man an die Aufgabe der concordia herangehen. Aber das Projekt wurde nicht verwirklicht. Morone verglich am 11. April 1540 die Katholiken mit "aufgelösten Besen" (scope disciolte); die Kräfte der Lutheraner seien durch ihre Einigkeit und die Uneinigkeit der Katholiken gewachsen. (Fs)

81c Es fehlte weiter auch an Einigkeit zwischen dem Apostolischen Stuhl und den deutschen Bischöfen. Viele von ihnen glaubten sich noch Opposition und Obstruktion leisten zu können, als bereits Deutschland in Flammen stand. Schon bei den Beratungen des Kardinalskollegiums über die Bulle gegen Luther Ende Mai 1520 machten den Kardinälen die zweideutige Haltung und der passive Widerstand der wichtigsten deutschen Kirchenfürsten in dem Verfahren gegen den Häresiarchen schwere Sorgen. Rivalitäten zwischen Bischöfen und Papst, namentlich wegen der Besetzung von Benefizien, lähmten die Schlagkraft der Verteidiger des katholischen Glaubens. Es gab Bischöfe, die in der Römischen Kurie einen größeren Feind sahen als in Luther und seinem Anhang. Eck erklärte in seinem Schreiben an Contarini vom 13. März 1540, die Bischöfe hätten sich im stillen über Luthers Auftreten gefreut, weil sie hofften, der drückenden Abgaben an den Papst ledig zu werden. Der Nuntius Morone schrieb am 12. Oktober 1540, die deutschen Bischöfe möchten das Joch des Apostolischen Stuhles abwerfen und selber Papst in ihrem Hause sein. Es ist unbegreiflich, wie Fragen der Verteilung der geistlichen Macht in einem Augenblick eine Rolle spielen konnten, in dem die Macht selbst aus den Angeln gehoben wurde. Der Gedanke, die Geistlichkeit und das Volk könnten erneuert werden, wenn die kirchliche Zentralgewalt geschwächt werde, war selbstverständlich irrig; in die Räume, die der Apostolische Stuhl freigab, rückte unweigerlich die weltliche Gewalt ein. (Fs)
82a Ein unmeßbarer Schaden war schließlich die Uneinigkeit, die viele Jahre zwischen Kaiser und Papst bestand. Statt die Kräfte nach außen zu wenden, wurden sie im inneren Kampfe verbraucht. Clemens VII. gab dynastischen Interessen den Vorzug vor den Belangen des Glaubens. Sein Konflikt mit Karl V. erreichte seinen tragischen Höhepunkt in dem Sacco di Roma von 1527/28. Die Uneinigkeit der Träger der beiden höchsten Gewalten trug erheblich dazu bei, daß die Rückführung der Getrennten zur katholischen Kirche nicht gelang. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - das Schwanken und das Entgegenkommen gegenüber den Neuerern

Kurzinhalt: Viele Bischöfe zeigten angesichts der Irrlehre eine merkwürdige Unentschiedenheit. Sie schienen nicht zu erkennen oder nicht erkennen zu wollen, worum es sich bei den Ansichten des Wittenbergers handelte.

Textausschnitt: 4. Das Schwanken und das Entgegenkommen gegenüber den Neuerern

82b Viele Bischöfe zeigten angesichts der Irrlehre eine merkwürdige Unentschiedenheit. Sie schienen nicht zu erkennen oder nicht erkennen zu wollen, worum es sich bei den Ansichten des Wittenbergers handelte. Lange Zeit versuchten nicht wenige Bischöfe, Luthers Aufstellungen harmlos zu deuten und seine Thesen abschwächend auszulegen. Ein Mann wie Eck erkannte die Gefährlichkeit der lutherischen Lehre viel früher als die meisten Bischöfe. Die theologischen Fakultäten der Universitäten Köln und Löwen verwarfen Luthers Erfindungen als Irrlehren, noch bevor sich der Heilige Stuhl dazu geäußert hatte. Es mußte etwas geschehen, um das Feuer auszutreten, das der Wittenberger angezündet hatte. Aber viele Bischöfe gingen nicht daran, sondern bemühten sich im Gegenteil, die besorgten Vorkämpfer des Glaubens zu beschwichtigen und die lutherische Bewegung zu bagatellisieren. (Fs)

82c Erst recht wollten die Bischöfe nicht an konkrete Maßnahmen zur Unterdrückung des Aufruhrs herangehen. Der unermüdliche Johannes Eck hatte ungeheure Mühe, die deutschen Bischöfe zur Vollziehung der Bulle gegen Luther zu bewegen. Feige und furchtsam, wie sie waren, suchten manche ihm die Veröffentlichung der Bulle "Exsurge Domine" zuzuschieben. "Die Fürsten sind voller Unentschlossenheit, die Prälaten voller Furcht; keiner weiß einen Weg, der Ketzerei entgegenzutreten, vielmehr reden selbst jene zu Luthers Gunsten, die ihn fürchten", schrieb Aleander am 28. Februar 1521 aus Worms. Luther revanchierte sich für solche Dienste auf seine Art, indem er nämlich den Tenor seiner Schriften bis zur Siedehitze steigerte. Es ist richtig festgestellt worden: Die Mehrzahl der geistlichen Fürsten "konnte sich weder für noch gegen die Reformation entscheiden und ließ der Entwicklung freien Lauf" (Theodor Wolters). Dieses Schwanken war verhängnisvoll. "Die Ausbreitung der Reformation ist in starkem Maße durch die unschlüssige Haltung der geistlichen Fürsten dieser Zeit gefördert worden" (Theodor Wolters). (Fs)

82d Viele deutsche Bischöfe ließen es sogar an Entgegenkommen gegenüber den Neuerern nicht fehlen. Das Verhalten Erzbischof Albrechts von Mainz in bezug auf Luther ist das bekannteste Beispiel dafür. Manche kamen sich sehr klug vor, indem sie davor warnten, durch übereilte oder zu scharfe Maßnahmen Luther in die Ketzerei zu treiben. Sie sahen nicht oder wollten nicht sehen, daß dieser nicht mehr aus der Kirche hinausgedrängt werden konnte, weil er längst außerhalb ihrer stand. In Wirklichkeit gestatteten Unentschlossenheit und Nachgiebigkeit der Bischöfe lediglich die lautlose Verbreitung der Neuerung. August Franzen spricht in diesem Zusammenhang von der "Tragik" der katholischen Kirche Deutschlands im 16. Jahrhundert: "Es ist die Tragik der Kirche, die in den entscheidenden Auseinandersetzungen von ihren Führern im Stiche gelassen wurde." Manche Bischöfe behandelten die religiösen Aufrührer rücksichtsvoll und schonend, während sie gegen die Verteidiger des Glaubens kühl und abweisend waren, ein Verhalten, das bekanntlich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verblüffende Parallelen hat. Nur wenige waren klar und kompromißlos. Ein Mann wie der Kölner Erzbischof Adolf von Schaumburg war ein Gegner aller Zugeständnisse und sah von ihnen richtig nur Gefahren für die katholische Kirche ausgehen. (Fs)

83a Immer wieder beobachtet man bei den Bischöfen Abwarten, Zögern, Schielen auf den Nachbarn. Die Suffraganbischöfe beriefen sich zur Rechtfertigung ihrer Säumigkeit, gegen die religiöse Neuerung einzuschreiten, auf das lässige und zögernde Verhalten ihres Metropoliten. Der Metropolit behauptete, nicht allein vorgehen zu können, ohne daß die Suffraganbischöfe mitzögen. So wartete einer auf den andern, und es geschah nichts. Das kaiserliche Mandat gegen Luther erging am 8. Mai 1521 zu Worms. Darin wurde über ihn die Reichsacht ausgesprochen. Aber die Durchführung des Wormser Edikts verzögerte sich, und je länger sie aufgeschoben wurde, um so weniger konnte es verhindern, daß die Neugläubigen in ihren Gebieten vollendete Tatsachen schufen. Es fehlte nicht an Überlegungen und Zusammenkünften der Bischöfe, aber sie kamen regelmäßig vor lauter Beratungen nicht zum Handeln. Freilich muß zugegeben werden, daß viele Bischöfe in ihrer Arglosigkeit der Hinterlist und Niedertracht so mancher Anhänger der religiösen Neuerung nicht gewachsen waren. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Neigung zum Protestantismus

Kurzinhalt: Es unterliegt keinem Zweifel, daß es im 16. Jahrhundert nicht ganz wenige Bischöfe gab, die zum Protestantismus tendierten; einige von ihnen vollzogen den Abfall, andere schreckten davor zurück.

Textausschnitt: 5. Die Neigung zum Protestantismus

83b Es unterliegt keinem Zweifel, daß es im 16. Jahrhundert nicht ganz wenige Bischöfe gab, die zum Protestantismus tendierten; einige von ihnen vollzogen den Abfall, andere schreckten davor zurück. Es lassen sich folgende drei Gruppen unterscheiden. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Bischöfen war im katholischen Glauben nicht genügend verwurzelt. Es fehlte ihnen an der tiefgegründeten Überzeugung. Sie waren nicht in der Lage, sich selbständig ein abgerundetes Urteil über die grundstürzende Verfehltheit der neuen Lehre zu bilden. Manche dieser Bischöfe waren an Fragen der Lehre wenig interessiert; sie scheinen teilweise oder zeitweilig einem theologischen Skeptizismus angehangen zu haben. Die Wahrheit ging ihnen nicht über alles. Die alleinige Berechtigung der katholischen Lehre stand ihnen nicht fest. Manche Angehörige dieser Gruppe konnten ebensogut katholisch bleiben wie protestantisch werden, je nachdem, was Gunst und Vorteil empfahlen. (Fs) (notabene)

83c Eine weitere Anzahl von Bischöfen war dem Protestantismus innerlich zugetan, brach aber aus irgendwelchen Rücksichten nicht mit der Kirche, sie zauderten und warteten ab, ob sich der Abfall ohne Schaden für ihre Stellung und ihre Einnahmen vollziehen ließ. Scharf beobachtende Anhänger der Religionsneuerung erkannten, daß manche Bischöfe nur unter dem Druck des Heiligen Stuhles und seiner Nuntien etwas gegen die Irrlehre unternahmen und nur so viel taten, daß sie sagen konnten, sie wären nicht untätig geblieben. Luther meinte 1542 in einer Tischrede, der Würzburger Bischof Konrad von Bibra verhalte sich so, als sei er Lutheraner. Von einem Teil der geistlichen Fürsten trifft es mit Sicherheit zu, daß sie "spekulierten und lauerten, wer wohl die Oberhand behalten werde, um dann dem Sieger die Hand zu reichen", wie sich Herzog Georg von Sachsen ausdrückte. In der Schrift an den Deutschen Orden von 1523 schrieb Luther: "Mir ist schier kein Zweifel, es sollten auch mancher Bischof, Abt und andere geistliche Herrn zur Ehe greifen, wenn sie nur die ersten nicht wären und die Bahn zuvor wohl gebahnt und solches Freien gemein wäre geworden, daß es nimmer Schande oder Gefahr hätte, sondern löblich und ehrlich vor der Welt wäre." Im Jahre 1532 war der venezianische Gesandte Tiepolo der Ansicht, es gebe deutsche Bischöfe, die nach dem Beispiel des Hochmeisters des Deutschen Ordens heiraten und ihre Stifte in weltliche Territorien umwandeln möchten. Der Nuntius Giovanni Morone erwähnte am 12. Juli 1537 die von den Lutheranern an die geistlichen Fürsten gerichteten Verlockungen, zu heiraten und ihren Besitz in erbliche Fürstentümer zu verwandeln, und er gewann den Eindruck, daß viele Bischöfe schwankten, ob sie dem Vorschlag folgen sollten. Der Nuntius Delfino äußerte am 2. Juni 1555 gegenüber Paul IV. die Besorgnis, daß innerhalb kurzer Zeit (nach Abschluß des sogenannten Religionsfriedens) der größere Teil der Prälaten sich verheiraten und seine Länder säkularisieren werde. Es ist freilich nicht bei jedem Bischof Sicherheit zu gewinnen, wo er religiös und theologisch stand. Es lassen sich auch total falsche Urteile von Nuntien und Legaten über deutsche Bischöfe beobachten. Beispielsweise stellte Campeggio am 23. Juni 1532 dem Franz von Waldeck das beste Zeugnis aus. (Fs)

84a Eine nicht ganz unerhebliche Zahl deutscher Bischöfe verriet schließlich tatsächlich den Glauben und die Kirche und ging zum Protestantismus über. So können Männer wie Georg von Polentz und Erhard von Queis nur als Verräter bezeichnet werden. Teilweise vollzog sich der Abfall unter beschämenden Umständen wie etwa bei Matthias von Jagow und Johannes von Haugwitz. Besonders herausragende Abtrünnige waren die beiden Erzbischöfe von Köln, Hermann von Wied und Gebhard Truchseß von Waldburg. August Franzen stellt für eine ganze Serie von ungenügenden Kölner Erzbischöfen fest: "Das rheinische Volk aber hielt all diesen Belastungen stand. Es blieb in seiner überwiegenden Mehrheit katholisch, nicht wegen, sondern trotz seiner Bischöfe." Daß ihr Abfall nicht zur Zerstörung der Kirche führte, war dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu verdanken. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Durchschnittlichkeit

Kurzinhalt: Auf den Bischofsstühlen aller Zeiten überwiegt das Mittelmaß. Für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts ist es sicher, daß überdurchschnittliche Männer, herausragende Persönlichkeiten auf den meisten deutschen Bischofsstühlen fehlten.

Textausschnitt: IX. Die Mängel in der Persönlichkeitsstruktur

85a Das Versagen vieler Bischöfe in den stürmischen Zeiten des 16. Jahrhunderts legt die Fragen nahe, welche Eigenschaften des Charakters ihnen fehlten, so daß sie den Anforderungen nicht gewachsen waren, und welche Mängel in der Persönlichkeitsstruktur sie gleichsam disponierten, in der Erprobung zu unterliegen. Im folgenden soll versucht werden, sie zu beantworten. Es wird sich dabei zeigen, daß es sich hier um eine konsti-tutive Schwäche des katholischen Episkopats handelt. (Fs)

1. Die Durchschnittlichkeit

85b Die Höhe der Stellung und die Bedeutung der Aufgabe, die jemandem übertragen werden, sollen in einer angemessenen Relation zu Charakter, Begabung und Leistungsfähigkeit der Personen stehen, die damit betraut werden. Herausragende Positionen fordern überdurchschnittliche Persönlichkeiten, und außergewöhnliche Lagen verlangen außerordentliche Persönlichkeiten. Mittelmäßigkeit in führenden Positionen mag in ruhigen Zeiten hingenommen werden können; in Perioden des Sturmes und der Entscheidung wird sie zum Verhängnis. Durchschnittlichkeit ist gewiß keine Schuld, aber sie kann eine Katastrophe hervorrufen. Denn der durchschnittliche Mensch liebt es, dem Anspruch des lästigen Erstrangigen dadurch scheinbar zu entgehen, daß er sich mit bequemem Zweitrangigem beschäftigt. Das Unheil wächst dadurch unvorstellbar an. (Fs)

85c Nun hat die Kirche wohl noch nie Überfluß an gewaltigen oder wenigstens mitreißenden Persönlichkeiten gehabt. Aber für so herausragende und zahlenmäßig relativ eng begrenzte Stellen wie das Bischofsamt sollte es möglich sein, wenigstens in der einen oder in der anderen Hinsicht überlegene Kandidaten zu finden. Doch ist dies kaum jemals im Lauf der Kirchengeschichte der Fall gewesen. Auf den Bischofsstühlen aller Zeiten überwiegt das Mittelmaß. Für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts ist es sicher, daß überdurchschnittliche Männer, herausragende Persönlichkeiten auf den meisten deutschen Bischofsstühlen fehlten. Zu viele erwiesen sich als zu klein für die Größe ihres Amtes und ihrer Aufgabe. Sie betätigten sich auf Gebieten, die sich an Wichtigkeit mit der Aufgabe, den Glauben und die Kirche zu retten, nicht messen konnten, die ihnen aber lagen und sie nicht in Konflikte stürzten. Für Moriz Ritter gingen die wenigen energischen und eifrigen Bischöfe "unter der Masse der Mittelmäßigen oder Unfähigen" unter. Es war keiner da, der echte Schöpferkraft und die Begabung zur großen Tat besaß. "Eine der gewaltigen Aufgabe wirklich entsprechende geniale Kraft fehlte jedenfalls", stellt Joseph Lortz fest. Nach Theodor Wolters läßt sich "ein bedeutender Vertreter des geistlichen Fürstentums" während der sogenannten Reformationszeit "überhaupt nicht namhaft machen". Johannes Janssen bemerkt, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der deutsche Episkopat in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts "eine durchwegs sehr traurige Rolle gespielt" habe. Angesichts der geringen Zahl regierender Bischöfe, verglichen mit der Menge an Geistlichen, ist das Fehlen hervorragender Gestalten im deutschen Episkopat nicht ohne Mängel des Systems der Auswahl zu erklären. Allerdings soll nicht verkannt werden, daß die seltenen überdurchschnittlichen Persönlichkeiten auf Bischofsstühlen an Schranken ihres Wirkens stießen, die teilweise unüberwindbar waren. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Mangel an Führereigenschaften

Kurzinhalt: Sie schauten nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, änderten ihr bisheriges Leben nicht, sondern suchten es aufrechtzuerhalten. Immer noch waren sie bestrebt, möglichst viele Pfründen an sich zu ziehen, ...

Textausschnitt: 2. Der Mangel an Führereigenschaften

86a Führen heißt die Ziele einer Bewegung angeben und andere auf sie hinlenken. Ein Führer muß also an erster Stelle befehlen können. Im Augenblick der Entscheidung muß er einen klaren Entschluß fassen, daran festhalten und ihn notfalls anderen aufzwingen. Selbstverständlich müssen sich führende Persönlichkeiten beraten lassen. Die zu treffenden Entscheidungen setzen häufig Spezial- und Detailkenntnisse voraus, über die sie nicht verfügen können. Aber die Beratung darf nicht die Führung ersetzen; aus Beratern dürfen nicht Entscheidende werden. Diese Beobachtung läßt sich aber bei nicht wenigen Bischöfen machen. Sie waren von ihren Räten nicht nur bei der Einholung von Wissen abhängig, sondern auch beim Fassen des Entschlusses; sie wurden aus führenden zu vollstreckenden Persönlichkeiten. Zu viele Bischöfe hatten keine Begabung, zu regieren, und sie haben diese Fähigkeit auch nie erworben. Das Regierungstalent anderer war für normale Zeiten ausreichend; aber den außerordentlichen Geschehnissen, die sich seit 1517 abspielten, waren sie nicht gewachsen. (Fs)

86b Führende Persönlichkeiten haben die Gabe der Vorausschau nötig. Sie müssen in der Lage sein, die Kräfte und die Bewegungen der Gegenwart zu analysieren und daraus auf die wahrscheinliche Entwicklung in der Zukunft zu schließen. Den meisten Bischöfen des 16. Jahrhunderts fehlte die Weitsicht. Sie waren nicht fähig, den Gang der Dinge vorauszusehen und die Folgen von Maßnahmen abzuschätzen. Sie schauten nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, änderten ihr bisheriges Leben nicht, sondern suchten es aufrechtzuerhalten. Immer noch waren sie bestrebt, möglichst viele Pfründen an sich zu ziehen, um so ihre Einkünfte aufzubessern. Inmitten der furchtbaren Not ihrer Diözesen ergötzten sie sich an den Witzen und Streichen von Hofnarren. Wer an dem Nürnberger Reichstag 1522 teilnahm, konnte die traurige Beobachtung machen, daß Bischöfe sich an Bällen und öffentlichen Belustigungen beteiligten. Sie hätten sich darüber klar sein müssen, daß die Wittenberger Irrlehre dank ihrer populären Forderungen und ihrer bequemen Seiten fortschreiten werde und daß daher alles, aber wirklich alles aufgeboten werden müsse, um sie zu überwinden. Die Gegenwart bietet für den Mangel an Voraussicht treffliches Vergleichsmaterial. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den sogenannten katholischen Ökumenismus eröffnet. Seine Durchführung besteht darin, daß beinahe alle Schranken gegen die Irrlehren niedergerissen werden und daß die Kirche von einem gigantischen Prozeß der Protestantisierung erfaßt ist. (Fs)

87a Wer führt, muß weiter Menschen einsetzen können; das vermag er aber nur, wenn er sie richtig einzuschätzen vermag. Ein Führer muß Menschenkenntnis besitzen. Vielen Bischöfen fehlte sie. Sie durchschauten lange Zeit nicht die Gefährlichkeit und die Entschlossenheit, die Bosheit und die Tücke der Aufrührer, sie wußten aber auch nicht um die Schwäche und die Unselbständigkeit, die Verführbarkeit und das Mitläufertum der meisten Menschen. Sie vertrauten Versprechungen, die nicht ernst und nicht ehrlich gemeint waren, und sie beruhigten sich bei Zusagen, deren Fadenscheinigkeit schon in dem Augenblick erkennbar war, da sie gemacht wurden. Es fehlte ihnen das gesunde Mißtrauen gegenüber der Brüchigkeit des Menschen. Die Bischöfe verstanden es häufig nicht, den richtigen Mann an den richtigen Platz zu stellen und andere rechtzeitig abzulösen; sie ließen sich vom Schein und von gleisnerischen Worten blenden, statt hinter die Fassade zu blicken. (Fs)

87b Die Bischöfe begriffen auch nicht, daß eine großangelegte Strategie die Bildung von Schwerpunkten und die Konzentration der Kräfte verlangt. Im Kriege hat nur das Einfache Aussicht auf Erfolg. Im Kampf um Sein oder Nichtsein hat allein die rücksichtslose Ausschöpfung aller Hilfsquellen eine Verheißung. Angesichts der ungeheuren Drohung, die vom Protestantismus ausging, wäre es angebracht gewesen, alle Händel, Bestrebungen und Kränkungen, die einer Zusammenfassung der Mittel entgegenstanden, zu vergessen und hintanzustellen. Aber viele Bischöfe verstanden nicht, daß jetzt keine Zeit mehr war für fürstliches Kunstmäzenatentum, sondern daß die Kräfte und Mittel auf die Erhaltung der heiligen Religion konzentriert werden mußten. Mitten in einem beispiellosen Existenzkampf der Kirche wollten sie ihr glänzendes Leben als Fürsten fortsetzen. Statt die Einkünfte zur Stützung des bedrohten Glaubens zu verwenden, gaben sie es für Hofhaltung, Bauten und Geschenke aus. Sie machten keine Anstalten, die Temporalien der Kirche in einer gewaltigen Sammlung der Kräfte für die Unterdrückung der Neuerung einzusetzen. Man konnte sich nicht entschließen, irgendwo ganze Arbeit zu leisten. Zu wenige Bischöfe begriffen den Grundsatz, daß, wer alles schützen will, nichts retten kann. Es hätten eben große kulturelle Werte hingegeben werden müssen, um die heilige Religion zu verteidigen. "Wer also Alles schützen wollte, mußte verlieren, wer gemäßigt den Mittelweg schritt, war zu verständig und eben darum zu kalt, um wirken und um sich behaupten zu können, wo Leidenschaften aufgeregt waren" (Gustav Adolf Harald Stenzel). (Fs)

87c So manchem Bischof waren sodann wegen seiner körperlichen Verfassung, also wegen Alter, Krankheit oder Gebrechlichkeit, eine energische und ausgreifende Tätigkeit und erst recht der Kampf wirklich oder angeblich nicht möglich. Es zeigte sich, daß auf einen Bischofsstuhl nur Männer gehören, die physisch den Anforderungen des Amtes gewachsen sind. Viele Bischöfe waren freilich mit der Pflege ihrer Leiblichkeit mehr als tunlich beschäftigt. Sie schonten sich, weil sie kränklich oder hypochondrisch waren, und fielen damit für energisches Durchgreifen, z. B. bei und durch Visitationen, aus. In Zeiten des Kampfes auf Leben und Tod ist jedoch eigene Schonung unangebracht, ja macht schuldig. (Fs)

88a Ein Regent, der sein Amt zum Wohl der ihm Anvertrauten ausüben will, kommt weiter um unpopuläre Entscheidungen und Maßnahmen nicht herum. Dieses Erfordernis ergibt sich aus mehreren Überlegungen. Die Notwendigkeiten der Zukunft stehen häufig in einem Gegensatz zu den Erwartungen der Gegenwart. Wer regiert, muß für das Morgen sorgen, auch wenn die große Menge lediglich an dem Heute interessiert ist. Die Sorge für das Ganze bedingt Opfer der einzelnen. Die Masse der Menschen denkt nur an sich und nicht an das Ganze; sie selbst will entlastet, die anderen sollen belastet werden. Wer regiert, muß sich dagegen notfalls auch gegen die Mehrheit entscheiden. Die meisten Menschen lieben das bequeme Kompromiß; Konsequenz ist bei ihnen nicht gefragt. Wer kraftvoll regieren will, darf vor einschneidenden Maßnahmen nicht zurückschrecken. Den meisten Bischöfen fehlte der Mut, sich durch entschiedene, durchgreifende Aktionen unpopulär zu machen. Die Eigenliebe war bei ihnen größer als die Liebe zum Kreuz. "Nichts macht uns feiger und gewissenloser als der Wunsch, von allen Menschen geliebt zu werden" (Marie von Ebner-Eschenbach). (Fs)

88b Zu viele humanistisch gebildete Bischöfe waren schließlich mehr für das Reden als für das Handeln gerüstet. Sie waren im Reich des Gedankens zu Hause, nicht in dem der Tat. Lesen, schreiben, disputieren, das war ihr Metier. Nun sollten und mußten sie handeln. Dafür fehlte ihnen die Kraft. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Reich des Geistes und der Welt des Tuns. Die Qualitäten für das eine gehen häufig nicht zusammen mit den Eigenschaften für das andere. Soweit die Bischöfe aufrichtig und ehrbar waren, waren sie geschaffen, in friedlichen Zeiten zu leben. Die Anforderungen einer Epoche wie jener der Religionsneuerung gingen über ihre Kraft; sie hatten selbst Führung, Unterstützung und Aufrichtung nötig, die sie anderen vermitteln sollten. In einer scheinbar oder wirklich aussichtslosen Lage zeigt es sich, was in einer führenden Persönlichkeit ist, ob sie die Stärke besitzt, bis zum Untergang zu kämpfen, oder ob sie sich zurückzieht, um für sich selbst noch ein paar friedliche Jahre herauszuholen. Es braucht gewiß eine große Kraft, um auf verlorenem Posten auszuharren, aber von führenden Menschen muß sie erwartet werden. Aussichtslosigkeit ist keine Entschuldigung für Untätigkeit. Wenn man die Bischöfe des 16. Jahrhunderts mit führenden Persönlichkeiten anderer Gebiete vergleicht, wird man feststellen müssen, daß es mehr überdurchschnittliche und tatkräftige politische und militärische Führer gab als Bischöfe. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Fehlen des Mutes zur Erkenntnis der Wirklichkeit

Kurzinhalt: Aber allzu viele Bischöfe begriffen nicht oder wollten nicht begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Die meisten wünschten nicht, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen; ...

Textausschnitt: 3. Das Fehlen des Mutes zur Erkenntnis der Wirklichkeit

88c Die Erkenntnis ist nicht nur eine Sache der Augen und des Verstandes, sondern auch des Charakters und des Willens. Denn es braucht Mut, um unangenehme Dinge zu sehen. Schwache Seelen erkennen Gefahren nicht, weil sie sie nicht wahrnehmen wollen. Es ist eine beliebte Weise, Drohendem dadurch scheinbar zu entgehen, daß man es nicht zur Kenntnis nimmt. Allzu gern halten sich Menschen in Illusionen auf, färben die Lage, weigern sich, Peinliches oder Gefährliches ins Auge zu fassen, trösten sich mit Lappalien über Bedrohungen hinweg. Diese Erscheinung ist verständlich. Denn sie hält eine Zeitlang Beschwerliches fern, behindert nicht den Lebensgenuß, verlängert die Spanne des angenehmen Lebens, erspart Anstrengungen und Zurüstungen. Dieser fehlende Mut zur Erkenntnis der tatsächlichen Lage kommt also aus zwei Mängeln des Charakters, aus Bequemlichkeit und aus Schwäche. Mag das Fehlen des Mutes zur Wirklichkeit bei Privatpersonen ohne schwerwiegende Auswirkungen für das Ganze sein, so ist es bei Amtsinhabern eine große Gefahr. Denn die Situation wird ja dadurch, daß man sich weigert, sie zur Kenntnis zu nehmen, nicht besser, und die Bedrohungen schwinden nicht deswegen, weil man sie nicht sehen will. Im Gegenteil! Die Gefährdung nimmt zu. Denn in der Spanne, in der die Verantwortlichen es versäumen, Gegenmaßnahmen einzuleiten, verstärkt sich der Gegner, wird das eigene Lager in einer falschen Ruhe gehalten und geht unwiederbringliche Zeit verloren. (Fs)

89a Dieselben Beobachtungen lassen sich beim deutschen Episkopat des 16. Jahrhunderts machen. Es gab doch damals Männer, vor allem einzelne Theologen, die den ganzen Umfang der Gefahr früh erkannten. Daraus ist zu sehen, daß es möglich war, die lutherische Bewegung von Anfang an richtig einzuschätzen. Aber allzu viele Bischöfe begriffen nicht oder wollten nicht begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Die meisten wünschten nicht, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen; sie hörten lieber ermutigende Nachrichten als zutreffende Schilderungen der tatsächlichen, immer schlimmer werdenden Verhältnisse. Sie klammerten sich an Strohhalme, d. h. winzige Erfolge oder Hoffnungsschimmer. Sie nahmen die Wirklichkeit des Protestantismus nicht in den Blick, täuschten sich vielmehr über seine wahre Natur und weigerten sich, zuzugeben, daß der Spalt zwischen katholischer Kirche und der Irrlehre unüberbrückbar war. Starke Persönlichkeiten schauten dagegen der Wirklichkeit ins Gesicht. Der Kardinal von Lothringen beispielsweise schrieb am 4./6. Juni 1525 richtig an Clemens VII.: "Fast ganz Deutschland steht in Flammen" (Ardet tota fere Germania factione Lutheridarum). Der Nuntius Girolamo Aleander sprach am 9. September 1538 von einem fast völligen Zusammenbruch der katholischen Religion in Deutschland (religionis om-nis immensum chaos). Der Nuntius Morone stellte am 23. Oktober 1539 fest, die katholische Religion in Deutschland gehe zugrunde (le cose della religione vanno a total roina). (Fs)

89b Wir kennen diese Erscheinung aus der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Jahrelang sprach man von einem Aufbruch und weigerte sich, zuzugeben, daß ein gigantischer Zusammenbruch vor sich ging. Als dann die ungeheuren Schäden, welche die sogenannten Reformen heraufgeführt hatten, unübersehbar wurden, sprach man von "Mißständen", statt die nachkonziliare Katastrophe beim Namen zu nennen. Die Blindheit der Hirten zeigt sich besonders gegenüber dem Protestantismus. Dieser sucht in der Gegenwart genau so berechnend seinen Vorteil wie im 16. Jahrhundert. Der Protestantismus trägt so ungeniert und rücksichtslos, wie er immer war, seine Forderungen gegenüber der Kirche vor, aber die Hirten der Kirche weisen sie nicht ab und erheben keine Gegenforderungen, erbringen vielmehr immer neue Leistungen zum Schaden der heiligen Kirche. Der Protestantismus ist dagegen nicht zum geringsten Entgegenkommen gegenüber der katholischen Lehre bereit. Alle Erfahrungen mit 450 Jahren Protestantismus scheinen vergessen. Mahnungen und Warnungen werden unwirsch abgewehrt. Eine nur ideologisch und massenpsychologisch zu erklärende Euphorie feiert den Abfall von der Kirche und seine Urheber. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Mangel an Mut

Kurzinhalt: Der Mangel an Mut bei vielen Oberhirten des 16. Jahrhunderts ist von den Zeitgenossen häufig ausgesprochen worden.

Textausschnitt: 4. Der Mangel an Mut

90a Tatsachen zur Kenntnis nehmen, ist nicht dasselbe wie sich mit ihnen abfinden. Wenn sich die Großen der Kirchengeschichte bei den Fakten beruhigt hätten, wäre es niemals zu den (echten) Reformbewegungen gekommen. Um jedoch die Wirklichkeit zu ändern, braucht es Mut, d. h. Überwindung der Furcht. Nun ist das Fehlen des Mutes eine allgemeinmenschliche Erscheinung; der durchschnittliche Mensch ist eben nicht mutig. Aber was bei der Menge hingehen mag, wird bedenklich, u. U. zum Verhängnis, wenn es sich bei führenden Menschen findet. Den meisten Bischöfen des 16. Jahrhunderts fehlte es an Mut. Dieser Vorwurf ist zu allgemein, als daß er bloß den Umständen zuzuschreiben sein könnte; er war ein fast durchgängiges Merkmal der Bischöfe. Zum Handeln braucht es Mut. Wer keinen Mut besitzt, der wagt nichts. Es gibt aber keine Entscheidung ohne Risiko. Eben dieses Risiko scheuten die meisten Bischöfe. Lieber warteten sie ab, machten halbe Zusagen, erklärten sich für neutral, hielten sich heraus und schoben die Dinge vor sich her, als daß sie alles auf eine Karte gesetzt hätten. "Eine durch vorherrschenden Geist geleitete Kühnheit ist der Stempel des Helden", schrieb einst Carl von Clausewitz. Solcher Heroismus war bei den deutschen Bischöfen des 16. Jahrhunderts nur höchst selten zu finden. (Fs)

90b Furcht ist ein schlechter Berater; sie führt zum Begehen von Fehlern und verleitet leicht zur Lähmung. Die Bischöfe hatten Furcht. Sie wurzelte einmal in der Drohung der Neuerer. Diese schreckten ja bekanntlich beinahe vor nichts zurück, um der Kirche Abbruch zu tun. Gerade diese Entschlossenheit hätte die Bischöfe lehren müssen, daß ihr nur mit gleicher oder noch größerer Energie begegnet werden konnte. Die Bischöfe fürchteten sodann die weitverbreitete lutherfreundliche Stimmung. Sie scheuten sich, die Massen durch Maßnahmen zu reizen, die zwar notwendig waren, aber, wie die Verhältnisse lagen, Öl ins Feuer zu gießen schienen. Indes werden die Massen von Minderheiten geführt, und wer deren Wirksamkeit zu beseitigen versteht, gewinnt auch über die Massen Gewalt. Außerdem sind diese regelmäßig durch rasches, rücksichtsloses Durchgreifen in Furcht zu versetzen und dadurch unschädlich zu machen. Die Bischöfe fürchteten schließlich den Verlust ihrer Ruhe und den Kampf. Die Bereitschaft zum Martyrium hatte kaum einer von ihnen. Damit aber begaben sie sich der Aussicht auf Erfolg. "Wer den Tod nicht fürchtet, ist mächtig in einer Welt der Angst. Die Furchtlosigkeit ist der Lohn der Wahrheit. Ihr Preis ist der Tod" (Peter Bamm). Wenn auch vielleicht nicht für alle Tage, so doch für Zeiten des Umbruchs gilt das Wort: "Nur zwei Dinge hat der Mensch zu wählen, das Opfer oder die Schuld" (Reinhold Schneider). (Fs)

91a Der Mangel an Mut bei vielen Oberhirten des 16. Jahrhunderts ist von den Zeitgenossen häufig ausgesprochen worden. Der Nuntius Girolamo Aleander schrieb Ende Februar 1521, die Bischöfe seien "voller Furcht". Am 13. April 1521 bemerkte er von neuem: "Die Prälaten zittern und lassen sich verschlingen wie Kaninchen" (li prelati tremano e se lassano davorar come coniglii). Der Nuntius Prospero Santa Croce berichtete am 6. Juni 1548 von der Feststellung eines Gewährsmannes, die Angelegenheiten der Religion würden einen anderen Verlauf nehmen, wenn die deutschen Bischöfe so wären, wie sie sein sollen; sie seien ziemlich ratlos und mutlos (di pocho consiglio e di manco animo). Von den 1555 in Augsburg versammelten oder vertretenen geistlichen Fürsten sagt Joseph Lortz: "Man vermißt bei ihnen ebenso die theologische Klarheit wie den politischen Mut, in allem aber das wichtigste, die wagende Zielsicherheit." In seinem Schreiben vom 23. Juli 1567 sprach Petrus Canisius den deutschen Bischöfen "Zuversicht und Unerschrockenheit" im Hinblick auf die Durchführung der Beschlüsse des Trienter Konzils ab. Am 20. Juni 1582 schrieb Kardinal Madruzzo aus Augsburg, viele Bischöfe seien furchtsam und stünden unter dem Verdacht, der evtl. Freistellung nicht entgegen zu sein. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Tatenlosigkeit

Kurzinhalt: "Aus kleinlichen Rücksichten oder aus Furchtsamkeit" (Ludwig von Pastor) zögerten viele deutsche Bischöfe schon, die Bulle "Exsurge Domine" zu veröffentlichen; ...

Textausschnitt: 5. Die Tatenlosigkeit

91b Es ist eine allgemeinmenschliche Erscheinung, Anstrengendes, Lästiges, Peinliches und Schwieriges aufzuschieben oder zu unterlassen. Wer handelt, zumal wer als erster oder einziger und wer deckungslos handelt, braucht Mut. Denn er setzt sich der Kritik aus, zieht Vorwürfe auf sich und riskiert das Mißlingen. Es ist eine verbreitete Ansicht, daß derjenige, der gar nichts tut, auch nichts falsch machen könne. Aber diese Meinung ist irrig. Denn Versäumnis und Tatenscheu wiegen auf der Waage der Geschichte nicht minder schwer als verkehrte Maßnahmen. "Denn oft tut auch der unrecht, der nichts tut, nicht bloß der, der etwas tut" (Marc Aurel). Ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel beim Handeln ist sogar regelmäßig weniger schwerwiegend als das Unterlassen des Handelns überhaupt. Lieber etwas Falsches als gar nichts tun, muß die Devise heißen. Dies gilt zumal angesichts von Umwälzungen größten Ausmaßes. Revolutionen haben ihre eigenen Gesetze. Sie können mit Gewalt unterdrückt, niemals aber mit Diplomatie oder Verlockungen überwunden werden. Die Niederwerfung einer Revolution benötigt also Taten, rasche, konsequente, durchgreifende und rücksichtslose Taten. (Fs)

91c Diese geschichtlichen Erkenntnisse waren vielen Bischöfen des 16. Jahrhunderts nicht gegenwärtig. So mancher von ihnen saß tatenlos in einem Schloß und führte dort ein zurückgezogenes Leben, während draußen der Sturm an den Grundfesten der Kirche zerrte. "Aus kleinlichen Rücksichten oder aus Furchtsamkeit" (Ludwig von Pastor) zögerten viele deutsche Bischöfe schon, die Bulle "Exsurge Domine" zu veröffentlichen; sie machten formale oder Opportunitätsgründe dagegen geltend. Diese Tatsache am Anfang setzte sich in der Folgezeit fort. Jahrelang wurde gegen Luther und seinen Anhang nicht mit den Mitteln eingeschritten, die ihnen gegenüber allein angebracht gewesen wären. In diesen Jahren konnte sich ihre Agitation fast ungehemmt entfalten. Man arbeitete auf katholischer Seite mit dem Argument, daß durch scharfes Durchgreifen gegen die lutherische Neuerung Unruhen zu gewärtigen seien, und verschaffte auf diese Weise der Revolution Ruhe, sich ungestört weiter auszubreiten. Gerade das gegenteilige Verhalten wäre richtig gewesen. Die Bischöfe hätten in dem Maße, in dem die Neugläubigen auf Zeitgewinn hinarbeiteten, diese Atempause verhindern müssen. Statt dessen waren sie saumselig und untätig. Johannes Eck mußte die Bischöfe immer wieder antreiben und unter Druck setzen, um zu erreichen, daß sie etwas gegen die Ausbreitung des Luthertums unternahmen. In seinem ersten Gutachten für Papst Clemens VII. (1523) gab Aleander den Rat, die nachlässigen deutschen Bischöfe unter Androhung von Kirchenstrafen dazu anzuhalten, daß sie endlich energisch gegen die Irrlehre einschritten. Die meisten Bischöfe besaßen nicht die Kraft, gegen die abgefallenen Geistlichen und die entsprungenen Mönche, die den Samen der Zwietracht auswarfen, wirksam vorzugehen. In manchen Territorien ergab sich die groteske Situation, daß die Landesherren gegen die lutherische Neuerung einschreiten wollten, wenn die Bischöfe handelten, und daß die Bischöfe gegen das Luthertum vorgehen wollten, wenn die Landesherren vorangingen. Bei solcher Verschleppung der notwendigen Maßnahmen blühte der Weizen der Neuerer. Ende der dreißiger Jahre war es soweit gekommen, wie Ludwig von Pastor schreibt, daß die Protestanten überall im Angriff waren, während die Katholiken vielfach nicht einmal die Kraft fanden, sich zu verteidigen. Daran trug "vor allem der deutsche Episkopat einen großen Teil der Schuld" (Ludwig von Pastor). "Der Kleinmut und die Verweltlichung der meisten deutschen Kirchenfürsten" werden von Pastor hauptverantwortlich für den trostlosen Zustand der Kirche in den katholischen Territorien gemacht. Der Nuntius Morone schrieb im Jahre 1540 von den deutschen Bischöfen: "Diese Oberhirten wollen in Frieden leben, wenn er nur für ihr Leben aushält." Friedrich Nausea gab den Bischöfen an erster Stelle die Schuld für die Geschehnisse in Deutschland seit 1517. Im Jahre 1540 warf er ihnen vor, "sie schlafen auf beiden Ohren, als ob es sich nicht um ihre höchst eigene Sache handelte, sie lassen die Dinge laufen, als ob sie nicht die Wiederaufrichtung, sondern die Zerstörung der Religion wünschten, nur auf ihre Einkünfte bedacht". Die Bischöfe ließen sich von den Protestanten das Gesetz des Handelns vorschreiben. Sie nahmen die unaufhörlichen Angriffe schweigend oder mit nur schwacher Abwehr entgegen, überlegten, was sie den Protestanten zuliebe preisgeben könnten, gingen aber nicht ihrerseits zur Offensive vor, deckten nicht die Ungereimtheiten des protestantischen Systems und die Willkür ihrer Schriftdeutung auf. Der Bischof Johann Fabri schrieb in seinen "Monita", weder in Augsburg noch in Regensburg noch in Hagenau hätten die Bischöfe auch nur mit einem Wort auf die Häresien und gottlosen Lehren der Protestanten hingewiesen, sondern seien wie stumme Hunde gewesen, die nicht bellen können. Sie vergaßen, daß der Sieg nur im Angriff liegt und daß der Angriff regelmäßig das einzige Mittel ist, um aus einer mißlichen Lage herauszufinden. Der Legat Commendone nahm die Nachlässigkeit und Untätigkeit der katholischen Fürsten, unter ihnen der Fürstbischöfe, zum Anlaß, sarkastisch zu erklären, es sehe ganz so aus, als ob sie allein auf den Glauben ohne die Werke vertrauten. Es fehlten auf katholischer Seite fast allgemein das Bewußtsein der eigenen Kraft, der Mut zum energischen Vorgehen und der Wille zur Rückeroberung. Als der Kardinal Lodovico Madruzzo 1582 daran dachte, systematisch den Gegenangriff gegen den Protestantismus zu führen, mußte er die bittere Erfahrung machen, daß die Mehrheit der katholischen Reichsstände dafür nicht zu gewinnen war. Am 15. August 1582 hielt er an die geistlichen Fürsten eine Rede, in der er ihre Nachlässigkeit, Unentschlossenheit und Uneinigkeit rügte und sie zu energischem Handeln aufrief. "Alle erkennen die ihnen zugefügten Schädigungen, wagen es aber nur mit nutzlosen Seufzern sich zu beklagen", schrieb Madruzzo nach Rom. Stanislaus Hosius war sich darüber im klaren, daß das Versagen sehr vieler Bischöfe einer der Hauptgründe für den Abfall, nach Lortz "der praktisch schwächste Einzelpunkt der katholischen Front" war. Er sprach einmal davon, daß "wir Bischöfe durch unsere Nachlässigkeit bereits zu Mördern an vielen Seelen geworden sind".

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Weichheit und die Bequemlichkeit der Bischöfe

Kurzinhalt: Nicht wenige Bischöfe waren einfach zu bequem; um die Anstrengungen des Kampfes und des Widerstandes gegen den sich entfaltenden Protestantismus auf sich zu nehmen.

Textausschnitt: 6. Die Weichheit und die Bequemlichkeit der Bischöfe

93a Viele Bischöfe waren ausgesprochen weiche Persönlichkeiten. Das heißt im einzelnen, daß sie leicht beeinflußbar, nachgiebig, unentschieden, ja schlapp und rückgratlos waren. Es gebrach ihnen an Festigkeit, die sich von Bitten und Klagen nicht erweichen läßt, wenn es um übergeordneter Gesichtspunkte willen notwendig ist. Regieren ist ohne Festigkeit unmöglich, ohne gelegentliche Härte schwer denkbar. Für Anstrengung und Entbehrung, für Kampf und Krieg waren sie nicht zu haben. Sie waren weichlich, und sie lebten weichlich; sie waren nicht abgehärtet und schon gar nicht gestählt. Joseph Schmidlin stellt von den deutschen Bischöfen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts fest: "Die meisten Bischöfe waren verweltlichte Fürsten- oder Herrensöhne, Jagden und Vergnügungen, dem Trunk und Spiel ergeben, vielfach wegen ihrer Unsittlichkeit verrufen, fast nur auf ihre weltlichen Befugnisse und Einnahmen, wenig oder gar nicht auf das geistliche Wohl ihrer Diözese und Herde bedacht, um Weihe, Residenzpflicht und Pontifikalien sich nicht kümmernd."
93b Nicht wenige Bischöfe waren einfach zu bequem; um die Anstrengungen des Kampfes und des Widerstandes gegen den sich entfaltenden Protestantismus auf sich zu nehmen. Sie zogen das Hofleben fährnisreichen Visitationen vor, sie beschäftigten sich mit Spiel und Musik statt mit Predigen und Spendung der Firmung, sie widmeten sich Liebhabereien an Stelle des harten Dienstes am Evangelium. Allzu viele Bischöfe wollten die Gefährlichkeit der Lage nicht wahrnehmen und den Kampf nicht aufnehmen, weil beides sie im Genuß des Lebens gestört hätte; sie wollten aber nicht gestört sein. Zeitgenossen bezeugen, daß viele Bischöfe angesichts der ungeheuerlichen Ereignisse, die um sie herum geschahen, in Wohlleben und Genußsucht verharrten. Manche hatten den Eindruck, daß die Oberhirten jetzt erst recht noch etwas vom Leben haben wollten, weil ihnen die dunkle Ahnung kam, daß es mit ihren Einkünften bald zu Ende gehen könnte. (Fs)

94a Giovanni Morone klagte am 22. Oktober 1537, daß Bischöfe und Geistliche in Deutschland mehr Zeit für den Lebensgenuß aufwendeten als für den Dienst Gottes. Der bayerische Herzog Ludwig schrieb im Jahre 1540 aus Hagenau, daß die Bischöfe "wenig achten, wie es um die Religion stund, wenn sie nur möchten Fried haben". Morone sprach am 26. Februar 1541 davon, daß die Bischöfe allein ihr geruhsames Leben in der Gegenwart ins Auge faßten und sie der Zusammenbruch der Religion nicht berühre (risguardano solo alla lor presente quiete ... et non si curano, ehe la Religione ruini). Nach dem Bericht Morones vom 2. Juni 1540 bezichtigte König Ferdinand die geistlichen Fürsten der Nachlässigkeit, der Unwissenheit, des schlechten Lebenswandels und des schlechten Willens. Am 15. Juni 1540 stellte Morone fest: "Die Bischöfe wollen in Frieden leben, wenigstens während ihres Lebens" und schrieb er an den Kardinal Farnese, ein Wort König Ferdinands aufnehmend: "Die Seelen der Bischöfe sind tatsächlich in den Dingen, wo sie mannhaft sein müßten, weibisch, wie beim Widerstand gegen die Feinde unseres Glaubens, in den Dingen, in denen sie weiblich sein sollten, wie im Trinken und im Halten von Konkubinen, dagegen männlich." Viele Jahre später hatte sich das Urteil Morones nicht geändert. Am 25. Mai 1576 schrieb er aus Innsbruck, die Bischöfe wollten lediglich für ihre Lebensdauer das Leben genießen (cercano vivere et godere al suo tempo, et resta poi il mondo come si vuole); unter ihnen befänden sich viele schwankende Gestalten (tra essi ne sono molti que claudicano). (Fs)

94b Weiche und weichliche Menschen sind gegenüber anderen meist milde. Wie sie selbst auf Nachsicht angewiesen sind, sehen sie auch anderen durch die Finger. Auf diese Weise werden Eigennutz, Korruption und Pflichtvergessenheit geradezu gezüchtet. "Lauheit und Gutmütigkeit sind politisch größere Verbrechen als offene Ungerechtigkeit" (Julius Leber). Eben diese Haltung ist bei vielen Bischöfen des 16. Jahrhunderts (aber nicht nur dieser Zeit!) zu beobachten. Weil sie sich selbst schonten und von anderen geschont sein wollten, verfuhren sie auch mit Versagern und Verrätern sanft. Aus dieser Haltung heraus wollten die Bischöfe niemandem wehe tun, auch wenn anders Gefahren für Glauben und Kirche nicht abgeholfen werden konnte. Der Schutz der Schätze, welche der Kirche anvertraut sind, zwingt eben unter Umständen dazu, Menschen wehe zu tun. Viele Bischöfe des 16. Jahrhunderts liefern den Beweis, daß wenige Eigenschaften für Regenten so gefährlich sind wie Gutmütigkeit. Es soll freilich nicht verkannt werden, daß die Bischöfe mit dieser Haltung nicht allein stehen. Der katholische Menschentyp besitzt nicht die Härte, die dem protestantischen Typ zu eigen ist; er ist weicher und gutmütiger, eher zum Nachgeben bereit. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Schwäche der Bischöfe

Kurzinhalt: Joseph Lortz spricht von "der entsetzlichen Schwäche jener der Theologie unkundigen Bischöfe, die nichts wollten, als ihre Ruhe und ihren Besitz retten".

Textausschnitt: 7. Die Schwäche der Bischöfe

95a Wer regiert, muß viele tragen. Dazu braucht es Kraft. Regenten müssen stark sein, wenn sie ihre Führungsaufgabe erfüllen wollen. Denn unweigerlich werden sich ihnen Hindernisse entgegenstellen, die sie überwinden müssen, werden sich Gegner finden, mit denen sie ringen müssen, und werden Prüfungen über sie kommen, die sie bestehen müssen. Ein intaktes System vermag gewiß auch schwache Männer zu verkraften, weil es sie mitträgt. Sobald aber die Stütze der Organisation entfällt, zeitigt die Schwäche verhängnisvolle Wirkungen. Die Menschen spüren, ob ein Regent Energie besitzt oder nicht, und sie reagieren entsprechend. Es ist eine Eigenart des Charakters zumal der Deutschen, daß sie Respekt haben vor einer entschlossenen Macht und sich ihr beugen. (Fs)

95b Das Hauptkennzeichen der Mehrheit der Bischöfe des 16. Jahrhunderts war Schwäche, Schwäche der Entscheidung, Schwäche im Kampfe, Schwäche im Durchhalten, Schwäche im Unglück. Auf zu vielen Bischofsstühlen fehlten starke, entschlossene Männer. Zu viele Bischöfe waren kraftlose, unsichere und schwankende Persönlichkeiten. Die harte Entschlossenheit, die zumal in Zeiten äußerster Gefahr vonnöten ist, ging ihnen fast ausnahmslos ab. Die Schwäche der Bischöfe zeigte sich in ihrer Kampfesscheu. Sie gingen in der Regel dem Kampf aus dem Wege, auch wenn dieses Ausweichen mit noch so großen Verlusten bezahlt werden mußte. Jene Haltung war bei ihnen beliebt, die in vornehmer Ruhe macht, sich gelassen gibt, Gefahren abstreitet und dies alles tut, um nicht kämpfen und sich Unannehmlichkeiten zuziehen zu müssen. Die Bischöfe bewiesen dort Milde, wo allein scharfes und unnachsichtiges Durchgreifen Heil versprochen hätte. Die Protestanten spekulierten in zahllosen Fällen auf die bekannte Gutmütigkeit der geistlichen Herren und nahmen sich Freiheiten heraus, die sie sich gegenüber weltlichen Fürsten nicht getraut hätten. (Fs)
95c Die Schwäche war besonders verhängnisvoll, wo harte Personalentscheidungen notwendig waren. Denn hier wurde den Hetzern und Wühlern, den Spionen und Verrätern ihr Manövrierfeld erhalten. Statt daß sie rücksichtslos von ihren Posten entfernt wurden, duldete man sie. Viele Bischöfe hatten nicht die Kraft, die von der Sache, nämlich der Erhaltung der heiligen Religion, geforderte Entschiedenheit aufzubringen. Sie deckten und entschuldigten Leute, die den Boden unterwühlten, auf dem sie selbst standen. (Fs)

95d Wer schwach ist, besitzt regelmäßig auch keine Konsequenz. Er vermag Entscheidungen nicht durchzuhalten, wenn Hemmnisse auftreten, sondern tritt den Rückzug an und gibt auf. Eben diese Beobachtung läßt sich bei zahlreichen Bischöfen des 16. Jahrhunderts machen. Fast alle ihre Maßnahmen krankten an Halbheit. Guten Ansätzen fehlte die Ausführung, der Arbeit die unerläßliche Nacharbeit. Bei Menschen muß man gewisse Dinge immer wieder einschärfen und vor allem kontrollieren. Aber dies geschah nur in seltenen Fällen. (Fs)

95e Die Schwäche verhinderte, daß die meisten Bischöfe rechtzeitig und nachhaltig durchgegriffen hätten. Aus Bequemlichkeit, Gutmütigkeit oder Feigheit ließen sie allzu lange das Unheil wachsen und sahen den Mißbräuchen zu. Schwäche und Versagen führten die Zustände herbei, die zu wenden auch einem gutgesinnten und charakterfesten Bischof allein nicht mehr möglich war. Den meisten Bischöfen lag das Lavieren näher als das Regieren. Das geistliche Amt und die klerikale Milde verhinderten häufig, daß sie von ihrer Macht als Landesherren den rigorosen Gebrauch machten, der angesichts des zu allem entschlossenen Gegners allein Erfolg versprochen hätte. (Fs)

96a Ein markantes Zeichen der Schwäche sind die vielen vollzogenen und beabsichtigten Rücktritte von Bischöfen des 16. Jahrhunderts. Soweit sie aus eigenem Antrieb hervorgingen, sind sie zum großen Teil Ausdruck der Erkenntnis, der Situation des Kampfes nicht gewachsen zu sein, und Zeugnis der Flucht vor den unermeßlichen Schwierigkeiten, die nun einmal das Zeichen gefahrdrohender Epochen sind. Die Herren waren des Kampfes müde und zogen sich regelmäßig auf ein möglichst schön gelegenes Schloß zurück, anderen die Sorge um die Kirche und den Widerstand gegen den Protestantismus überlassend. Die Schwäche veranlaßte sie zur Flucht von dem Kampffeld. (Fs)

96b Zeitgenossen und Historiker haben die Schwäche zahlreicher Bischöfe des 16. Jahrhunderts in gleicher Weise festgestellt. Die Nuntien Lippomano und Delfino schrieben am 31. Juli 1555 an Giovanni Carafa, die katholischen Prälaten seien wie Kaninchen und ließen sich für einen Halm alles aufladen (per filo si lasciano attaccare ogni cosa alle spalle). Am 3. August 1555 urteilte Lippomano, man finde bei den kirchlichen Fürsten wenig Standhaftigkeit (poca constanza), die aber heute nötig sei wie zu der Zeit des Arianismus. Sie hätten so schwache Knie, daß sie sogar jeder schändlichen Sache zustimmten und bloß auf den König hofften. Minutio Minucci beklagte 1588 "die Schlaffheit und die Schwäche der Bischöfe" und wies dabei auf die Hirten von Köln, Mainz und Augsburg sowie ,,viele andere" hin. Joseph Lortz spricht von "der entsetzlichen Schwäche jener der Theologie unkundigen Bischöfe, die nichts wollten, als ihre Ruhe und ihren Besitz retten". Niemand wird der Meinung sein, die sogenannte Reformation hätte vermieden werden können, wenn die deutschen Bischöfe andere Männer gewesen wären. Zu viele Ursachen kamen zusammen, um diese Explosion auszulösen. Wohl aber ist zu vermuten, daß die revolutionäre Bewegung einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn alle Bischöfe ihre Pflicht getan hätten und mit schonungsloser Energie den Kampf aufgenommen hätten. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - das religiöse und theologische Ungenügen

Kurzinhalt: Das wissenschaftliche Ungenügen vieler deutscher Bischöfe des 16. Jahrhunderts ist notorisch. Es fehlten ihnen die Kenntnisse, die sie befähigt hätten, der Religionsneuerung fundiert zu begegnen.

Textausschnitt: 8. Das religiöse und theologische Ungenügen

96c Bischöfe müssen tief im Glauben verwurzelte Männer sein. Denn sie sollen ja zu ihrem Teil den Glauben ihrer Anvertrauten tragen und stützen. Sie müssen in echter Frömmigkeit ein lebendiges Verhältnis zu Gott und warme Liebe zur Kirche haben. Denn nur aus der Kraft dieser Verbindung können sie segensreich wirken. Sie müssen schließlich eine gute Kenntnis der Theologie besitzen. Denn sie sind die obersten Lehrer ihres Bistums. Aber um diese Erfordernisse war es bei vielen Bischöfen des 16. Jahrhunderts schlecht bestellt. Sie waren nicht genügend religiös, d. h. in Gott verwurzelt, im Gebet erfahren und von Eifer für Gottes Ehre erfüllt. Sie zeigten eine ungenügende Wertschätzung des Gottesdienstes, vor allem der hl. Messe, sei es, daß sie selbst selten zelebrierten, sei es, daß sie nur unregelmäßig an der Feier des Meßopfers teilnahmen. Es war eine mittlere Sensation, wenn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Bischof sich den Ignatianischen Exerzitien unterwarf. Die ungenügende Religiosität der Bischöfe zeigte sich besonders deutlich in dem Ausbleiben einer angesichts der erschütternden Ereignisse ihrer Lebenszeit zu erwartenden Bekehrung bei den meisten. Daß eine nennenswerte Zahl von Bischöfen in sich gegangen wäre, an die Brust geklopft und ihre Schuld eingestanden hätte, ist nicht festzustellen. Es gab nur höchst selten einen deutschen Bischof, der eine so durchgreifende innere Wandlung erlebt hätte wie etwa Tommaso Campeggio, der Bischof von Feltre. Bezeichnend für die Lage ist, daß es als ein gutes Zeichen galt, wenn ein Fürstbischof die Priester- und Bischofsweihe empfing. Allerdings ist weder der Empfang der Weihen in jedem Falle ein Zeichen religiösen Eifers noch seine Unterlassung ein Beweis für areligiöse Einstellung. Zu vielfältig waren die Motive, deretwegen jemand die Weihen empfing oder darauf verzichtete. Aber das religiöse Ungenügen zahlreicher Bischöfe des 16. Jahrhunderts ist notorisch. Bei zu vielen fehlte das aufrüttelnde Beispiel eines strengen, frommen, rastlosen und eifrigen Lebens im Dienste Gottes und der Kirche. Wie in der heutigen Zeit nicht selten Laien an Tiefe der religiösen Überzeugung Geistliche übertreffen, so war es auch im 16. Jahrhundert. (Fs)

97a Viele Bischöfe waren auch theologisch unzureichend gebildet, ja geradezu unwissend. Eine einigermaßen genügende Kenntnis der Theologie war aber unentbehrlich in einer Zeit, wo fortwährend um Fragen des Glaubens gerungen wurde. Ein Bischof, der hier nicht mitreden konnte, schloß sich selbst von wichtigen Entscheidungen aus. Die Vertretung durch die häufig theologisch besser gebildeten Weihbischöfe vermochte den Ausfall des Diözesanbischofs nicht zu ersetzen. Das wissenschaftliche Ungenügen vieler deutscher Bischöfe des 16. Jahrhunderts ist notorisch. Es fehlten ihnen die Kenntnisse, die sie befähigt hätten, der Religionsneuerung fundiert zu begegnen. Kein einziger Bischof war bis in die vierziger Jahre in der Lage, Luther literarisch entgegenzutreten. Petrus Canisius schrieb in seinem 1576 für Kardinal Morone angefertigten Gutachten, die meisten deutschen Bischöfe seien infolge ihrer Unkenntnis des Kirchenrechts kirchlichen Strafen verfallen, und ein beträchtlicher Teil von ihnen sei durch unrechte Mittel zu seiner Position gekommen. In seinem Gutachten von Sommer 1576 apostrophierte Petrus Canisius "die durchwegs schlafmützigen Bischöfe", deren Unwissenheit "besonders kraß" im Kirchenrecht sei. Im Januar 1583 betrachtete Petrus Canisius die deutschen Bischöfe als "in religiösen Dingen gänzlich unwissend". Nach Hermann Tüchle hatten die Bischöfe "fast keine Ahnung mehr vom theologischen Gehalt, vom sakramentalen Charakter ihrer Würde und ihrer Aufgaben". Die Bischöfe "wußten sich nicht mehr als Lehrer ihrer Diözese, noch als die ersten verantwortlichen Seelsorger" (Hermann Tüchle). (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - die sittlichen Mängel

Kurzinhalt: Die Nuntien, welche die Päpste nach Deutschland entsandten, lassen in ihren Berichten an dem sittlichen Ungenügen vieler Bischöfe keinen Zweifel.

Textausschnitt: 9. Die sittlichen Mängel

98a Von einem Bischof, der regelmäßig unter vielen hundert Geistlichen ausgewählt wird, muß Vorbildlichkeit im Lebenswandel verlangt werden. Auf ihn schaut eine ganze Diözese, sein Beispiel ist bis zu einem gewissen Grade für das Verhalten von Klerus und Volk maßgeblich. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Untertanen leicht die Sitten jener annehmen, die sie regieren. Ein Bischof, der sich bei Mandaten und Visitationen immer an eigene vergangene oder gar gegenwärtige schwere sittliche Mängel erinnern lassen mußte, konnte kaum durchschlagend reformieren. Zwischen dem persönlichen Glauben und der sittlichen Haltung eines Bischofs einerseits und seinem Einsatz für die Kirche andererseits bestehen regelmäßig engste Verbindungen. Wer sittlich faul ist, wird sich niemals für die Sache Gottes und die Seelen verzehren; er wird arbeiten, wie ein Mietling arbeitet. Nun sind die sittlichen Anforderungen, die an den katholischen Klerus gestellt werden, sehr hoch, und jenen steht am allerwenigsten das Recht der Kritik zu, die an ihre eigenen Religionsdiener nicht auch nur annähernd vergleichbare Ansprüche stellen. Es ist eine Paradoxie, daß viele protestantische Autoren sich über Fleischesvergehen katholischer Fürstbischöfe entrüsten und dieselben oder viel schlimmeren Verfehlungen protestantischer Landesherren und sogenannter Reformatoren entweder stillschweigend übergehen oder verharmlosen. Ebenso muß bedacht werden, daß es schwierig ist, in einer Zeit des allgemeinen Zusammenbruchs und des verbreiteten sittlichen Libertinismus das unablässige Streben nach hohen Idealen zu bewahren. Zu leicht werden auch gutgesinnte Männer von der sie umgebenden Zersetzung ergriffen oder jedenfalls in ihrem Bemühen gelähmt. Aber der katholische Klerus ist nun einmal auf den Heroismus verpflichtet, der sich aus der Nachfolge Christi ergibt, und zumal von den Bischöfen muß das mitreißende Beispiel verlangt werden. (Fs)

98b Die Vorbildlichkeit, die von einem Oberhirten zu fordern ist, fehlte vielen Bischöfen des 16. Jahrhunderts. Daran besteht kein Zweifel. Zwar ist bei ihrer Beurteilung das von ihren Feinden, den Protestanten, stammende Material über ihre angeblichen sittlichen Mängel, mit Vorsicht zu gebrauchen. Denn diese waren lebhaft daran interessiert, ein düsteres Bild der Bischöfe zu zeichnen, um das Volk gegen sie aufzubringen und in ihre Hürden zu treiben. Aber es gibt reinere Quellen, die den moralischen Stand des deutschen Episkopates beleuchten. Die Nuntien, welche die Päpste nach Deutschland entsandten, lassen in ihren Berichten an dem sittlichen Ungenügen vieler Bischöfe keinen Zweifel. Mag auch nicht in jedem Fall alles zutreffen, was sie an Nachrichten oder Gerüchten über einen Bischof dem Heiligen Stuhl zutrugen, so bleibt doch des gesicherten Materials genug, um das Urteil zu rechtfertigen, daß der Lebenswandel zahlreicher Prälaten ärgerniserregend war. Der Nuntius Giovanni Morone schrieb am 23. März 1538, die Verfehlungen der Prälaten seien so ungeheuerlich in Deutschland, daß es nicht verwunderlich sei, wenn sich das Luthertum infolge ihres schlechten Beispiels immer mehr ausbreite. Der Nuntius Girolamo Aleander fand am 9. September 1538 die deutschen Prälaten, also zuerst die Bischöfe, in nichts gebessert. Vergerio schrieb am 12. Januar 1541 aus Worms an Papst Paul III., die religiöse Spaltung, der Aufruhr und die Gefahr seien hauptsächlich wegen der Schuld der deutschen Bischöfe entstanden. Sie hätten den Zorn Gottes und den Neid, den Haß und den Aufstand der Völker hervorgerufen, weil sie die geistliche Seite ihres Amtes vernachlässigt und die weltliche Seite bevorzugt hätten; man spüre bei ihnen nichts von Seelenhirten. Die Geistlichen folgten dem schlechten Beispiel ihrer Vorgesetzten und führten ein epikuräisches Leben. Das Volk, ohne Führer und Lehrer, sei ohne Gottesfurcht und falle in tausend Irrtümer, und es nehme Ärgernis am Klerus. Die vielen Laster und Mißstände, vor allem der Bischöfe und der Priester, hätten die gegenwärtigen Häresien in Deutschland verursacht und befördert. Die häretischen Wölfe seien durch die Türen der Mißbräuche in die Herden eingefallen und hätten die Schafe leicht reißen und verzehren können, weil sie ohne Verteidigung und durch Hunger geschwächt gewesen seien. Gelegentlich scheint der Zustand mancher Prälaten an die Sünde der Unbußfertigkeit herangekommen zu sein. Morone schrieb am 7. März 1542 in bezug auf die Reform der deutschen Bischöfe, sie seien in ihrer schlechten Gewohnheit derart verwurzelt, daß sie sich über Ermahnungen lustig machen. Die Nuntien Lippomano und Pighino charakterisierten in ihrem Bericht vom 15. Januar 1549 gegenüber dem Kaiser die deutschen Bischöfe und Geistlichen als verrottet (deformatissimi). Kardinal Delfino zeichnete noch 1573 vor der Deutschen Kongregation ein düsteres Bild der deutschen Bischöfe, die ihren Leidenschaften nachlebten und ihre kirchlichen Pflichten versäumten (non hanno di prelati altro ehe il nome). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß bei all diesen Feststellungen auch jene Inhaber von Bischofsstühlen einbezogen wurden, die mit dem Protestantismus sympathisierten oder bereits zu ihm übergegangen waren. Das zusammenfassende Urteil wird davon ausgehen müssen, daß eine beträchtliche Zahl von Bischöfen sittlich nicht einwandfrei war. Nach Hermann Tüchle gab es unter den Bischöfen "einige offenbar Unwürdige und viele ohne genügende Einsicht in die Schwere ihres Amtes". Es fehlte ihnen die aszetische Strenge, die nun einmal für den zölibatären Mann Gottes unentbehrlich ist. Der Hang nach Genießen war bei nicht ganz wenigen stark ausgebildet. Einige Bischöfe lebten unenthaltsam. Sie verrieten damit nicht nur eine sittliche Schwäche, sondern gaben auch ein schlechtes Beispiel. Es sei indes erwähnt, daß manche Bischöfe zeitweise den Zölibat verletzten, sich aber dann bekehrten und fortan die priesterliche Keuschheit gewissenhaft beobachteten. So manchem Bischof fehlte infolge seines sittlich nicht einwandfreien Lebenswandels die Kraft, entschieden gegen die Aufrührer einzuschreiten. Leider gab es auch Bischöfe, die energisch die protestantische Bewegung zu unterdrücken suchten, die aber wegen ihres unpriesterlichen Lebenswandels den Gläubigen ein Ärgernis und der feindlichen Agitation ein leichtes Ziel waren. Selbst angesichts der schwersten Bedrängnisse der Kirche bekehrten sie sich nicht und änderten sie ihr Leben nicht. So kompromittierten sie ihre eigenen Anstrengungen und die Kirche, der sie dienten. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Resumee

Kurzinhalt: Die Kirche ist gut beraten, wenn sie aus der Katastrophe des 16. Jahrhunderts lernt, worauf es ankommt, wenn es gilt, dem Volke Gottes geeignete Bischöfe zu geben.

Textausschnitt: 100a Das Bild, das die deutschen Bischöfe angesichts der Herausforderung durch die sogenannte Reformation boten, war mehrschichtig. Es gab unter ihnen Männer, die frühzeitig die Gefahr der zerstörerischen Neuerung erkannten und ihr mit Entschiedenheit entgegentraten. Manche haben der Irrlehre über Jahrzehnte Widerstand geleistet, einige sich ihr heldenmütig entgegengestemmt. Viele und mehr Bischöfe waren der Bedrohung jedoch nicht gewachsen; sie versagten wegen ihrer menschlichen, charakterlichen, religiösen oder sittlichen Unzulänglichkeit. Weichlichkeit und Verwöhnung, Entscheidungsschwäche, Tatenscheu und Furcht vor Konflikten waren denkbar ungünstige Haltungen in einer Zeit, die Festigkeit, ja Härte, höchste Aktivität, Entschlossenheit und Todesmut verlangte. Die Erfahrungen aus der Zeit der Glaubensspaltung sollten nicht verlorengehen. Die Menschen ändern sich nicht, auch wenn die Verhältnisse sich wandeln. Das Schicksal der Kirche bleibt in maßgeblicher Weise an die Leistungsfähigkeit und die Führungskraft ihrer Oberhirten geknüpft. Die Kirche ist gut beraten, wenn sie aus der Katastrophe des 16. Jahrhunderts lernt, worauf es ankommt, wenn es gilt, dem Volke Gottes geeignete Bischöfe zu geben. Deren Auswahl nach dem obersten Gesichtspunkt, daß sie sich der jeweils herrschenden Linie einordnen, kann nicht richtig sein. Denn die geschmeidige Fügsamkeit gegenüber der Mode von heute stellt sich regelmäßig als mit feiger Anpassung gegen den Trend von morgen verbunden heraus. Den Stürmen, welche der Kirche bevorstehen, werden allein freie, kühne, stählerne und zum Selbstopfer bereite Männer gewachsen sein. (Fs; E09 07.03.2009)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther; Ablehnung des Katholischen, nicht Reformer

Kurzinhalt: Die katholischen Ökumeniker seien daran erinnert, daß er die katholische Lehre nicht als eine mögliche christliche Tradition anerkannt, sondern daß er sie als dem Evangelium widersprechend verworfen hat.

Textausschnitt: II. Luther

66b An erster Stelle ist es uns unmöglich, die Verehrung für den Stifter der protestantischen Religion zu teilen. Luther ist keine Persönlichkeit, die man neben die Heiligen der katholischen Kirche stellen könnte. Dazu fehlt es ihm an der heroischen Tugend. Ihm haften schwerwiegende sittliche Mängel an. Als Mönch fehlte es ihm an dem entsprechenden Lebenswandel. Er wurde seinem Orden abtrünnig und brach sein Gelübde. Er trennte sich vom Glauben und von der Kirche und brachte durch seine Tätigkeit unsagbares Leid über zahllose Menschen, über Deutschland und Europa. Zorn und Unbeherrschtheit, Roheit und Haß begleiteten seine gesamte spalterische Tätigkeit. Wir können Luther auch keine prophetische Rolle zuerkennen. Er ist keine geistliche Autorität, spricht vielmehr ohne Ermächtigung und Vollmacht. In maßloser Selbstüberschätzung meinte er die Heilige Schrift besser verstanden zu haben als Generationen gelehrter Theologen. In Wirklichkeit las er seine subjektiven Empfindungen in die Bibel hinein. Wir machen auch die Legendenbildung um Luther nicht mit, wie sie neuerdings durch den Luther-Film wieder belebt worden ist. Er ist kein Reformer, d.h. eine von Gottes Geist erweckte Persönlichkeit, welche die ideale Gestalt der Kirche und ihrer Einrichtungen wiederherzustellen bemüht war. Luther hat die Kirche nicht erneuert, sondern in dem Bereich, wo er ungehindert wirken konnte, zerstört. Dafür trägt er die Verantwortung vor Gott und vor der Geschichte. Es ist falsch, Luther dadurch entlasten zu wollen, daß man auf kirchliche Mißstände und die theologische Unklarheit zu seiner Zeit hinweist. Auswüchse und Unsitten hat es allezeit in der Kirche gegeben, aber sie haben niemanden berechtigt, aus der Kirche auszubrechen und einen anderen religiösen Verband zu schaffen. Der Protestantismus ist auch nicht deswegen entstanden, weil sein Urheber die Lehre der katholischen Kirche nicht verstanden, sondern weil er sie verworfen hat. Luther hat bewußt und gewollt Gegenstände des unveränderlichen Glaubens der Kirche abgelehnt und ausgeschieden. Er hat nicht bloß, wie Lortz meinte, einen Katholizismus in sich niedergerungen, der nicht katholisch war1, sondern er hat auch völlig klare und unumstrittene Lehren aufgegeben. Luther ist kein Ahnherr des Ökumenismus, sondern dessen Widerpart. Die katholischen Ökumeniker seien daran erinnert, daß er die katholische Lehre nicht als eine mögliche christliche Tradition anerkannt, sondern daß er sie als dem Evangelium widersprechend verworfen hat. Man lese beispielsweise seine Schrift "Von der Winkelmesse und der Pfaffenweihe"2. Darin werden Priesterweihe und Meßopfer als "lauter nichts, denn Gotteslästerung" ausgegeben. Luther hat auch das Bischofsamt im katholischen Sinne und die Kontinuität im Amt bewußt abgelehnt bzw. abgebrochen. Er ist nicht Vater des Glaubens, sondern Urheber des Abfalls vom (katholischen) Glauben. Niemand hat den Haß gegen die katholische Kirche und damit auch gegen die katholischen Christen heftiger geschürt als Luther. Sein umfangreiches Schrifttum strotzt von Beschimpfungen der "Papstkirche" und deren Anhängern3. Die Tiraden Luthers über das Papsttum sind niederste Anpöbelung. Für ihn sind die Päpste Statthalter des Teufels, Feinde Gottes, Widersacher Christi, Mörder der Könige und Hurenwirte über alle Hurenwirte4. Der Papst besitzt nach ihm keine Gewalt über die Gesamtkirche, sondern ist lediglich Bischof oder Pfarrer der Kirche von Rom5. Das eigentliche päpstliche Regiment ist Lügen, Morden, Leib und Seele ewiglich Verderben6. Der Papst ist von allen Teufeln aus dem Grund der Hölle hervorgebracht7; er ist der rechte Endchrist und Antichrist, der sich über Christus gesetzt hat8. Luthers letzte Schrift über den Papst zeigt schon im Titel, welchen Inhalt sie hat: "Wider das Papsttum in Rom, vom Teufel gestiftet". Er empfahl, dem Papst und den Kardinalen als Gotteslästerern die Zunge hinten am Hals herauszureißen und sie an dem Galgen anzunageln9. Man könne sie auch bei Ostia ins Meer versenken10. Am 17. Februar 1546, also kurz vor seinem Tode, schrieb er die Worte: "Pest war ich, Papst, dir im Leben, im Tode werde ich dir Tod sein"11. An der unseligen Wirksamkeit dieses Mannes leidet die Christenheit noch in der Gegenwart. Denn der Haß gegen den Papst mußte auch die Papstkirche und deren Glieder ergreifen. Das in Deutschland (und anderswo) unausrottbare Vorurteil gegen die katholischen Christen hat hier seine Wurzel. Auch wer sonst nichts vom Protestantismus hält, ist doch empfänglich für seine Polemik gegen die "Papisten". Zusammenfassend ist darum festzuhalten: Es ist eine Zumutung für jeden intellektuell redlichen Menschen, einen Mann wie Luther als in irgendeiner Hinsicht vorbildlich oder maßgeblich ansehen zu sollen. Es gibt im Luthertum edle, beispielhafte Menschen. Der Stifter dieser Religion gehört nicht dazu. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther; Protestantismus, Entstehung; Gerog Witzel (Beifall der Welt; Zustimmung der Gelehrten ...); Anziehungskraft, Interesse

Kurzinhalt: Was die Entstehung des Luthertums und des Kalvinertums angeht, ist zunächst mit irreführenden Legenden aufzuräumen. Es ist falsch, im Protestantismus eine Reformbewegung gegen die Schäden und Mängel der katholischen Kirche zu sehen.

Textausschnitt: III. Die Vorgänge im 16. Jahrhundert

69a Der Protestantismus ist nicht deswegen entstanden, weil seine Urheber neben eine legitime Tradition eine andere ebenso legitime gesetzt, sondern weil sie die Tradition der katholischen Kirche als illegitim verworfen und ihrerseits eine von ihnen als legitim betrachtete begründet haben. Die Alleinberechtigung, die sie der katholischen Kirche absprachen, nahmen sie für ihr Religionswesen in Anspruch. Was die Entstehung des Luthertums und des Kalvinertums angeht, ist zunächst mit irreführenden Legenden aufzuräumen. Es ist falsch, im Protestantismus eine Reformbewegung gegen die Schäden und Mängel der katholischen Kirche zu sehen. Den Neuerern des 16. Jahrhunderts ging es nicht darum, die Einrichtungen und Strukturen der Kirche zu reinigen, sondern sie zu beseitigen. Die zweifellos vorhandenen Mißstände waren lediglich der Anlaß, eine veränderte Lehre zu schaffen, die dem fleischlichen Menschen eingeht. Ihren Anhang rekrutierten die Protestanten am Anfang aus abgefallenen katholischen Christen. Ein besonders wirksames Mittel der Abwerbung bestand darin, die sittlichen Anforderungen, die an Christen zu stellen sind, zu unterbieten. Georg Witzel nennt die Faktoren, die ihn zunächst zum Anschluß an das Luthertum bewogen: der Beifall der Welt, die Zustimmung der Gelehrten, die Neuheit der Sache, der Zustand der Kirche, die Hoffnung auf Reinheit des Christentums1. Bald erkannte er, daß er sich in seinen Erwartungen getäuscht hatte. (Fs)

70a Es ist weiter unmöglich, die Entstehung des Protestantismus lediglich auf ein Mißverstehen der katholischen Lehre zurückzuführen. Gewiß gab es in mancher Hinsicht Unsicherheiten, wie sie aus Theologenmeinungen zu entstehen pflegen. Wer aus den Quellen der Konzilien und des päpstlichen Lehramtes schöpfte, vermochte jedoch in allen wesentlichen Punkten Klarheit zu gewinnen. Die bedeutenden katholischen Theologen des 16. Jahrhunderts legten den Glauben der Kirche in Schriften und bei Gesprächen deutlich dar. Aber die Neuerer setzten ihnen ihre eigenen Vorstellungen entgegen. Wer diese näher prüfte, erkannte sie als unhaltbar. Ein Mann wie Georg Witzel gesteht, er habe des neuen "Evangeliums" wegen seine Heimat verlassen, sich jedoch immer mehr mit dieser Lehre befaßt und sie immer weniger bewährt gefunden. (Fs)

70b Von protestantischer Seite wird sodann die Lage im 16. Jahrhundert meistens so dargestellt, daß sich das "Evangelium" mühelos Bahn gebrochen habe und daß die Menschen sich willig und freudig dem neuen Religionswesen angeschlossen hätten. Diese Sicht der Ereignisse ist mit Gewißheit unzutreffend. Die anfänglichen und teilweise bleibenden "Erfolge" der veränderten Religion beruhen zum größten Teil auf Gründen, die alles andere als schmeichelhaft sind. Zunächst ist es eine unbestrittene Tatsache, daß bequeme und eingängige Parolen die Masse der Menschen immer anziehen. Wie der durchschnittliche Mensch nun einmal ist, entscheidet er sich, vor die Wahl gestellt, einen steilen, steinigen Pfad zu gehen oder eine flache, ebene Straße zu beschreiten, in überwältigender Mehrheit für die zweite Möglichkeit. Es waren gerade nicht die Inhalte des genuinen (lutherischen) Glaubens, welche die Menschen anzogen, sondern die als angenehm empfundenen Auswirkungen und Folgen desselben auf den Gebieten der Sittlichkeit und der Disziplin, die sie dafür einnahmen. Die allermeisten Zeitgenossen verstanden die subtilen Unterschiede zwischen katholischer Lehre und lutherischer Meinung gar nicht. Ihnen vermochten lediglich grobschlächtige Behauptungen die letztere nahezubringen. An der Frage der Wahrheit war ihnen nichts gelegen. Sodann neigen innerlich nicht gefestigte und zu selbständigem Denken unfähige Personen dazu, dem, was neu und "modern" ist, zu folgen. Das Neue gilt als zeitgemäß und fortschrittlich. Die wenigsten Menschen mögen sich nachsagen lassen, sie seien altmodisch oder zurückgeblieben. Die Aufstellungen der Glaubensneuerer hatten den Trend und den Zeitgeist für sich. Die Durchschlagskraft ihrer Bewegung wurde noch dadurch erhöht, daß sie behauptete, sie bringe das Ursprüngliche, das in der "Papstkirche" verschüttet gewesen sei, wieder zur Geltung. Es nimmt nicht wunder, daß viele Zeitgenossen der Agitation und Propaganda erlagen. (Fs)

71a Die sogenannte Reformation war zudem bei den meisten ihrer Anhänger eine Sache des Interesses. Ihre Bestrebungen und Ziele verschafften ihnen irdischen Gewinn und zeitliche Vorteile. Die Landesherren und die Reichsstädte gierten nach dem Besitz der Stifter und Klöster. Sie gedachten, ihre Territorien zu vergrößern und abzurunden sowie ihre finanziellen Verhältnisse zu verbessern. Sie wollten den Klerus besteuern und seine Immunität beseitigen. Die Stände strebten nach Freiheit von den geistlichen Landesherren, denen sie in doppelter Hinsicht untergeben waren. Sie wollten vor allem die geistliche Gerichtsbarkeit abwerfen. Daß sich die Anhänger des Luthertums später der Rückführung zum katholischen Glauben heftig und manchmal gewalttätig widersetzten, ist alles andere als erstaunlich. Gegen weniges wendet sich der Mensch so energisch wie gegen Einschränkungen oder den Verlust des angenehmen und bequemen Lebens sowie gegen die Aufgabe irdischer Vorteile. (Fs)

72a Die meisten protestantischen Autoren neigen zu der Ansicht, die gesamte Bevölkerung oder fast alle Einwohner der Ortschaften und Territorien hätten sich bis zu einem gewissen Zeitpunkt dem Luthertum zugewandt. Den Beweis für diese Behauptung bleiben sie regelmäßig schuldig, denn es fehlen ihnen die Mittel, sie zu beweisen. Vielmehr läßt sich nachweisen oder erschließen, daß es - aller Agitation und Verführung, allem Druck und Zwang zum Trotz - überall Teile der Bevölkerung gab, die dem katholischen Glauben die Treue hielten oder, von den Neuerern enttäuscht, zu ihm zurückfanden. Man kann den Satz wagen: Ohne obrigkeitliche Einwirkung wären keine Stadt und kein Territorium geschlossen protestantisch geworden. Wenn im Laufe der Zeit in den Orten und Gebieten mit protestantischer Obrigkeit die Katholiken verschwanden, dann erklärt sich dies zum überwiegenden Teil aus der Verführung und der Verlockung sowie der Nötigung, dem Druck und dem Terror, die gegen sie ausgeübt wurden, zum geringen Teil aus der Auswanderung, wobei letztere zu den unerforschten Gebieten der Geschichte des 16. Jahrhunderts gehört. Vor allem herrscht bei den protestantischen Autoren das Bestreben vor, die sogenannte Reformation als Erfolg der "Wahrheit" des neuen "Evangeliums" auszugeben, die Ergebnisse der sogenannten Gegenreformation dagegen als Auswirkung von Zwangsmaßnahmen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Durchsetzung der sogenannten Reformation erklärt sich fast vollständig durch Gewalt und Verführung. So gut wie überall wurde der neuen Lehre durch Drohungen und Tumulte, durch Druck und Nötigung Bahn gebrochen. Mit Zwangsmaßnahmen wurden die Menschen von der Kirche und vom Glauben getrennt, und mit Zwangsmaßnahmen wurden sie in den neuen Religionsverband und dessen Lehren hineingezwungen. Was bei den Erwachsenen nicht völlig gelang, das glückte bei den Kindern. Sie wurden durch Unterricht und Unterweisung der Irrlehre zugeführt. Dazu kamen Täuschung und Verführung. Verleitung und Verhetzung sind wirksamer als Druck und Zwang. Die Neuerer gaukelten den Menschen vor, die "Papstkirche" sei vom Evangelium abgefallen, und sie hätten es wieder ans Licht gebracht. Sie behaupteten, das Wesen des Christentums sei bei ihnen gewahrt, in der katholischen Kirche aber entstellt. Die allermeisten Menschen waren nicht imstande, die Aufstellungen der Neuerer zu durchschauen, die Abwehr der protestantischen Verdrehungen drang nicht an ihr Ohr. So beugten sie sich dem obrigkeitlichen Zwang und der Verführung der Prädikanten. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther; Protestantismus, Religionsfreiheit; Bündnis mit den Mächten der Welt; Verfassung: Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark

Kurzinhalt: Der religiöse Zwang wurde nirgends lückenloser und nachhaltiger angewandt als in den protestantischen Territorien. So erklärt es sich, daß es zwar einen Kryptoprotestantismus in katholischen Ländern ...

Textausschnitt: IV. Mangelnde Religionsfreiheit

73a Die verbreitete Meinung, die protestantische Bewegung habe die Freiheit der Religion gebracht, ist ein Märchen. Der Protestantismus brachte nicht die Freiheit, sondern die Zweiheit der Religionen. Der religiöse Zwang wurde nirgends lückenloser und nachhaltiger angewandt als in den protestantischen Territorien. So erklärt es sich, daß es zwar einen Kryptoprotestantismus in katholischen Ländern, aber (soweit wir wissen) keinen Kryptokatholizismus in protestantischen Gebieten gab. Der Protestantismus hat sich von Anfang an der staatlichen Machtmittel bedient, um die Menschen von der katholischen Kirche loszureißen und sie bei seinem Religionssystem zu halten. Von Gewissens- und Religionsfreiheit wollte er nichts wissen, wenn sie zugunsten des katholischen Glaubens angerufen wurde. Wo es möglich ist, sucht der Protestantismus auch heute das Bündnis mit den Mächten dieser Erde, seien es Medien, Parteien und Strömungen des Zeitgeistes, sei es der Staat. In vielen Ländern mit protestantischer Mehrheit ist selbst in der Gegenwart die Religionsfreiheit nicht gewährleistet. Die Verfassung von Norwegen bezeichnet die lutherische Konfession als die öffentliche Religion des Staates. Die Einwohner, die sich zu ihr bekennen, sind verpflichtet, ihre Kinder in derselben zu erziehen (Art. 2 Abs. 2). Der König soll die lutherische Religion bekennen, sie ausüben und beschützen (Art. 4). Von den Mitgliedern des Staatsrats müssen sich mehr als die Hälfte zur Staatsreligion bekennen (Art. 12 Abs. 2). In Schweden ist die lutherische Kirche immer noch privilegiert und besitzt eine Sonderstellung. Die "Bischöfe" werden von der Regierung ernannt. Auch in Finnland bestehen für das Luthertum noch Elemente der Staatskirche. So ernennt z.B. der Präsident die lutherischen Bischöfe. Nur die lutherische und die orthodoxe Kirche werden von der Verfassung erwähnt. In Dänemark ist die lutherische Kirche nach der Verfassung "die dänische Volkskirche" und wird als solche vom Staat unterstützt (§ 4). Der König soll ihr angehören (§ 6). In Großbritannien sind katholische oder mit Katholiken verheiratete Mitglieder der Königsfamilie bis heute von der Thronfolge ausgeschlossen, und katholische Priester dürfen nicht ins Unterhaus gewählt werden1. Auch das Amt des Premierministers ist Katholiken verschlossen2. Die Proklamation der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil hat im Protestantismus offensichtlich kein Echo gefunden. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Differenzen; das Wort Gottes; Kanon im Kanon (Hebräerbrief, Jakobusbrief, Apokalypse); Konzil von Trient

Kurzinhalt: Die Protestanten lehnen die Tradition als Weise der Weitergabe der Offenbarung ab. Sie setzen dagegen ihr "Durch die Schrift allein".

Textausschnitt: §2 Die Differenzpunkte

74a Nun wird von mancher Seite der Eindruck erweckt, katholische Kirche und Protestantismus stünden sich in der Lehre nicht mehr so unversöhnlich gegenüber wie im 16. Jahrhundert. Dieser Eindruck trügt. Nichts hat sich geändert. Die Gegensätze in der Lehre, wie sie in den Religionsgesprächen des 16. Jahrhunderts thematisiert wurden, bestehen unverändert fort; sie werden nur von den katholischen Ökumenikern kaschiert und heruntergespielt. Wenn Papst Johannes Paul II. behauptet, seit dem Konzil seien "trennende Schranken" zwischen Katholiken und Lutheranern abgetragen worden1, dann bleibt er den Beweis für die Behauptung schuldig. Die weiterbestehenden Lehrgegensätze betreffen auch nicht nur den Ausdruck und die Worte. Papst Johannes XXIII. unterschied bekanntlich in seiner Eröffnungsansprache zum Zweiten Vatikanischen Konzil zwischen dem Glaubensgut (depositum fidei) und dessen Formulierung (modus enuntiandi)2. Diese Unterscheidung ist möglich. Doch die Protestanten nehmen Anstoß nicht an der Formulierung des katholischen Glaubens, sondern an seinem Inhalt. Es ist bedauerlich, daß keine neuere gründliche und zuverlässige Darstellung der Lehrgegensätze zwischen katholischer Kirche und protestantischen Gemeinschaften aus katholischer Feder existiert. Doch wird diesem Mangel bis zu einem gewissen Grade durch die protestantischen Autoren abgeholfen, die in der Regel nicht zögern, ihre Gegenposition zum katholischen Dogma deutlich und scharf herauszuarbeiten. Wenigstens einige gewichtige Differenzpunkte sollen im Folgenden namhaft gemacht werden. Der Protestantismus enthält übrigens in sich selbst die größten Gegensätze, die unvereinbar sind. Ich erinnere an die Christologie, die Ansichten vom Abendmahl und die Meinungen über die Prädestination. Es gibt im Protestantismus keine Einheit im Glauben. Der evangelische Christ Hans Apel stellte richtig fest: "Die EKD ist ein loser Verband unterschiedlicher Strömungen -jeder kann beschließen und machen, was er will"3. Allein deswegen ist im Grunde das Gespräch zwischen Katholiken und Protestanten aufbrüchigem Boden angesiedelt. Man kann sich vielleicht mit einem Gesprächspartner einigen. Aber dann kommt ein anderer und erklärt, diese Einigung sei für ihn nicht verbindlich. (Fs)

I. Das Wort Gottes

76a Für Protestanten ist das Wort das entscheidende Gnadenmittel. Das Wort ist personale Anrede und Zusage. Gegenüber dem Wort ist das Sakrament zweitrangig. Das Wort bleibt immer freies und neu gesprochenes Wort. Es koaguliert nicht zum Gesetz. Für die Protestanten ist daher der Begriff des Dogmas nicht nachvollziehbar. Er wird konstituiert durch das Enthaltensein in der Offenbarung und die Vorlage durch die Kirche. Dadurch entsteht das Glaubensgesetz. Der Protestantismus läßt aber nur das jeweilige freie Ausrufen des Wortes gelten. Seine Verfestigung im Bekenntnis ist rein menschlichen Rechtes und jederzeit überholbar. (Fs) (notabene)

Kommentar (28.12.09): Dieses Verständnis von Wort - Wirklichkeit erinnert mich an Ockham.

76b Die katholische Kirche bekennt im Konzil von Trient und im Ersten Vatikanischen Konzil die Schrift und die Tradition als Quellen der göttlichen Wahrheit4. Das Zweite Vatikanische Konzil hält daran fest: "Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes"5. Die Überlieferung geht der Schrift voraus. Vor jeder schriftlichen Fixierung wurde der christliche Glaube mündlich überliefert. Nach der Entstehung des Neuen Testaments lief die lebendige Überlieferung weiter. Die göttlich-apostolische Tradition ist keine bloße Interpretationsinstanz des Heiligen Schrift, die deren Inhalt auslegt und deutet. Die Berufung auf die Vollständigkeit der Heiligen Schrift ändert nichts daran, daß es Dogmen gibt, deren Ansatz in der Schrift so schwach ist, daß sie ohne Zuhilfenahme der Tradition nicht gebildet werden konnten. Die Protestanten lehnen die Tradition als Weise der Weitergabe der Offenbarung ab. Sie setzen dagegen ihr "Durch die Schrift allein". Freilich sind sie dabei nicht konsequent, denn ihre Auslegung der Schrift wird kräftig gelenkt durch den protestantischen Traditionalismus, der die eigenen Prinzipien in die Schrift einträgt und sie so dort wiederfindet. Wer als katholischer Christ protestantische Kommentare zu den Büchern der Bibel liest, stößt dort nicht selten mit Erstaunen auf Bezugnahmen von Luthers Schriften. Die Heilige Schrift wird dementsprechend vom Protestantismus als Kampfinstrument gegen die Kirche und die Tradition benutzt. Allein aus der Schrift ist der gesamte Glaube zu entnehmen, wie er ihn versteht. Nach einer Richtung ist die Schrift jedoch nicht offen. Wer durch sie nach Rom geführt wird, verfällt der Ächtung. (Fs)

77a Dabei verharrt der Protestantismus hinsichtlich des Bibeltextes auf einem unerbittlichen Traditionalismus. Von katholischen und protestantischen Theologen wurde gemeinsam eine deutsche Übersetzung der Heiligen Schrift erstellt, natürlich zu dem Zweck, daß sie von beiden Konfessionen im Gottesdienst benutzt werde6. Anders verfuhr man im deutschen Protestantismus. Die evangelischen Landeskirchen lehnten die Einführung der Einheitsbibel in Unterweisung und Gottesdienst ab. Der Rat der EKD empfahl seinen 24 "Gliedkirchen" sogar, auch in ökumenischen Gottesdiensten den Text der Lutherbibel (und nicht die sogenannte ökumenische Einheitsübersetzung) zu verwenden. Damit wurde, wie Kardinal Meisner formulierte, die gemeinsame Bibelübersetzung aufgekündigt7. (Fs)

77b Schon der Umfang der Heiligen Schrift ist zwischen katholischer Kirche und dem Protestantismus strittig. Im Alten Testament werden die sogenannten deuterokanonischen Bücher als Apokryphen gewertet. Auch im Neuen Testament werden einige Schriften als verdächtig betrachtet. Luther sah den Hebräerbrief, den Jakobusbrief, den zweiten Petrusbrief und die Apokalypse als nicht zum Kanon der Bibel gehörig an. Man sollte deswegen aufhören mit der Rede, Katholiken und Protestanten hätten dieselbe Bibel; sie haben nicht dieselbe Bibel. (Fs)

77c Schwerwiegende Gegensätze bestehen sodann in der Wertung der Heiligen Schrift. Die katholische Kirche lehrt die Einheit der ganzen Heiligen Schrift8. Alle Bücher haben Gott zum Urheber. Es ist nicht ein Bestandteil der Bibel "wahrer" als ein anderer, keiner hat mehr Autorität als ein anderer. Zwischen den einzelnen Büchern der Heiligen Schrift besteht auch kein Gegensatz. Es ist unmöglich, ein Buch der Bibel gegen ein anderes auszuspielen. Der Protestantismus denkt abweichend über die Einheit der Heiligen Schrift. Die einzelnen Teile der Bibel werden qualitativ unterschieden. So entsteht ein Kanon im Kanon. Damit werden verschiedene Autoritätsgrade innerhalb der Bibel eingeführt. Es kann die eine Aussage der Heiligen Schrift gegen eine andere ausgespielt werden. Dadurch wird der Mensch zum Richter über Gottes Offenbarung gemacht. Luther erkannte in der Heiligen Schrift nur das an, was (nach seiner Auslegung) "Christum treibt". Er hob den Römer- und den Galaterbrief unter allen Schriften des Neuen Testaments heraus, weil er dort die von ihm geschaffene Version der Rechtfertigungslehre zu finden meinte. (Fs)

78a Die Heilige Schrift enthält Bücher, die Bücher enthalten Texte. Texte müssen gelesen, aber auch ausgelegt werden. Jeder Text, auch der scheinbar einfachste, bedarf der Auslegung. Die Interpretation der Erklärer ist häufig, ja fast immer unterschiedlich. Gegenüber der Fülle der Deutungsmöglichkeiten bedarf es einer Instanz, die den wirklichen Sinn eines Textes feststellt. Die katholische Kirche weist dem gottgesetzten Lehramt die Aufgabe zu, die Schrift autoritativ auszulegen. Das Lehramt erhebt sich damit nicht über die Schrift, sondern dient ihrem Verständnis und ihrer Wirksamkeit. Der Protestantismus kennt keine irdische Instanz, welche die Schrift verbindlich auslegt. Kein Kirchenpräsident, kein Rat und keine Synode ist befugt, eine bestimmte Interpretation vorzuschreiben. Jeder einzelne Christ ist berechtigt, die Schrift selbst auszulegen. Ja, der Protestantismus behauptet, die Schrift lege sich selbst aus. Diese Behauptung ist angesichts des Interpretationswirrwarrs unhaltbar. Sicher ist: Selbstauslegungskraft der Heiligen Schrift und authentische Auslegung durch das kirchliche Lehramt schließen sich aus. In der Praxis ist der Protestantismus auch nicht konsequent. Er besitzt in den Bekenntnisschriften eine Instanz, welche faktisch die Auslegung der Bibel - entgegen den eigenen Grundsätzen - lenkt. Wer diese Dokumente der Vergangenheit als verbindlich neben die Bibel stellt, hat die These von der Selbstauslegung der Schrift aufgegeben. (Fs)

79a Die Bibel steht angeblich im Protestantismus in hohem Ansehen, ist norma normans des Glaubens, der Lehre und der Verkündigung. Gleichzeitig mit dem protestantischen Bibelprinzip muß aber auf die Zerstörungen hingewiesen werden, die seit zweihundert Jahren im protestantischen Bereich an den Büchern der Heiligen Schrift angerichtet worden sind9. Niemand hat die Bibel mehr und länger ihrer Autorität entkleidet als protestantische Theologen. Die Folge ist der Abfall von Bibel und Bekenntnis in weitesten Kreisen. Manchmal zerreißt ein aufsehenerregender Schritt den Nebel, der von beflissenen Schönrednern über die angebliche Bibelgläubigkeit im Protestantismus gebreitet wird. Der frühere Bundesminister Hans Apel und seine Frau traten aus der Nordeibischen Evangelisch-Lutherischen Kirche aus, weil dort für Bibel und Bekenntnis kaum noch Raum sei10. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther; Gnade, Rechtfertigung; Fiduzialglaube, Erbsünde; forensische Imputation der Gerechtigkeit Christi; simul iustus et peccator;


Kurzinhalt: Gnade ist dort [Protestantismus] nichts anderes als die Huld, die gnädige Gesinnung Gottes. Gnade als heiligmachendes, innerlich verwandelndes, übernatürliches Lebensprinzip kennt man nicht.

Textausschnitt: II. Rechtfertigung und Gnade

79b Ein zentraler Begriff und eine fundamentale Wirklichkeit im Christentum ist die Gnade. Nach katholischer Lehre ist Gnade jede übernatürliche Gabe, die Gott dem Menschen zur Erlangung des ewigen Heils verleiht. Die wichtigsten Arten der Gnade sind die Gnade des Beistands und die heiligmachende Gnade. Die heiligmachende Gnade ist eine übernatürliche Wirklichkeit, die der Seele von Gott eingegossen wird und ihr nach Art einer Seinsbeschaffenheit anhaftet. Der Begriff der Gnade ist im Protestantismus wesentlich von dem der katholischen Kirche verschieden. Gnade ist dort nichts anderes als die Huld, die gnädige Gesinnung Gottes. Gnade als heiligmachendes, innerlich verwandelndes, übernatürliches Lebensprinzip kennt man nicht. Wegen dieses bleibenden Gegensatzes sind alle gemeinsamen Erklärungen über die Rechtfertigung Makulatur. Bei diesem Gegenstand klafft ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen katholischer Lehre und protestantischer Ansicht. Nach der letzteren ist das menschliche Wesen durch die Erbsünde so verdorben, daß es nur zum Bösen fähig ist. Der erbsündige Mensch ist gemäß Luther wie ein Stein oder Klotz, der sich Gott gegenüber nur passiv verhalten kann. Es gibt keine menschliche Vorbereitung oder Mitwirkung bei der Rechtfertigung. Gott wirkt alles allein, der Mensch kann nichts. Gegenüber diesen irrigen Ansichten hält die katholische Lehre mit Schrift und Tradition daran fest, daß die menschliche Natur durch die Erbsünde zwar verwundet ist, aber fähig bleibt, in der Gnade Gottes zur Rechtfertigung mitzuwirken. Das subjektive Prinzip der Rechtfertigung ist der Glaube. Auch hier besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen protestantischer Meinung und katholischer Lehre. Der Protestantismus huldigt dem Fiduzialglauben, d.i. dem Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit. Nach katholischer Lehre ist der Glaube die persönliche Bindung an Gott und gleichzeitig die freie Zustimmung zu der von Gott geoffenbarten Wahrheit. Schließlich unterscheiden sich protestantische Ansicht und katholische Lehre auch bezüglich der Wirkung des Vorgangs der Rechtfertigung. Die Gerechtigkeit Christi, die der Sünder im Glauben ergreift, deckt nach protestantischer Meinung die menschliche Sündhaftigkeit lediglich zu (forensische Imputation der Gerechtigkeit Christi). Die innere Sündhaftigkeit bleibt auch im gerechtfertigten Menschen (simul iustus et peccator). Nach katholischer Lehre bewirkt die Rechtfertigung eine wahre innere Heiligung. Endlich unterscheiden sich katholische Lehre und protestantische Meinung auch in der Bewertung der Rechtfertigungslehre. Diese ist für die Protestanten so etwas wie ein "Überdogma". Sie ist das entscheidende Kriterium für die "Kirchlichkeit". Mit diesem Maßstab werden katholische Lehren und Einrichtungen als unchristlich oder bloß menschlich abgelehnt. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Kirche: unsichtbar - sichtbar

Kurzinhalt: Für den Protestantismus ist die Unterscheidung von unsichtbarer (Wesens-)Kirche und sichtbaren (empirischen) "Kirchen" konsumtiv. Alle in der Erfahrung vorkommenden christlichen Religionsverbände haben (wenn auch in unterschiedlichem Maße) Anteil an ....

Textausschnitt: III. Kirche

81a Der Begriff der Kirche ist hüben und drüben wesentlich verschieden und deswegen unvereinbar. Für den Protestantismus ist die Unterscheidung von unsichtbarer (Wesens-)Kirche und sichtbaren (empirischen) "Kirchen" konsumtiv. Alle in der Erfahrung vorkommenden christlichen Religionsverbände haben (wenn auch in unterschiedlichem Maße) Anteil an der einen christlichen Kirche. Die katholische Kirche lehrt das genaue Gegenteil. Papst Pius XII. hat mehr als einmal erklärt: Der mystische Leib Christi und die römisch-katholische Kirche sind ein und dasselbe. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Erklärung wiederholt. Nach katholischer Lehre decken sich (in der Kirche) gnadenhafte Wirklichkeit und äußere Heilsanstalt, der geheimnisvolle Leib Christi und die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft, die geistliche Gemeinschaft und die sichtbare Versammlung, die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche und die irdische Kirche1. Eine unsichtbare Kirche Christi hinter und über den empirischen christlichen Religionsverbänden existiert nicht. Es gibt nur eine Kirche, die zugleich sichtbar und unsichtbar ist. Zu ihrer Sichtbarkeit gehört die Einheit. Wer nicht in dieser Einheit steht, befindet sich außerhalb der Kirche Christi. (Fs) (notabene)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Sakramente: Zahl, Wirkweise (ex opere operato); Ehe, Taufe

Kurzinhalt: Die katholische Kirche lehrt, daß es sieben Sakramente gibt. Nach protestantischer Meinung existieren nur zwei Sakramente, Taufe und Abendmahl.

Textausschnitt: IV Sakramente

82a Die katholische Sakramentenlehre ist von den protestantischen Ansichten wesentlich verschieden. Der Gegensatz hebt an mit der Zahl. Die katholische Kirche lehrt, daß es sieben Sakramente gibt. Nach protestantischer Meinung existieren nur zwei Sakramente, Taufe und Abendmahl1. Diese Kluft ist unüberbrückbar. Kein noch so bemühtes Gerede kann sie schließen. Im Gegenteil! Der Protestantismus lehnt die fünf Vorgänge, welche die Kirche als Sakramente bezeichnet, ausdrücklich ab. Die Firmung wird als leere und abergläubische Zeremonie erklärt. Die Buße ist kein Sakrament, sondern lediglich ein empfohlener Brauch2. Die Letzte Ölung ist ebenfalls kein Sakrament, sondern nur eine Übung menschlichen Rechtes. Erst recht wird die Priesterweihe als Sakrament verworfen. Der Protestantismus sieht darin eine menschliche Anmaßung und einen seelengefährdenden Irrtum. Der sakramentale Charakter der Ehe wird strikt abgelehnt. Als "weltlich Ding" ist ihre Ordnung der staatlichen Gewalt überlassen. Die Ehe wird auf dem Standesamt geschlossen und ist mit dem zivilen Akt gültig und vollendet. Jede Ehe ist grundsätzlich auflösbar. Es gibt keine Ehe, die nicht aufgelöst werden könnte. Wenn der weltliche Richter die Scheidung ausspricht, ist die Ehe aufgelöst. Die Geschiedenen können eine weitere gültige Ehe eingehen. In jüngster Zeit wird sogar die (protestantisch verstandene) Lebensform der Ehe als Verbindung zweier geschlechtsverschiedener Personen in Frage gestellt. Der anglikanische Erzbischof von New Westminster in Kanada ließ kirchliche Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare zu3. In Deutschland sind solche Praktiken weithin üblich. Eine tiefe Kluft besteht zwischen katholischer Kirche und Protestantismus schließlich in bezug auf die Wirkung der Sakramente. Nach katholischer Lehre bewirken die Sakramente die Gnade aufgrund ihres Vollzugs. Der Protestantismus bestreitet die Wirkweise der Sakramente ex opere operato. Er sieht in den Sakramenten lediglich Bekenntnis- und Erinnerungszeichen. Den Sakramenten kommt keine rechtfertigende Kraft zu. Die Heilsvermittlung geschieht allein durch das Wort. Die Sakramente wirken nicht kraft ihres Vollzugs die Gnade, sondern kraft des Glaubens des Empfängers. (Fs)

1. Die Taufe

83a Die Taufe wird häufig von den Ökumenikern aller Stufen als ein gemeinsamer Besitz von Katholiken und Protestanten ausgegeben4. Sie ist dies mitnichten. Das Verständnis der Taufe ist hüben und drüben verschieden. Für viele Protestanten ist die Taufe ein bloßes Symbol; sie bewirkt nichts in der Tiefe der Seele des Empfängers. Bei den Reformierten ist die Taufe nicht Ursache, sondern lediglich Zeichen der von Gott in der Seele gewirkten Gnade. Entsprechend der Meinung vom Fiduzialglauben und der alleinigen Macht des Wortes wird der Taufe keine spezifische sakramentale Wirkung zugestanden. Jene Protestanten, die annehmen, in der Taufe werde die Gnade angeboten, sind gleichzeitig überzeugt, daß ihre Aneignung nur durch den Fiduzialglauben geschieht. Nur wenige Protestanten halten dafür, daß in der Taufe die Gnade dargereicht werde. Die Heilsnotwendigkeit der Taufe wird von weitesten Kreisen bestritten. Heilsnotwendig ist nur der (Fiduzial-)Glaube. Das Heil ist nicht an die Taufe, sondern an den Glauben gebunden. Auch zur Aufnahme in die "Kirche" ist die Taufe nicht erforderlich. Die Synode der Reformierten Kirche in Frankreich (25. bis 27. Mai 2001) sprach die generelle Zulassung Ungetaufter zum Abendmahl aus5. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Sakramente: Messopfer, Abendmahl

Kurzinhalt: Der Protestantismus in allen seinen Richtungen lehnt die Lehre von der Wesensverwandlung entschieden ab. Es gibt keine priesterliche Konsekration von Brot und Wein. Bezüglich der sogenannten Realpräsenz bestehen erhebliche Unsicherheiten und ...

Textausschnitt: 2. Messopfer

84a Die katholische Lehre vom Meßopfer ist ein für allemal vom Trienter Konzil unfehlbar festgestellt worden. Danach wird in der Messe nicht nur das Kreuzesopfer gegenwärtig gesetzt, sondern gleichzeitig ein wahres Opfer der Kirche dargebracht. Ja, man muß sagen: Die Gegenwärtigsetzung des Kreuzesopfers geschieht durch die Darbringung des Opfers der Kirche. Dementsprechend lehrt das Konzil von Trient: Wer sagt, in der Messe werde Gott kein wahres und eigentliches Opfer dargebracht, oder die Opferhandlung sei nichts anderes, als daß Christus zur Speise gegeben werde, der sei ausgeschlossen1. Bei der Einsetzung des Meßopfers hat Christus angeordnet, daß die Priester seinen Leib und sein Blut opfern2. Das Meßopfer ist auch nicht lediglich ein Lob- und Dankopfer oder ein bloßes Gedächtnis des am Kreuz vollzogenen Opfers, sondern ein Sühnopfer3. In der Messe wird wahrhaft das Werk unserer Erlösung vollzogen. Die Kirche hält unverbrüchlich an der Transsubstantiation fest. Die Wesensverwandlung ist nicht nur ein "Erklärungsmodell", das man neben die Ubiquitätslehre Luthers stellen könnte, sondern die durch den Beistand des Heiligen Geistes verbürgte Weise, wie die Gegenwart des wahren Leibes und des wahren Blutes Christi auf den Altären zustande kommt. (Fs)

84b Der Protestantismus weist diese Lehre vehement ab. Er leugnet die wesenhafte Verbindung von Kreuzesopfer und Meßopfer. Der Abendmahlsgottesdienst ist lediglich Gedächtnis des Kreuzesopfers; eine Opferdarbringung geschieht nicht. Der Rang des Abendmahls in der Praxis der protestantischen Gemeinden ist nicht zu vergleichen mit der Wertschätzung, die das Meßopfer in der katholischen Kirche genießt. Das Abendmahl wird an den meisten Sonntagen nicht gefeiert; man begnügt sich mit dem Wortgottesdienst. Predigtgottesdienste haben den gleichen Rang wie Abendmahlsgottesdienste4. Die Teilnahme daran ist dem einzelnen überlassen. Der Protestantismus kennt keine Pflicht des sonntäglichen Gottesdienstbesuches. Für die Protestanten braucht es (bei schwerer Sünde) nicht notwendig die Vorbereitung auf das Abendmahl durch die Beicht. Nach ihrer Ansicht bewirkt die Austeilung des Abendmahls Sündenvergebung; das heißt, es ersetzt in gewisser Hinsicht das fehlende Bußsakrament. Das ist die heutige Praxis. Abendmahlsfeiern werden ohne vorangegangene Beichtfeier gehalten, auch ungetaufte Gottesdienstbesucher werden zum Abendmahl eingeladen5. Der Protestantismus in allen seinen Richtungen lehnt die Lehre von der Wesensverwandlung entschieden ab. Es gibt keine priesterliche Konsekration von Brot und Wein. Bezüglich der sogenannten Realpräsenz bestehen erhebliche Unsicherheiten und beträchtliche Gegensätze. Wenigstens die Reformierten streiten die reale Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl ab. Entsprechend der Verlegenheit und den Zwiespältigkeiten betreffend den Inhalt des Abendmahls ist das Verhalten gegenüber Brot und Wein, die in der Feier verwandt wurden. Die Abendmahlselemente werden nicht angebetet. Angesichts dieser unausräumbaren Gegensätze muß festgestellt werden: Die Eucharistie verbindet nicht Katholiken und Protestanten, sondern macht ihre Trennung sichtbar. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Sakramente: Weihe; Amt, Funktion; Sukzession

Kurzinhalt: Die EKD hat in ihrer Erklärung zum Ökumenischen Kirchentag eindeutig gesagt, daß die Ordination "keine Weihe" ist ... Das heißt: Das "Amt" ist nur eine Funktion, nicht ein Sakrament.

Textausschnitt: 3. Weihe

85a Die katholische Kirche bekennt das (dreifach gestufte) Sakrament der Weihe1. Sein Spender ist der konsekrierte Bischof, sein Empfänger (nur) der getaufte Mann. Das Weihesakrament wirkt kraft seines Vollzugs. Der Empfänger der Weihe wird ontologisch verwandelt und Christus verähnlicht. Er empfängt bleibende Vollmachten, die Nichtgeweihten versagt bleiben. Bischöfe und Priester handeln "in der Person Christi des Hauptes"2. (Fs)

86a Der Protestantismus kennt keinen Priester, der in der Person Christi spricht und handelt, bekämpft vielmehr diese Lehre als irrig und verwerflich; durch das hierarchische Weiheamt werde eine Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Kirche aufgerichtet, die dem Willen Christi widerspreche3. In Wahrheit wird hier dem Willen des Herrn Genüge geleistet, der das Amt der Apostel begründet hat, um ihnen Anteil an seinem Heilswirken zu geben. Prinzipiell vermag nach protestantischer Ansicht jeder Getaufte, was nach katholischer Lehre den Priestern, den Bischöfen und dem Papst zusteht. Das Predigtamt ist allen Getauften anvertraut. Lediglich um der guten Ordnung willen werden einige zu "Dienern des Wortes" bestellt. Die EKD hat in ihrer Erklärung zum Ökumenischen Kirchentag eindeutig gesagt, daß die Ordination "keine Weihe" ist, "die eine besondere Fähigkeit im Blick auf das Abendmahl und seine Elemente vermittelt. Jeder Christenmensch könnte die Feier leiten und die Einsetzungsworte sprechen." Das heißt: Das "Amt" ist nur eine Funktion, nicht ein Sakrament. Allerdings tut der Protestantismus aus Gründen der Konkurrenz und des Prestiges einiges, um den wesentlichen Unterschied zwischen dem katholischen Priester und dem protestantischen Religionsdiener äußerlich und in der Öffentlichkeit zu verwischen. Es sei vor allem an die seit einiger Zeit übliche Anlegung der Stola, die in der katholischen Kirche den Geweihten vorbehalten ist, erinnert. Das Tragen der gleichen Amts- bzw. liturgischen Kleidung erweckt den Anschein, die Amtsträger stünden auf derselben Ebene und übten die gleichen Funktionen aus. (Fs)

86b Die katholische Kirche lehrt die Apostolische Sukzession. Das heißt: Es gibt keinen gültig geweihten Bischof, dessen Stammbaum nicht auf einen Apostel zurückgeführt werden könnte. Diese Feststellung gilt ungeachtet der historischen Unmöglichkeit, den Nachweis der lückenlosen Weitergabe der Vollmacht zu führen. Diese ist nach protestantischer Ansicht entbehrlich. Es kommt allein auf das Festhalten am Glauben der Apostel an, das der Protestantismus für sich in Anspruch nimmt. Die Sukzession des Evangeliums stehe über der Sukzession des Amtes4. Die katholischen Ökumeniker sind längst auf die protestantische Position eingeschwenkt und bereit, die Sukzession der Handauflegung zugunsten einer (unbeweisbaren) "Kontinuität in Glaube und Lehre mit der Kirche der Apostel" preiszugeben5. (Fs)

87a Der Vorbehalt der Weihe für Männer ist ein Dogma katholischen Glaubens. Der Protestantismus sieht sich daran nicht gebunden; er hat keine Schwierigkeiten, amtliche Funktionen in seinen Verbänden an Frauen zu übertragen. Die immer zahlreicher werdenden weiblichen "Bischöfe" vertiefen die Kluft zwischen Protestantismus und katholischer Kirche6. Die Bestellung von "Bischöfinnen" im Protestantismus hat aber auch eine klärende Wirkung; sie zeigt, daß Amt im Protestantismus und in der katholischen Kirche grundlegend verschieden ist. Das Geschlecht ist nach protestantischer Ansicht unbeachtlich für den Dienst. Die Protestanten beschäftigen auch "Transsexuelle" als "Pfarrer"7. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Maria

Kurzinhalt: Was einzelne Personen oder Gruppen Maria an Ehre erweisen, ist in keiner Weise repräsentativ für den Protestantismus. Das Gebet zu Maria und erst recht die Gnadenvermittlung durch Maria werden apodiktisch verworfen.

Textausschnitt: V. Maria

87b Die katholische Kirche verehrt Maria, die Mutter Jesu Christi, als die Königin aller Heiligen. Sie weiß sie ohne Erbsünde empfangen, immerwährend jungfräulich und mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. Maria ist die Mutter der Kirche. Der Protestantismus beruhigt sich angesichts der katholischen Marienverehrung nicht, verwirft sie vielmehr ausdrücklich. Die Glaubenssätze, die Maria betreffen, verfallen entschiedener Ablehnung. Es sei an den wütenden Protest gegen die Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel im Jahre 1950 erinnert. Auch die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens wird fast von allen Protestanten abgelehnt. Die Behauptung, im Protestantismus werde Maria verehrt, ist ein Ausdruck des Wunschdenkens katholischer Ökumeniker1. Was einzelne Personen oder Gruppen Maria an Ehre erweisen, ist in keiner Weise repräsentativ für den Protestantismus. Das Gebet zu Maria und erst recht die Gnadenvermittlung durch Maria werden apodiktisch verworfen. Niemals wird sich der Protestantismus bereitfinden, den katholischen Marienkult zu akzeptieren. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; Ethik, 2 Hauptgrundsätze der protestantischen Sittenlehre; Ehe, Abtreibung

Kurzinhalt: Der Formalismus Kants beherrscht weite Teile der protestantischen Ethik. Im Sinne der kantischen Autonomie kann der Einzelne der persönlichen Glaubenserfahrung folgen. Die Sittlichkeit wird so sehr in die Gesinnung verlegt, daß ...

Textausschnitt: VI. Ethik

88a Die protestantischen Ansichten von Ethik und die katholische Sittenlehre sind durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Der Formalismus Kants beherrscht weite Teile der protestantischen Ethik. Im Sinne der kantischen Autonomie kann der Einzelne der persönlichen Glaubenserfahrung folgen. Die Sittlichkeit wird so sehr in die Gesinnung verlegt, daß die objektive Wertigkeit der äußeren Handlung auf der Strecke bleibt. Zwei Hauptgrundsätze der protestantischen Sittenlehre seien erwähnt. Erstens. Der Protestantismus kennt keine ausnahmslos geltenden Gesetze, sondern lediglich Regeln des sittlichen Handelns, die je nach den Umständen auch Ausnahmen zulassen. Bei entsprechenden Gründen kann man sich jedes Gebotes entschlagen. Ein Beispiel: Der Protestantismus verwirft die Lüge nicht bedingungslos, gestattet vielmehr die Nutzlüge. Zweitens. Der Protestantismus kennt keine in sich schlechten Handlungen1, die immer, überall und unter allen Umständen verboten sind. Wer gute Gründe für solche Handlungen hat, darf sie setzen. Der Protestantismus ist die Religion der ethischen Konzessionen. In der Haltung gegenüber der geschlechtlichen Sittlichkeit wird der Gegensatz zur Kirche besonders deutlich. Man denke an Empfangnisverhütung, Ehebruch, Ehescheidung, Homosexualität und Abtreibung. Die absichtliche Verhinderung der Empfängnis durch mechanische oder chemische Mittel ist für den Protestantismus kein Problem. Wer sich außerhalb der Ehe geschlechtlich betätigt, kann dies bei genügenden Gründen unbesorgt tun. Die Ehescheidung ist bei Vorliegen entsprechender Gründe nicht nur gestattet, sondern kann sogar pflichtmäßig sein; der Wiederverheiratung Geschiedener steht nichts entgegen. Die Lutheraner wissen 2000 Jahre nach dem Kommen des Logos noch nicht, ob Homosexualität eine Sünde ist2. Dieses Laster findet im Protestantismus immer ungescheuter Zustimmung und Anerkennung. In vielen evangelischen "Kirchen" werden Verbindungen von Homosexuellen "kirchlich" gesegnet3. Am Beispiel der Abtreibung der Kinder im Mutterleib zeigt sich die protestantische Ethik in ihrer Wirklichkeit. Selbstverständlich wird mit vielen Worten das Leben des kleinen Menschen beschworen, wird gesagt, Abtreibung sei unzulässig. Aber wenn bestimmte Umstände eintreten, darf man doch die Abtreibung vornehmen. Ja, die Synode der EKD, das höchste Verfassungsorgan der deutschen Protestanten, erklärte, man könne sich auch schuldig machen, wenn man die Abtreibung verweigere4. Richtig bemerkte Hans Apel, im deutschen Protestantismus gebe es nur "verklusternde Meinungen zum Thema Abtreibung"5. (Fs)

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Autor: May, Georg

Buch: Die Ökumenismusfalle

Titel: Die Ökumenismusfalle

Stichwort: Luther, Protestantismus; die Letzten Dinge; Fegefeuer

Kurzinhalt: Wenn Menschen fragen: Gibt es das ewige Leben?, dann fallen die Antworten der katholischen Kirche und des Protestantismus sehr verschieden aus.

Textausschnitt: VII. Die Letzten Dinge

89a Wenn Menschen fragen: Gibt es das ewige Leben?, dann fallen die Antworten der katholischen Kirche und des Protestantismus sehr verschieden aus. Die katholische Kirche hält unerschütterlich an der Lehre fest, daß sich im Tode die Seele vom Leibe trennt und vor Gottes Gericht kommt. Dort wird entschieden, ob sie gerettet oder verloren ist. Jene Seelen, die für die Gottesschau noch nicht reif sind, müssen den Reinigungszustand durchmachen. In weiten Kreisen des Protestantismus1 wird die Ganztodhypothese vertreten. Das heißt: Der ganze Mensch hört durch den Tod auf zu bestehen; es gibt kein Weiterleben der Seele. Wo eine Seele angenommen wird, gelangt sie nach dem Tode sogleich in die Seligkeit, den Himmel. Der Läuterungszustand, das Fegfeuer, verfällt der Ächtung. Es bedarf daher keiner Gebete und Fürbitten, keiner Seelenmessen und keiner Ablässe. (Fs)

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