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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Geist der Technik - triebhafte, unbewußte Logik; Merkmale: Entsinnlichung, Intellektualisierung; Lyrik, Malerei (Mallarme, Picasso)

Kurzinhalt: Geheime und seltene Antriebe in der Menschheitsgeschichte ... konnten doch nicht eher sich so laut und offen und ungehemmt und allseitig durchsetzen, wie sie es jetzt tun, bevor ihnen die technische Kultur nicht den Außenhalt gegeben hatte, ...

Textausschnitt: 1. Die Entsinnlichung

23a Jede Beschäftigung mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen setzt eine Klärung unserer Vorstellungen über die Technik voraus, die in ihrer Verschwisterung mit der industriellen Produktionsform die Voraussetzung des Bestandes der Menschheit ist. Diese »Maschinenkultur« entstand auf dem Erdball da, wo die analytischen Naturwissenschaften entwickelt wurden, wo man die ersten Kraft- und Arbeitsmaschinen fand und wo auch der Geist des rationalen Kapitalismus erwuchs, der diese Keime entwickelte. Aber die rasante Ausbreitung dieser Kultur von ihrem westeuropäisch-amerikanischen Entstehungszentrum aus über den Erdball hinweg wäre unverständlich, wenn bloß rationale Motive sie erklären sollten. Eben deshalb haben wir vorhin die Tiefenverwurzelung der Technik, die unbewußte Triebhaftigkeit dargestellt, die hinter der technischen Entwicklung arbeitet: der Mensch muß danach streben, seine Macht über die Natur zu erweitern, denn dies ist sein Lebensgesetz, und notfalls genügt ihm - und hat ihm über Jahrzehntausende genügt - eine imaginäre Macht, die Magie, solange er den Weg zur realen nicht fand. (Fs)

23b Aber die Erklärung der Technik aus einem wesenseigenen Machtstreben des Menschen, so populär und auch richtig sie ist, reicht doch nicht aus. Mit derselben blinden, seinen Geist vorwärtstreibenden Energie sucht der Mensch sich selbst zu objektivieren: er findet in der Außenwelt die Modelle und Bilder seines eigenen, rätselhaften Wesens, und mit derselben Fähigkeit der »Selbstverfremdung« schlägt er sein eigenes Handeln der Außenwelt zu, läßt es von ihr übernehmen und weitertragen. Daher die merkwürdige Bezauberung durch den Automatismus, die geordnete, zuerst am Himmel wahrgenommene Kreisbewegung, durch die Monotonie der Wiederkehr des Gleichen: das erweckt eine Resonanz bis in den eigenen Pulsschlag hinein, und umgekehrt fühlt sich das eigene Handeln in den Kraftlinien des Weltumschwungs und der Naturrhythmen mitgeführt, die Stabilisierungsfläche der Welt verläuft in der Ebene des menschlichen Handlungskreises. (Fs)

24a Bemerkt man, wie sehr weitgehend das primitive Denken von den Gesetzen der »übernatürlichen Technik« besetzt war, so wird niemand erwarten, daß das Seelenleben des Menschen von dem Übergang zur Industriekultur unergriffen geblieben ist. Wir haben es mit einer Umwälzung zu tun, die man an Tiefgang nur mit der »neolithischen Revolution« vergleichen kann - mit jener prähistorischen Epoche, da die Menschheit das Jägerdasein verließ und mit Ackerbau und Viehzucht die Seßhaftigkeit wählte und mit ihr in der Folge die dichtbevölkerte Großsiedlung, die Reichtumsdifferenzierung, die Herrschaft, die Arbeitsteilung und nicht zuletzt die selbst seßhaft werden den Götter mit ihren Tempeln und Kulturen. Ahnlich durchgreifend wird die Verwandlung der Welt durch die Industriekultur sein, wenn die Menschheit eine stählerne und drahtlose Hülle um den Erdball spinnt - wir stehen erst am Anfang dieses Vorganges und in seinen ersten beiden Jahrhunderten. (Fs)

24b Immerhin kann man einige deutliche Charaktereigenschaften der Kultur, die auf uns zukommt oder in deren Übergangszone wir schon leben, an den gegenwärtigen Verhältnissen bereits ablesen. Dabei fällt zuerst die durchgreifende Intellektualisierung in den eigentlich geistigen Bereichen der Künste und Wissenschaften auf, mithin der Abbau an Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und unproblematischer Zugänglichkeit. Die künstlerische und wissenschaftliche »Spitzenproduktion« in den Feldern, wo sozusagen die Frontereignisse sich abspielen, wird immer abstrakter und unsinnlicher. Weiteren Kreisen wurde das seit der allgemeinen Relativitätstheorie* klar. Es entstand damals, um 1916, eine eigene Popularisierungsliteratur mit der Bemühung, grundsätzlich der anschaulichen Vorstellbarkeit sich entziehende mathematische Konzeptionen dennoch irgendwie der Allgemeinverständlichkeit zu nähern. Man trennte sich noch ungern von der Vorstellung, daß die Welt, in der alle Leute leben, auch allen Leuten begreiflich sein müsse - aber inzwischen haben uns nicht nur die Physiker, sondern auch die Politiker und Techniker in diesem Punkte zur Resignation erzogen. Um aber auf die Physik zurückzukommen, so hat man uns inzwischen belehrt, daß wir es mit dem gekörnten Raum, dem absolut kleinsten Zeitintervall und mit Elementarteilchen zu tun haben, die ihre Identität wechseln - kurz, das sind bloß noch den Fachleuten zugängliche Vorstellungen, so daß schließlich auch die populäre Literatur versiegt - man läßt die Kenner unter sich. (Fs)

25a Um ein anderes Beispiel zu bringen, so zeigt sich in der Psychologie, [...]

Und wo eine Wissenschaft, wie die Geschichtsschreibung, diesen Schritt nicht tun kann, erscheint sie gerade wegen der intakt gebliebenen Anschaulichkeit leicht als unrealistisch und flächenhaft. Zum mindesten verlangen wir heute von einem Historiker, daß er die Vieldimensionalität seines Gegenstandes zur Geltung kommen läßt: neben den politischen fordern die soziologischen, wirtschaftlichen, psychologischen Faktoren Berücksichtigung, und wo das versucht wird, muß der Historiker seinen Gegenstand sozusagen innerhalb wechselnder Bezugssysteme interpretieren.* Die eindimensionalen oder allenfalls »dialektischen« Ableitungen des geschichtlichen Reichtums im Sinne eines Hegel oder Spengler empfindet man heute schon als überlebt, sie haben etwas Unmittelbares und Poetisches. (Fs)
26a Poetisch allerdings nicht im Sinne der neuen Poesie. Diese hat ihrerseits längst den Weg zur Intellektualisierung und Entsinnlichung beschritten, sie verwirft mit Gottfried Benn ein »Gedicht mit Trennung und Gegenüberstellung von angedichtetem Gegenstand und dichtendem Ich«.* Man kann es nicht vermeiden, bei diesem Zitat an gewisse aufregende Theorien der Physik oder der mehrwertigen Logik zu denken, nach denen die Bezugnahme auf das Subjekt selber zum Inhalt eines Satzes gehören kann. Das naive Objektivieren von Wahrnehmungen wird für den Physiker ebenso fragwürdig, wie für den Poeten das naive Objektivieren von Stimmungen. Man hält es mit Mallarme, der bereits sagte: ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten.* Das bedeutet zunächst, man distanziert sich von der unmittelbaren inneren und äußeren Natur, denn »Farben und Klänge gibt es in der Natur, Worte nicht« (Benn). Wie es dann also zugeht, das hat dieser bedeutende Dichter klar beschrieben: sind ein paar Worte oder Verse herausgeschleudert, so beginnt die eigentlich künstlerische Zurichtung, man »legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen«* - ein skeptischer und raffinierter Prozeß, dessen Resultat eine chiffrierte Erregungsladung ist, ein »Wellenpaket«, wie die Physiker sagen. (Fs)

26b Die innere Stilähnlichkeit dieser Lyrik mit der abstrakten Malerei, mit der atonalen Musik ist frappant, und wieder die Familienähnlichkeit der Künste mit den neuen Wissenschaften. Da brauchen wir kaum noch den Hinweis, daß die modernen konkaven Gewölbeformen in der Architektur mit ihren gekrümmten und doppeltgekrümmten Flächen mit der Geometrie eines Riemann oder Lobatschewski verschwistert sind.* Die »gekrümmten Bäume« der Physiker haben Schule gemacht, schon gibt es rotierende Wohnhäuser, und man ändert die Bezugspunkte der Orientierung, so wie es die Theorie Einsteins vorschreibt. (Fs)

27a Wir behaupten nun keineswegs, daß alle diese Erscheinungen mit dem »Geist der Technik« unmittelbar, etwa gar kausal, zusammenzubringen wären. Immerhin kann man nicht verkennen, daß den einzelnen Disziplinen der Kultur ein machtvollerer Partner vorausging, der die Bresche schlug, indem er die Gesamtgesellschaft auf Beton und Stahl umpflanzte, die Natur aus den Augen schob und die Chancen des Lebenkönnens an die kühnsten, unwahrscheinlichsten Entwürfe der Intelligenz knüpfte. Die Bereitschaft zum Umkehren aller Voraussetzungen, die Unwiderstehlichkeit der »reinen« Lösungen, die Emanzipation vom Selbstverständlichen und von dem, was als »natürlich« eingewöhnt war - das sind die Motive, die in den modernen Künsten und Wissenschaften am Werke sind. Geheime und seltene Antriebe in der Menschheitsgeschichte, im Dunkeln immer schon am Werke, konnten doch nicht eher sich so laut und offen und ungehemmt und allseitig durchsetzen, wie sie es jetzt tun, bevor ihnen die technische Kultur nicht den Außenhalt gegeben hatte, eine Seite des Lebenswichtigen, siegreich Erfolgreichen und handgreiflich Beeilen, Mehr-als-Geistigen. Der antinatürliche Effekt, der aus den nichteuklidischen Räumen oder dreiwertigen Logiken ebenso herausspringt wie aus der Malerei Picassos, er ist gewollt, gewollt wie jede beliebige technische Problemlösung: nämlich mit einer triebhaften, unbewußten Logik, mit einer prozeßförmigen Unwiderstehlichkeit, die sich des wachsten, höchstgezüchteten Bewußtseins bedient, das sich souverän vorkommt und das sie vor sich herschiebt. Es handelt sich da um eine der ganz seltenen, großen Veränderungen des Zustandes, Mensch zu sein, um eine der säkularen Veränderungen nicht etwa nur der Lebensführung oder Wirtschaftsweise, sondern weit tiefer der Bewußtseinsstrukturen selber, ja der menschlichen Antriebsdynamik.* Man beobachtet heute den menschlichen Verstand im Zustande der Nachaufklärung am Werke, emanzipiert von der, wie die Aufklärung glaubte, in ihn eingegossenen Moral - die damit in die verzweifelte Rolle gedrängt wird, dem Wirksamen, Machbaren und Zweckmäßigen immerfort in die Zügel fallen zu müssen. (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Ausbreitung der experimentellen Denkart; Geheimbesitz einer Minderheit: Künste und Wissenschaften -> Entfremdung von Religion und Restauration

Kurzinhalt: Es handelt sich immer weniger darum, für schon definierbare Zwecke die technischen Mittel der Herstellung, für vorgegebene Gegenstandsgebiete die besten Erkenntnismethoden zu finden oder allgemein bekannte Weltinhalte künstlerisch zu bewältigen, sondern

Textausschnitt: 2. Ausbreitung der experimentellen Denkart

28a Unter den geschilderten Umständen läßt sich verstehen, daß es in den modernen Künsten und Wissenschaften neben dem jeweils sehr kleinen Kreis der eigentlich führenden und produktiven Köpfe von oft internationaler Kompetenz auch nur eine kleine Zahl interessierter Laien von wirklich erzogener Kennerschaft geben kann. Ein noch so großes Interesse an der Sache genügt nicht, es läuft ohne dringendes Studium leer, und die Einarbeitung in die atonale Musik, die Verhaltensforschung, in die Charakterologie mit ihren »Testbatterien« oder um welche der neuen trickreichen Entdeckungen es sich handeln mag - diese Einarbeitung erfordert ein intensives und planmäßiges Studium, in den meisten Fällen sogar eine überdurchschnittliche Spezialbegabung, und so wird sie nur wenigen Nichtfachleuten möglich sein. Es gibt nicht viele berufstätige, gebildete Menschen, die an den Zeitereignissen Anteil nehmen wollen, die eine solche zusätzliche Arbeit auf sich nehmen können. Weite Kreise dieser Art fühlen ihr doch vorhandenes Interesse ausgesperrt und finden sich wehrlos der unermüdlichen, planmäßigen und dabei höchst reizbaren Agitation ausgeliefert, wie sie insbesondere im Dienste der abstrakten Künste betrieben wird - einer Agitation, die gerade aus dem Gefühl, nicht überall anzukommen, ihre Überaktivität und Ungeduld zieht. (Fs)

28b Wenn die Künste und Wissenschaften auf diese Weise esoterisch werden, zu einer Art Geheimbesitz kleinster und oft einflußreicher Minderheiten, dann hat dies aber auch noch eine andere, nicht unwichtige und bisher kaum bemerkte Folge: sie können nämlich nicht mehr als Religionsersatz eintreten. Im 19. Jahrhundert sah man noch öfter, daß gewisse Theorien oder Kunstrichtungen prinzipiell und zugleich gemeinverständlich genug waren, um »weltanschauliche« Massenbewegungen zu werden - Darwinist oder Wagnerianer zu sein, bedeutete einmal eine volle, pathosbesetzte Entscheidung für Inhalte, die als Lebensstoff für eine Gesamtorientierung auszureichen schienen. Ob mit Recht oder Unrecht, das steht hier nicht zur Frage - die Möglichkeit jedenfalls bestand, und eigentlich jeder der großen Autoren, von Schopenhauer und Nietzsche bis zu Ibsen, Strindberg, Gerhart Hauptmann, George usw. hat eine »Bewegung« in Schwung bringen und auf den Geist der Zeit inhaltlich einwirken wollen. Eine solche Möglichkeit besteht heute nicht mehr, weil alle stabilisierbaren Inhalte verschwunden sind, um die herum man Meinungsmassen fixieren könnte. Viele Menschen, die in die Ausstellungen Picassos fluteten, haben zweifellos einen leidenschaftlichen Drang zu dieser Kunstart gefühlt, sie haben sich begeistert dieser Faszination ausgesetzt und werden sie immer wieder aufsuchen - die Kirchen braucht das nicht zu beunruhigen, sie können sogar Le Corbusier die Kirche von Ronchamp* bauen lassen, aber sie hätten nie zugelassen, ein Gotteshaus mit Parzival-Szenen auszumalen. Gegen den Darwinismus haben die christlichen Konfessionen erbittert gekämpft, von der modernen Genetik brauchen sie sich nicht beunruhigen zu lassen, denn diese ist von so uferloser Kompliziertheit, daß sie schon längst für keinen einzelnen Kopf mehr übersehbar ist. Das Abstraktwerden der Künste und Wissenschaften bedeutet daher umgekehrt die Stabilisierung der Religion auf dem eigentlichen Bereiche der Weltanschauung. Für sie sind also die neuen Künste noch in einem besonderen Doppelsinne »gegenstandslos«, und die Kirchen können sich ihrer mit derselben Unbefangenheit bedienen, wie des Fernsehens, des Radios und Telefones. Sie sind auch die weltanschauliche Konkurrenz der Philosophie losgeworden, und zwar weil die gewaltigen Erfahrungsmassen der Politik und der Naturwissenschaften sich verselbständigt haben, sie lassen sich nicht mehr unter dem philosophischen Dach versammeln. Gerade an diesem Zug ersieht man die tiefgreifenden Veränderungen des Zeitalters der Nachaufklärung: was wäre Kant ohne die Französische Revolution und ohne Newton gewesen? (Fs)

29a Der innere Zusammenhang, in dem die moderne Geisteskultur mit der Technik steht, führt also zu einer »Entfremdung« beider Instanzen von der Religion und gerade damit zu deren Restauration auf dem eigentlich weltanschaulichen Gebiet. Wir wollen uns aber wieder den Beziehungen zwischen jenen Instanzen zuwenden und eine spezielle Bedeutung des Wortes »Technik« herausarbeiten: auf beiden Gebieten rückt nämlich das Problem der Machbarkeit in die Mitte*, es geht um die Ausschöpfbarkeit bestimmter Methoden, und man gewahrt immer deutlicher eine Art Achsendrehung der Fragestellung. Es handelt sich immer weniger darum, für schon definierbare Zwecke die technischen Mittel der Herstellung, für vorgegebene Gegenstandsgebiete die besten Erkenntnismethoden zu finden oder allgemein bekannte Weltinhalte künstlerisch zu bewältigen, sondern umgekehrt: die Darstellungsmittel, Denkmittel, Verfahrensarten selbst zu variieren, durchzuprobieren, bis zur Erschöpfung aller Möglichkeiten ins Spiel zu bringen und zu sehen, was dabei herauskommt. Auch in der Technik geht man natürlich, wie früher, oft noch von Zwecken aus und sucht die Mittel dafür: man sucht etwa nach der Methode der Geräuschdämpfung eines Motors, oder nach der Methode, die optimale »Betriebsatmosphäre«, Zufriedenheit und Arbeitslust zu erzielen, denn auch dies ist ein psychotechnisches Problem. Daneben aber und anscheinend zunehmend wichtig gibt es die umgekehrte Art der Problemstellung, nämlich die Frage, was sich Unvorhergesehenes aus einer gegebenen Verfahrensart herausholen läßt. Die Anwendungsarten der Elektrizität, des Elektronenmikroskops, der Atomenergie auf den verschiedensten Gebieten sind so ermittelt worden, oder sie werden es noch. In dieser Bedeutung behält also das Wort Technik etwas von seinem ursprünglichen Sinn der Kunstfertigkeit, des Könnens, des aus Versuchen unerwartet herausspringenden, dann aber beherrschten Erfolges. Es geht darum, was man mit gegebenen Techniken, Methoden (auch geistigen), die man selbst wieder variiert, alles machen kann, ohne vorgegebenen Zweck, durch bewegliches Durchprobieren, so wie man nach der Entdek-kung der Röntgenstrahlen nicht nur die Bildverwendung entwickelte, sondern auch die Tiefenbestrahlung des lebenden Gewebes zu Heilzwecken oder die Verwendbarkeit für Gemälde-Expertisen. (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Ausbreitung der experimentellen Denkart; Malerei, Auflösung des Gegenständlichen (Impressionismus, Pointillismus)

Kurzinhalt: Es lag ja seit Jahrzehnten in ihrer Entwicklung vom Impressionismus her über Cezanne auf der einen Seite, Seurat auf der anderen, ... eine unverkennbare Logik

Textausschnitt: 30a Ganz analog nun tritt das Technische in diesem Sinne in den Künsten und Wissenschaften in den Vordergrund, und das Experimentelle, Methodentechnische wird unübersehbar. (Fs)

30b Diese bemerkenswerte Tatsache läßt sich ganz gut an der Entwicklung der modernen Malerei illustrieren. Es lag ja seit Jahrzehnten in ihrer Entwicklung vom Impressionismus her über Cezanne auf der einen Seite, Seurat auf der anderen, weiter zum Expressionismus, Kubismus bis hin zur »abstrakten« Malerei und zum Surrealismus Max Ernsts oder Dalis eine unverkennbare Logik, die zunächst einmal in der Auflösung des Gegenständlichen erscheint. Diese selbst wieder ist aber doch eher ein Resultat noch tiefer liegender Veränderungen. Einmal nämlich drangen gewisse je zeitgenössische Theorien und Ansichten meist psychologischer Art in die Köpfe der Künstler ein, und so wechselten die Meinungen über die Grundqualitäten des Optisch-Malerischen, wobei schon der Impressionismus zu einer farbigen Auflösung der faßbaren Dinglichkeit kam, die unabtrennbar ist von den damaligen Anschauungen der Empfindungs- und Assoziationspsychologie. Im »Pointillismus« Seurats ist der psychologiewissenschaftliche Einschlag unübersehbar, und dieser stieg weiter im Expressionismus und Surrealismus, aus dem nunmehr bereits die Psychoanalyse nicht mehr wegzudenken ist. Auf einem zweiten Wege kam es zur Isolierung der sogenannten »Bildelemente«, sei es mehr formaler oder mehr farblicher Art, und hier markieren die zeitgenössischen Abstrakten die Endstelle, den Abschluß, den Kehraus. Aus dieser kurzen Darstellung geht hervor, wie die zusammenschießenden Meinungen und Theorien sich jeweils zu einer Methode niederschlugen, die nun so lange gehandhabt wurde, bis alle Möglichkeiten durchgespielt waren. Diese selbst aber drängen nach eigener Logik weiter, und die Künstler scheinen den Effekten mehr nachzulaufen, um sie einzufangen, als daß sie sie noch in der Hand hätten. Die gesamte Geschichte der neueren Malerei bietet daher das Bild durchvariierter Möglichkeiten, wie die Experimentalserien der Chemiker. Das jeweils Ausgeschöpfte wird abgebucht, man kommt darauf nicht mehr zurück. Dieses Experimentelle wird bei Picasso überdeutlich, bei dessen endlosen Bildern man nicht auf den Gedanken kommt, daß Wege zu einem Ziel gesucht werden, sondern nur auf den umgekehrten: daß Verfahrenspläne durchprobiert werden aus dem Interesse, was dabei herauskommt. Das ist aber wissenschaftlicher, das ist auch technischer Geist, und bei den guten modernen Künstlern, d. h. denjenigen, die intellektuell ihrem Verfahren gewachsen sind, wird auch, wie Benn es ausdrückte, mikroskopiert, geprüft, gefärbt und das Resultat vorgelegt.* (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Erfahrungsverlust; imaginäre Welt

Kurzinhalt: Schon Sorel hatte bemerkt, daß die Entfremdung vom Alltag die Fähigkeit aufs höchste ausbildet, in einer imaginären Welt zu leben.

Textausschnitt: 2. Erfahrungsverlust

47b Einer der wichtigsten Befunde läßt sich auch noch als Anpassung an überdimensionale, geistig und moralisch nicht mehr recht zugängliche Ereignisse beschreiben, nämlich der Verlust des Realitätssinnes. Damit wird, nach einem psychologischen Gesetz, die Begehrlichkeit enthemmt, so daß der Quietismus des Konsumierenwollens auch hier eine seiner Wurzeln hat. Man weiß nicht, ob dieser Quietismus auf die Dauer harmloser ist als jene andere Art von Weltfremdheit, die ins Imaginäre und Tatbereite hineinstrebt, ins Programmatische. Es ist ein trauriges, die verkehrte Welt gut bezeichnendes Merkmal, daß oft dem Phantastischen und Utopischen eine moralische Würde nicht bestritten werden kann, weil es doch die unerfüllten und unverzichtbaren idealen Bedürfnisse anspricht; während umgekehrt diejenigen, die rational handeln, immer wieder von den Verwirrungen desavouiert werden, die sie anrichten. (Fs)

48a Schon Sorel hatte bemerkt, daß die Entfremdung vom Alltag die Fähigkeit aufs höchste ausbildet, in einer imaginären Welt zu leben.* Wir wollen unter Alltag die Beanspruchung durch vielfältig wechselnde Situationen verstehen, die zum größten Teil bekannt und voraussehbar, doch aber mit unvorhersehbaren und überraschenden Situationen durchsetzt sind. Dann aber haben sowohl die magisch-ritualistischen Kulturen der Primitiven als auch die industrielle diese gemeinsame Eigenschaft, den Menschen vom Alltag abzuschalten. Zwischen dem frühen Primitivismus, der den zähen Bewuchs phantastischer Deutungen und Rituale über die Erfahrungswelt spinnt, und dem späten, zu dem man durch einen übermäßig engen und monotonen Erfahrungssektor gezwungen wird, besteht wenig Unterschied unter dem Gesichtspunkt der Weltfremdheit. Im einen Falle umstellen Mythen den Horizont, im anderen Zeitungen. Nun gehört aber »Erfahrung« durchaus zu den Dingen, bei denen nach einer eleganten Hegelschen Formulierung die Quantität in die Qualität umschlägt. Denn in dem vielseitigen Wechsel unmittelbarer und anschaulicher Kontakterfahrungen arbeiten sich bekanntlich die bewährten Gewißheiten heraus - aber auch umgekehrt: die sonst bloß »vorschwebenden« Wahrheiten werden nur von einer gehörigen Breite der Wirklichkeit voll absorbiert und im Konkreten abgespiegelt. Die ereignisverdünnten Räume, in denen der industrielle oder administrative oder gelehrte Spezialist arbeitet, mit nur vager und entfernter Kontrolle der Auswirkungen seiner Tätigkeit, die sich meist überhaupt der Vorstellbarkeit entziehen - sie sind dagegen die natürlichen Regionen exzessiver Phantasmen, in denen sich die unterernährten sozialen Instinkte ergehen - es sei denn, man zöge den Konsumquietismus vor. Hat jemand das Gefühl, nur ein austauschbares und überhaupt etwas abgeschliffenes Rad in der großen Maschine zu sein; hat er die übrigens berechtigte Überzeugung, daß sie auch ohne ihn läuft, und bekommt er die Folgen seines Handelns gar nicht oder nur chiffriert als Zahlen und Kurven oder bloß in Gestalt der Lohnabrechnung zu Gesicht, so muß der Sinn für Verantwortlichkeit sich in demselben Verhältnis verengen, wie das Gefühl der Hilflosigkeit steigt. Für den, der so im Nerv seiner Person amputiert ist, gibt es eigentlich nur noch die genannten Auswege. (Fs)

49a Unter dem Gesichtspunkt des Nationalökonomen erscheinen die hier beschriebenen Phänomene, insbesondere der Konsumpassivismus, ebenfalls wieder. Wilhelm Röpke sagt, »daß ein Übermaß an Arbeitsteilung leicht zu einer gewissen Verkümmerung der vitalen Kraft des Menschen führt«. »Von Tag zu Tag verrichtet der moderne Mensch weniger selbst. Die Konservendosen ersetzen die Gerichte, die man zu Hause machte, Konfektionskleider ersetzen die Schneiderarbeit, die die Hausfrau betrieb, Grammophon und Radio die Hausmusik, das Auto und die Fußballwettspiele die eigentliche aktive sportliche Tätigkeit. Schließlich läßt man sich auch seine eigenen Gedanken und Meinungen durch die Denkmaschine der Presse, des Radios und des Kinos liefern. Wenn man gewissen Nachrichten Glauben schenken darf, nach denen in einigen Städten der Vereinigten Staaten die Nachfrage nach illegitimen Kindern zwecks Adoption das Angebot übersteigt, gäbe es heute schon Leute, die sich sogar ihre Kinder durch andere machen lassen.«* (Fs)

[]

50a Unmittelbar damit zusammenhängend ist jener merkwürdige, von Ortega y Gasset analysierte Zug, daß nämlich »heute der Durchschnittsmensch die deutlichsten Vorstellungen von allem hat, was in der Welt geschieht oder zu geschehen hat. Es ist nicht mehr an der Zeit zu hören, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Im öffentlichen Leben gibt es keine Frage, in die er sich, taub und blind wie er ist, nicht einmischte, seine Ansichten durchsetzend«.* Diese Beobachtung scheint uns übrigens in erster Linie für diejenigen Gebildeten zuzutreffen, die sich gerade dadurch, daß sie so reagieren, selbst als Masse qualifizieren. Jedenfalls entfaltet sich das »Gesinnungshafte«, Assoziative und Getriebene des Denkens gern gegenüber den großen, dunklen und öffentlichen Fragen, wo oft derselbe Mensch im Besitz einer Zauberformel ist, die alles erklärt und löst, der nicht sicher sein kann, aus eigener Bemühung morgen sein tägliches Brot zu haben.* (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Meinungen, Erfahrung zweiter Hand; Massenmedien; Aberglaube

Kurzinhalt: Das, was man früher »vom Hörensagen« erfuhr, wird heute zunächst einmal von der Informationsindustrie vermittelt, von Presse, Rundfunk usw., neben denen natürlich die ewige Quelle weiterfließt, ...

Textausschnitt: 3. Meinungen, Erfahrung zweiter Hand
51a Der Vorgang der Meinungsbildung hat, seit die Institute zur Erforschung der öffentlichen Meinung diese letztere selbst wieder zu beschäftigen beginnen, die ihm zukommende Aufmerksamkeit endlich auf sich gezogen. Es handelt sich bei ihm um einen Spezialfall von »Ordnungsstiftung«. Der Mensch hat die Fähigkeit zur Ausbildung sehr zahlreicher, beweglicher und recht präziser begrifflicher Grundmodelle (Kategorien) und das elementare, wohl instinkthaft in seiner »riskierten« Konstitution verwurzelte Bedürfnis, in das halbgeordnete Durcheinander des Ereignisstromes und der erfahrbaren Welt ein Maximum an Ordnung, Zusammenhang und Regelmäßigkeit hineinzuinterpretieren. Wir kamen oben (I, 3) bei der Diskussion der sonderbaren Faszination, welche ein Automatismus auf den Menschen ausübt, schon in eine Erörterung des Bedürfnisses nach Umweltstabilität hinein und erwähnten einige praktische und theoretische Beispiele besonders befriedigender Stabilisationskerne, wie sie in einem gewohnheitsfest gewordenen Handlungskreis, in rhythmisch-periodisch umschwingenden Maschinen und in der Theorie der Astrologie vorliegen, die ja offenbar angesichts ihrer vollkommenen rationalen Unwahrscheinlichkeit nur wegen ihres besonders sympathischen »Ordnungsmaximums« so viele Anhänger findet. (Fs)

51b Wie Hofstätter überzeugend gezeigt hat, bedeutet der Aberglaube, zu dem jeder Mensch geneigt ist, nichts anderes als einen Spezialfall der allgemeinen Tendenz zur Überschätzung des Ordnungsgrades im Ereignisstrom.* Der Abergläubische vereinfacht die Welt mit Hilfe von Koinzidenzformeln, von (Pseudo-)Regeln der Ereignisfolgen, er interpretiert den Weltlauf als geordneter, einfacher und interessierter am Wohle des Menschen, als er ist. Wenn zwei außergewöhnliche Ereignisse zusammenfallen, z. B. die ersten H-Bombenexplosionen und ein regenreicher, kühler Sommer, so ist es fast unmöglich, hier nicht einen fatalen Kausalzusammenhang anzunehmen, den man künftig vermeiden könnte. Hiermit haben wir aber zugleich bereits ein »Stereotyp« der öffentlichen Meinung angetroffen: [...]

53b Überlegt man sich, was alles nach dem Gesagten der Vernünftigkeit eines sachangemessenen Urteils entgegensteht, so kann man nur erstaunt sein, daß die Weltfremdheit und Verblendung nicht noch höhere Grade erreichen. Denn von den Faktoren, die auf die Bildung unserer Meinungen und Überzeugungen Einfluß haben, ist einer der wichtigsten noch nicht erwähnt worden - das Mittelbarwerden der Erfahrung selbst. Zwischen den Einzelnen, dessen echter Erfahrungsumkreis, wenn wir dieses Wort in einem anspruchsvollen Sinne verwenden, stets sehr eng ist, und die unübersehbaren, schicksalhaften Vorgänge, die sich aus den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Superstrukturen heraus entwickeln, tritt notwendig eine Zwischeninstanz: die »Erfahrung zweiter Hand«. Das, was man früher »vom Hörensagen« erfuhr, wird heute zunächst einmal von der Informationsindustrie vermittelt, von Presse, Rundfunk usw., neben denen natürlich die ewige Quelle weiterfließt, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen selbst besteht, in Erzählungen, Berichten, Mitteilungen und Agitationen, die umlaufen und die zum größten Teil wieder auf Informationen aus den »Massenmedien« zurückgehen, die Tag und Nacht in Betrieb sind. Sehr viele mitgeteilte Tatsachen sind dabei selbst wieder gesteuerte Mitteilungen - dies liegt daran, daß die Erhebung, Formulierung und Verbreitung von Tatsachen meist die Aufgabe großer Betriebe ist. Die damit an den »news« und »facts« angreifenden Einflüsse gehen von dem technischen Zwang zur Kurzfassung, den Betriebsregeln der zugemessenen Wichtigkeit und der nie ganz auszuklammernden Subjektivität der Funktionäre bis zu größeren Zusammenhängen: daß solche Betriebe nicht im leeren Räume operieren, daß sie also von anderen Instanzen beeinflußt werden, die auch ihre Tendenzen haben, und daß sie natürlich denjenigen Grad von Rationalität längst erreicht haben, der mit der Überlegung einsetzt, bei wem die Nachricht ankommen soll und wie sie ankommen soll. Die Aufbereitung von Tatsachen ist, da sie betriebsförmig erfolgt, unvermeidlich selbst ein gerichteter Prozeß: betriebsförmig heißt eben rational und rational heißt zweckhaft, wobei der Zweck in einem Spielraum oszilliert, auf den viele Faktoren Einfluß haben. Mindestens ebenso wichtig und unvermeidlich ist aber diejenige Entstellung von Nachrichten, die völlig absichtslos daraus folgt, daß heutzutage die »Bedeutung« eines Ereignisses meist durchaus nicht aus ihm selbst hervorgeht oder an ihm ablesbar ist, so daß die Tatsachenhülse, um überhaupt Nachricht werden zu können, schon mit Meinungen der Kommentatoren aufgefüllt werden muß. (Fs)

54a Der Niederschlag aller dieser Vorgänge im einzelnen heißt Meinung, deren Unvermeidbarkeit wir jetzt begreifen, weil solche schematische Inhalte da eintreten, wo das Wissen erster Hand, das aus der selbst erarbeiteten und verantworteten Erfahrung, nicht hinreicht und wo dennoch die Gewichtigkeit der Fragen und der Druck des Bedürfnisses, sich auf sie einzustellen, eine Stellungnahme herausfordern. Man kann solchen Meinungen nicht entgehen, weil man in der unübersehbaren Tatsachenwelt von heute auf sekundäre Quellen angewiesen ist, die uns denn auch in Bild und Druck mit allen Graden der Zuverlässigkeit entgegenspringen. Und man hat sie nötig, um sich im Meere der Unsicherheit eine »bienfaisante certitude« zu verschaffen. (Fs)

54b Falsch und simplifizierend wäre jedoch die Auffassung, als ob Meinungen nur verschwommene, halbrichtige und trübende Vorstellungen über Tatsachen wären, die man mit einiger Bemühung genau wissen könnte. Das kommt allerdings vor, und zwar auf Gebieten, wo das Nichtunterrichtetsein sich u. U. drastisch auswirken kann, wie bei Wahlen - es ist nicht einzusehen, warum im Juni 1954 die Frage »wissen Sie, was Regierungskoalition bedeutet« von 65 % der befragten Frauen mit »weiß nicht«, vagen oder falschen Angaben beantwortet wurde, oder warum seit Jahren zwischen 32 und 40 % der Befragten glauben, daß die Ministergehälter »den Staat am meisten Geld kosten«.* Eine solche Ignoranz wäre doch wohl durch sorgfältige und wiederholte, schon in der Volksschule angreifende Information aus der Welt zu schaffen. Einen anderen Grad der Gewichtigkeit erhalten Meinungen aber in den Fällen, da ein Tatsachenwissen aus sachlichen Gründen gar nicht erreichbar ist, während auf der anderen Seite die Meinung »unvermeidlich« durch drastische Einwirkungen provoziert wird. Das ist der Fall bei »Charakterbildern«, die eine Nation über die andere bei häufiger und näherer Berührung auszubilden gar nicht vermeiden kann. Das »Selbststereotyp«, das z.B. die Amerikaner über sich selbst haben, weicht ganz gehörig von den »Fremdstereotypen« ab, die von Deutschen, Franzosen, Engländern usw. über die Amerikaner ausgebildet werden, und dabei ist die objektive, tatsächliche Verteilung von Charakterzügen, wie Hofstätter bei der Diskussion dieses wichtigen Problems bemerkt, bei keiner einzigen Nation, Rasse oder Religionsgemeinschaft bisher bekannt.* Über die virtuell gewaltige politische Bedeutung, die solche öffentlichen und sachlich gar nicht zu berichtigenden Meinungen über andere Völker, Rassen usw. haben können, braucht hier kein Wort verloren zu werden. (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Erfahrungsverlust (Schumpeter); Kunst

Kurzinhalt: ... die Entschiedenheit, mit der alle Künste seit etwa 50 Jahren sich von der vorfindbaren Wirklichkeit abwenden, ist doch wohl zuerst als eine Art ontologischen Mißtrauensvotums aufzufassen ...

Textausschnitt: 4. Erfahrung und Ethos

56b Für den oben (III, 2) beschriebenen Erfahrungsverlust finden wir daher mehr als genug Gründe. Der Verlust des Realitätssinnes oder die Herabsetzung des Sinnes für die Wirklichkeit, die ein so scharfsinniger Beobachter wie Schumpeter für »den eigentlichen Kern aller Schwierigkeiten« hält*, ist von den Künsten bei weitem früher ausgedrückt, als von der Psychologie oder den Sozialwissenschaften entdeckt worden - die Entschiedenheit, mit der alle Künste seit etwa 50 Jahren sich von der vorfindbaren Wirklichkeit abwenden, ist doch wohl zuerst als eine Art ontologischen Mißtrauensvotums aufzufassen, wenn auch die Fähigkeiten der Künstler oft nur soweit reichten, der verworfenen Realität irgend etwas Subjektives zu substituieren. Wenn dagegen Musil in seinem großen Roman die Schicksale und Ereignisse sich um eine »Parallelaktion« zu etwas nicht Vorhandenem herum entwickeln läßt*, oder wenn Kafka in die Darstellungen seines pedantisch-naturalistischen Stils unermüdlich Traummotive einblendet, genau wie später die surrealistischen Maler, dann erhoben sich diese großen Künstler zu einem Realitätszweifel von objektiver Bedeutsamkeit. Diesen aber zu interpretieren, statt auszudrücken, könnte die eigentlich wohl zuständige Philosophie kaum ohne Hilfe der Soziologie und der Sozialpsychologie unternehmen. Und hier wäre auf mancherlei hinzuweisen, was bisher zur Sprache kam: Die industrielle Entwicklung hat die Welt mit einem Kosmos von Organisationen überzogen, deren funktionale Verwicklung die Grenzen der Berechenbarkeit wohl schon überschritten hat. Neben die Großraumplanungen treten die Großzeitplanungen, jedoch in schnellem Wechsel. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen transkontinentalen Wetterlagen sind unheilschwanger, die Auswirkungen ihrer Entladungen bis in jedes Haus und Herz hinein würden sicher sein, an der Unmöglichkeit einer rationalen und angemessenen Erkennbarkeit der Determinanten dessen, was vor sich geht, ist andererseits auch kein Zweifel. Der Meinungsbildungszwang angesichts undurchschaubarer, aber drastisch wirksamer Tatsachen wäre vielleicht eine Entlastung, kreuzte er sich nicht mit der Unsicherheit, welche Handlungen eigentlich wegen oder trotz oft geäußerter Überzeugung und Kundgebung zu erwarten sind. Das weitverbreitete Unbehagen, die gelegentlichen Zuckungen der Sozialkörper, das unruhige Angebot von Ideologien, die von den Intellektuellen fieberhaft errichtet und wieder abgetragen werden, der Abbau aller Präliminarien des Egoismus, das Flüchtige und Unsorgfältige der Vorwände, die plötzlich auftretenden höllischen Bestialitäten - alles das hat die Ansicht bereits zum Gemeinplatz gemacht, daß die Menschheit ein stabiles moralisches Verhältnis zur industriellen Kultur, überhaupt zur Summe ihrer gegenwärtigen Umstände noch nicht gefunden hat. So gab auch Röpke der Vermutung Ausdruck, daß (zum guten Teil infolge der politischen Gegenschläge der Massenzivilisation) die psychomoralischen Fundamente für das bis jetzt erreichte Ausmaß an Arbeitsteilung, d.h. sozialer Differenzierung, bereits unzureichend geworden sind.* (Fs)

58a Man muß versuchen, für alle diese Erscheinungen sehr allgemeine Deutungsformeln zu finden. Denn wenn heutzutage nicht nur die europäische, sondern auch schon die amerikanische Literatur repräsentativen Ranges »oft genug nichts erfühlbar macht, als eben das Erlebnis des Wirklichkeitsverlustes«*, dann können national differenzierte historisch-gesellschaftliche Besonderungen oder geistige Völkerschicksale nicht zu den ausschlaggebenden Bedingungen gehören. Letzten Endes scheint uns die »Krise« nicht einmal, wie oft gesagt wird, eine religiöse zu sein, sondern in dem Sinne eine »totale«, daß die Grundkoordinaten der Weltinterpretation zweifelhaft geworden sind. Ein Grundbedürfnis des Menschen, von dessen Erfüllung zweifellos seine Sicherheiten und Gewißheiten letzter Instanz abhängen, ist jedenfalls ungedeckt: die Stabilisierung des Lebensraumes gelingt der technischen Kultur nicht, ebensowenig wie die Stabilisierung des »Sozialraumes«. Denn die »schöpferische Zerstörung« (Schumpeter) liegt im Wesen der Industriekultur.* (Fs)
58b Anthropologisch gewendet wird damit aber gesagt, daß es an stabilen Außenhalten für unsere Gesinnungen, Verpflichtungen und sogar unsere Meinungen fehlt, an einem invarianten Schatz von Gebräuchen, Gewohnheiten, an Einrichtungen, Symbolen, Wegweisern und »kulturellen Immobilien«, denen wir die Steuerung unseres Verhaltens in dem Gefühl überlassen können, es richtig zu machen. Wir sind umgekehrt genötigt, in dauernd wacher Bewußtheit, in einer Art chronischen Alarmzustandes die Umwelt und unser eigenes Handeln immerfort sachdiagnostisch und ethisch zu kontrollieren, ja, jederzeit Grundsatzentscheidungen zu improvisieren. Und das alles innerhalb eines Szenariums wechselnder und mobiler Vorder- und Hintergründe, Personen und Parolen. Unter diesen Bedingungen läßt sich das unverzichtbare Minimum an Konformitätsdruck nicht beschaffen, das jede Gesellschaft schließlich doch braucht, und dann wird eben eine Unterschiedlichkeit praktischer, theoretischer, moralischer und gesinnungsmäßiger Stellungnahmen möglich und wirklich, die eine gegenseitige Verständigung gar nicht mehr hergibt. Daß eine solche Darstellung nicht übertrieben ist, beweist ein Blick auf jede politische Frage von einiger Reichweite, handle es sich etwa um die Problematik der Kriegsdienstverweigerung oder um die Suezkanalaffaire: da stehen sich dann nicht nur ethische Grundsatzentscheidungen unvereinbar gegenüber, sondern der Sachaspekt selbst, die Frage, um was es sich eigentlich handelt, läßt sich nicht mehr zum Einverständnis bringen. (Fs)

59a Da nun alle Neuigkeiten, mit denen wir überschüttet werden, stets auch die Seite haben, ein Abbruch von Traditionen zu sein, so fehlt es auch redlichen Entschlüssen an Innenbestätigung - denn Traditionen erscheinen dem Menschen im Eigenverhältnis als seines eigenen Wesens und Willens. Man kann rastlos auf allen möglichen Gebieten tätig sein und sich doch nicht davon überzeugen, daß dieses Tun auch Taten enthielt. Alle diese Symptome wirken so, als ob die Menschen die Welt in dem Sinne verändert hätten, daß sie zugleich die unsichtbaren Stützen ihrer eigenen geistigen Formung wegschlugen. (Fs)

59b Kompensatorisch verstärkt sich natürlich das ideologische Bedürfnis. Eine »gut verpaßte Ideologie« (Freyer)* kann den Mangel an Ordnung und Kohärenz, den die Wirklichkeit zeigt, in gewissem Grade vergüten, sie spielt auch im Zusammenhang der »Erfahrung zweiter Hand« eine wichtige Rolle: die nichtbeherrschten Daten, die nur vermutbaren Zusammenhänge, die am Horizont auftauchenden Tatsachen und Wirkungen kann man in einer Art Vorgriff auf ihre wirkliche Appropriation in die reale Verfügungsgewalt doch schon ideologisch assimilieren. (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Agrarmoral - Industriemoral; Geschichte: 2 Zäsuren; Maritain (Descartes): anthropozentrischer Optimismus des Denkens; Auflehnung: Kreatur zu sein

Kurzinhalt: Es gibt wahrscheinlich doch nur zwei kulturgeschichtlich wirklich entscheidende Zäsuren: ... . Vor allem fielen in der Bewirtschaftung des Lebendigen soziale, ethische und ökonomische Kategorien nicht auseinander.

Textausschnitt: 1. Agrarmoral und Industriemoral

77a Die Untersuchung muß jetzt auf die moralischen Aspekte unserer Problematik näher eingehen und gewisse sehr tiefliegende Überzeugungen erwähnen, die zwar Resultate der geschichtlichen Entwickelung sind, aber in einem solchen Grade einverleibt wurden, daß sie sich bereits dem Bemerktwerden entziehen. Dabei kann hier nur vorausgesetzt und nicht näher erörtert werden, daß es außer den sozialen Tugenden, die zu allen Zeiten ungefähr für dieselben gehalten wurden, noch andere Triebfedern des Verhaltens gibt, die einer moralischen Zurechnung unterliegen und die unseren Sollenserlebnissen zugrunde liegen. Von diesen letzteren nehmen jetzt diejenigen unser Interesse in Anspruch, die zwar sicher kulturrelativ sind, aber wie Grundaxiome sowohl als Entscheidungen als auch als Überzeugungen angesehen werden können, als kommandierende Einstellungen. Eigentlich handelt es sich gar nicht mehr um Überzeugungen bewußter Artikuliertheit, sondern um quasiinstinktive Neuorientierungen, um Massenströmungen des Getriebenwerdens, die sich im einzelnen als harter, bewußtloser Eigenwille manifestieren und die aus den radikal veränderten Lebensbedingungen ebenso folgen wie aus einer Bewußtseinsstruktur, die von der Wissenschaft und Technik, der Industrienatur und der Stadtatmosphäre unwiderstehlich umgeprägt worden ist - so unwiderstehlich, daß erst recht der, welcher diese Wahrheit bestreitet, sich durch die von ihm gebrauchte Sprache widerlegen lassen muß. (Fs)

78a Eine dieser Determinanten ist bereits von Descartes in der berühmten Formel »maitres et possesseurs de la nature« ausgesprochen worden.* Er hat den in der neuzeitlichen Naturwissenschaft enthaltenen Imperialismus der Naturbeherrschung vorentworfen und gewollt. Nach diesem Programm hat die Wissenschaft die gefesselt gewesenen Riesenkräfte der anorganischen Natur verhört, die Technik hat sie zur Zwangsarbeit verurteilt. Descartes hat das in reinster Form dargestellt, was Maritain den »anthropozentrischen Optimismus des Denkens« genannt hat*, und hat ihn mit dem maßlosen Hochmut verbunden, der aus ein paar Prinzipien ganze Welten konstruiert - einem Hochmut, den er noch privat aus seiner dreifachen Eigenschaft als Edelmann, als Genie und als Einsamer bezog, der sich aber als ebenso popularisierbar erwies wie seine ganze Philosophie und der sich nacheinander erfolgreich an alle Provinzen der Wirklichkeit heranmachte, sie umdisponierend, umstürzend, neuarrangierend und neuverteilend. (Fs)

78b Die damit im Inneren der Menschen sich vollziehenden Veränderungen können nicht überschätzt werden. Es gibt wahrscheinlich doch nur zwei kulturgeschichtlich wirklich entscheidende Zäsuren: den prähistorischen Übergang von der Jägerkultur zur Seßhaftigkeit und den modernen zum Industrialismus. In beiden Fällen war die geistige und moralische Revolution offenbar total. Der Übergang aus dem Dasein des Großwildjägers zu Viehzucht und Ackerbau muß viele Jahrhunderte gedauert und die außerordentlichsten Schwierigkeiten der Umstellung mit sich gebracht haben. Denn es handelte sich keineswegs bloß um eine Transformation des Wirtschaftsgebarens, sondern um eine so vollständige Umstrukturierung aller Einstellungen, daß nichts unergriffen blieb: damals müssen die Götter aus Verwandlungsdämonen und Tiergestalten der menschlichen Form angenähert und ortsfest geworden sein, eine Mythologie hat die altsteinzeitliche Jägerkultur wohl kaum gekannt, und sie dürfte auch erst neolithischen Alters sein; die Familien- und Gruppenordnungen sowie die Blutszurechnungen erhielten mit der Seßhaftigkeit vorher undenkbare Möglichkeiten, volkreiche Populationen, Reichtumsdifferenzierungen, Herrschaftsgewalten bisher unvorstellbarer Art entstanden und entbanden neuartige Risiken, Verpflichtungen, Freiheiten, Rechte und Zwänge. Von den endlosen Krisen des Überganges, die wir mit voller Sicherheit erschließen können, sind keine Spuren erhalten, und die damals neueroberten Grundlagen der menschlichen Kultur schienen noch unseren Urgroßvätern von ewiger Geltung zu sein. Denn in der Tat, das ökonomische Fundament der Menschheit von der jüngeren Steinzeit bis zum Beginn der Moderne war die Landwirtschaft, und an dieser Tatsache interessiert uns jetzt der moralische Reflex: Die Hege und Kultur der Tiere und Pflanzen besteht nämlich in einem wechselseitigen Dienst. So wie sie für den Menschen da sind, so ist er für sie da. Die objektiven, stationären und übergreifenden Gefüge der Ernährung des Menschen und der Fortpflanzung der Tiere und Pflanzen miteinander zu kombinieren, den Zweck der Natur im Dasein und Gedeihen des Belebten zum eigenen Zweck zu machen - das waren großartige Entwicklungen, von denen wir glauben, daß sie nicht durch Versuch und Irrtum, Experiment und Nachdenken zustande kamen, sondern daß sie Nebenerfolge, Sekundärergebnisse eines kultischen Verhaltens gewesen sind, eines hocharchaischen, aus der Jägerkultur weitergetragenen Tierkultes.* (Fs)

79a Mit der Agrarkultur wird die Abhängigkeit der rasch wachsenden Gesellschaften vom Atmosphärischen, Klimatischen und von dem Vegetativen, dessen Gesetze man nicht beherrscht, chronisch und unaufhebbar, und sie bahnt sich den Weg bis in die Mitte des Lebensbewußtseins. Die große landsässige Mehrheit der Bevölkerungen lebte jedenfalls unter Bedingungen, die Dienst- und Pflichtbegriffe in der Arbeit zu entwickeln nötigten und unter denen, wenn große Überschwemmungen und Dürren ganze Völker bedrohten, die alten Tierkulte keine angemessenen Begriffe des Göttlichen mehr boten. Vor allem fielen in der Bewirtschaftung des Lebendigen soziale, ethische und ökonomische Kategorien nicht auseinander. Auch reagiert der Mensch auf die drastische Abhängigkeit von unberechenbaren Naturereignissen am wirksamsten mit einer Einstellung, die grundsätzliche Verzichtsbereitschaft nicht ausschließt, und eine letzte Auflehnung gegen die Vorstellung, Kreatur zu sein, wird ihm fernliegen - zum mindesten aber wird ihm der Aberglaube an die Allmacht des Menschen fehlen, der die Großstädte beherrscht. Nur dort gilt der Schluß: weil dies und das schlecht steht oder mißglückt, weil man aber doch alles machen kann, »wenn man nur will«, so müssen Bösewichter vorhanden sein, die sabotieren und die ermittelt werden müßten, wenn man sie nicht sowieso schon kennte. (Fs) (notabene)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Agrarmoral - Industriemoral; Rechtsordnung; Tocqueville (Vision); Kleinstverbände und Intimgruppen

Kurzinhalt: »Die Rechtsordnung ist das entscheidende Politikum seit dem Übergang der Menschen zur bäuerlichen Lebensweise« ... »Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selber drehen, ...

Textausschnitt: 80a Umgekehrt gibt es eine Reihe weittragender Erfahrungen, die in dieser fast die ganze Geschichte umfassenden Epoche gemacht und festgehalten wurden. Weil die Tatsache des Kapitals, des sich selbst anreichernden und nach Verwendung drängenden Eigentums in der Agrarwirtschaft erscheint und entdeckt wird - schon sumerisch bedeutet »mas« sowohl Zins als auch Tierjunges* -, weil dort die Kapitalbildung ein sozusagen ontologischer Vorgang ist, eine Realität innerhalb der ökonomisch ausgezeichneten und ethisch legitimierten Substanz des Lebens in der Welt, deshalb entsteht niemals ein allgemeiner Zweifel am Recht auf Eigentum, höchstens ein besonderer an einzelnen Eigentumsrechten. Die Heiligkeit des privaten Eigentums gehört zu den Merkmalen der Agrargesellschaften, denn der Umkreis der Dinge, in dem jemand selbst handelt und verfügt und der den Bereich seiner auch moralischen Verantwortung für das Gedeihen des Lebendigen umschreibt, er muß ihm vorbehalten bleiben. Diese undiskutable Bejahung und Bewertung des Eigentums, ferner der Wille zur Stabilität, der in Jahreszeiten, Jahren und Generationen denkt, sowie endlich die Bereitwilligkeit zur Unterordnung unter etwas Allgemeines und Unbeeinflußbares (die in der Jägerkultur noch nicht, in der Industriekultur nicht mehr herausgefordert wird) - alle diese Grundkategorien kristallisieren zu dem Inbegriff traditioneller Kultur, zur Rechtsordnung. »Die Rechtsordnung ist das entscheidende Politikum seit dem Übergang der Menschen zur bäuerlichen Lebensweise«, sagt Heichelheim.* (Fs)

80b Die Maschinenarbeit an toten Stoffen, die alle paar Monate wechselnden Moden, Aktualitäten, Konjunkturen und Schlußtermine und die Suggestion des Glaubens, man könne durch Änderung einiger Prämissen der Gesellschaft das Leiden der Welt beheben, diese Grundvoraussetzungen der nachagrarischen Kulturen müssen Rechtsordnung und Eigentum aufs tiefste beeinflussen und ihren inneren Zusammenhang auflösen. »Die britische Oberschicht wurde auf eleganteste Weise fast tödlich zur Ader gelassen, und das Opfer arbeitete im weiten Ausmaß bewußt daran mit«* - das ist ein Modellfall eines entscheidenden Politikums im fortgeschrittenen industriellen Zeitalter. Derartige Neuordnungen bedienen sich des seit Jahrhunderten eingeübten Respekts vor der rechtlichen Satzung noch mit Erfolg, aber wer will sagen, wie lange die eingeübte Gruppendisziplin noch vorhält, die selbst das Opfer an seiner Hinrichtung mitarbeiten läßt, wenn die von Tocqueville so genial vorausgesehene Situation sich verallgemeinert: »Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selber drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt, seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit. Was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht.«* (Fs) (notabene)

81a Was hat Tocqueville hier beschrieben? Sah er die überfüllten Millionenstädte in den Wohlfahrtsstaaten reicher Industriegesellschaften vor sich, meinte er die Zustände, die eintreten würden, wenn alles Politische von den riesigen Apparaturen der Daseinsverwaltung aufgesogen sein würde? Meinte er mit dem fürchterlichen Wort von der »geregelten, milden und friedlichen Knechtschaft«, die sich »sogar im Schatten der Volkssouveränität niederlassen« könne*, vielleicht gar nichts Politisches, sondern die Konsumdiktatur, die sich in das Gefühl der Freiheit umsetzt? (Fs)

81b Will man nicht unlösbare moralische Probleme aufwerfen, will man die Gefahr des Absprechens vermeiden, der vielleicht selbst ein so großer Mann unterlag, dann nimmt man wohl besser solche Merkmale als Symptome künftiger Entwicklung, die möglich sind. Wenn nicht die Zeichen täuschen, fangen die Völker an, sich nach Stabilität zu sehnen, auch wenn diese Entscheidung sich zunächst in die Liebe zu kleinen Ordnungen und bescheidenen Genugtuungen kleiden würde. Die Intaktheit der Rechtsordnung und überhaupt die Integrität von rechtlich sanktionierten Institutionen ist ausschlaggebend für die individuelle Moral des Einzelnen und für seine seelische Gesundheit. Denn zunächst knüpft jede rechtliche und damit irgendwie auf Gegenseitigkeit durchgeordnete Institution die Verpflichtungen an Vorteile und Vergütungen. Dienst und Hingabe an andere werden durch irgendeinen darin mitgedeckten Nutzen erst dauerfähig und als solche erst zumutbar. Damit ist aber schon das Schema einer Institution wie der Ehe oder jeder anderen, die Gegenleistungen einrechnet, entworfen. Das in der einzelnen Seele irrationale Verhältnis von Egoismus und Altruismus wird, in die Rechtsform einer Institution veräußerlicht, rational und widerspruchslos: oder die idealen und die egoistischen Interessen des Menschen harmonieren niemals im Einzelnen, sie harmonieren in ihm nur dann, wenn sie mit denen anderer in der Außenwelt zusammenstimmen. Wer allein, aus bloßem subjektivem Selbstreiz, einer idealen Anwandlung folgt, ist auf eigene Faust ein Narr. Denn rational verhält sich der Einzelne, wenn die Institutionen um ihn herum in Umbau oder Abbau begriffen sind und er sozusagen im Nichts sich abstützen müßte, nur egozentrisch. (Fs)

82a Daher haben die Institutionen von eingelebter Rechtsgeltung eine ungemeine Bedeutung für die innere Verfassung des Einzelnen: sie entlasten ihn von der fallweisen mühsamen Erfindung anständigen Verhaltens, weil sie es schon vorgeformt und vorentschieden darstellen, und sie prämiieren dieses anständige Verhalten mit prestigemäßigen oder ökonomischen Chancen oder mit derjenigen Genugtuung, die in dem Bewußtsein liegt, das Rechte getan zu haben - zum mindesten privilegieren sie es nicht negativ. Die Moral ist dann weder undankbar, eine Sache, die sich nicht auszahlt, die einen gegen die Smarten in Nachteil bringt, noch mühsam und Sache zusammenhangloser Einzelentschlüsse, denn sie ist eingelebte Gewohnheit und wird nicht weniger von den Idealen als von den Interessen der anderen mitgetragen. (Fs)

82b Das oben gegebene Zitat Tocquevilles hat noch ein besonderes Interesse. Es scheint eine Vorahnung jener Kleinstverbände und Intimgruppen auszusprechen, wie sie quer durch die Massengesellschaft hindurch entstehen und die steigende Aufmerksamkeit der Soziologen auf sich ziehen.* »Das Zeitalter der Vermassung ist das Zeitalter der kleinen Sondergruppierungen, der Vertrauensbeziehungen, für die man sich einsetzt und wirklich etwas tut, der Teams, die Gleichgesonnene kooptieren.«* Hier wird die Vereinzelung der Menschen abgefangen, und die formlosen, meist nichtöffentlichen Einrichtungen gewinnen anscheinend eine zunehmende Bedeutung, eine ganze Richtung namentlich der amerikanischen Sozialpsychologie stellt sich auf sie ein. Die Unmenschlichkeit der Menschen, wie sie Tocqueville beschreibt, ist im Kreise der Kinder und Freunde verschwunden, alle diese kleinen Bindungen zusammen machen so etwas wie den Zement des Gesamtgebäudes der Gesellschaft aus. Was so laut den Vordergrund einnimmt: die großen Zweckorganisationen und die hineingeschütteten Einzelnen, das ist keineswegs die ganze Wahrheit. (Fs) (notabene)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Askese (Abwesenheit aller asketischen Ideale); Aufklärung -> Planungsoptimismus; Scheler: Pleonexie

Kurzinhalt: Das Zeitalter der Aufklärung scheint uns abgelaufen, ihre Prämissen sind tot, aber ihre Konsequenzen laufen weiter, ...

Textausschnitt: 83a Wie wir zeigten, hat der Übergang zum Industrialismus einige von den Prämissen menschlicher Ordnung und Gesittung entkräftet, die seit Jahrtausenden eingelebt waren. Unter dem psychomoralischen Gesichtspunkt ist es entscheidend, daß es gegenüber der anorganischen Natur, der Kohle, der Elektrizität, den Atomenergien keine ethische Einstellung gibt, daß also die Vorstellung einer Beschränkung der erlaubten Mittel nicht schon an der Grundproduktion ansetzt und von ihr her im Alltag durchgehalten wird. Der versachlichte Kosmos der industriellen Produktions- und Verkehrswirtschaft ist, wie schon gesagt, direkten ethischen Anforderungen unzugänglich, die hier überall ihren Sinn verlieren. Die Superstrukturen der »Privatwirtschaft« unterscheiden sich in dieser Hinsicht auch nicht von denen der »Planwirtschaft« - gegenüber der anorganischen Natur und ihren in Arbeit umsetzbaren Energien ist keine andere Einstellung als die des »maitre et possesseur« denkbar. Schon in dem Ausgangstatbestand des gesamten Bereiches, nämlich im Experiment, ist dies mitgegeben, denn was überhaupt an Naturprozessen erkannt ist, ist aus dem Experiment erkannt, und man hat es zugleich und unmittelbar damit in der Hand. Man beherrscht den Vorgang nur insofern theoretisch, als man ihn auch praktisch beherrscht. Es gibt gegenüber der anorganischen Natur, ihrer Erkenntnis und Ausnützung, von vornherein keinerlei ethische, sondern nur technische Grenzen der Zielsetzung, die wiederum eo ipso nur vorläufige sind, oder es gibt von der Sache her keinerlei Hemmungen in der Ausbreitung des Herrschaftswillens. Diese Tendenz geht in die psychomoralischen Fundamente einer Weltzivilisation ein, in der die Kultur des Lebendigen, die Agrarkultur, zu einer Beschränkung um 15 % der Gesamtbevölkerung herum tendiert. Kein Wunder, daß sich eine unbestimmte Angst ausbreitet. Nicht vor den ungeheuren destruktiven Energien der Atomkerne haben die Menschen Angst, sondern vor den eigenen, nicht vor der H-Bombe, sondern vor sich, in dem richtigen Instinkt, daß die inneren Hemmungen vor der Verwendung dessen, was man in der Hand hat, nicht wohl plötzlich von den Endstadien einer Entwicklung ausgehen können, deren Gesetz seit 200 Jahren gerade der Abbau solcher Hemmungen, die Freilegung rein sachlicher, rationaler und technischer Effizienz ist. (Fs) (notabene)

84a Zur Beurteilung von zwei gleich darzustellenden, für die sozialpsychologische Situation recht maßgebenden »kommandierenden Bedürfnissen« (Nietzsche)* ist zu bedenken, daß 200 Jahre Aufklärung die reelle Voraussetzung unserer geistigen Konstitution sind, so daß sich alle irrationalistischen Gegenbewegungen - wie z.B. der Existentialismus - durchaus innerhalb des Terrains abspielen, das die Aufklärung erobert hat. Ihre Blütezeit geht vorbei, die von ihr heraufgerufene Epoche scheint beendet, aber sie hat tiefe und bewußtlose Spuren in uns hinterlassen. So ist schon die exzessive Mitteilungsfähigkeit der modernen Seele ein Erzeugnis der Aufklärungskultur, und sie wäre im 16. Jahrhundert unmöglich gewesen. Ebendies gilt von der selbstverständlichen, schon wieder unbewußten Reflektiertheit, die alle wesentlichen geistigen Kategorien haben. Wer z. B. über die Religiosität spricht anstatt über Gott, denkt schon innerhalb der Aufklärungstradition. (Fs)
84b Das Zeitalter der Aufklärung scheint uns abgelaufen, ihre Prämissen sind tot, aber ihre Konsequenzen laufen weiter, einschließlich der Selbstverständlichkeiten, die seit dieser Epoche in uns sich verwurzelt haben. Diese Prämissen sind abgelebt, sagten wir: daß die in allen Menschen gleiche Vernunft aus ihren eigenen Mitteln zu nichttrivialen Erkenntnissen vorstoßen könne, das glaubt man wohl heute nicht mehr so recht, oder daß die Natur »vernünftig«, d. h. durch und durch erkennbar sei und so, daß sie die Maßstäbe gebildeter und vornehmer Menschlichkeit niemals widerlegen werde. Auch ist es heute, da das Bürgertum der ganzen Welt sich insgeheim so oft schon geschlagen zu geben scheint, nicht uninteressant, sich klarzumachen, daß ihm einmal der endliche geschichtliche Triumph dessen, was es für vernünftig hielt, eine Gewißheit war. Alle diese Dogmen und Axiome sind Vergangenheit geworden, sie sind nicht mehr so recht nachvollziehbar, und dennoch sind die Spuren jener Zeit in unserer Seele unverwischbar eingegraben. Die Überzeugung von der »Allmacht der Vernunft« nämlich, die in der Aufklärungszeit entstand, hält sich zwar nicht mehr an diese Worte, aber wir stellen die These auf, daß es dieser Glaube und diese Überzeugung sind, die sich in der industriellen Epoche formalisiert haben zu jener grenzenlosen, optimistischen Bereitschaft für Zielsetzungen, Planungen und »Neuorganisationen«. In seiner Funktionsform selbst, in der Art, wie er in Tätigkeit tritt und zu sich kommt, ist der moderne Geist auf Eingriff in die Fundamente, auf Manipulation der Kernbestände und Revision der Ausgangslagen eingestellt, womit er sich auch beschäftige. Hans Freyer hat diesen Zug neuerdings als einen Trend zur »Machbarkeit der Sachen« beschrieben*, und der verallgemeinerte, schon gewohnheitsmäßige Gebrauch des Wortes »Revolution« auf allen Gebieten hat doch eine innere Wahrheit: überall gräbt man die Fundamente auf, um sie umzukonstruieren, in den Künsten, der Lyrik, im naturwissenschaftlichen Weltbild, und erst recht in der Politik. (Fs)

85a Der Gedanke, nicht irgendwelche Mißstände innerhalb der geltenden Ordnung zu reformieren, sondern der einer »durchgreifenden Umformung der Gesellschaftsordnung« hat für die meisten Ohren nichts Befremdendes mehr. Eine Schrift der Soziologin Margaret Mead stellt den Soziologen die Aufgabe, die Pläne für den »Neubau der Welt« zu entwerfen und verkündet den festen Entschluß, »eine neue soziale Ordnung zu erfinden«.* Der Gedanke einer Veränderung oder eines Umbaus der Grundlagen der Gesellschaft tritt also gar nicht, wie in früheren Revolutionen, indirekt und in der Form eines Kampfes um Rechte auf, sondern direkt, im Schema eines »Planes« oder einer zweckbewußten, organisatorischen Maßnahme. Diese Tendenz zur Veränderung der Gesellschaftsordnung und nicht irgendwelcher Mißstände in ihr wurde vor hundert Jahren zuerst sichtbar und damals richtig als metapolitisch erkannt. So im Rapport des Polizeipräfekten der Seine 1847: »Diese Tendenz der anarchistischen Parteien, die eigentlich politischen Fragen zu vernachlässigen (!), um sich in die Ideen der sozialen Neuordnung zu werfen ... ist lebhafter als jemals und verdient seitens der Regierung anhaltende Aufmerksamkeit.«* Mit denselben Worten, daß es sich nicht um »passions politiques proprement dites«, nicht um politische Leidenschaften im eigentlichen Sinne handle, sondern um sehr viel mehr, auch Tocqueville, Rede in der Deputierten-Kammer am 29.1.1848.* In Deutschland machte Lorenz v. Stein 1843 diese Beobachtung.* Man denkt, wie James Burnhamdies ausdrückt, »genau entlang der Richtung, in der ein Manager, ein Ingenieur eine Fabrik organisiert«.* Dieser Planungsoptimismus, als die moderne Form des Vernunft glaubens, hat wie dieser etwas Instinktives, Emotionales und Unkontrolliertes, der Glaube an die innere Wahrheit von Denkmodellen und der an die Beherrschbarkeit auch der größten, kompliziertesten Verhältnisse durch sie, wie sie in ganzen Gesellschaften vorliegen, ist selbst rational nicht mehr begründbar. Er hat allerdings auch, wie jeder echte Glaube, kein Bedürfnis nach einer Begründung. (Fs) (notabene)

86a Ebenso läßt sich nur glauben oder erhoffen, daß die so unendlich vielfältige Wirklichkeit solche Modelle in zwingender Weise bestätigen würde, wenn man sie durchführte, und daß nicht etwas ganz anderes, sehr Unerwartetes herauskäme. Die Vernunft kann nicht irren, sie redet in der Sprache der Wirklichkeit, diese Wirklichkeit kann sie gar nicht desavouieren: das waren schon Grundannahmen der Aufklärungszeit. Von der Entdeckung und Verkündung der autonomen Vernunft sagt Ermatinger, daß man sich die Tragweite dieser Entdeckung nicht groß genug vorstellen kann und daß sie in ihrer geschichtlichen Wirkung geradezu die Bedeutung der Reformation übertrifft.* Die meisten anderen Prämissen der Aufklärung sind inzwischen abgelebt und vergessen, so vor allem die Axiome von der Güte des Menschen, von der inneren Zweckmäßigkeit des Naturverlaufes, von der Gleichheit des moralischen Antriebs in allen Menschen - bestehen blieb das Selbstvertrauen des rationalen Wissens und Denkens in seine Kompetenz, in das Zureichende seiner Fähigkeit. Nur in den Künsten dieses Jahrhunderts wurde auch dieser Glaube abgeschüttelt, und seither hat die Kunst ein gespanntes, polemisches Verhältnis zur übrigen Kultur mit ihrer unbeirrbaren Rationalität, ihren mathematisch-technischen Triumphen, ihren gesellschaftlichen Konstruktionen und Montagen. Ja das Stimmengewirr der Sprachen, in denen die Künste sich vernehmlich machen wollen, wird von der Stimme der Angst beherrscht. (Fs) (notabene)

86b Trotz dieser Kontinuität der rationalistischen Tradition ist das Tempo der Entwicklung erstaunlich, das durch zwei Weltkriege ungemein beschleunigt wurde. Was vor 30 Jahren noch als Utopie erschien, ist heute schon fast fertig. Im Jahre 1922 hat Tönnies noch die »Schaffung (!) eines sozialen Zustandes« als utopisch empfunden, »worin die bisher überwiegend spontan erwachsene Gesellschaft wirklich, nach dem Hegelschen Worte, auf den Kopf, nämlich auf die Vernunft gestellt würde. Das Prinzip wäre: Ausschließung alles gewinnerzielenden Privateigentums, Regelung der Güterherstellung ausschließlich nach den gemeinsamen Bedürfnissen und den Bedürfnissen des Einzelnen, Festsetzung und Normierung der Bedürfnisse.«* Dieses Programm wirkt heute auf viele Europäer nicht mehr als Paradoxie. Auch wenn sie es ablehnen, suchen sie nach Gründen und finden es nicht in sich selbst absurd. So schnell schreitet die allgemeine »Rationalisierung« (Max Weber) fort. (Fs)

87a Die andere, die zweite Grundannahme betrifft nun die Frage, wozu eigentlich die erreichte Macht über die Naturkräfte verwendet werden soll. Ganz selbstverständlich zur Hebung des Lebensstandards. Huizinga hat sehr richtig hervorgehoben, daß sich die höchste Entfaltung des technischen Vermögens zur Beherrschung der Natur mit einer höchsten Steigerung des Verlangens nach irdischem Wohlbefinden und irdischen Gütern verbindet.* Es ist eine sozialpsychologische Frage ersten Ranges, ob der folgende Satz von Finer wahr ist: »In unserer Zeit liegt der Nachdruck aller Hadernden durchaus auf dem Erwerb von Reichtümern. Die meisten möchten reicher sein und weniger und in angenehmeren Berufen arbeiten.«* Für die Wahrheit dieses Satzes sprechen viele Beobachtungen, spricht vor allem aber die staunenswerte Abwesenheit aller asketischen Ideale, die einem historisch interessierten Menschen auffallen muß, von Idealen, die in allen früheren Zeiten, welche doch auch Übersteigerungen luxurierender Bedürfnisse zeigten, dennoch als eine niemals grundsätzlich bestrittene Gegennorm festgehalten worden waren. Jedenfalls hatte der Verzichtende auf die Güter dieser Erde eine moralische Autorität, während er heutzutage auf Verständnislosigkeit stoßen würde. Unter Asketismus soll hier jeder freiwillig durchgeführte Verzicht auf konsumtives Glück in irgendeinem Sinne verstanden werden, gleichgültig, aus welchen Motiven er erfolgt, und gleichgültig, auf welcher Niveaulage, bis zu den höchsten Konsumformen: den entlasteten, unverbindlich ästhetischen Bildungs- und Anregungsinteressen oder bis zu dem Vergnügen, das es gewährt, in den Phrasen des allgemeinen, öffentlichen Jargons mitzureden. Im konkreten Fall bewirkt die Askese eine Stärkung des inneraffektiven Zusammenhangs, ein Mehr an Integration und Fassung der Person, verbunden mit einer Verschärfung der sozialen Antriebe, einer Steigerung der geistigen Wachheit - also ein Sichentäußern gerade durch Sichkonzentrieren. In primitiven Verhältnissen übernimmt die Härte der äußeren Umstände die Hemmungs- und Zuchtleistung, die der Asketismus spontan und individuell aufwendet; das ist der Grund, weshalb er in ganz primitiven Gesellschaften selten zu sein scheint. Auf der anderen Seite verhindert die neuzeitliche, auch durch die ungeheuerlichsten Erfahrungen unwiderlegbare Verharmlosung der Auffassung des Menschen uns, einen Blick in die letzten und gefährlichsten Zusammenhänge des menschlichen Herzens zu tun, in die von Wohlleben und Grausamkeit. Diese waren Jung-Stilling nicht fremd, von dem Gervinus erzählt, er habe schreckliche Gemälde der Zukunft entworfen, aus der traurigen Überzeugung geschöpft, daß die Christen ohne Religion wegen des hohen Grades ihres Luxus zu allem Greulichen am geschicktesten seien - bestürzende Worte.* Auch dunkle Worte, weil nicht trennscharf angegeben ist, wer gemeint wird, aber eindrucksvolle, denn diesmal, im zwanzigsten Jahrhundert, waren es die Asiaten nicht, von denen die Greuel ausgingen. (Fs) (notabene)

88a So wie nun der Aufklärungsglaube an die Vernunft sich formalisiert hat zu einer allgemeinen Bereitschaft für Neuorganisationen und Pläne, so liegt in der Rechtfertigung des irdischen Glückes, der anderen Entdeckung der Aufklärung, der Keim zu dem zweiten Bedürfnis der industriellen Gesellschaft - dem Konsumbedürfnis. Das Recht auf Wohlleben ist eine ebenso unbestrittene Grundannahme wie die Neuorganisation der Gesellschaft, die ja schließlich das Mittel für jenen Zweck sein soll. Die Massenströmungen des Getriebenwerdens in der Richtung dieser beiden Ideale ist eine direkte Folge der Aufklärungs-Tradition und ihrer Umformung durch die vom Industrialismus vollständig veränderten Lebensbedingungen und geistigen Gewißheiten; sie drückt so etwas wie eine Neuanpassung der instinktiven Kernschichten an eben diese Bedingungen aus, denn die Leistung des Industriesystems bestand und besteht eben wirklich darin, den Lebensstandard der Massen zu heben, und ebenso deutlich in einer »Umorganisation« der Gegeninstanzen, der konservativ-traditionalistischen Schichten und ihrer geistigen und ökonomischen Reserven und Rückhalte. Fast alle industriellen Produkte, vom elektrischen Licht bis zum Seidenstrumpf und zum Radio waren einmal teuere Luxusgüter und sind dann, in Massenproduktion verbilligt, zu Gegenständen von Massenbedürfnissen geworden. Es ist kein Zweifel, daß unter ihren wesenseigenen, ungestörten Bedingungen die Industrie nicht von einer traditionellen, stereotypen Bedarfslage her produziert, sondern daß sie umgekehrt die Bedürfnisse mitproduziert, die Bedürfnisse für Produkte, die sie ganz unabhängig von jeder Nachfrage (die erst dem neugezüchteten Bedürfnis folgt) aus sich selbst heraus entwickelt. (Fs) (notabene)

89a Der Prozeß ist irreversibel, die Versorgung steigender Bevölkerungen bei steigenden Ansprüchen mit zunehmenden Gütermengen muß gewollt werden, aber die Konstatierung des Vorgangs und die Abrechnung auf der geistigen und moralischen Kostenseite sollten erfolgen, solange das noch möglich ist. Und da ist zu sagen: das System steht nicht nur auf der Voraussetzung des Rechtes auf Wohlleben, es tendiert dazu, die Gegenposition, nämlich das Recht auf den Verzicht auf Wohlleben, unmöglich zu machen, und zwar indem es die Konsumbedürfnisse selbst produziert und automatisiert. Vielleicht liegt hier überhaupt die Wurzel aller neuverbreiteten Unfreiheiten. Maitre et possesseur de la nature hieß schon im Grunde: daß es keine massiven, nach aller Erfahrung unüberwindlichen äußeren Widerstände der »Natur« gibt, die irgendwie eine letzte Verzichtbereitschaft aufnötigen könnten. Daß man dann auch keine unüberwindbaren Widerstände der Sozialordnung zulassen möchte, die zu Verzichten nötigten, ist selbstverständlich: in dem maitre et possesseur de la nature ist das maitre et possesseur de la societe schon enthalten. (Fs)

89b So sehen wir, wie die erwähnten beiden Grundannahmen oder Ideale die massenhaft umlaufenden und völlig gleichartigen Formeln sind, welche die Maschine aus den ererbten Ideen der Allmacht der Vernunft und der Erreichbarkeit irdischen Glücks herausgestanzt hat. Diese Leitideen der Aufklärung waren im höchsten Grade komplex und entwickelbar, prall von Erfahrungen, Leidenschaften, Geist und Hoffnungen. Sie konnten in die allerverschiedensten praktischen, sozialen, ästhetischen und logischen Verhältnisse befruchtend eingehen und zwischen ihnen Kontakte mit überraschenden, produktiven Folgen herstellen. Wenn je seit den Tagen der Griechen über einer ganzen Epoche der Hauch des Genialen lag, so war es damals - so fröhlich und selbstsicher war sie, so unerschöpflich erfindungsreich und beflügelt. Wieder einmal kreuzten sich auf dem fruchtbaren Boden Europas alte und neue Keime zu einer verwirrenden Fülle phantasievoller Vegetation. »Es bedarf«, sagte Sorel, »einer sehr vorgeschrittenen, sehr eigentümlichen und aus sehr verschiedenen Elementen gemischten Kultur, damit der Mensch zu Kunst, Philosophie und Religion gelangen kann, d. h. zu dem, was Freiheit bedeutet.«* (Fs)

90a Daraus ist nun das geworden, was Bergson beschreibt: »Das Rennen nach dem Wohlleben ist in immer schnellerem Tempo vor sich gegangen, auf einer Rennbahn, zu der sich immer dichtere Massen hindrängten. Heute ist es die wilde Jagd.«* Und in dieses Bild gehört auch das, was Max Scheler die »grenzenlose Pleonexie in allen tonangebenden Gruppen«* nannte, und die sich natürlich längst nicht mehr auf diese beschränkt. Das Wort Pleonexie bedeutet gleichzeitig Begehrlichkeit, Anmaßung und Herrschsucht. Dieses Wort kann sozialpsychologisch heutzutage schwer entbehrt werden. Man kann es zu einer Definition der Masse benutzen, zumal die schon standardisierte Bedeutung dieses Begriffs, die mit Vorstellungen von der »Primitivperson« und ähnlichem arbeitet, schon längst unbefriedigend geworden ist. Gleichgültig, welche Bildung oder soziale Stellung der einzelne hat: zeigt er Pleonexie, so gehört er zur Masse, während umgekehrt jeder zur Elite zu zählen ist, der Selbstzucht, Selbstkontrolle, Distanz zu sich und irgendeine Vorstellung hat, wie man über sich hinauswächst. (Fs)

90b Toynbee hat übrigens die »Enthaltsamkeit« und Selbstbeherrschung zu den typischen Symptomen der niedergehenden Kultur gezählt, ein Cato gehört in die Umwelt der Bürgerkriege, des Cäsarismus und der politischen Gangster, wie Clodius. Es mag sein, daß ethische Forderungen ihren historischen Ort haben, aber sie betreten ihn, wenn ihre Zeit gekommen ist, mit unbedingter Entschiedenheit. Zu dem, was wir die »staunenswerte Abwesenheit aller asketischen Ideale« nannten, hat Toynbee sich sibyllinisch geäußert: »Wir suchen vorerst vergeblich nach Zeichen der Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung: daraus könnten wir wohl schamloserweise die Folgerung ziehen, daß der Zerfall unserer Kultur, sollte sie tatsächlich schon zum Stillstand gekommen sein, noch nicht sehr weit fortgeschritten sein kann.«*" (Fs; E08; 16.12.2008)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Primitivisierung; Ästhetisierung der Bildung

Kurzinhalt: Wieder eine andere Variante des Primitivismus gehört bisweilen geradezu zum Programm, zur ideologischen Eigenauslegung, nun aber im Sinne der formlosen, unterschiedslosen Menschlichkeit.

Textausschnitt: 35a Die bisher beschriebene Entsinnlichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen qualifiziert insbesondere diejenigen Produktionen, die aus Neuansätzen, Neukonzeptionen hervorgegangen sind und die insofern als »fortschrittlich« und »repräsentativ« gelten können, denn in der zeitgenössischen Kultur geht von dem jeweils Neuesten eine Normsuggestion aus. Anstrebenswerte Vorbilder sind die Neuerer, die Toreöffner und Entdecker, die Revolutionäre auf allen Kulturgebieten. Immerhin gilt das Gesetz der Phasenverschiebung im Tempo, nach dem die Kultur jeweils aus langsamer oder schneller sich weiterbewegenden Sektoren besteht, auch innerhalb eines einzelnen Sektors. Wenn im Ganzen der Kultur z. B. die Technik und die Naturwissenschaften die größte Veränderungsrate in der Zeiteinheit haben, während die Gesetzgebung sehr viel langsamer fortschreitet, die sozialen Wertungen und Prestigevorstellungen wiederum sich nur in sehr langen Fristen verändern, so beobachtet man dieselbe Erscheinung auch innerhalb eines einzelnen Gebietes. So können sich die geschichtlichen und philologischen Wissenschaften der Sache nach nicht so weitgehend vom Anschaulichen lösen, wie die Soziologie, Nationalökonomie und sogar die Psychologie, man verhält sich also dort traditionalistischer. Ähnlich liest nach wie vor der wohl bei weitem überwiegende Teil des Publikums Fontane, Rilke oder Hemingway lieber als James Joyce, Ezra Pound oder Benn, so wie es auch eine unerschütterliche Anhänglichkeit sehr vieler Menschen an die alten großen Meister der Musik gibt. (Fs)

35b Dieses Nebeneinander eines kulturellen Konservativismus mit einer praktischen Fortschrittlichkeit in denselben Kreisen, die keine technisch-industrielle Neuerung so leicht vernachlässigen, ist sehr bemerkenswert. Es bedeutet nämlich eine Ästhetisierung der Bildung, ihre Übersetzung ins Folgenlose und auch moralisch Unverbindliche - man verhält sich praktisch innerhalb eines völlig anderen Bezugssystems, als man es in seinen Bildungsinteressen tut. Die unendliche Mannigfaltigkeit der subjektiven Interessen, der individuellen Neigungen und persönlichen Varianten findet in den Bildungsmaterien der Wissenschaften und Künste ihre Chancen der Erlebnisanreicherung, wobei die »Reize« von einer geradezu staunenswerten Fülle und Differenziertheit sind - die entlegensten Kulturen werden zu diesem Zwecke exhumiert und ihre Reste in großen Wanderausstellungen herumgefahren. Völlig zusammenhanglos damit gehen dieselben Menschen ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen nach, und die hier zutage tretenden Einstellungen sind bedeutend weniger verfeinert, sondern im Gegenteil recht handgreiflich und leicht übersehbar. Im Vergleich zu heute war vor hundert Jahren das geistige Niveau der politischen Diskussion staunenswert hoch, und das war die Zeit, als dieselben Leute politisierten, die noch an die moralische Fruchtbarkeit der Wissenschaften und an die Möglichkeit eines einheitlichen, wissenschaftlich begründeten Weltbildes glaubten. Heute liegt das ganz anders. Die traditionelle Kultur im alten Sinne streift ihre Verbindlichkeit ab und nötigt zu einem Pseudo-Konservativismus, die »fortschrittliche« neue treibt in die Isolierung, wenn man sie ernst nimmt, und in Grenzfällen in die Sprachlosigkeit. Die gesellschaftliche Wirklichkeit geht abseits davon ihre eigenen Wege. (Fs)

36a Die kulturellen Massenmedien, das Kino und der Rundfunk, sind nun einer von vielen Seiten kritisierten Primitivisierung gefolgt, die aber aus finanziellen Gründen kaum vermeidbar ist. Denn diese Industrie muß Umsätze machen und wirklich in Breite ankommen, die investierten Kapitalien sind z. T. enorm und vertragen keine Risiken. Ein künstlerisch beachtlicher, sensibler und kluger Film könnte durchaus einmal ein Erfolg werden, aber das Experiment ist zu riskant, während das gebildete Nachtprogramm des Rundfunks sich noch eher mitziehen läßt, als ein geistvoller Film, der durchfällt. Die hier gemeinte Primitivität besteht eigentlich in dem niederen Durchschnitt des Anspruchs an sich selbst und an die Situationen, die man aufsucht, doch gibt es auch die sehr andersartige »zweite Primitivität« der Kultivierten, nämlich die Neigung zu überstarker Dosierung und zu krassen Erregungen. Der Einfluß der Neger- und Papua-Plastiken auf die Malerei, schon vor dem Ersten Weltkrieg, ist notorisch, und insbesondere der frühe Expressionismus wollte durchschlagende und schockierende Effekte. Kontrastreich stehen Klees hypersensible, hauchzarte Träume neben Kirchners schreienden Farbenschocks. Übrigens schließt dieser Neo-Primitivismus ebenso wie die Entsinnlichung und Abstraktheit die Kunst von der Popularität aus.* (Fs)

37a Wieder eine andere Variante des Primitivismus gehört bisweilen geradezu zum Programm, zur ideologischen Eigenauslegung, nun aber im Sinne der formlosen, unterschiedslosen Menschlichkeit. Ein entschiedener Vertreter der neuen Architektur wie S. Giedion sagt z.B.: »Es scheint als ob eine neue Kulturphase sich zu bilden beginnt, in der der Mensch als solcher, der nackte, hüllenlose Mensch, der Mensch, weder begrenzt durch eine bestimmte soziologische Schicht, Religion oder Rasse, direkte Ausdrucksmittel in Formen und Symbolen niederlegt, die Widerhall seines inneren Empfindens sind, die ihn seelisch berühren.«* Das ist dann wohl der von der Versiegelung und Unzugänglichkeit der Kultur im Stiche gelassene Mensch, der hier als geschichtlich ungeformter beschrieben wird, mit anderen Worten: gemeint sind die Großstadtmassen, die gern von der Architektur als ideologische Partner in Anspruch genommen werden. (Fs)

37b Die oben erwähnte vorsätzliche Primitivisierung kann man auch an der Plastik beobachten. Dort stehen neben abstrakten Plastiken von oft entschiedener Schönheit oder neben den bizarren »Mobiles« von Calder*, die Sartre* kommentierte, die brutalen Vereinfachungen von Moore oder Brancusi. Sie erinnern in dem Klobigen und in der Häßlichkeit durchaus an Bildwerke aus der Zeit Konstantins des Großen, nur fehlt die antike Härte und Wucht darin, sie sind aufgedunsener. Jacob Burckhardt wollte jene Erscheinung aus einer »Ausartung der Rasse« erklären, aus dem Auftreten von Menschen »mit wahrhaft abschreckenden Zügen«, gibt aber wenige Seiten später selbst zu, daß man »die tiefste Ursache dieser Erscheinung wohl nie ergründen oder in Worte fassen könne«.* Nach den heutigen Parallelen erscheint es eher als wahrscheinlich, daß es sich damals schon um eine bewußte, eine tendenziöse Primitivisierung handelte, um einen elaborierten Stil, der sich zur Deckung mit einer Zeittendenz bringen wollte, wie heute. (Fs)

37c Unter dem Stichwort Primitivisierung ist schließlich noch eine auffallende Erscheinung des modernen Kulturlebens zu beschreiben, nämlich der Verfall der subtilen Denkkultur im sprachlichen Bereich (nicht im mathematischen). Für andeutungsreiche, beziehungsvolle Denkfiguren, für den Ausdrucksreichtum des Nichtgesagten, für stilistische Feinheiten, für trennscharfe begriffliche Distinktionen mit ihren Obertönen fehlt es heute in sehr weiten Kreisen an Organen, alles muß eingängig, einprägsam und gestanzt geboten werden. Es ist sehr schwer vorstellbar, daß die Schriften Kants einmal in gebildeten Kreisen wirklich gelesen wurden, und besonders die Hochschullehrer der Geisteswissenschaften klagen nicht selten über die Unansprech-barkeit so vieler Studierender für Gedankenreihen, sobald sie einen sehr niedrigen Schwierigkeitsgrad übersteigen. Auch hier sollte man nicht sich zu schnell mit naheliegenden soziologischen Erklärungen beruhigen, vielleicht gilt jetzt ebenfalls das Wort Burckhardts, daß man die tiefste Ursache dieser Erscheinung wohl nie ergründen oder in Worte fassen könne. Wir würden sie in einer schon angedeuteten Richtung suchen: das Zeitalter der Aufklärung ist zu Ende und mit ihm das des Glaubens an die Notwendigkeit von immer mehr und immer schärferer abstrakter Begrifflichkeit. Damit steht der Selbstwert, das Selbstgeltungspathos der Wissenschaft in Gefahr - nicht, daß dieser Selbstwert offen bestritten würde: das ist nicht der Weg, auf dem die Dinge sich entwickeln. Sondern der Trieb nach Einfachheit, Bildhaftigkeit des Wißbaren, der damit zusammenhängende nach Anwendung und Praxis, das sind die Impulse, welche die stolze Selbstgenügsamkeit der begrifflichen Meisterschaft sozusagen unterlaufen und hinter sich lassen. (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Verbreitung technischer Denkmodelle; Prinzip: Konzentration auf den Effekt; Stil; Picasso

Kurzinhalt: Das System der apriorischen Vorstellungen einer Kultur ist, wenn man das Gemeinte in philosophischer Terminologie ausdrücken will, erst in zweiter Linie an den Inhalten ablesbar, in erster Linie liegt es in den Formen, wie die Wirklichkeit aufgefaßt ...

Textausschnitt: 4. Verbreitung technischer Denkmodelle

38a In den beiden ersten Kapiteln haben wir den Umkreis abgesteckt, innerhalb dessen sich die folgenden Untersuchungen halten wollen. Wir haben aber auch zugleich reale und wirksame Faktoren beschrieben, die das Innenleben der Menschen unserer Zeit beeinflussen und die an der Prägung ihrer Wertungen, Interessen und Denkbarkeiten beteiligt sind. Zu diesen Faktoren gehört der Dualismus von Entsinnlichung, Verbegrifflichung auf der einen Seite und Primitivisierung auf der anderen, wobei der innere, tiefe Zusammenhang dieser Seiten leichter eingesehen als beschrieben ist; gehört aber vor allem jene allmächtige Superstruktur, in der Technik, Industrie und Naturwissenschaften als gegenseitige Voraussetzungen auftreten. (Fs)

39a Nun zeigt die Kulturforschung immer und zu allen Zeiten, daß das menschliche Bewußtsein jeweils von den kulturell bevorzugten Denkarten und Verhaltensweisen durchgeformt wird, es wird von der Thematik, die den Schwerpunkt einer Epoche bestimmt, sozusagen imprägniert und hält die Gesichtspunkte seiner Kultur schließlich für die einzig natürlichen und vernünftigen, oder doch mindestens für selbstverständlich. Dies ist nun auch heute der Fall, und man kann z. B. leicht zeigen, wie an der Technik entwickelte Denkweisen sich in nichttechnische Gebiete, wo sie unangemessen sind, dennoch fortsetzen, und gerade sofern das schon selbstverständlich geworden ist und also eigens angemerkt und ins Bewußtsein gehoben werden muß, beweist sich damit eine innere Transformation der Art und Weise, wie wir Wirklichkeiten auffassen. Nach unserer Auffassung verändern sich ja in großen historischen Dimensionen die Bewußtseinsstrukturen selber, d.h. die Weisen, wie das Bewußtsein arbeitet, seine bevorzugten Handlungsarten sozusagen. Das System der apriorischen Vorstellungen einer Kultur ist, wenn man das Gemeinte in philosophischer Terminologie ausdrücken will, erst in zweiter Linie an den Inhalten ablesbar, in erster Linie liegt es in den Formen, wie die Wirklichkeit aufgefaßt und in welchen Zusammenhängen sie interpretiert wird. (Fs)

39b So kann man heute geradezu technische Prinzipien benennen, die sich auch in den sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen vollständig durchgesetzt haben. Das »Prinzip der vollen Beanspruchung«, der Ausschaltung des Leerlaufes, toter Gewichte und ungenutzter Energien ist zu einem Grundsatz geworden, nach dem in jedem arbeitsteiligen Betrieb Arbeitskräfte disponiert werden. Gilt jemand als »nicht ausgelastet«, so werden die Aufgaben neu verteilt. Das »Prinzip der vorbereiteten Vollzüge«, an den Schienen der Eisenbahn ablesbar, wird zum Grundsatz aller Planung, und der Mann am Druckknopf oder Schalthebel ist die Modellfigur aller gut funktionierenden Regie. Das Prinzip der »Normgrößen« und der »auswechselbaren Teile« kann man in den Stellenangeboten der Zeitungen wiederfinden, wenn die geforderten Qualitäten und Maße (einschließlich des Alters) genau definiert werden, das Prinzip der »Konzentration auf den Effekt« hingegen hat vielleicht die allerbreiteste Anwendung, von der gezielten chemischen Therapie der Ärzte bis zur wohlüberlegten Propagandaformel. Denn über die Menschen des technischen Zeitalters hat der Gedanke des optimalen Effekts eine ganz zwingende Gewalt: wird mit den sparsamsten Mitteln eine genau umschriebene, aber durchschlagende Wirkung erreicht, so ist unsere Befriedigung groß; tritt aber eine solche Wirkung, nachdem man sie »angelassen« hat, von selbst ein, so ist sie endgültig. Eine in diesem Sinne gut gemachte Propaganda z. B. soll die Menschen automatisch beeinflussen, sie unterscheidet sich also im Sinne Biddles* von anderen Formen des Zwanges dadurch, daß sie lenkt, ohne Widerstand auszulösen. (Fs)

40a Wenn man sich die Selbstverständlichkeit und Unabgrenzbarkeit der Geltung solcher ursprünglich technischer Prinzipien auf nichttechnischen Gebieten ansieht, dann wird doch das weitverbreitete Vorurteil zweifelhaft, das dieser unserer Kultur einen »Stil« abspricht; es mag übrigens zur Zeit seiner Entstehung wohl im Umkreis Nietzsches zutreffender gewesen sein als heute. Dabei müssen wir noch einmal einen Blick auf die modernen Künste werfen. Der hohen Rationalität unserer Kultur vergleichsweise unangemessene Felder sind nämlich nicht mehr die, wo es auf »Gesinnungen« ankommt, denn die »materialreine« Gesinnung gehört selbst in diese Stilwelt hinein, sondern sie liegen da, wo ein gezielter und kalkulabler Effekt zwar gewollt, aber nicht mit Sicherheit erreicht wird - eben dies gilt weithin von den modernsten Formen der Musik, Lyrik und Malerei. Der Tendenz nach erstreben sie durchaus den isolierten, reinen und durchschlagenden Effekt, aber sie erreichen ihn nicht mit gut schätzbarer Wahrscheinlichkeit, und darin liegt der innere Grund, warum sie sich zusätzlich, aber notwendig noch mit einer anderen, zuverlässiger wirkenden Erfolgsgarantie versehen müssen: mit unermüdlicher Propaganda. (Fs)

40b Die wie gesagt erstrebte Tendenz nach dem reinen, unwiderstehlichen Effekt erlaubt aber immerhin, das Arbeitsverfahren selbst zu rationalisieren, das sich auf die sparsamste Herausarbeitung etwa des Bildgedankens beschränken kann, so daß Picasso, wie Misia Sert berichtet, an einem Tage mehrere Bilder malte. Seine Arbeitsproduktivität überstieg somit ganz erheblich die eines Renoir, von dem dieselbe Autorin berichtet, daß er für jedes der sieben oder acht Bilder von ihr mindestens einen Monat lang drei Sitzungen in einer Woche brauchte, und eine Sitzung dauerte einen ganzen Tag.* (Fs)

41a Der Fall scheint uns exemplarische Bedeutung zu haben, er wird deswegen erwähnt. Die Künstler, Wissenschaftler usw. würden sich im Grunde vernünftig verhalten, sie wären den Gesetzen des Zeitalters »angepaßt«, wenn sie für ihre Produktionen selbst nicht mehr »Dauer« und »zeitüberlegene Gültigkeit« in Anspruch nehmen würden. Es entspricht nicht nur den Kategorien einer Konsumentengesellschaft, sondern auch denen einer technischen, bei der der Verschleiß zu einem Bestandteil des Fortschrittes geworden ist, wenn von vornherein auf Schnelligkeit des Umsatzes hin produziert wird - und das geschieht, wenn Bernard Büffet in zehn Jahren 2 000 Bilder malt.* Das von den Künstlern provozierte Erlebnis selbst ist ja unstabil, es ist eine Erregungsmasse, die, wie die Physiker sagen würden, nach einer bestimmten »Halbwertszeit« zerfällt, und dieser Flüchtigkeit des Effekts würde eine allzu große Sorgfalt seiner Vorbereitung nicht angemessen sein. (Fs)

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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Anpassung (David Riesman); Opportunismus, Selbstauslöschung, Konsumpflicht; Weltethik



Kurzinhalt: Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse haben heutzutage eine Übermacht, die dazu nötigt, den Begriff der Anpassung einzuführen, wenn man das Verhalten der Menschen beschreiben will.

Textausschnitt: 1. Anpassungen

41b In die bisher gewonnenen Umrisse lassen sich nun eine Reihe von Feststellungen eintragen, die uns dazu dienen sollen, den Tiefgang und Umfang der eingetretenen Veränderungen nun auch von innen her, unter soziologischem und sozialpsychologischem Gesichtspunkt zu ermessen. (Fs)

41c Die seit Jahrhunderten steigende und mit der Industrialisierung noch großartig weitergetriebene Komplizierung des sozialen Aufbaus und Gefüges hat eine sehr große Zahl von Menschen nicht nur von der Urproduktion abgeschichtet und zu Städtern gemacht, sie hat sie darüber hinaus in so hochgradig indirekte, verwickelte und überspezialisierte Funktionen hineingenötigt, daß die moralische und geistige Anpassung an diese Situation, man möchte sagen: daß die Erhaltung des sozialen Gleichgewichtes im einzelnen zu einer schwer lösbaren Aufgabe geworden ist. Dabei ist es bemerkenswert, daß die Selbstverständlichkeit, mit der in sozialpsychologischen Untersuchungen der Begriff »Anpassung« sich durchsetzte, nicht schon längst mehr Aufmerksamkeit erregte. Dieser Begriff setzt ja die Vorstellung unbeeinflußbarer Bedingungen der Außenwelt voraus, denen sich ein Organismus nicht entziehen, die er aber auch andererseits nicht umgestalten kann. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse haben heutzutage eine Übermacht, die dazu nötigt, den Begriff der Anpassung einzuführen, wenn man das Verhalten der Menschen beschreiben will. Die großen Superstrukturen der neuen Zivilisation verselbständigen und »entfremden« (Hegel, Marx) sich*, sie zwingen das innere und äußere Verhalten der Menschen in die Form der Anpassung, ein Vorgang, der nur zum Teil willkürlich und kontrolliert vor sich geht, zum größeren Teil aber unbewußt - und dies vor allem dann, wenn er in einer Veränderung der Auffassungsweisen, der Denkformen, ja der Bewußtseinsstrukturen selbst besteht und nicht bloß in dem Zwang, immer neue Inhalte aufnehmen und bewältigen zu müssen. Die vorhin beschriebene Primitivisierung (II, 3) unserer Denkweise, die in der Aufnahme technischer Modelle besteht, schlägt sich zwar im Bewußtsein nieder, sie erfolgt aber »von selbst«, unwillkürlich und ohne beachtet zu werden. (Fs)

42a So liegen denn auch schon Versuche vor, die Anpassung zum Grundbegriff der ganzen systematischen Psychologie zu machen*, und erst neuerdings wird man in den Vereinigten Staaten, wo jener Vorgang mit der größten Selbstverständlichkeit empfohlen wurde, in dieser Hinsicht skeptisch: für David Riesman* ist der voll Angepaßte eben damit bereits der »Überangepaßte« (overadjusted), und »das Verhalten in der bloßen sozialen Konformität wird als ein defizienter Verhaltenstyp bestimmt«.* (Fs)

42b Die Komplizierung der zivilisatorischen Superstrukturen ist in der Tat groß, die Verhältnisse sind so undurchsichtig, daß eine eigene Wissenschaft zu ihrer Erforschung und Beschreibung notwendig geworden ist - eben Soziologie, die mit Mühe versucht, jene Verhältnisse in der Vorstellung konkreter Bedingungen und Folgen zu übersehen. Alle Planung hängt an der Voraussetzung, daß man sie wenigstens noch berechnen kann. Für den einzelnen hat dies zunächst die Folge, daß seine Begriffe von dem, was er tut, und von dem, was ihm widerfährt, nicht mehr zusammenhängen: er tut z. B. ordentlich seine Arbeit und wird durch eine irgendwo auf dem Erdball ausgelöste, ihm völlig unverständliche Krise arbeitslos. Als Reaktion gibt es kaum ein anderes Verhalten als das des Primitiven, der auch nicht verstehen kann, warum er krank wird - er findet einen »Schuldigen«, und dies ist immer der, der schon aus anderen Gründen unbeliebt ist. (Fs)

43a Die tiefere Vernünftigkeit des Verhaltens wird überhaupt offenbar schwieriger. Denn jedes arbeitsteilig hochspezialisierte Handeln, wie es die Industriekultur überall außer im Bereiche der Landwirtschaft und gewisser schon vorindustrieller Handwerke verlangt, trennt sich vom Resultat und damit von der Kontrolle am Erfolg oder Mißerfolg. Es wird damit leicht leerlaufend, steril und, in unbemerkter Zweckwidrigkeit weiter betrieben, imaginär. Dies gilt besonders dort, wo die großen disponierenden Tätigkeiten in Wirtschaft, Politik, Verwaltung mit unvollständiger Kenntnis der Operationsbedingungen und mangelhaften oder unscharfen Informationen arbeiten müssen und wo die Frage, ob überhaupt Erfolge erreicht wurden, ihrerseits wieder nur an Hand ebensolcher Informationen zu beantworten ist; es gilt auch in hohem Grade für den gesamten Lehr- und Unterrichtsbetrieb, wo die Prüfungen und Examina doch nur sehr zufällig feststellen, was überhaupt ankam, und wie. »Ein Professor kann im Irrtum leben und sein ganzes Leben darin verharren, er kann tausend, zehntausend Intelligenzen vernichten, er hält doch seinen guten Platz und bezieht einen angenehmen Ruhestand. Aber ein Bauer, der es zweimal hintereinander mit der Saat versieht, ist ruiniert.«* Dieses Beispiel kann für sehr viele hoch bedingte und indirekte Berufe gelten, und die Spezialisten und Funktionäre aller Gebiete kommen leicht in die Lage, daß der Mangel einer unmittelbaren und anschaulichen Sanktion ihres Denkens und Handelns ihnen die Möglichkeit nimmt, sich durch nachdrücklich erlebte Rückwirkung ihrer Fehler zu disziplinieren. Dieser letztere Vorgang ist aber nach der Meinung eines bekannten Anthropologen »der früheste und wirksamste disziplinierende Beitrag, den alle kulturellen Tätigkeiten für die Steuerung des menschlichen Verhaltens liefern«.* Niemals bisher gab es die heute häufige Erscheinung, daß die Propaganda, mit der irgendeine öffentliche Sache durchgesetzt werden soll, in ihrer Erbitterung und Intoleranz schon die eigene Ahnung durchklingen läßt, sie werde an dem ungreifbaren, aber unüberwindlichen Widerstand der Verhältnisse oder der Menschen scheitern. (Fs)

44a Die Spezialisierung wird allgemein als systemnotwendig begriffen und ebenso allgemein beklagt, besonders von leitenden Funktionären jeder Art, die die Vielseitigkeit ihrer Aufgaben und die abnehmende Wahrscheinlichkeit kennen, jüngere Kräfte dazu heranzubilden. Das Problem ist ebensowohl ein moralisches, denn nur ein entwickelbares, an Erfolgen sich anreicherndes, an vielen Fronten sich exponierendes und Erfahrungen und Rückschläge sich einverleibendes Handeln kann dazu führen, auch tiefere und persönlichere Motivgruppen ins Spiel zu bringen und den moralischen Kern der Person zu beanspruchen. Aber die spezialisierten Leistungen, die das industriell-bürokratische System so zahlreich benötigt, haben sehr oft nicht Plastik und inneren Gehalt genug, um zur Selbstwertsättigung sich abzurunden, sie sind nicht mehr nach allen Seiten »offen« und daher keine »in sich selbst genußreichen Erfahrungen« (experiences enjoyable in themselves, J. Dewey)*. So werden die gesellschaftlichen Funktionen von sehr vielen Menschen eigentlich weniger gelebt als geleistet, und dafür ist ein bezeichnendes Symptom, wie im Sprachgebrauch die Worte »Träger« und »Inhaber« um sich greifen: die Person blaßt zum Träger oder Inhaber von Qualifikationen, Ansprüchen, Merkmalen, Leistungen, Rechten usw. ab, von abstrakten und kategorisierbaren Restimmungen. Als neueste Frucht dieser wortschöpferischen Gedankenlosigkeit kann man den Ausdruck »Sonderbedarfsträger« antreffen. (Fs)

44b Die Anpassung an geistig unbegreifliche, moralisch inkommensurable und dabei doch übermächtige Verhältnisse kann in sehr verschiedener Weise geschehen. Einmal als Opportunismus, als Selbstauslieferung an die wechselnden Umstände - eine so naheliegende und häufige Reaktionsform, daß man im Gegenzug dazu in völliger Verkennung der eigentlich wirksamen Faktoren die Gesinnungszurechnung weit überspannt hat. Eine unbeirrbare Gesinnung zu haben, sie durch alle wechselnden und so oft ungünstigen Konstellationen hindurch solange zu behaupten, bis irgendeine zufällig günstige (auf deren Erscheinen man zudem noch keinerlei Einfluß hat) sie endlich honoriert - das ist ein Lebensplan, den man wohl nur Menschen zumuten kann, die zum Heroismus oder Fanatismus bereit sind, also nicht sehr vielen. Eine andere, auch nicht selten zu beobachtende Form der Anpassung ist die Selbstauslöschung, die Flucht in die Unauffälligkeit, der Totstellreflex. Eine dritte sehr wichtige besteht in einer Art Feminisierung, in der Entwicklung der Konsumenteneinstellung und einer neuartigen Passivität. Von Feminismus kann deswegen gesprochen werden, weil wenigstens bisher der ganz vorbehaltlose, mit dem besten Gewissen betriebene Konsum, zumal Luxuskonsum, ein Privileg der Frauen gewesen ist.* (Fs) (notabene)

45a Diese Einstellung verallgemeinert sich jedoch jetzt, sie wird durch eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern und eine immerhin beachtliche durchschnittliche Mittelausstattung so wirksam aufoktroyiert, daß man schon von einer »Konsumpflicht« (H. Schelsky)* sprechen kann. Die große soziologische Analyse der Konsumentenkultur von D. Riesman* wählt dabei als Bezugssystem die ausgebildete Industriewirtschaft und Bevölkerungen von geringer Wachstumsrate, und insbesondere ist es nach den Untersuchungen Mackenroths nicht zweifelhaft, daß die unwiderstehliche Suggestion von Aufwandsstilen und Aufwandsnormen bis in den Bevölkerungsvorgang selbst, nämlich bis in die Geburtenkontrolle durchgreift.* Den Nachweis, daß die Verbraucherhaltung zu einer vorherrschenden Einstellung geworden ist, liefert Riesman siegreich bis in die Beziehungen der Geschlechter und bis in die Erscheinungen hinein, die Sport oder Politik heute bieten. (Fs)

45b Zum Verständnis der Verbraucherhaltung genügen jedoch die angegebenen Daten nicht ganz: weder eine zahlenmäßig stagnierende Industriegesellschaft noch das gehäufte Warenangebot oder das Sichvordrängen der suggestiven Aufwandsstile würden zureichende Erklärungsgründe sein, wenn nicht, wie Riesman in meisterhafter Intuition darlegt, die »Innensteuerung« des Verhaltens aufhörte.* Das heißt, es werden Menschen selten, die aus persönlichen, verinnerlichten Werthaltungen heraus »nach Prinzipien« handeln, die es gestatten, eine Gesamtorientierung über den zufälligen Wechsel der Situationen hinaus festzuhalten. Aber warum werden diese Menschen selten? Doch offenbar deswegen, weil die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen »Großwetterlagen« geistig unbegreiflich und moralisch unausfüllbar werden, und weil sie in zu schnellem Tempo wechseln. Man muß sich einmal in Ruhe überlegen, was es heißt, wenn selbst der ethische, spezifisch dauerbezogene Wert der Treue umetikettiert wird:

»In den Jahren 1936 bis 1945 bezeichnete das Wort >Loyalisten< in England, in Frankreich, in Skandinavien und in Amerika selbstverständlich die Republikaner aller Schattierungen einschließlich der Kommunisten, die gegen Franco kämpften. 1945 zogen die Regierungen der westlichen Welt auf Betreiben Washingtons ihre Botschafter aus Madrid zurück. Noch im Dezember 1947 bezeichnete >Time< die berühmte >fünfte Kolonne< des Franco-Generals Mola als eine der Kolonnen des Massenverrats. Aber im Jahre 1954, nachdem Bündnis- und Stützpunktverträge mit Franco abgeschlossen wurden, zählte zu den Vergehen, deren Robert Oppenheimer beschuldigt wurde, daß er 1937 bis 1939 so viele Dollars an links-spanische Hilfskomitees gezahlt hatte, und ein außenpolitisch genau orientierter Amerikaner bezeichnete mit dem Ausdruck >Spanish Loyalists< nun ganz selbstverständlich die Anhänger Francos.«*

46a In einer Welt, die so etwas bietet, ist der Glaube an orientierende und haltgebende Prinzipien in der Gefahr, auf jenes Minimum an Außenbestätigung verzichten zu müssen, ohne das er auf die Dauer nicht leben kann - es sei denn, er bezöge sich als religiöser Glaube in letzter Instanz auf außerempirische und daher erfahrungsmäßig auch nicht widerlegbare Inhalte. (Fs)

46b Aus den hier wiedergegebenen Prämissen heraus lassen sich nun Erscheinungen verstehen, die das zeitgenössische geistige und moralische Klima charakterisieren, aber doch im Widerspruch zueinander zu stehen scheinen. Daß nämlich die moderne nachaufklärerische Kultur der Religion wieder mehr in die Hände arbeitet, als die vorindustrielle Epoche des 18. Jahrhunderts, das deuteten wir oben schon anläßlich einer Bemerkung über die abstrakte Kunst an.* Ist die These richtig, daß wir in ein Zeitalter der Nachaufklärung und damit der geistigen »Kristallisation« hineingehen, so würde sie zuerst an einem »Neodogmatismus« zu belegen sein, wofür ja einiges spricht. (Fs)

46c Andererseits würde man mit gleicher Wahrscheinlichkeit Versuche erwarten müssen, aus der Massenhaftigkeit des sozialen Beieinanderseins als solcher moralische Maßstäbe zu nehmen, also aus der bloßen Menschlichkeit Leitbilder zu entwickeln. Diese Leitbilder sollten stark gefühlsbetont und begrifflich unpräzise sein, um von dem unvorhersehbaren Wechsel der Umstände nicht gleich desavouiert zu werden, und auch um gegebenenfalls der Rolle einer übernationalen, überkonfessionellen Verkehrsmoral in der sehr klein gewordenen, nahe zusammengerückten Welt gewachsen zu sein. Diesen Forderungen entspricht in der Tat die Welle eines neuen Humanitarismus* mit ihren sehr zahlreichen Symptomen, die von der Bewegung der moralischen Aufrüstung bis zu weltweit verbreiteten »human-relations-Studien« reichen. Das dabei vorausgesetzte Ideal ist das einer spannungslosen, harmonischen Symbiose, die eigentlich grundlegende Kategorie ist die der »acceptance« - d. h. einen Menschen nehmen, wie er ist, mit allen seinen guten und schlechten Eigenschaften. Man kann das nicht tun, ohne auch die Kultur, aus der er stammt, mit allen ihren Eigenschaften zu akzeptieren, und insofern kann man in dem Begriff »acceptance« den Keimpunkt einer Weltethik sehen, welche den geistigen und moralischen Herrschaftsanspruch des Europäertums von vornherein ausklammert. (Fs)

47a Angesichts aller dieser zuletzt moralischen Probleme und Schwierigkeiten ist endlich noch das Umschwenken in die Passivität verständlich, die ja inhaltlich nur mit Konsum, mit physischer oder geistiger Reizzufuhr, dann also mit »Anregungen« und »Erlebnissen« ausgefüllt werden kann. Die zugeordnete Moral würde gleichfalls die Richtung auf Entspannung, Verharmlosung haben, sie würde rigorose und prinzipielle Alternativen ausschließen und wahrscheinlich durchaus mit der eben skizzierten »Weltethik« verträglich sein. Eine Untersuchung wie die vorliegende kann zeigen, wie die Technik und die Wirtschaftsformen, die Künste und Wissenschaften, die Moral und die Bewußtseinsgehalte einer Zeit gegenseitig aufeinander hinweisen, sie kann darüber hinaus fühlbar machen, daß alle diese Erscheinungen, wie aus einer gemeinsamen, einzigen Quelle herausströmend, demselben Element angehören: dem, aus welchem das 20. Jahrhundert gemacht ist. Versuchte man dagegen, hier nach Ursachen und Folgen zu trennen, so käme man sehr bald an die Grenzen sinnvoller Behauptungen. Die Betrachtungsart nach Ursachen und Folgen ist den Ereignissen ganz großer Dimensionen nicht angemessen. (Fs)

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