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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Lehrverurteilung von 1277 (Tempier); Christentum - Aristoteles (Averroes, Averroismus); De generatione animalium; (Vernunft) nous: göttlich, überindividuell; Siger von Brabant

Kurzinhalt: Hieraus hatte schon der arabische Aristotelesausleger Averroes (Ibn Rushd; 1126-1198) die Konsequenz gezogen, dass der nous, wenn er denn göttlich sei, einer für alle Menschen sei, dass ...

Textausschnitt: 2. Das Pariser Erbe: die Lehrverurteilung von 1277

25c Das Denken des Duns Scotus selbst ist allerdings nur aufgrund einer sehr spezifischen Pariser Situation erklärbar, deren grundsätzliche Folgen für das Verhältnis von Theologie und Philosophie auch für das Oxforder Klima zur entscheidenden Rahmenbedingung wurden: "Häufige, von Glaubenseifer eingegebene Berichte bedeutender und vertrauenswürdiger Personen haben uns zur Kenntnis gebracht, dass einige Lehrer der freien Künste zu Paris die Grenzen ihrer eigenen Fakultät überschreiten und es wagen, die offensichtlichen und verabscheuungswürdigen Irrlehren oder vielmehr Eitelkeiten und falschen Hirngespinste, die in der Rolle beziehungsweise den Blättern enthalten sind, die diesem Schreiben beigefügt sind, als an der Universität behandlungswürdiges Problem abzuhandeln und zu disputieren."1 (Fs)

26a So heißt es in dem Prolog eines denkwürdigen Dokumentes. Unter dem Datum des 7. März 1277 ließ Etienne Tempier, Bischof von Paris, 219 Thesen verurteilen, von denen es hieß, sie seien an der artes-Fakultät der Pariser Universität gelehrt worden. Grenzüberschreitung war der Vorwurf, und später in dem Prolog hieß es noch: "Sie sagen ..., diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des christlichen Glaubens, als gebe es zwei gegensätzliche Wahrheiten."2 Die Einheit des Wissens und mit ihr die Einheit der mittelalterlichen Universität also schienen dem Pariser Bischof gefährdet. (Fs) (notabene)

26b Es war nicht das erste Mal, dass die aristotelische Philosophie von einem Lehrverbot betroffen war - man kann sogar sagen, dass Aristoteles, seit man seine Ethik und seine Metaphysik für das christliche Europa wiederentdeckt hatte, unter permanenter kritischer Beobachtung stand. Durch die Konfrontation mit seinen materialen philosophischen Schriften war man zu einem merkwürdigen Autoritätenkonflikt gekommen. Eben der Philosoph, dem man in logischen Dingen zu folgen gewohnt war, hatte ein philosophisches System entworfen, das offenkundig von Christus keine Kenntnis besaß, ja möglicherweise mit dem christlichen Glauben überhaupt nicht vereinbar war. Diese Alternative ist es, die den Umgang mit Aristoteles in der Folgezeit markierte: entweder Akzeptanz als zwar heidnische, aber in Vernunftdingen doch geduldete Autorität oder Verwerfung als heidnischer Irrlehrer. (Fs)


26c Das große Verdienst des Albertus Magnus ist es, den Durchbruch für ein solides Aristotelesstudium an den Hochschulen gebracht zu haben.1 Doch war dieser Erfolg nicht von Dauer, ja er war vielleicht gerade deswegen möglich, weil Albertus Magnus auf eine systematische Lösung des Mit- oder Gegeneinanders von Aristoteles und christlicher Lehre verzichtet hatte: In seiner Kölner Lehrtätigkeit von 1248 bis 1254 hatte er sich ganz auf den Aristoteles beschränkt und auf im engeren Sinne theologische Vorlesungen verzichtet. Den systematischen Entwurf, der beides verband, bot erst sein Schüler Thomas von Aquin - doch erkaufte er die Harmonie von weltlich-heidnischer Vernunft und christlicher Wahrheit auch dadurch, dass er Aristoteles so umdeutete, dass er seinem theologischen System eingepasst wurde. (Fs)

27a Dieser Weg war für einen Theologen gangbar. Ganz anders musste sich das Problem für Wissenschaftler stellen, die die artes-Fakultät nicht als Durchgangsstation in die Welt hinein oder zu einem Studiengang an einer der höheren Fakultäten verstanden, sondern die sich die Lehre der artes zur Lebensaufgabe machten. Ihnen lag es weit weniger nahe als Thomas, die philosophischen Texte zu verfremden, sondern ihre Aufgabe an der artes-Fakultät bestand gerade darin, den Aristoteles so präzise wie möglich aufzuarbeiten. Es ist dieser Hintergrund, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 13. Jahrhunderts für Aufsehen an der Pariser Universität sorgte. Die herausragenden Gestalten dieser philosophischen Richtung, die nicht mehr darstellte als einen vorurteilsfreien, konsequenten Aristotelismus, waren Boethius von Dacien (+ vor 1284) und Siger von Brabant (ca. 1240-ca. 1284). Ihr Bemühen um präzise Aristoteleslektüre musste unweigerlich auch zu den Punkten vorstoßen, an denen sich Aristoteles mit dem christlichen Weltbild nicht mehr ohne weiteres vereinbaren ließ. Das Modell seiner Kosmologie mit einer unendlichen Bewegung von Schalen war schwerlich mit den christlichen Schöpfungsvorstellungen nach Gen 1 oder gar Gen 2 zu verbinden, die weniger von einem unbewegten Beweger als von einem höchst aktiv in die Weltgeschehnisse hineinregierenden Gott sprachen und die auch keine Ewigkeit der Welt voraussetzten, sondern ihren Anfang in der Zeit: Für das Vakuum vor der Schöpfung (Gen 1,2 Vulgata: "terra autem erat inanis et vacua"; hebr.: Tohuwabohu) war im aristotelischen Denken kein Platz. Und auch im Blick auf die Erkenntnislehre Aristoteles' musste sich zumindest an den Unklarheiten, die der Stagirite hinterlassen hatte, Streit entzünden: Konsequent weitergedacht, musste seine Vorstellung von einer einheitlichen Vernunft zu einer Gefährdung der individuellen Seele des Menschen und damit seiner individuellen Verantwortlichkeit führen. In einer nicht ganz klaren Aussage hatte Aristoteles in seiner Schrift "De generatione animalium" die Göttlichkeit des nous, der Vernunft2, behauptet: "Es ist klar, dass diejenigen Prinzipien, deren Tätigkeit körperlich ist, unmöglich ohne einen Körper bestehen können ... Übrig bleibt also, dass nur der nous von außen eintritt und er allein göttlich ist. Denn mit seiner Tätigkeit ist keine körperliche Tätigkeit verbunden" (736b 22). Hieraus hatte schon der arabische Aristotelesausleger Averroes (Ibn Rushd; 1126-1198) die Konsequenz gezogen, dass der nous, wenn er denn göttlich sei, einer für alle Menschen sei, dass die Menschen also an dieser Vernunftseele lediglich partizipierten, sie selbst aber überindividuell sei. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen nun auch die konsequenten Aristoteliker in Paris, weswegen ihnen auch bald das Etikett des "Averroismus" angeheftet wurde, das noch bis in das vergangene Jahrhundert an ihnen klebte. Das Problem für die Zeitgenossen war, dass mit einer solchen Annahme einer überindividuellen Seele in der Tat, insofern auch die ethische Entscheidung des Menschen zumindest aus dem Zusammenwirken von Vernunft und Wille resultierte, das Personzentrum des Menschen entindividualisiert würde und sich damit auch die Frage individuellen Lohns und individueller Strafe neu stellen würde. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Aristoteliker, Aristoteles - Christentum; Grenzen der Vernunft; Bonaventura - Thomas; De unitate intellectus; Lehrverurteilung (Tempier, 1277)

Kurzinhalt: So kam es bald zu einer doppelten Form von Kritik an den konsequenten Aristotelikern: Während der Franziskaner Bonaventura ... Thomas

Textausschnitt: 28a Bei der Entfaltung solcher Thesen agierten die konsequenten Aristoteliker freilich äußerst zurückhaltend. Gerade die brisantesten Thesen stellten sie nur als Auslegung des Aristoteles vor, nicht aber als ihre eigene Lehre, so dass sie sich jederzeit darauf zurückziehen konnten, lediglich fremde Auffassungen referiert zu haben. Gelegentlich gingen sie sogar so weit, die aristotelische These und die christliche Gegenthese schroff nebeneinander zu stellen - bei oberflächlicher Lektüre konnte man so tatsächlich zu der Vermutung kommen, hier werde ein doppeltes Spiel mit der Wahrheit getrieben, werde die Entscheidung für die christliche Wahrheit bewusst vermieden. (Fs)

28b Dass dies nicht die Intention der konsequenten Aristoteliker war, hat die moderne Forschung zur Genüge herausgearbeitet - doch für ihre geistesgeschichtliche Stellung war gerade entscheidend, dass sie durch ihre Lehren, seien sie auch noch so zurückhaltend formuliert, die Konsequenzen des Aristoteles derart deutlich vor Augen gestellt haben, dass noch einmal die Frage nach der Legitimität der Philosophie ganz neu zu stellen war. Aristoteles war für das mittelalterliche Denken nicht ein Philosoph neben vielen, sondern der Philosoph schlechthin, und wenn eine konsequente Aristoteleslektüre zu Ergebnissen kam, die dem Christentum widersprachen, stellte dies ganz generell die Leistungen der menschlichen Vernunft im Angesicht der göttlichen Offenbarung in Frage. (Fs)

28c So kam es bald zu einer doppelten Form von Kritik an den konsequenten Aristotelikern: Während der Franziskaner Bonaventura, der in seiner auch mystisch geprägten Geistigkeit ohnehin nicht zu den Freunden des Aristoteles gehörte, das Auftreten der radikalen Aristoteliker nutzte, um in mehreren Predigten 1266/7 allgemein die Grenzen der Vernunft aufzuzeigen, sah Thomas in den harten Konfrontationen zwischen Aristoteles und christlicher Überzeugung, die die konsequenten Aristoteliker aufwiesen, auch sein eigenes Projekt der Harmonisierung von Aristoteles und Christentum gefährdet. Er versuchte, ganz im Gegensatz zu Bonaventura, aufzuzeigen, dass die konsequenten Aristoteliker gerade nicht repräsentativ für die Vernunft insgesamt waren, sondern eine individuelle und falsche Form der Aristoteleslektüre vortrugen. So ging er gleichermaßen philologisch und philosophisch gegen sie vor: Es war Thomas, der Wilhelm von Moerbeke (ca. 1215-ca. 1286) zu einer neuen Aristoteles-Übersetzung veranlasste, weil er es für nötig erachtete, Aristoteles möglichst präzise in lateinischer Sprache zugänglich zu machen. Aber er nahm eben auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Siger und seinen Gefährten auf. 1270 verfasste er eine eigene Schrift, "De unitate intellectus", die der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Erkenntnis- und Seelenlehre gewidmet war. Eben darin findet sich auch die infame Einordnung der Pariser Aristoteliker als "Averroistae". Sie sollten mit dem islamischen Gelehrten auf eine Stufe gestellt werden - deutlicher konnte Thomas nicht machen, dass er in ihnen nicht "die" Philosophie, sondern nur eine philosophische Richtung repräsentiert sah, gegen die aus der Warte der christlichen Philosophie zu kämpfen war. Übrigens hat Siger diesen Kampf durchaus aufgenommen: Im Zuge seiner Schriften zeigt sich, wie flexibel er auf die Kritik des Thomas reagierte und seine Seelenlehre immer stärker in christlichem Sinne überarbeitete. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Pariser Lehrverurteilung (Tempier, 1277); Kluft: Philosophie - Theologie; Duns Scotus, Wilhelm von Ockham: Beschränkung der Philosophie

Kurzinhalt: Entweder musste man weiter wie Thomas fortfahren, Aristoteles zurechtzubiegen - obwohl die verurteilten Thesen stets an die immanenten Möglichkeiten des aristotelischen Systems erinnerten -, oder man musste vonseiten der Theologie Modelle entwerfen, ...

Textausschnitt: 29a Damit konnte er aber nicht verhindern, dass die Polemik in Predigten und Traktaten auch die Kirchenbehörde auf den Plan rief. Schon am 10. Dezember 1270 kam es zu einer ersten Verurteilung durch Tempier1, und dies war nur der Auftakt für weiteres Vorgehen des Bischofs gegen die Philosophen. Am 23. November 1276 wurde Siger vom Inquisitor Simon du Val für den 18. Januar 1277 zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen2, vermutlich entzog er sich wie auch Boethius durch Flucht. (Fs)

29b Der entscheidende Schlag erfolgte aber am 7. März 1277: Tempier verurteilte 219 Thesen, welche die von der Gruppe um Siger ausgehenden Gefahren skizzierten, in deren Schriften aber nicht durchweg nachweisbar sind.1 Das Dokument wirkt recht ungeordnet, obwohl es von einer gelehrten Kommission vorbereitet wurde, zu deren bedeutendsten Köpfen der Pariser Theologieprofessor Heinrich von Gent (ca. 1217-1293) gehörte. Die Leitlinien der Verurteilung lassen sich trotz der etwas chaotischen Gliederung leicht erkennen: Neben der Abwehr einer Einheitsseele spielt vor allem die Kosmologie eine Rolle. Es geht dabei nicht nur um den Schöpfungsakt und das Verbot der ihm widerstreitenden Annahme einer Ewigkeit der Welt, sondern vor allem darum, dass das aristotelische Schalenmodell der Freiheit Gottes und des Menschen keinen ausreichenden Raum ließ: Immer wieder werden Sätze betont, die in irgendeiner Weise die Notwendigkeit des Geschehens in der Welt auszudrücken scheinen und damit den radikalsten Widerspruch zur biblischen Überzeugung von einem frei handelnden Gott darstellen. (Fs)

30a Diese Lehrverurteilung, so unbefriedigend sie denkerisch sein mag, ist doch ein entscheidendes Dokument der mittelalterlichen Geistesgeschichte, das die Voraussetzung für alle nun folgenden Entwicklungen des Denkens darstellt. Mit der Lehrverurteilung von 1277 war gewissermaßen ex negativo ein Modell markiert, das philosophisch denkbar, aber aus Gründen des christlichen Glaubens abzulehnen war. Dies gab für die zukünftigen Generationen von Denkern - und das hieß für all jene Engländer, die in Oxford im Schatten des Duns Scotus Theologie zu treiben lernten - die Regeln für den rechten Umgang mit Aristoteles vor. Entweder musste man weiter wie Thomas fortfahren, Aristoteles zurechtzubiegen - obwohl die verurteilten Thesen stets an die immanenten Möglichkeiten des aristotelischen Systems erinnerten -, oder man musste vonseiten der Theologie Modelle entwerfen, die den Status der Philosophie begrenzten und reduzierten, ohne doch gleich wie Bonaventura die Philosophie und Vernunft insgesamt zu diskriminieren. Diesen letzteren Weg ging vor allem Duns Scotus, und ihm folgend dann Wilhelm von Ockham. Ihm war das Dokument von Paris, auch wenn er es nicht sehr oft zitierte, durchaus bekannt - doch stand er schon längst nicht mehr in direktem Gegenüber hierzu, sondern hatte die neuen Denkwege von anderen, eben Duns Scotus, aber auch Heinrich von Gent, vermittelt bekommen. (Fs) (notabene)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Duns Scotus; Scheitern; Harmonisierung: Christentum - heidnischer Philosophie; distinctio formalis; haecceitas; Begrenztheit der natürlichen Vernunft; Offenbarung, Glaube: Gott - Wille; potentia absoluta - ordinata; Rechtfertigungslehre




Kurzinhalt: Letztlich handelt es sich hier um eine Wahrung des biblischen Gottesbildes angesichts einer Situation, in der die konsequenten Aristoteliker ... ein Gottes-und Weltbild entworfen hatten, das alles nach Notwendigkeit ablaufen ließ. Dem setzt Duns eine ...

Textausschnitt: 3. Der prägende Denker: Duns Scotus

30b Im Werk des Duns Scotus lässt sich die tief greifende Wirkung der Pariser Lehrverurteilung nachvollziehen.1 Duns gehörte zu denen, die aus dieser Verurteilung die radikale Konsequenz zogen, dass das Projekt der Harmonisierung von Christentum und heidnischer Philosophie vollends gescheitert war. Entsprechend scharf fiel seine Kritik an einem unkontrollierten Aristotelismus aus. Dabei verwarf er Philosophie keineswegs grundsätzlich. An einem Punkt, der Lehre von den Universalien, wurde er sogar außerordentlich produktiv: Die in der Philosophiegeschichte umstrittene Frage, welcher ontologische Status unseren Allgemeinbegriffen - vor allem den Art- und Gattungsbegriffen - zukomme, ob es sich hierbei um rein innermentale Größen, bloße Benennungen von eigentlich nicht real Vorhandenem handle, wie es der Nominalismus behauptete, oder ob es, nach der Position des Realismus, auch außerhalb unserer Seele und unseres Erkenntnisvermögens diese Allgemeinheit als eigene reale Entität gebe, versuchte Duns durch einen Mittelweg zu klären: mithilfe der Lehre von der distinctio formalis. Anhand dieses Modells wollte er ausdrücken, dass das Allgemeine sich insofern vom Einzelnen unterscheide, als es dessen formgebendes Prinzip sei. Das Allgemeine existiert also in keiner Weise, wie es der strenge Realismus forderte, für sich, etwa als eine "Menschheit an sich", sondern es existiert nur in Gestalt von vielen Einzelentitäten. Zugleich aber geht es im Einzelnen nicht auf, sondern ist eben - und dies real - in den vielen Einzelnen zugleich und doch immer ein und dasselbe. In diesem Denkmodell äußerte sich ein neues, positiveres Verhältnis zum Einzelnen, ja zur Individualität an sich. Der Aristotelismus lehrte - zumindest in der Lesart des Universalienrealismus - eigentlich, dass stets die Form das Allgemeine sei, die Materie hingegen das Individuationsprinzip. Wiederum am Beispiel verdeutlicht: Es gibt die allgemeine Menschheitsform, und immer dann, wenn diese sich mit Materie verbindet, entsteht ein einzelner Mensch. Duns Scotus wollte aber nicht die Individualität als Prinzip der Materie stehen lassen, sondern versuchte durch seine distinctio formalis klar zu machen, dass Individualität zum realen Sein generell dazugehört: Sie ist nicht Folge dessen, dass zu einem für sich bestehenden Allgemeinen etwas anderes, eben die Materie, hinzutritt, sondern alles Sein ist individuell, indem und insofern es existiert. Duns Scotus versuchte dies sogar durch eine eigene Wortschöpfung auszudrücken. Er sprach von der haecceitas, der "Dieshaftigkeit": Etwas, das "dies" oder "jenes" ist, ist eben ein einzelnes. (Fs) (notabene)

31a Trotz solcher philosophischer Produktivität aber sieht Duns Scotus seine Hauptaufgabe darin, der Philosophie ihre Begrenztheit aufzuzeigen. Die natürliche Vernunft, so argumentiert er, kann nicht das letzte Ziel des menschlichen Lebens und Handelns sein, da dieses selbst ein übernatürliches ist, nämlich die ewige Seligkeit. Von hier aus bestimmt Duns sein gesamtes Verständnis von Theologie. Theologie ist nicht eine theoretische, sondern eine praktische Wissenschaft, das heißt, sie ist Wissenschaft vom Handeln des Menschen und von seinem Ziel. (Fs)

31b Dann aber ist eigentlicher Gegenstand der Theologie Gott, denn zum einen besteht die Seligkeit im Genießen Gottes, in der fruitio Dei, und zum anderen sind alle theologischen Wahrheiten in Gottes Erkenntnis enthalten und aufgehoben und die menschliche theologische Erkenntnis verdankt sich der Offenbarung Gottes. (Fs)
32a Der Tatsache, dass diese Offenbarung angemessen allein durch den Glauben, nicht aber durch die natürliche Vernunft auf- und anzunehmen ist, entspricht es dann, dass Duns gegenüber Thomas von Aquin auch in Gott nicht der Vernunft den Vorrang einräumt, sondern dem Willen. Diese Gottesauffassung wurde gerne als Voluntarismus kritisiert, doch geht es bei dem Gott des Duns Scotus nicht um einen willkürlich handelnden Gott, denn Gottes Wille entspricht seinem Wesen und entspringt also letztlich der Gutheit Gottes. (Fs) (notabene)

32b Näher kommt man einem Verständnis des Doctor Subtilis, wenn man die Stoßrichtung bedenkt, in die seine Überlegungen gehen. Letztlich handelt es sich hier um eine Wahrung des biblischen Gottesbildes angesichts einer Situation, in der die konsequenten Aristoteliker in Paris ein Gottes-und Weltbild entworfen hatten, das alles nach Notwendigkeit ablaufen ließ. Dem setzt Duns eine Theologie der freien Souveränität Gottes entgegen. (Fs) (notabene)

32c Diese konzentriert sich darin, dass bei Duns auch zum ersten Mal die schon seit einiger Zeit gängige Unterscheidung von absoluter und gebundener Macht - potentia absoluta bzw. ordinata - in Gott systematisches Gewicht erhält, was später bei Ockham eine ganz zentrale Rolle spielen sollte. Nach Duns handelt Gott einerseits im Allgemeinen regulär. Andererseits aber kann Gott sich jederzeit auch von den allgemein gültigen Gesetzen lösen, denn als oberster Gesetzgeber ist ihm das Gesetz so unterworfen, dass er es jederzeit, auch momenthaft umstürzen kann. Wichtigster Anwendungsfall hierfür ist die Rechtfertigungslehre, die bei Duns im strengen Sinne als Akzeptationslehre zu verstehen ist: Gott unterliegt bei der Rechtfertigung des Menschen keinen notwendigen Zwängen, sondern die Rechtfertigung eines Menschen geschieht aufgrund der freien Annahme des Menschen durch Gott. Trotz dieser Betonung der Souveränität Gottes ist die Heilssicherheit der Menschen freilich nicht gefährdet. Diese beruht darauf, dass Gott selbst sich an eine bestimmte Heilsordnung gebunden hat.2 (Fs)

32d Man wird diese in Paris entwickelten Lehren zwar nicht eins zu eins am Franziskanerstudium in Oxford voraussetzen dürfen, aber ihre Wirkung war ungeheuer - schon allein weil nun endlich auch die Franziskaner einen großen Gelehrten unter ihren Ahnen hatten, der an Gewicht und Wirkung dem dominikanischen Theologen Thomas von Aquin gleichkam. Der Franziskanerkonvent in Oxford verfügte über seine sämtlichen Werke, einige sogar im handschriftlichen Original und mit den entsprechenden eigenhändigen Notizen des Duns.3 Dabei war seine Wirkung in der Theologie noch um einiges höher als in der Philosophie: Die distinctio formalis, die in der Gefahr stand, eine komplexe Frage zwar ihrerseits höchst komplex, aber letztlich doch nur in Gestalt eines Verbalkompromisses zu beantworten, blieb zwar nicht ohne Anhänger, hatte aber doch eine weit geringere Wirkung als insbesondere die Unterscheidung der potentia absoluta und ordinata. Nach einer zunächst zögerlichen und sehr kritischen Rezeption des Duns Scotus in Oxford gewann ab 1316 - also kurz bevor Ockham selbst mit seiner Sentenzenvorlesung begann - mit der Berufung Wilhelms von Alnwick der Scotismus bei den Oxforder Franziskanern massiven Einfluss.4 Dieser hatte in Paris bei Duns gehört und wohl sogar als dessen Sekretär agiert - diese Funktion legt es nahe, dass er es war, der die Autographe des Duns Scotus nach Oxford brachte. Möglicherweise unter seinem Einfluss hatte auch Johannes von Reading in seiner Oxforder Sentenzenvorlesung seine scotistische Theologie entwickelt.5 Jedenfalls war das Umfeld Ockhams durch solche Persönlichkeiten ganz entschieden von Scotus geprägt, und es ist seinen eigenen ersten Werken anzumerken, dass er sich zwar keineswegs in geistiger Abhängigkeit von dem großen Schotten befand, aber diesen zu einem seiner ersten, wenn nicht zu dem ersten Gesprächspartner machte. Von ihm hat er Problemstellungen übernommen, vor allem die Konfrontation mit dem konsequenten Aristotelismus, und zum Teil auch Problemlösungen, vor allem in der potentia-Lehre, während er in der Universalienlehre eigene Wege ging. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Theologie als Wissenschaft - Aristotelismus; Evidenz: Thomas, Heinrich von Gent (adhaesio)

Kurzinhalt: Während noch bei Thomas von Aquin die Evidenz als Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis eine ganz geringe Rolle gespielt hatte, stand für die Theologen von nun an unausweichlich fest, dass wissenschaftliche Erkenntnis als Merkmal Evidenz besaß ...

Textausschnitt: a) Der kritisierte Aristoteles: Theologie als Wissenschaft jenseits der Ansprüche der Philosophie

47a Für Ockham war wie für Duns Scotus die Auseinandersetzung mit dem konsequenten Aristotelismus von entscheidender Bedeutung. Die Fundierung der Theologie gegenüber den hier formulierten Ansprüchen hat sich dabei in eigenartiger Weise mit dem Kampf um die Bettelordenstheologie in Oxford verknüpft. (Fs)

47b Die Angst Tempiers und seiner Theologenkommission vor dem konsequenten Aristotelismus lässt sich gerade an solchen Thesen ermessen, die direkt auf die Theologie zu sprechen kommen. Dass die Reden der Theologen in Fabeln begründet seien, heißt es in These 152, dass das theologische Wissen keinen Erkenntnisgewinn bringe, in der folgenden.1 Solche direkten Angriffe - die gewiss von niemandem formuliert, sondern den Philosophen in den Mund gelegt worden sind2 - waren für die Folgezeit freilich weniger bedeutsam als die erkenntnistheoretischen Überlegungen der Aristoteliker. (Fs)

47c Dabei waren zwei Gesichtspunkte entscheidend, die bei Ockham in Verknüpfung begegnen: Zum einen die Frage der Evidenz - hier war klar, dass der Glaube nicht über Evidenz verfügte, und es musste geklärt werden, welchen Gewissheitsgrad er seinerseits besitzen konnte. Der andere Gesichtspunkt war die Frage, wie sich der Anspruch, durch den Glauben Zugang zur Wahrheit zu haben, mit der aristotelischen Lehre von den fünf Vernunfttugenden, die die Wahrheit gewährleisteten, vertragen sollte. (Fs) (notabene)
48a Das erste Problem ergab sich unmittelbar aus der 37. These der Lehrverurteilung: "Nichts darf man glauben, das nicht evident ist oder nicht aus Evidentem entwickelt werden kann."3 Diese These - auch sie ist in den Schriften der konsequenten Aristoteliker nicht nachzuweisen4 - formuliert eine Weltsicht, die dem Glauben jeden eigenen Zugang zur Wahrheit verweigerte: Nicht eine doppelte Wahrheit wird hier behauptet, sondern eine einheitliche Wahrheit, die ausschließlich durch die Vernunft herausgefunden werden kann. Der Glaube würde so gleichsam von der wissenschaftlichen Erkenntnis geschluckt werden. Was als Erkenntnisbereich übriggeblieben wäre, war nur der Bereich der Evidenz und der innerhalb des Evidenten gezogenen Schlüsse: Prinzipien und Schlüsse. Ganz ähnlich tritt diese Vorstellung übrigens auch in der These 1515 entgegen, die erklärt, Gewissheit sei nur über Schlüsse aus selbstevidenten Prinzipien erreichbar. (Fs)

Kommentar (20.06.09): Vgl zu oben "Nichts darf man glauben, das nicht evident ist ..." Ratzinger, Toleranz.odt:

174a [...]G. Elisabeth M. Anscombe hat die Auffassung ihres Lehrers Wittgenstein in dieser Frage in zwei Thesen zusammengefaßt: »1. Es gibt nichts wie das Wahrsein einer Religion. Dies wird etwa angedeutet, wenn man sagt: > Dieser religiöse Satz gleicht nicht einem Satz der Naturwissenschaft< 2. Religiöser Glaube läßt sich eher der Verliebtheit eines Menschen als seiner Überzeugung vergleichen, etwas sei wahr oder falsch.«1 Dieser Logik entsprechend hat Wittgenstein in einem seiner vielen Notizbücher notiert, daß es für die christliche Religion nichts ausmachen würde, ob Christus irgendeine der von ihm berichteten Dinge tatsächlich so vollbracht oder sogar überhaupt existiert habe. Dem entspricht die These Bultmanns, ...

48b Eben dieser angebliche Anspruch von philosophischer Seite stellte die Theologen vor eine große Herausforderung: Man konnte schwerlich bestreiten, dass Evidenz ein entscheidendes Merkmal des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses war. Gerade angesichts dessen aber musste man begründen, dass es aus erkenntnistheoretischen Gründen gleichwohl notwendig war, etwas zu glauben, was über den Bereich der Evidenz hinausging. (Fs)

Entsprechend rangen die folgenden Generationen von Theologen um den Evidenzbegriff und das Verhältnis des Glaubens zur Evidenz.6 Gerade hier zeigt sich die merkwürdige indirekte Wirkung der Lehrverurteilung. Während noch bei Thomas von Aquin die Evidenz als Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis eine ganz geringe Rolle gespielt hatte, stand für die Theologen von nun an unausweichlich fest, dass wissenschaftliche Erkenntnis als Merkmal Evidenz besaß - und der Glaube eben durch den Mangel an Evidenz gekennzeichnet war. (Fs)

48c Heinrich von Gent, der zu der Theologenkommission Tempiers gehört hatte, wies den Weg in diese Richtung. Er bestritt der Theologie zwar die Evidenz als schärfste Form wissenschaftlicher Gewissheit, aber nicht Gewissheit überhaupt: Aus der augustinischen Tradition nimmt er den Begriff der adhaesio, des Anhangens, auf und spricht nun der Theologie eine "Gewissheit des Anhangens, die auf klare und evidente Kenntnis nicht angewiesen ist", zu.7 Mit dieser Begründung gelang es Heinrich, den Sonderbezirk des Glaubens gegenüber der verurteilten These 37 erkenntnistheoretisch zu verankern. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Theologie als Wissenschaft; Duns Scotus (fides acquisita - infusa); Petrus Aureoli; Ockham


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Kurzinhalt: Im Gegensatz zu Aureoli sah er als entscheidenden Unterschied des Glaubens zu den anderen Vernunfttugenden nicht den Objektbereich, sondern die Erkenntnisqualität, eben die Frage der Evidenz.

Textausschnitt: 49a Damit waren die Probleme, die sich für eine angemessene erkenntnistheoretische Einordnung des Glaubens stellten, freilich bei weitem nicht gelöst. Die konsequenten Aristoteliker hatten die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Themenkomplex der aristotelischen Lehre gelenkt, der gleichfalls Probleme für den erkenntnistheoretischen Status des Glaubens mit sich bringen musste: die Tugendlehre der Nikomachischen Ethik. Aristoteles erwähnt in deren sechstem Buch die fünf Vernunfttugenden, die als Habitus veridici gelten, als "Eigenschaften, welche Wahrheit gewährleisten": Prinzipienhabitus, Wissen, Weisheit, Klugheit und Kunstfertigkeit. Eben diese fünf Tugenden hielten die konsequenten Aristoteliker angeblich für ausreichend zur Erlangung des ewigen Heils.1
49b Diese aus Sicht der christlichen Theologie schnell in anderem Sinne zu beantwortende ethische Frage lässt sich nun freilich nicht von der Frage lösen, wie es philosophisch zu verstehen ist, dass der christliche Glaube nach biblischer Auffassung einen Bezug zur Wahrheit hat. Entsprechend rege wurde in jener Theologengeneration, die im Schatten der Pariser Lehrverurteilung wirkte, über das Verhältnis des Glaubens zu den Vernunfttugenden diskutiert:

Duns Scotus hat sich an mehreren Stellen um eine Lösung bemüht.2 Dabei ist seine Annäherung des Glaubens an die Vernunfttugenden von einer grundsätzlichen anthropologischen Zweistufigkeit gebrochen: Für ihn gehören die aristotelischen Vernunfttugenden alle gemeinsam zu den natürlich erworbenen Tugenden, und hierzu kann er auch den erworbenen Glauben, die fides acquisita rechnen, d.h. die kognitive Wahrnehmung der Glaubensinhalte, die er dann als Wissen vom Offenbarten unter die fünf aristotelischen Vernunfttugenden rechnet. Etwas grundsätzlich anderes ist der Glaube in seinem heilsrelevanten, bloß Kognitives überschreitenden Aspekt, die fides infusa: der eingegossene Glaube. Dieser unterscheidet sich als übernatürliche Tugend grundsätzlich von den natürlichen Vernunfttugenden und hat die Vernunft zwar als seinen psychischen Träger, aber nicht als Grundlage seines Seins. (Fs)

50a Ist so bei Duns Scotus der Glaube einerseits unter das aristotelische Schema subsumiert, andererseits qualitativ von den darin aufgeführten Eigenschaften unterschieden, ging Petrus Aureoli, der sich in vielem auf Duns bezog, einen einfacheren Weg3, indem er die grundlegende Differenz zwischen übernatürlichen und natürlichen Tugenden, die Duns systemkonstitutiv gemacht hatte, zwar nicht bestritt, aber denkerisch übersprang. Er ergänzte das aristotelische Schema, indem er schlicht erklärte, der Glaube gehöre zu jenen Vernunfttugenden, die Wahrheit gewährleisten, unterscheide sich von ihnen allein dadurch, dass er sich auf kontingente, nicht notwendige Objekte beziehe.4 Hier zeigte sich im Umgang mit Aristoteles schon eine größere Freiheit als bei Duns: Aureoli übernahm dessen Schema nicht starr, sondern gestaltete es von innen her um, indem er das Kriterium der Gewährleistung von Wahrheit anwandte, um das vorgegebene Schema nötigenfalls zu ergänzen. (Fs)

50b Hieran konnte Ockham anknüpfen, aber mit einem bezeichnenden Unterschied, der die beiden hier erwähnten Diskussionsstränge verknüpfte: Im Gegensatz zu Aureoli sah er als entscheidenden Unterschied des Glaubens zu den anderen Vernunfttugenden nicht den Objektbereich, sondern die Erkenntnisqualität, eben die Frage der Evidenz. Er leistete damit ein Doppeltes, indem er die seit der Lehrverurteilung von 1277 aufgebrochenen Diskussionen zum Verhältnis Glaube - Wissen zusammenführte: die Evidenzdiskussion einerseits, die Diskussion über das Verhältnis zu den Vernunfttugenden andererseits. Und er leistete diese Zusammenführung durch eine konsequent subjektorientierte, im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretische Fragestellung. (Fs)

50c Ockham ergänzte also ebenso wie Aureoli das Schema des Aristoteles: Zu den fünf Eigenschaften tritt der Glaube - und zwar der in der Taufe als theologische Tugend eingegossene - hinzu, dem es zwar an Evidenz mangelt5, der aber durch das Anhangen, das auch Heinrich von Gent hier als charakteristisches Merkmal aufgeführt hatte, Gewissheit erzeugt - nach Ockham sogar eine höhere Gewissheit als die Evidenz.6 Er erklärte in diesem Zusammenhang sogar, warum der Heide Aristoteles den Glauben in seinem Schema der Wahrheit gewährleistenden Eigenschaften noch nicht vorgesehen hatte: Für Aristoteles war der Glaube grundsätzlich in der Gefahr, sich zu irren - als gläubiger Christ aber wusste Ockham, dass der christliche Glaube nicht irren kann7 - und entsprechend zu jenen Vernunfttugenden gehören muss. Diese Ergänzung des aristotelischen Schemas um eine nicht-evidente Eigenschaft hatte nun freilich auch philosophische Folgen, vor allem die, dass hier das philosophische anthropologische Schema um eine Eigenschaft ergänzt wurde, die nicht wie die anderen aufgeführten Eigenschaften grundsätzlich mit jeder Vernunft verbunden ist, sondern die - eben durch die Eingießung in der Taufe - nur einigen Menschen zuteil wird. Mit aristotelischer Begrifflichkeit und in Ergänzung des aristotelischen Denkschemas sprengte Ockham letztlich dieses selbst: Er bot ein philosophisches Verstehensmuster dafür, dass es etwas gab - die Glaubenssätze -, das seinerseits nicht allgemein verbindlich, und das bedeutete nicht philosophisch erklärbar war. Philosophie belehrt sich hier über ihre eigenen Grenzen - freilich, wie man hinzufügen muss nicht aus sich heraus, sondern durch den externen Hinweis auf die Wahrheit des christlichen Glaubens. Eben darin lag auch der Unterschied zu allen Modellen der Harmonisierung von Vernunft und Glaube, für die auch für Ockham immer wieder der Name des Thomas von Aquin stand: Ockham behauptete gar nicht, dass der Philosoph selbst als konform mit der christlichen Lehre zu verstehen sei. Er markiert genau den Punkt, an dem er Kritik an dem unzureichenden Schema des Aristoteles übte: die Fixierung auf evidente Eigenschaften. Aber er lehnte das Schema nicht im Grundsatz ab, sondern führte es aufgrund seiner Kritik weiter. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Theologie als Wissenschaft; Ockham: mittelbare Evidenz, fides infusa

Kurzinhalt: Der entscheidende Unterschied zu den Wissenschaften im strengen Sinne ist lediglich der, dass der letzte Grund für alle Sätze der Theologie ... der eingegossene Glaube ist.

Textausschnitt: 51a Das eigentliche Ziel dieser Überlegungen, die er im Prolog seines Sentenzenkommentars vorträgt, ist nun aber nicht so sehr die philosophische Bestimmung des psychischen Ortes des Glaubens, sondern es geht Ockham um die Frage, ob die Theologie im strengen Sinne als Wissenschaft zu verstehen sei. Diese Frage ist rasch beantwortet: Nein, im strengen Sinne ist sie gewiss keine Wissenschaft für Ockham1, denn strenge Wissenschaft wäre - als das Wissen der aristotelischen Vernunfttugenden - evident2. Eben dies kann die Theologie für Ockham nicht sein, denn ihre entscheidende Wahrheitsfunktion liegt nicht im Wissen, sondern im Glauben.3

51b Man würde aber Ockham weit unterschätzen, wenn man in solchen Überlegungen den Ansatzpunkt für einen Irrationalismus sähe, der alle wissenschaftlichen Standards für die Theologie aufgäbe: Ausführlich legt Ockham dar, welche Fähigkeiten der Theologiestudent im Theologiestudium zu erlernen pflegt. Da ist zum einen eine Vermehrung seines erworbenen Glaubens, d.h., er lernt schlicht mehr über den Inhalt der christliehen Lehre. Darüber hinaus aber erwirbt er auch unzweifelhaft wissenschaftliche Habitus, und zwar sowohl solche, die er auch in anderen Wissenschaften erwerben könnte, als auch solche, die er nur in der Theologie erwerben kann.4 Der Theologe verfügt also durchaus aufgrund seines Studiums über wissenschaftliche Erkenntnisse - über den Gottesbeweis zum Beispiel wird noch zu reden sein -, und Ockham wäre völlig missverstanden, wenn man seine Unterscheidung der Theologie von den anderen Wissenschaften anhand des Evidenzkriteriums als durchgehenden Mangel der Theologie auslegen wollte. Der entscheidende Unterschied zu den Wissenschaften im strengen Sinne ist lediglich der, dass der letzte Grund für alle Sätze der Theologie - für solche, die evident sein können, ebenso wie für solche, die nicht evident sein können - der eingegossene Glaube ist. Und die ganze Bemühung Ockhams um die Einordnung dieses Glaubens in das Schema der Vernunfttugenden sollte zeigen, dass die Funktion der Theologie, aufgrund deren sie letztlich einem Satz zustimmt oder einen Satz ablehnt, in der Tat eine Wahrheitsfunktion im Sinne des christlich zu kritisierenden und zu korrigierenden Aristoteles war. (Fs)

52a Es sind aber nicht nur die einzelnen wissenschaftlichen Sätze, die der Theologie das Recht zusichern, wenigstens in einem weiten Sinne als Wissenschaft angesprochen zu werden. Die Frage, was denn den Theologen vor einfachen, unstudierten Christen auszeichne - deren Repräsentantin ist bei Ockham immer wieder die vetula, das alte Frauchen -, beantwortete Ockham zunächst noch recht vorsichtig: Der Theologe wisse vieles, was die einfachen Christen und Christinnen nicht wüssten.5 Er vermied also eine qualitative Bestimmung des Vorsprungs der Theologen. Gleichwohl legt sich eine solche nahe. Denn was die Theologie bietet ist neben den vielen Einzelsätzen eine logische Durchdringung des Wissensbestandes. Diesen Rationalitätsstandard, der alle Wissenschaften miteinander verbindet, wollte Ockham auch in der Theologie nicht missen. (Fs)

52b Angewandt auf die Überlegungen zur Evidenz, gilt geradezu, dass es in der Theologie zwar nicht in allen Sätzen die unmittelbare Evidenz von Prinzipien gibt wie in anderen Wissenschaften, aber Ockham erhob für die Theologie sehr wohl den Anspruch einer mittelbaren Evidenz6: Hat man erst einmal die Prinzipien, auf denen die Theologie gründet, so wird man hieraus logische Schlüsse zu ziehen haben, deren Qualität auch nach den Regeln der Logik bemessen werden kann. Der Theologe benutzt also kein anderes Verfahren als die anderen Wissenschaftler, und dieses Verfahren muss er akademisch erlernt haben. (Fs)

53a Er wendet die gemeinsam verbindlichen logischen Verfahren jedoch auf eine andere Art von Sätzen an. Nicht die Prinzipien, die die anderen Wissenschaften aus der Vernunft oder aus der Erfahrung schöpfen, liegen dem wissenschaftlichen Schlussverfahren in der Theologie zugrunde7, sondern autoritative Sätze, vor allem aus der Heiligen Schrift8, aber auch Verlautbarungen der Kirche und Aussagen der Heiligen9 - zwischen diesen verschiedenen Autoritäten sieht Ockham keinerlei grundsätzlichen Widerspruch aufbrechen, sondern letztlich fließen die Wahrheiten von Kirche und Heiligen aus der Heiligen Schrift selbst. Diese geistig aus der Auseinandersetzung mit dem konsequenten Aristotelismus erklärbare Betonung der Prinzipienrolle der Heiligen Schrift gewinnt ihr eigentliches Profil erst aus der Zeitgenossenschaft Ockhams zu den Streitigkeiten um den Status der Theologie an der Universität Oxford: In dem neuen Statut von 1311 war es ja gerade darum gegangen, die Reihenfolge von Sentenzenvorlesung und Bibelvorlesung in dem Sinne festzulegen, dass stets die erste Vorlesung, die ein Nachwuchstheologe zu halten hatte, die Sentenzenvorlesung sei und die Bibelvorlesung dann erst folge.10 Die Dominikaner hatten dem, wie erwähnt, entgegengehalten, dies pervertiere die Reihenfolge der Lehre - und eben diese polemische Aussage stützte Ockham, der Franziskaner, nun theoretisch. In der Tat machte sein theologisches Modell es geradezu unausweichlich, die Bibel der Sentenzenvorlesung voranzustellen, denn die nicht-pervertierte Reihenfolge einer Wissenschaft, ob im strengen oder im weiten Sinne, musste ja mit den Prinzipien beginnen und konnte die Folgerungen erst danach behandeln. Die Stellung der Bibel als Wissenschaftsprinzip musste also, institutionalisiert gedacht, zu einer Vorordnung der Bibelvorlesung vor die dogmatische führen. Ockham selbst hatte diese institutionelle Folgerung nicht gezogen, ja, der Bezug auf die aktuellen Streitigkeiten an seiner Universität erscheint mit keiner Silbe in seiner Vorlesung. Was er auf dem Katheder trieb, scheint pure Theorie, Bewältigung jener denkerischen Aufgaben, die der konsequente Aristotelismus und seine Verurteilung den nachfolgenden Generationen gestellt hatten. Doch schwer auszudenken, dass seine Hörer nicht mehr gehört hätten als diese bloße Theorie, schwer auszumalen, dass in einem mendikantischen Kontext, in dem der Alltag in der oben beschriebenen Weise von den universitätspolitischen Konflikten in Mitleidenschaft gezogen war, nicht auch mitgeklungen hätte, was Ockham, wenn er es denn nicht ausdrücklich gesagt hatte, doch zu den Inhalten des Streites hätte sagen müssen. Nur wer die scholastische Philosophie und Theologie in jenem Elfenbeinturm ansiedelt, in den Humanismus und Reformation sie zu verbannen suchten, wird Ockhams Aussagen zu theoretischen Konstrukten entkontextualisieren. Liest man sie in ihrem Kontext, so entfalten sie eine Brisanz, die auch verstehbar macht, warum es ihrem Autor später gelingen konnte, in noch viel brisanteren Kontexten deutlich und prononciert Stellung zu beziehen. Als Ockham in seiner zweiten Lebenshälfte von den politischen Umständen gedrängt wurde, sich in kirchenpolitischen Traktaten zu engagieren, war dies zwar ein neues Aufgabenfeld. Theorie aber, die praktische Auswirkungen besaß, hat er seit seinen ersten Jahren entwickelt und entfaltet. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Logik - Wissen; Definition: Empirie nicht ausreichend als Grundlage für Wissen; Gleichförmigkeitsprinzip (Art)

Kurzinhalt: Diese nicht mehr syllogistisch ableitbaren Sätze sind die Prinzipien, die in der Regel dem Verstand unmittelbar einsichtig sind.1 Wissenschaft bedeutet also, dass bekanntes Wissen erweitert wird, indem man es neu und überraschend kombiniert.

Textausschnitt: b) Das neue Bild von der Universität: die Rolle der Logik

54a Der dargelegte unmittelbare Bezug auf den inneren Aufbau des Theologiestudiums ist denn auch nicht die einzige Stelle, an der Ockhams Theorie praktische Folgerungen für das Geschehen an der Universität implizierte. (Fs)

54b Dass für Ockham letztlich die Theologie demselben Rationalitätsstandard wie die anderen Wissenschaften unterworfen ist, der Logik, verweist auf eine Betonung der Logik in theologischen Zusammenhängen, die keineswegs selbstverständlich war. Dies ist vielmehr einer der Punkte, an denen das Oxforder theologische Milieu sich nicht allein in Gestalt Wilhelms von Ockham deutlich von der Dominanz des Duns Scotus emanzipierte. Dieser hatte sich zwar, insbesondere in Zusammenhängen der Trinitätslehre, auch mit logischen Fragestellungen und Problemen befasst, aber sein eigentliches Interesse galt doch der klassischen Metaphysik. Diese Art der Fragestellungen änderte sich generell im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts in Oxford: Neben Ockham traten Gelehrte wie Richard von Campsall (+ nach 1326) und Heinrich von Harclay (ca. 1270-1317) auf, die je auf ihre Weise das Verhältnis von Logik und Theologie neu zu bestimmen suchten.1

54c Bei Ockham selbst verknüpfte sich in der Zentralstellung der Logik zweierlei: Zum einen ging es ihm um den methodischen Charakter des logischen Denkens, der generell Wissenschaftlichkeit ausmacht und definiert. Neben dieser Akzentuierung auf eine bestimmte wissenschaftliche Verfahrensweise war Ockham aber auch ein Umbau der gesamten Wissenschaftssystematik wichtig: Logik als Wissenschaft von dieser Methode aber rückte hierdurch zugleich - und das ist der eigentliche Effekt von Ockhams kritischem Denken - in eine Stellung ein, die sie zum Gegenüber sämtlicher anderer Wissenschaften machte. (Fs)

55a Zu den Merkmalen von Wissenschaftlichkeit gehörte nicht allein die Evidenz, sondern auch der syllogistische Diskurs. Die Definition des Wissens, die Ockham ziemlich weitgehend von Robert von Cowton übernahm2, der sie seinerseits in Auseinandersetzung mit Duns Scotus entwickelt hatte, lautete in vollem Wortlaut:

"Wissenschaftliche Erkenntnis ist eine evidente Erkenntnis eines Wahren und Notwendigen, die geeignet ist, durch vermittels syllogistischem Diskurs hierauf angewandte Prämissen verursacht zu werden."3

Der syllogistische Diskurs diente demnach vor allem der Vermittlung von Evidenz: Wissenschaftlichkeit entstand durch die Kombination schon zuvor evident erkannter Prämissen im Rahmen des anerkannten syllogistischen Schlussverfahrens, nach dem aus einem Obersatz und einem Untersatz eine Schlussfolgerung zu ziehen war. Das berühmteste Schulbeispiel hierfür lautet:

Sokrates ist ein Mensch
Alle Menschen sind sterblich
Also ist Sokrates sterblich

55b Als Prämissen können dabei solche Sätze angewandt werden, die ihrerseits evident sind, das heißt die entweder ihrerseits durch ein solches Verfahren aus evidenten Erkenntnissen mit Evidenz abgeleitet wurden, oder die ihrerseits aus sich heraus evident und nicht mehr ableitbar sind. Diese nicht mehr syllogistisch ableitbaren Sätze sind die Prinzipien, die in der Regel dem Verstand unmittelbar einsichtig sind.1 Wissenschaft bedeutet also, dass bekanntes Wissen erweitert wird, indem man es neu und überraschend kombiniert. Dabei wird die Ausgestaltung des Wissens immer feiner - und umgekehrt ist sie von den Verästelungen aus, die sie im einzelnen Beweis, den ein Wissenschaftler gerade durchführen mag, schon erreicht hat, hinsichtlich der Begründung ihrer Gewissheit auf ihre letzten Grundlagen zurückzuführen: die Prinzipien. (Fs)

55c Neues Wissen beruht also nach diesem Verständnis nicht auf neuer empirischer Erkenntnis. Dies hatte Ockham - im Gefolge Roberts von Cowton2 - durchaus angedacht, wenn er erklärte, es gebe Prinzipien, die aus der Erfahrung gewonnen werden3. Ockham benannte hierfür sogar eine eigene Methode, die auf der Kombination von Erfahrungen mit einzelnen Exemplaren einer Art oder einer Gattung und dem Gleichförmigkeitsprinzip beruht: Unter der Annahme, dass alle Exemplare einer Art sich gleichförmig verhalten, kann es ausreichen, eine einzige Erfahrung mit einem einzigen Exemplar einer Art zu machen und diese aufgrund des Gleichförmigkeitsprinzips auf alle Exemplare dieser Art zu verallgemeinern. So könnte dann ein allgemeiner Satz über eine Art entstehen, der als Prinzip angewandt werden könne.4 Dies ist freilich ein Gedanke, der nur am Rande des Ockham'schen Denkens auftritt: Der Pionier der Naturwissenschaft, zu dem man ihn früher stilisiert hat5, war er nicht, und die große Phase des Oxforder Merton College lag nach seinem erzwungenen Fortgang aus England. In der Regel sind Prinzipien für Ockham per se nota, das heißt, sie sind aus sich selbst heraus evident. Es handelt sich um Sätze, die dem menschlichen Verstand unmittelbar einsichtig sind und die folglich keines weiteren Beweises mehr bedürfen; dies gilt insbesondere für zahlreiche Erkenntnisse der Mathematik und der Geometrie, aber nicht nur hier. Auch definitorische Erkenntnisse über das Wesen etwa des Menschen konnten durchaus als selbstevident anerkannt sein. Solche Prinzipien sind dem Menschen im intellectus gegeben, den schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik als Prinzipienhabitus und eine der Vernunfttugenden des Menschen bestimmt hatte.6 Hier schloss Ockham sich einfach an: Die Annahme, dass der Mensch im Grunde schon etwas weiß, ehe er anfängt, wissenschaftlich zu kombinieren, blieb unhinterfragt. Empirie mag zur Ergänzung dieses Wissens beitragen - Grundlage des Wissens schlechthin wird sie nie werden. (Fs)

56a Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, liegt umso größeres Gewicht auf der Ausführung und Produktion weiterer Erkenntnis durch das syllogistische Verfahren, dessen Schwierigkeiten dem Mittelalter keineswegs unbekannt waren. Ebenso klassisch wie das positive Beispiel ist das negative Beispiel:

Sokrates ist sterblich
Alle Esel sind sterblich
Also ist Sokrates ein Esel

Solche Anwendungen weisen darauf hin, dass die bloße Kombination von zwei Sätzen, die durch einen gemeinsamen Begriff, den Mittelbegriff, verbunden sind, noch nicht ausreicht, um zu gesichertem Wissen zu gelangen. Entsprechend war es eine der Hauptaufgaben der mittelalterlichen Logiker, die verschiedenen gültigen und ungültigen Formen des syllogisti-schen Schlussverfahrens zu bestimmen. Dieser Aufgabe ist Ockham später, in seiner Summe der Logik, nachgekommen. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Wahrheit (Definition) - Sprache, Logik; Supposition, Suppositionstheorie

Kurzinhalt: "Wahrheit ist eine wahre Proposition und Falschheit ist eine falsche Proposition." ... Eine Proposition ist genau dann wahr, wenn Subjekt und Prädikat für dasselbe supponieren

Textausschnitt: 58c Damit wird aus der Zentralstellung der Logik im Wissenschaftsverständnis ein Frontalangriff auf den Aufbau der mittelalterlichen Universität mit ihrer Voranstellung des kompletten artes-Studiums. Ockham zog radikale Konsequenzen daraus, dass dieses System durch die materiale Aufnahme des aristotelischen Denkens beinahe von innen her gesprengt worden wäre, indem er eben diese materialen Bücher in ihrer Bedeutung für Wissenschaftlichkeit zugunsten der logischen Bücher marginalisierte. Wissenschaftstheoretisch denkbar wurde hier ein Wissenschaftsmodell, das auf das komplizierte Gesamtgefüge der artes-Fakultät als Grundlagenfakultät verzichtete und allein noch ein Logikstudium als unabdingbar für den Zugang zu den höheren Fakultäten erachtete. Diese radikalen Konsequenzen hat Ockham ebenso wie die möglichen Konsequenzen im Zusammenhang von Bibel- und Sentenzenvorlesung nie ausgesprochen, aber der aktuelle Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Dominikanern und Universität drängt auch hier den Bezug geradezu auf. Anlass für die Streitigkeiten war ja jenes Statut gewesen, das für Theologen generell den Magister artium vorschrieb - nach Ockhams Modell war eben dies nicht mehr nötig, sondern seine Theorie legitimierte das bisherige Vorgehen der Bettelorden, ihren Nachwuchs mit einem reduzierten artes-Studium an die Universität und die Theologische Fakultät zu schicken. Denn Logik als das entscheidende Kriterium von Wissenschaftlichkeit wurde zweifellos auch hier gelehrt. (Fs)

59a Eine solche Zentralstellung der Logik in der Wissenschaftstheorie war aber überhaupt nur deswegen möglich, weil sich für Ockham verschoben hatte, wie Wahrheit zu fassen sei: Wahrheit wurde traditionell seit Averroes und in der christlichen Scholastik seit Wilhelm von Auxerre (ca. 1140/50-1231) und Philipp dem Kanzler (ca. 1160/85-1236)1 als die adaequatio intellectus et rei verstanden, als die Angleichung des Verstandes an die erkannte Sache. Diese klassische Wahrheitsdefinition stellte das Verhältnis zwischen innermentaler und extramentaler Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Dies änderte sich im Verständnis der neu aufgekommenen Logikbewegung völlig. Für sie war Ausgangspunkt jeden Wahrheitsverständnisses der Satz, die Proposition. (Fs; tbVrw) (notabene)

59b Entsprechendes ist auch bereits für den Ockham der Oxforder Zeit vorauszusetzen, auch wenn die klassische Definition erst etwas später, in der Summe der Logik zu finden ist: "Wahrheit ist eine wahre Proposition und Falschheit ist eine falsche Proposition."2 Diese satzhafte Fassung der Wahrheit hängt unmittelbar mit der Zentralstellung der Logik in der Wissenschaftstheorie zusammen: Wenn Wahrheit nicht anders zu fassen ist denn als wahrer Satz, so kann auch entscheidendes Instrument zur Erkenntnis von Wahrheit nur dasjenige sein, das auf den Zusammenhang von Sätzen angewandt wird, eben die Logik. Alle Erkenntnis von Wahrheit wird mit einem solchen Verständnis letztlich zu einem innermentalen Geschehen, in dem Sätze auf Sätze bezogen werden. Von hier aus gewinnt der Ansatz Ockhams eine ungeheure Modernität: Das Wahre und Wissbare wird auf das dem Verstand unmittelbar Zugängliche zurückgeführt, ohne Rückgriff auf extramentale Voraussetzungen. (Fs; tbVrw) (notabene)

59c Allerdings wird man die Absetzung Ockhams vom traditionellen adaequatio-Konzept nicht überpointieren dürfen. Unverkennbar ist zwar der Wille zu einem neuen Verständnis da, aber es handelt sich hier lediglich um eine Akzentverlagerung, denn die Wahrheit eines wahren Satzes kann wiederum nicht anders definiert werden als über den Bezug auf die außermentale Realität. Hierzu dient die Suppositionstheorie, die Ockham wiederum von den neuen Logikern übernommen hat: Insbesondere Wilhelm von Sherwood (ca. 1200/10-ca. 1266/72) und Petrus Hispanus (ca. 1226-1277) hatten in ihren Logikkommentaren die Theorie von der Supposition als Erklärung des Zusammenhanges zwischen sprachlichem Zeichen und extramentaler Realität entwickelt. Mit dieser Theorie des Supponierens, also des "Stehens für etwas" wurde es ermöglicht, bei der Analyse eines Satzes genau die jeweilige semantische Funktion der einzelnen Satzteile, das heißt der Begriffe, insofern sie in einem Satz grammatikalisch anderen Begriffen zugeordnet werden, zu bestimmen, also die Frage zu klären, ob sie für ein Einzelding in der extramentalen Realität, für eine bloße Lautfolge oder für einen Allgemeinbegriff stünden. (Fs)

60a Ockham hat seine eigene Lehre zu dieser Frage erst später ausgestaltet, in der "Summa Logicae", die er in seiner Londoner Zeit ausgearbeitet haben dürfte. Da hatte er sich bereits mit dem "Tractatus de Suppositionibus", den 1302 Walter Burleigh (ca. 1275-1344/5), Lehrer am Merton College und späterer Bischof von Durham, verfasst hatte, auseinander gesetzt und schloss sich diesem weitgehend an.3 Im Sentenzenkommentar verwies er bei Detailfragen noch schlicht auf die Kollegen vom anderen Fach: "Das betrifft die Logiker."4 Dennoch arbeitete er schon als Theologe mit einer Suppositionstheorie, musste dies auch tun: Wenn denn die Theologie gerade durch die Partizipation an den Denkregeln der Logik einen mit den anderen Wissenschaften vergleichbaren Rationalitätsstandard erreichen sollte, war es unabdingbar, in theologischen Fragen immer wieder auch die Frage der Supposition anzusprechen. Indem sie der Klärung des Gebrauchs der Begriffe diente, bereitete sie ja überhaupt erst die Grundlagen, um mit einer Sache logisch, das heißt sprachlich und denkerisch korrekt umzugehen. (Fs)

60b Will man Ockhams Suppositionslehre, wie er sie vor Abfassung seiner Summe der Logik als akademischer theologischer Lehrer in Oxford gebrauchte und mehr voraussetzte als erläuterte, rekonstruieren, so ist man auf ein paar wenige Andeutungen in der reportatio verwiesen. Am deutlichsten wird er im zweiten Buch in quaestio 10, in der danach gefragt wird, ob die Zeit eine Realität außerhalb der menschlichen Seele besitze. Ockham erklärt, um seinen eigenen Sprachgebrauch zu verdeutlichen:
"Hier muss man festhalten, dass ein konkreter Begriff, sofern es sich um Akzidenzien handelt, in vier Arten von Supposition stehen kann: personal, einfach, material oder signifikativ. Anhand des Beispiels 'weiß' heißt dies: Auf die erste Weise steht [supponiert] es für ein Subjekt, auf die zweite Weise für einen Begriff, auf die dritte Weise für einen Laut, auf die vierte Weise für das, was es bedeutet. Bei den Begriffen für Substanzen allerdings sind personale und signifikative Supposition identisch, weil bei ihnen das, was sie bedeuten, dasselbe ist, was auch supponiert wird. Beispiel vom Menschen."5

61a Ockham verkomplizierte die ganze Sache nicht unerheblich dadurch, dass er die Definition der Supposition noch durch die Unterscheidung von Substanz und Akzidens differenzierte. Dennoch ist die Grundunterscheidung erkennbar: Während sich einfache und materiale Supposition auf gedankliche Akte (einfach) oder sprachliche Äußerungen (material) beziehen, also auf eine Realität, die dem mentalen Bereich zuzuordnen ist, betreffen die beiden anderen Suppositionsarten die extramentale Realität: Jeder sprachliche Ausdruck kann sich in irgendeiner Weise auf eine Substanz beziehen. Nimmt man Ockhams Beispiel "weiß", das er wohl in seiner Vorlesung ausgeführt hatte, das aber der Student, der die reportatio mitgeschrieben hatte, der Kürze halber nur angedeutet hat, so ist in dem Satz "Sokrates ist weiß" deutlich, dass auch das Prädikat "weiß" in gewisser Weise für Sokrates steht, sich mindestens auf diesen bezieht. Insofern supponiert es - personal - für das Subjekt: eben Sokrates in seiner gesamten wesentlichen Eigenschaft, seiner Substanz. Andererseits wird aber nur auf eine spezifische, veränderliche Eigenschaft des Sokrates abgehoben - eben dies meint ja "Akzidens". Insofern nun aber "weiß" sich spezifisch auf die weiße Farbe der Haut des Sokrates bezieht, bezieht es sich präzise auf seinen Bedeutungsgehalt, eben die weiße Farbe. Und damit wird es signifikativ verwendet. (Fs)

61b Die Suppositionslehre also ermöglicht es, sehr differenziert die Verwendung eines Begriffes in einem Satz zu bestimmen und so Missverständnisse zu vermeiden. Gerade wegen der hierdurch erreichbaren Präzision der eigenen Sprache kann Ockham nun auch mit ihrer Hilfe definieren, worauf die Wahrheit einer Proposition beruht: Eine Proposition ist genau dann wahr, wenn Subjekt und Prädikat für dasselbe supponieren.6 Und damit wird dann doch wieder die Frage nach der Angleichung zwischen Vernunft und Sache, wie sie die traditionelle Wahrheitsdefinition gefordert hatte, eingeholt: Auch wenn Wahrheit an sich un-ontologisch definiert wird, löst sie sich doch nicht in reine Satzhaftigkeit auf, sondern bleibt an eine außerhalb der Worte befindliche Realität rückgebunden - zumindest dann, wenn die Begriffe also in personaler oder signifikativer Supposition stehen. Was Ockham also gegenüber der traditionellen Wahrheitsdefinition änderte, ist die Annahme, Wahrheit müsse generell etwas mit res, mit realen Entitäten zu tun haben. Nach seinem Verständnis von Sprache und Vernunft wäre dies gar nicht möglich gewesen, denn eine solche Wahrheitsdefinition hätte es unmöglich gemacht, über die Wahrheit des Satzes "'Mensch' hat sechs Buchstaben" zu entscheiden. Er hat aber nicht einfach das Wahrheitsverständnis um den Realitätscharakter reduziert, sondern umgekehrt, vermittelt durch den Gedanken der Satzwahrheit, das Wahrheitsverständnis so erweitert, dass darin sowohl die Wahrheit von Sätzen über die extramentale Realität als auch von Sätzen über Bewusstseinsinhalte oder lautliche Sprache ausgedrückt werden kann. (Fs) (notabene)

1.Kommentar (16.10.09):nach Thomas kann durchaus etwas, was sich nicht auf eine res bezieht, wahr sein, etwa die Feststellung eines Nichtseienden oder ein Mangel (De Veritate).

62a Und für den Theologen konnte dies noch mehr leisten: Wenn Wahrheit so allgemein formuliert wurde, wie dies bei Ockham aufgrund seines propositionalen Wahrheitsverständnisses der Fall war, so konnte damit auch der problematische Gegenstand der Theologie erfasst werden, also jener Art von Wissenschaft, die ihren Gegenstand nicht in direkter Erkenntnis und auch nicht in einem direkten einfachen Begriff zur Verfügung hatte. Wiederum gilt, dass die Formalisierung, die Ockham in seinem sprachanalytischen Zugriff auf die Wirklichkeitserkenntnis betrieb, der Theologie keineswegs Schaden brachte, sondern ihr nützte. Was sich auf der einen Seite als eine Ent-Ontologisierung ausnimmt, ist auf der anderen Seite eine Theorie zur Sicherung theologischer Erkenntnis im Rahmen der Wissenschaften. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham: Rasiermesser; Ökonomieprinzip

Kurzinhalt: Es wird spätestens seit Leibniz in der Formulierung "Entia non sunt multiplicanda sine necessitate" ... in der philosophischen Literatur immer wieder als Diktum Ockhams zitiert. Diese Formulierung sttammt so nicht von Ockham, ...

Textausschnitt: 62b Mit den Fragen der Evidenz, des syllogistischen Schlussverfahrens und der Suppositionstheorie ist das wissenschaftliche Gerüst, mit dem Ockham zu arbeiten pflegte, einigermaßen fest umrissen. Und doch wäre eine Skizzierung der Methode von Ockhams Denken wohl unzureichend, wenn nicht wenigstens noch auf eine der berühmtesten Denkregeln Ockhams eingegangen würde: das so genannte Rasiermesser.1 Es wird spätestens seit Leibniz2 in der Formulierung "Entia non sunt multiplicanda sine necessitate" ("Das, was ist, darf ohne Not nicht vervielfacht werden") in der philosophischen Literatur immer wieder als Diktum Ockhams zitiert. Diese Formulierung stammt so nicht von Ockham, auch wenn manche seiner Formulierungen ihr sehr nahe kommen.3

63a Allerdings ist Ockhams Denken eher in einer Wendung erfasst wie: "Eine Mehrheit darf man nicht ohne Not annehmen"4 oder ähnlichem. Gemeint ist damit nicht eine Reduktion des Existierenden, sondern Ockham denkt wie stets umgekehrt: von der Sprache aus. Das Ökonomieprinzip - so der sachlich angemessenere Ausdruck für das "Rasiermesser" - ist in gewisser Weise die Kehrseite zur skizzierten Ent-Ontologisierung allen Wissens bei Ockham, insofern es der vorschnellen Ontologisierung durch sprachliche Möglichkeiten wehren soll. Instruktiv hierfür sind die Beispiele, die Ockham in seinen späteren Ausführungen in der Summe der Logik wählt. Hiernach ist ein klassischer Satz, der durch das Ökonomieprinzip betrachtet werden muss: "Etwas, was geeignet ist, ist wegen seiner Geeignetheit geeignet."5 Wie die anderen Beispiele im Kontext zeigen, ist das Anstößige an diesem Satz die Annahme, es sei nötig, die Eigenschaftsaussage "geeignet" noch durch ein Abstraktum der "Geeignetheit" zu erklären. Dies würde in der Tat die Annahmen über die Vielzahl in der Wirklichkeit in unangemessener Weise vermehren. Nicht jedem sag- und denkbaren Wort also muss eine Realität entsprechen, sondern die Realität ist einfacher erklärbar, als es der Fall wäre, wenn man jedes menschliche Wort in sie hineinprojizierte. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham - Universalien; realistische - nominalistische Position (Problem: Trinität, Erlösung für alle);

Kurzinhalt: Das Problem der Universalienlehre besagt in aller Kürze: Wie kann es sein, dass ein einziger Begriff - etwa die Artbezeichnung "Mensch" - mehrere reale Entitäten bezeichnet?

Textausschnitt: 63b Philosophie und Theologie greifen in diesen Überlegungen Ockhams - die alle im Sentenzenkommentar mindestens angelegt, häufig auch eigens ausgeführt sind - harmonisch ineinander: Was philosophisch "modern" ist, kommt Ockhams eigener, apologetisch orientierter Theologie zugute. Ob hier der Theologe zum Philosophen mutiert oder der Philosoph sich die theologische Materie kongenial aneignet, ist schwer zu entscheiden. Sicher ist nur, dass zwischen Theologie und Philosophie kein ernstlicher Zwiespalt entsteht, dass Ockham keineswegs, wie es in späteren theologischen Lehrbüchern gelegentlich heißt, Glaube und Wissen scharf auseinander treten ließ, sondern dass die Philosophie, ohne Magd der Theologie zu werden, doch die Theorien bietet und liefert, die der Theologie das Feld freigeben. (Fs)

64a Diese Verschränkung von theologischen und philosophischen Problemen ist erst den Denkern der Neuzeit unverständlich geworden. So wie die reformatorische Theologie sich von einem überstarken Gebrauch der Philosophie absetzte und damit zu einer schroffen Unterscheidung beider Erkenntnisbereiche beitrug, hat die katholische Theologie spätestens seit dem 19. Jahrhundert in der Neuscholastik eine disziplinäre Aufteilung des Denkens angestrebt und verwirklicht, die dem Ineinandergleiten der Problemhorizonte, das noch das mittelalterliche Denken geprägt hatte, nicht gerecht werden konnte. Und umgekehrt hat auch die Philosophie im Bewusstsein der Emanzipation von der Theologie den Graben zu ihrer Nachbarin eher vertieft als überbrückt. (Fs)

64b Wie eng hingegen bei Ockham noch beides beieinander liegt, zeigt ein Themenbereich, der ihn in alle philosophischen Lehrbücher hineingebracht hat und der doch erstmals im Zusammenhang einer theologischen Fragestellung, nämlich der Frage nach der Rede von Gott entworfen wurde: die Lehre von den Allgemeinbegriffen, den Universalien, worunter vornehmlich die Begriffe für Arten und Gattungen zu verstehen sind. Das Problem der Universalienlehre besagt in aller Kürze: Wie kann es sein, dass ein einziger Begriff - etwa die Artbezeichnung "Mensch" - mehrere reale Entitäten bezeichnet? Und die Antworten, die klassischerweise nach Nominalismus und Realismus ausdifferenziert werden, lauten grob gesagt: Die in dem Begriff ausgedrückte Einheit liegt in der extramentalen Realität, das heißt, alle Einzeldinge, die mit einem Begriff zusammengefasst werden, partizipieren letztlich an einem einheitlichen Sein - in dem Beispiel: an der Menschheit oder Menschennatur. Dies wäre die "realistische" Position. Oder, nominalistisch gedacht, die Einheit ist nicht, wie in diesem Falle, primär, den Einzelexistenzen voraufgehend, sondern sekundär: Sie entsteht durch eine nachträgliche Zusammenfassung unter einen Begriff, einen Namen, dessen Realität allein im Verstand ist. Das damit verbundene Problem ist bis heute aktuell, insofern es die Frage aufwirft, wie real die Gruppenbildungen eigentlich sind, die wir mit dem Verstand nachzeichnen oder der Natur vorgeben: Gibt es wirklich die "Art", die Spezies (species) Mensch - oder handelt es sich hier um eine willkürliche Grenzziehung, die auch ganz anders verlaufen könnte, um einen "Speziesismus", wie ihn der Philosoph Peter Singer diagnostiziert hat, der hieraus radikale Forderungen zum Schutz von Tieren einerseits und zur Entrechtung unheilbar kranker, nicht vernunftbegabter Säuglinge andererseits zog.1 (Fs; tblVrw f) (notabene)

64c Diese Dimension besaß die Frage innermittelalterlich natürlich noch nicht. Und doch war sie nicht ohne Brisanz. Wer zu der Meinung neigte, dass die Begriffe nur sekundär alles Existierende in Gruppen zusammenfassten, dass also die Realität letztlich nur aus Einzelentitäten bestehe, musste sich - wie etwa Roscelin von Compiegne (ca. 1050-1120/25)2 - die Frage gefallen lassen, ob denn dann überhaupt eine Trinität vorstellbar sei, ob es dann nicht einzig möglich und angemessen sei, von drei Göttern zu sprechen, da doch jedes Einzelding für sich existierte. Oder er musste die Frage klären, wie denn die in Jesus von Nazareth mit der göttlichen Natur verbundene Menschennatur zur Erlösung der Menschen beitragen könne. Wenn jeder Mensch für sich existierte, so wäre seinerzeit auch nur der Zimmermannssohn Jesus von Nazareth erlöst worden, eine Erlösung der Menschheit durch den Gott, der eben nur ein Mensch geworden wäre, wäre denkerisch gar nicht möglich.3 (Fs) (notabene)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien; univok, äquivok, analog (Thomas); Ockham: kein Nominalist im strengen Sinn (Mensch ist kein Esel);

Kurzinhalt: "Die Unmöglichkeit, dass irgendeine Entität außerhalb der Seele auf irgendeine Weise allgemein sei ..., ist ebenso groß wie die Unmöglichkeit, dass ein Mensch durch irgendeine Erwägung oder durch irgendein Sein ein Esel sei."

Textausschnitt: 65a Wenn man daher nicht von Fragestellungen der Neuzeit, sondern von solchen des Mittelalters aus auf die Texte zugeht, ist es nicht verwunderlich, dass Ockham seine vor allem philosophisch wahrgenommene Universalienlehre im Rahmen seiner theologischen Vorlesung, eben der Sentenzenvorlesung in Oxford, erstmals entfaltete; später freilich hat er sie auch in seiner Summe der Logik weiter ausgebaut. Das Problem, das Ockham zur Behandlung der "philosophischen" Universalienfrage führte, war die Frage, wie man von Gott reden könne, die vierte Frage in der zweiten Distinktion des ersten Buches des Sentenzenkommentars: "Gibt es irgendetwas, was Gott und Geschöpf gemeinsam ist und univok und unter Bezug auf das Wesen von beiden ausgesagt werden kann?"1 Diese Formulierung nahm Bezug auf die ältere Lehre von Äquivokation und Univokation, von bloß gleichlautender oder wirklich Gleiches bedeutender Rede. Das Problem hatte sich immer wieder im Blick auf Gott gestellt: Ist es möglich, Begriffe, die wir gemeinhin von den Geschöpfen gebrauchen, in eben demselben Sinne auf Gott anzuwenden? Bedeutet es wirklich dasselbe, zu sagen, Gott sei gut - oder ein menschlicher Vater sei gut? Dann läge eine Univokation vor. Oder bedeutet nicht beides trotz desselben Wortklanges ganz Unterschiedliches, so wie die "Bank" einmal eine Sitzgelegenheit im Park meinen kann und ein andermal ein Institut zur Aufbewahrung unseres Geldes? Das wäre eine Äquivokation. Und wenn dem so wäre, dann wäre eine vernünftige, zutreffende Rede von Gott nicht mehr möglich. Wenn aber umgekehrt unsere Rede von Gott univok erfolgte, bestünde womöglich die Gefahr, Gott zu verkleinern, zu vermenschlichen. (Fs)

66a Thomas von Aquin hatte dieses Problem durch die Lehre von der analogen Redeweise gelöst, nach der es uns dadurch, dass wir an dem Sein teilhaben, das Gott letztlich selbst ist, möglich ist, zwar nicht univok von Gott zu sprechen, aber doch auch nicht ganz auf äquivoke Redeweise zurückgeworfen zu sein, da zwischen unseren Begriffen und den auf Gott angewandten Begriffen ein im Einzelnen genauer zu bestimmender innerer Zusammenhang besteht - etwa vergleichbar dem analogen Gebrauch des Begriffs "gesund", der in dem Satz "Dieses Kraut ist gesund" zwar etwas anderes bedeutet als in dem Satz "Der Patient ist wieder gesund", aber gleichwohl in beiden Sätzen in semantisch stimmiger, zueinander passender Weise gebraucht wird.1 (Fs)

66b Wilhelm von Ockham war diese Lösung offenbar zu unklar. Analoge Redeweise als eigene Kategorie wies er als zu unscharf ab, subsumierte sie unter andere sprachanalytische Begriffe.2 Für die Rede von Gott blieb damit nur die Frage nach Äquivokation und Univokation. Um sich dieser Frage zu nähern, musste Ockham den Umweg über die Universalienlehre gehen: Um überhaupt zu wissen, ob wir unsere Begriffe univok oder äquivok verwenden, müssen wir zunächst wissen, in welchem Verhältnis diese Begriffe überhaupt zur Realität stehen. Es ist dieses Thema, das nun in überraschender Gründlichkeit die folgenden Seiten des Sentenzenkommentars füllt. Die Frage nach Univozität und Äquivokation wird in der eigentlich auf sie ausgerichteten Frage gar nicht wirklich beantwortet, sondern Ockham mäandert die folgenden Fragekomplexe durch das Universalienproblem hindurch, ehe er in der neunten Frage - in der heutigen großformatigen Druckausgabe fast zweihundert Seiten später - neu ansetzt: "Ich frage, ob irgend etwas Allgemeines für Gott und Geschöpf univok sei."3 Schon dieser lange Umweg zeigt, wie sich das Problem gewissermaßen unter der Hand verselbstständigte. Gerade dies erlaubt es hier, dem jungen Theologen Wilhelm aus Ockham über die Schulter zu blicken. Der Duktus des Textes lässt erahnen, dass Ockham sich während der Vorbereitung auf seine erste große Vorlesung an einen Punkt gekommen sah, an dem er aus philosophischen Gründen weiter würde ausholen müssen, als er zunächst wohl beabsichtigt hatte. Die Gliederung bricht geradezu aus den Fugen - und die eigentliche Frage nach Äquivokation und Univokation wird fast verdrängt durch die gewichtigere Frage nach dem Status der Universalien. Sie hat dieses Gewicht, weil Ockham den Eindruck gewinnt, hier an eine Stelle gelangt zu sein, an der er von der Überzeugung aller anderen, von der opinio communis, abweicht. In einer Zeit, in der Originalität nicht als wissenschaftliches Kriterium eingeführt oder anerkannt war, war diese Behauptung und Feststellung ungeheuerlich: Ockham, ein Einzelner, noch am Anfang seiner akademischen Karriere, ein Theologe, aller Wahrscheinlichkeit nach als Absolvent lediglich eines Ordensstudiums ohne bedeutende philosophische Ausbildung, kam zu einer neuen Einsicht, wandte sich gegen den Rest der akademischen Gelehrsamkeit. (Fs)

67a Nimmt man all dies zusammen - den Bruch aus der Gliederung des Textes, das Ausweichen von der eigentlichen Frage zu einer anderen, schließlich die Einsicht, von der opinio communis abzuweichen -, so wird deutlich: In der intellektuellen Biografie Ockhams befinden wir uns hier - unabhängig von dem philosophischen oder theologischen Sachgehalt, den man heute seinen Aussagen zumessen mag - an einer entscheidenden Wende. Zum ersten Mal artikulierte Ockham sich nicht in dem Bewusstsein, vorgängige Schultraditionen - die eines Duns Scotus, die der modernen Logiker - nur behutsam weiterzuführen, zum ersten Mal diskutierte er nicht nur Einzelpositionen, sondern er exponierte sich als Einzelner gegen alle anderen. (Fs)

67b Sowenig "Ego-Dokumente" ein Licht auf diesen Vorgang fallen lassen, ist er mit Durchbruchserlebnissen, wie sie topisch in der Theologiegeschichte immer wieder - bis hin zu Luther - geschildert werden, vergleichbar. Ja, der Vorgang ist vielleicht viel mehr als die Berichte Augustins oder Luthers als Durchbruch und Wende ernst zu nehmen4, weil Ockham hier gerade nicht biografisch-autobiografisch stilisiert und dazu aufgrund des literarischen Genres, das allein Zeugnis hierfür bildet, auch gar nicht in der Lage ist. Ohnehin bewegt sich der Inhalt auf einer anderen Ebene als bei den großen Zeugnissen christlicher Frömmigkeit. Was hier stattfindet, ist keine Bekehrung zum wahren Christentum, zur biblischen Reinheit oder dergleichen, es ist ebenso wenig eine philosophische Bekehrung. Aber es ist der Weg zur Autonomie des Denkens im Gegenüber zu allen maßgeblichen Autoritäten. (Fs)

67c Zentral ist für diesen Zusammenhang die siebte Frage: "Ist das, was allgemein und insgemein univok ist, irgendetwas hinsichtlich seiner Realität real außerhalb der Seele?"5 Und die allgemeine Meinung hierzu lautet nach Ockham:

"In der abschließenden Beantwortung dieser Frage stimmen alle, die ich eingesehen habe, überein, insofern sie sagen, dass die Natur, die auf irgendeine Weise allgemein ist - wenigstens der Möglichkeit nach und unvollständig -, real im Einzelding ist."6
68a Dem setzt der junge Gelehrte eine klare Position entgegen: "Daher sage ich zu der Frage, dass keine Entität außerhalb der Seele ... allgemein ist."7 Und er setzt noch nach:
"Die Unmöglichkeit, dass irgendeine Entität außerhalb der Seele auf irgendeine Weise allgemein sei ..., ist ebenso groß wie die Unmöglichkeit, dass ein Mensch durch irgendeine Erwägung oder durch irgendein Sein ein Esel sei."8

68b Die Pointe sitzt - und ist doch bis heute oft nur halb wahrgenommen worden: Die aus Handbüchern nicht herauszubekommende Identifikation von Ockham als "Nominalist" - die beileibe nicht mehr immer jenen negativen Beigeschmack haben muss wie in älteren katholischen Darstellungen - stützt sich allein auf die eine Seite dieser Aussage: dass Universalien eben keine Realität außerhalb des menschlichen Verstandes haben. Sie übersieht dabei nicht nur, dass der Terminus nomen bei Ockham sehr differenziert gebraucht wird, indem er zwischen den willkürlich eingesetzten Benennungen und den weit weniger willkürlichen Begriffen des Verstandes unterscheidet9, so dass, insofern es Ockham bei seiner Universalienlehre stets um letztere, die conceptus, geht, am präzisesten von Konzeptualismus zu reden wäre. (Fs) (notabene)

68c Wichtiger ist, dass Ockhams Sprachtheorie jedenfalls nicht so zu verstehen ist, als entbehrten die Allgemeinbegriffe jeglicher Grundlage in der Realität, als seien sie rein denkerische Konstrukte. So viel ist zwar deutlich: Ockham weigert sich, mit der opinio communis anzuerkennen, dass das Allgemeine irgendwie naturhaft in den Einzeldingen sei, er bestreitet sogar die äußerst subtile Form der Universalienlehre, die Duns Scotus vorgetragen hatte, indem er das Zugleich von Identität und Nichtidentität zwischen Allgemeinem und Einzelnem durch die distinctio formalis hatte erklären wollen. Danach sollte die allgemeine Natur zwar nicht ein von den Einzelentitäten getrenntes Ding für sich, eine einzelne res, sein, aber doch auch nicht identisch mit den individuellen Entitäten, sondern von diesen in einer - nicht präzise bestimmten - formalen Weise abgehoben, wobei sich die späteren Auseinandersetzungen eben an der Frage entzündeten, ob diese Abhebung rein denkerisch oder real zu verstehen sei. (Fs)

69a Aber bei allem Eifer der Neuheit setzt Ockham doch ganz selbstverständlich - und von seinen modernen Interpreten nur selten bemerkt - eine höchst traditionelle Annahme voraus, die deutlich macht, dass Allgemeinbegriffe, auch wenn sie nicht für sich außerhalb des Verstandes existieren, doch die extramentale Realität angemessen erfassen, dass ihnen also in der Wirklichkeit etwas entspricht - nur eben nicht ein Einzelding, sondern eine der Welt eigene Ordnungsstruktur. Die Pointe, die wenig beachtete andere Hälfte des oben zitierten Satzes zeigt, dass er sich dessen durchaus bewusst ist: Unmöglich ist ja auch, "dass ein Mensch durch irgendeine Erwägung oder durch irgendein Sein ein Esel sei". Eben dieses Beispiel sollte das Gewicht deutlich machen, mit dem er die extramentale Existenz von Universalien bestreitet. Was er dabei aber als Beispiel verwendet, ist eines, das mit Allgemeinbegriffen hantiert und aus ihnen ontologische Ableitungen vornimmt: Es ist eben nicht möglich, dass etwas, was unter den einen Allgemeinbegriff fällt - "Mensch" - durch irgendwelche Umstände plötzlich unter einen anderen Allgemeinbegriff fiele: Die Grenzen zwischen den Arten sind fest - trotz Ockhams betont als neu eingeführter Universalienlehre. (Fs) (notabene)

69b Diese Aussage verdankt sich nicht nur der möglichen Vorliebe für eine billige Pointe. Auch sonst erscheinen entsprechende Aussagen bei Ockham: In der 44. Distinktion des ersten Sentenzenbuches lotet er unter der Fragestellung, ob Gott eine bessere Welt als die jetzt existierende machen könne, wie oft auch an anderen Stellen die Möglichkeiten Gottes aus und kommt zu dem Ergebnis, Gott könne einen solchen Menschen erschaffen, für den Sündigen einen Selbstwiderspruch darstellte - also offenkundig einen anderen Menschen als den jetzt real existierenden. Und eben daran hält Ockham nun auch im Blick auf die Verwendung von Allgemeinbegriffen fest. Hier würde es sich real um eine andere Art Mensch handeln als die gegenwärtig existierende.1 Wenn aber nicht einmal Gott einfach die jetzt vorhandene Art "Mensch" ändern, sondern ihr nur eine andere Art "Mensch" an die Seite stellen kann, bedeutet dies: Selbst Gott bleibt in seinem schöpferischen Handeln an die Artenordnung gebunden, die Arten als der klassische Fall der Verwendung von Allgemeinbegriffen haben also mitnichten eine bloß sprachlich-begriffliche Festigkeit, sondern auch eine ontologische. Wenig zuvor, in der zweiten Frage der 43. Distinktion, erscheint denn auch das schon bekannte Beispiel von Mensch und Esel, wenn Ockham erklärt: "Der Mensch ist aus sich heraus ein Nicht-Esel."2 Dieser Satz dient als Beispiel für solche Eigenschaften, die so mit ihren Subjekten zusammenhängen, dass sie zwar im Blick darauf, ob sie aktuell und real existieren, von Gott abhängen, nicht aber im Blick darauf, ob sie überhaupt mit dem Subjekt zusammengehören, dem man sie zuordnet. Es gibt demnach ein gewisses Set von Eigenschaften, das dem Menschen, wenn es ihn denn überhaupt gibt, zukommt, eben weil er Mensch ist, ohne das mithin kein Mensch Mensch sein könnte. Dazu gehört die Fähigkeit zu sündigen. Und dazu gehört die Eigenschaft, kein Esel zu sein. Den Zusammenhang dieser Eigenschaft mit dem Wesen, das als "Mensch" bezeichnet wird, kann Gott nicht ändern. Das bedeutet: Gott kann zwar je neue Arten schaffen, aber er kann nicht ändern, welche Eigenschaften eine solche Art jeweils ausmachen. Die Arten-Ordnung als System von Unterscheidungen und Gleichheiten insgesamt ist hinsichtlich ihrer Beschaffenheit selbst Gottes Zugriff entzogen - und damit natürlich erst recht dem Zugriff des denkenden Verstandes.3 Für das begriffliche System, das wir zur Beschreibung der Welt verwenden, bedeutet dies aber: Es ist alles andere als willkürlich und damit unsicher, wie es die gängige Chiffre von Ockhams Nominalismus voraussetzt. Es beschreibt die Welt vielmehr zutreffend und genau. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien; Ockham: ontologische Grundlage, Ähnlichkeit der Substanzen; ens: univok für Gott und die Kreaturen

Kurzinhalt: ... vielmehr versteht er das Ordnungsnetz der Universalien als Nachvollzug essentieller Ordnungsstrukturen1 in der Realität, die real sind, ohne deswegen eine eigenständige extramentale Realität besitzen zu müssen.

Textausschnitt: 70a Man mag in solchen Äußerungen Relikte eines eigentlich schon überwundenen Denkens sehen - aber selbst wenn sie nur das wären, zeigen sie doch, dass Ockhams Neuerungsanspruch gerade nicht in einer simplen Wiederbelebung des Nominalismus eines Roscelin lag, sondern schlicht in der sprachlichen Reformulierung bislang ontologisch ausgerichteter Aussagen. Das entspricht seinem Wissenschaftsverständnis und seinem Ökonomieprinzip - es bedeutet aber nicht den Abschied von jeglicher Ontologie. (Fs)

70b Wie wenig dies der Fall ist - und wie wenig Ockham damit als Vorläufer für entsprechende philosophische Konzeptionen in Anspruch genommen werden kann - zeigt die Tatsache, dass er für den unabänderbaren Charakter der durch die Allgemeinbegriffe beschriebenen Gruppenbildungen innerhalb der Schöpfung auch eine ontologische Grundlage benannt hat.1 Sie liegt, simpel genug, in der Ähnlichkeit der Substanzen untereinander.2 Dieser scheinbar einfache Gedankengang ist in seinem Gewicht wiederum nur dann verstehbar, wenn man ihn mit radikalisierenden Deutungen Ockhams konfrontiert, nach denen die Bildung von Allgemeinbegriffen dem autonomen Verstand des Menschen zu verdanken ist. Zwar ist der Verstand an diesem Prozess nicht unbeteiligt - aber er vollzieht doch nur nach, was er in der extramentalen Realität vorfindet. Anders ausgedrückt: Der Verstand findet eben nicht nur lauter verstreute, ungeordnete Einzeldinge vor, die er nachträglich ordnet, sondern er trifft auf eine Ordnung in der Welt, die er produktiv nachvollzieht. Denn die Ähnlichkeit der Substanzen ist nach Ockham ausdrücklich dem Erkennen vorgegeben3, ja, Ockham kann sie gar als ein reales Verhältnis, eine relatio realis bezeichnen.4 Dann aber ist die Ordnungsstruktur der Dinge insgesamt als Realität dem Denken und Sprechen vorgegeben. (Fs)

71a Mit diesem Modell löst Ockham einerseits das logische Problem des Universalienrealismus, wie etwas zugleich eines sein und doch in vielen real existieren solle, bestreitet aber andererseits in keiner Weise jegliche ontisch-reale Grundlage der Universalbegriffe, vielmehr versteht er das Ordnungsnetz der Universalien als Nachvollzug essentieller Ordnungsstrukturen1 in der Realität, die real sind, ohne deswegen eine eigenständige extramentale Realität besitzen zu müssen. (Fs)

71b Was hat dieser lange Exkurs für die Theologie geleistet? Es ist auf diese Weise nach Ockham möglich, über Gott zu reden - obwohl der Mensch, solange er als irdischer Mensch im Pilgerstand lebt, keine unmittelbare Erkenntnis von Gott hat.1 Das, was der Mensch von Gott weiß - und Ockham bezweifelt nicht, dass der Mensch, auch der nichtgläubige Mensch Kenntnisse von Gott hat -, weiß er im Medium von etwas anderem als Gott selbst2, nämlich im Begriff3. (Fs)

71c Das damit für die Rede von Gott gegebene Problem aber wird in Ockhams konzeptualistischem Ansatz geringer, als es in einem streng realistischen Ansatz gewesen wäre. Da generell auch unsere Allgemeinbegriffe nicht mehr sind als eben Begriffe, denen zwar Reales zugrunde liegt, aber nicht je eine Realität, unterscheidet sich die Erkenntnis Gottes, wenn sie nur im Begriff erfolgen kann, nur graduell von anderen Formen der Erkenntnis, die ihrerseits nicht minder auf das rein Begriffliche angewiesen sind. Die Frage, die sich dann stellt, ist letztlich nicht mehr die nach einem grundsätzlich anderen Charakter der Gotteserkenntnis gegenüber allen anderen Erkenntnissen, sondern die Frage, wie eine korrekte Supposition auch für das durch den Gottesbegriff gemeinte Wesen zustande kommen kann. Und die Brücke, die nun diese Gotteserkenntnis mit anderen Erkenntnissen verbindet, ist das, was das Ergebnis seines langen Exkurses zu den Universalien gewesen war: dass nämlich der Begriff ens, Seiendes, univok für Gott und die Kreaturen anwendbar ist.1 Allerdings betont Ockham in diesem Zusammenhang, dass er einen weiten Univozitätsbegriff gebrauche, der keine reale Identität und auch keine perfekte Ähnlichkeit zwischen Gott und Kreatur impliziere.2 Er bleibt bei einer streng begrifflichen Fassung der Univozität. Über diese ohnehin schon vorsichtige Formulierung aus der quaestio nona der zweiten Distinktion des ersten Sentenzenbuches geht er im dritten Buch in der zehnten Frage noch hinaus, wenn er hinsichtlich des univoken Gebrauchs von Begriffen nicht nur vollkommene Ähnlichkeit, sondern jegliche Ähnlichkeit zwischen Kreatur und Gott bestreitet.3 (Fs)

72a Und auch der Begriff, den der Mensch dann für Gott verwenden kann, hat seine Besonderheiten. Da Gott selbst nicht erkannt wird, kann man für ihn keinen einfachen Eigenbegriff haben1, also einen präzisen Begriff, der nur Gott und nichts als Gott bezeichnet - als solcher ist auch das bloße Wort "Gott" oder "Deus" nicht zu verstehen. Die Erkenntnis Gottes erfolgt vielmehr zunächst nur in univoken Allgemeinbegriffen.2 Und wenn nun viele Allgemeinbegriffe denselben Gegenstand benennen, ergeben sie alle zusammen einen diesem Gegenstand eigenen Begriff.3 Allein auf diese Weise gibt es für Gott einen uns möglichen Eigenbegriff4, der entsprechend als zusammengesetzter Begriff, als conceptus compositus, anzusprechen ist5. Er erfasst das göttliche Wesen nicht unmittelbar, sondern umschreibt es.6

72b Diese konzeptuelle Gotteserkenntnis ist so defizitär, dass Ockham sie mit der Erkenntnis einer Farbe durch einen Blinden vergleichen kann7 - und doch verbindet sie nicht nur die allgemein-menschlichen Möglichkeiten der Rede von Gott mit anderen Erkenntnisformen, sondern sie bildet auch die Grundlage für die Möglichkeit von Metaphysik. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockam - Gottesbeweis; Kritik an Thomas' regressus in infinitum; Beweis: Erhaltungsursache

Kurzinhalt: Das Problem also, das Ockham benennt, ist die schlichte Tatsache, dass eine Ursache, nachdem sie etwas anderes oder jemand anderen verursacht hat, auch wieder vergehen kann. Das Beispiel der Menschheitsgeschichte ist hier schlagend ...

Textausschnitt: a) Der Beweis Gottes

73a Lange Zeit galt Ockham als ein Theologe, der auf jeglichen Gottesbeweis verzichtet, ja seine Möglichkeit insgesamt bestritten habe. Wäre dem so, wäre mit Ockham in der Tat eine fundamentale Wende der scholastischen Theologie erreicht, die ihren ersten Höhepunkt gerade in dem Gottesbeweis im Proslogion Anselms von Canterbury (ca. 1033/4-1109)1 erklommen hatte. Dessen Tradition hatte insbesondere Thomas von Aquin durch seine Darlegung eines fünffachen Beweises für die Existenz Gottes fortgeführt und aristotelisch reformuliert. Während allerdings Anselm in einem genialen, bis heute philosophisch nicht ohne weiteres zu den Akten gelegten Gedankenfortschritt vom reinen Denken durch Übersteigerung dieses Denkens zur extramentalen Existenz gelangt war, hatte Thomas die Gottesbeweise weitgehend formalisiert und in aristotelischem Sinne standardisiert. Grundlage der meisten Gottesbeweise bei Thomas war der Gedanke eines ausgeschlossenen regressus in infinitum, also der Unmöglichkeit, eine Kette von Zusammenhängen bis ins Unendliche anfangslos zurückzuverfolgen. Er baute damit auf dem paradigmatischen Beweis des Aristoteles für die Existenz Gottes als des unbewegten Bewegers auf. Kennzeichnend geht Thomas hier wie auch in anderen Gottesbeweisen von einer simplen Erfahrungstatsache aus: "Es ist eine sichere, durch das Zeugnis der Sinne zuverlässig verbürgte Tatsache, dass sich etwas in der Welt bewegt."2 Bewegung aber braucht, so argumentiert Thomas weiter, einen Anstoß von außen, denn es bedeutet, dass etwas aus der bloßen Möglichkeit (sich zu bewegen) in die Wirklichkeit (dass es sich bewegt) überführt wird und sich etwas bloß Mögliches nicht aus sich heraus realisieren kann. Und eben hier hat Thomas nun den Ansatzpunkt für den erwähnten regressus in infinitum. Es ist die Kette der von außen Anstoß gebenden Größen, die er zurückverfolgt und in deren Verlauf er dann irgendwann zu dem Punkt kommt, an dem er feststellen muss, man könne nicht ins Unendliche so fortfahren, sondern man müsse ein Etwas, ein Wesen annehmen, das seinerseits nicht bewegt wird und dennoch anderes bewegt: den unbewegten Beweger, Zentralbegriff der aristotelischen Metaphysik. (Fs)

73b Ockham hat die Schwäche dieser Argumentation präzise erkannt, freilich an einem anderen der fünf Wege durchgeführt: dem im Prinzip parallel verlaufenden Beweis vermittels der Wirkursache, der nichts anderes besagt, als dass jedes Ding von etwas anderem verursacht wird, dass diese Verursachungskette aber nicht ins Unendliche fortgehen könne, weswegen die erste Ursache selbst nicht verursacht sein könne - und hierbei handle es sich um Gott. Seine Position hierzu hat Ockham wiederum mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein formuliert: In der 10. quaestio der zweiten Distinktion des ersten Sentenzenbuches, also in unmittelbarem Anschluss an die Behandlung der Universalienfrage, erkennt er gönnerhaft an, dass dieser Beweis Gottes vermittels der Wirkursache "ausreichend" sei und im Übrigen die "Auffassung sozusagen aller Philosophen" darstelle3 - um wenig später dagegenzuhalten:

"Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, gegen die Philosophen zu beweisen, dass eine Kette von Ursachen derselben Art, deren eine ohne die andere existieren kann, nicht bis ins Unendliche fortgesetzt werden könne. Sie haben ja auch angenommen, dass es bis ins Unendliche vor [jedem] Menschen, der sich fortpflanzte, einen [anderen] Menschen gegeben habe, der sich ebenfalls fortgepflanzt habe. Nicht weniger schwer ist es, mit dem Gedanken der Hervorbringung zu beweisen, dass ein Mensch von einem anderen [Menschen] nicht in der Art einer Totalursache hervorgebracht werden könne. Wenn nun diese zwei Überlegungen richtig sein sollten, wäre es schwer, zu beweisen, dass diese Kette ins Unendliche nur dann Bestand haben könnte, wenn es eines gebe, das immer bliebe und von dem diese gesamte Unendlichkeit abhinge."4

74a Das Problem also, das Ockham benennt, ist die schlichte Tatsache, dass eine Ursache, nachdem sie etwas anderes oder jemand anderen verursacht hat, auch wieder vergehen kann. Das Beispiel der Menschheitsgeschichte ist hier schlagend - und der Beweis für Gottes fortdauernde Existenz mithin so nicht zu führen. (Fs) (notabene)

1.Kommentar (20.10.09): Das ist die Folge eines Denkens, dass Thomas's Unterscheidung einer realen Distinktion zwischen Form und Seinsakt nicht mehr nachzuvollziehen vermag. Die Ursachen eines Thomas reißt deshalb nicht ab, weil eben alles endlich Seiende am Sein partizipiert und von ihm erhalten wird. Interessant, dass Ockham als Ausweg als Beweis den einer Erhaltungsursächlichkeit einführt.

74b Daher wählt Ockham nun einen anderen Weg: den der Erhaltungsursache. Der Denkvorgang als solcher bleibt ganz ihm Rahmen der thomasischen Beweise, nur dass eben die inhaltliche Bestimmung etwas verschoben ist. Es geht nun nicht mehr um das Hervorbringen eines anderen, sondern der Weg zurück blickt darauf, dass alles, was existiert, in irgendeiner Weise von etwas oder jemandem anderen erhalten werden muss - wieder geht der Weg weiter und wird wegen des Ausschlusses eines Fortganges ins Unendliche schließlich auf Gott gegründet.5 Vielleicht lässt sich an diesem Beweis noch stärker als bei allen thomasischen Beweisen die von vornherein auf das Ziel ausgerichtete Konstruktion erkennen, da die Erhaltungsursächlichkeit weit weniger selbstverständlich in das philosophische Denken integriert ist, als dies bei der Wirkursache der Fall ist. (Fs)

75a Schwerer aber wiegt, dass Ockham, indem er diesen Gottesbeweis als haltbar vertritt, auch merkliche Inkonsistenzen in Kauf nimmt. Denn was dieser Beweis nicht klärt, ist die erkenntnistheoretisch doch unvermeidliche Frage, wie denn nun der Mensch, der über nicht mehr verfügt als über eine zusammengesetzt-begriffliche Erkenntnis Gottes, durch einen solchen Beweis zu einer wirklichen, evidenten Erkenntnis von Gottes Existenz gelangen sollte. Nach Ockhams Evidenzlehre kann dies eigentlich nicht der Fall sein, da eine solche Evidenz die unmittelbare Erkenntnis der im Beweis verwendeten Satzteile voraussetzen würde. Eben diese Erkenntnis aber kann für Gott nicht auf dem Wege über die Kreaturen erlangt werden. Und so hat Ockham denn auch an einer anderen Stelle seines Sentenzenkommentars ausdrücklich erklärt, dass ein Beweis Gottes nur demjenigen möglich sei, der Gott abstraktiv oder intuitiv - also auf irgendeine Weise unmittelbar - erkenne.6 Wenn dem so ist, bleibt die Anstrengung vermittels der Erhaltungsursächlichkeit eine interessante intellektuelle Fingerübung - doch ein Beweis im strengen Sinne kann sie innerhalb des Ockham'schen Denkens nicht sein. (Fs)

75b An solchen Inkonsistenzen aber kann man vielleicht mehr über einen Denker erfahren als an systematisch geglätteten Überlegungen, die das Individuum hinter dem Apparat methodisch ausgefeilter Logik verschwinden lassen. Gerade die Inkonsistenz ist ja eine Einbruchstelle für individuelle Akzentsetzungen, Verschiebungen, warum nicht: Fehler. Wichtig sind sie wegen der in ihnen zu Worte kommenden Individualität. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockam - Gottesbeweis 2; Anselm; Unmöglichkeit eines Gottesbeweises im Denksystem Ockhams

Kurzinhalt: Der Ort für einen Gottesbeweis, darin haben die späteren Deuter und vor allem Kritiker Ockhams durchaus Recht, existiert in seinem System nicht.

Textausschnitt: 76b Freilich spricht manches dafür, dass Ockham später den unbefriedigenden Charakter seiner Argumentation gesehen hat, denn später, als er in Avignon Muße hatte, sich in seinen "Quodlibeta" Problemen zu stellen, die sich ihm von außen oder innen aufgedrängt hatten, kam er wieder auf die Frage des Gottesbeweises zurück, und zwar an erster Stelle. Die erste Frage des ersten "Quodlibets"1 hatte dasselbe Thema wie I Sent d. 2 q. 10: die Frage, ob Gott einer sei. Und hier wie dort ging Ockham den Umweg über die Frage, ob die Existenz Gottes beweisbar sei. In der "Quodlibet"-Frage verwies er den Leser auch ausdrücklich auf seine früheren Ausführungen: "Ziehe die Antwort darauf im ersten Buch, in der zweiten Distinktion, in der Frage von der Einheit Gottes zu Rate."2 Dennoch ist die Antwort, die er nun findet, eine andere als seinerzeit im Sentenzenkommentar:
"Man muss gleichwohl wissen, dass man beweisen kann, dass Gott existiert, wenn man 'Gott' auf die zweite zuvor genannte Weise versteht [nämlich als etwas, demgegenüber es nichts Besseres und Vollkommeneres gibt]. Denn sonst läge ein Voranschreiten bis ins Unendliche vor, wenn es unter den Seienden nichts gäbe, dem gegenüber es nichts Vorangehendes oder Vollkommeneres gäbe."3

77a Dies ist eine Rückkehr zu den verflachten Formen des Anselm'schen Gottesbeweises, wie sie sich in der mittelalterlichen Literatur etabliert hatten. Diese missverstehende Verflachung begegnet schon bei Anselms Gegner Gaunilo (+ 1083)4: Das ursprüngliche Anselm'sche Argument, dessen Leistungskraft gerade an der Formulierung "über das hinaus nichts gedacht werden kann" hing, an dem Einsatz bei einem rein denkerischen Phänomen, wurde ontologisiert - und ausgerechnet Ockham hat bei dieser Ontologisierung mitgemacht. (Fs)

77b Doch er bleibt nicht zufrieden: Im 2. "Quodlibet" kommt er noch einmal auf die Frage des Gottesbeweises zurück, fragt, ob der natürliche Verstand beweisen könne, dass Gott die Ursache aller Dinge sei5 - und verneint dies höchst differenziert: Dass es eine erste Wirkursache gibt, ist nach ihm nicht zu bestreiten - nur die Tatsache, dass dies nur eine sei, wie es für die Gleichsetzung mit dem einen Gott nötig wäre, verneint er ausdrücklich.6 Das Thema also, es bleibt - auf Jahre hinaus. (Fs)

77c Zumindest das mit der Frage nach dem Gottesbeweis gestellte Problem war für Ockham ein echtes, und er hielt es mit der Antwort, die er im Sentenzenkommentar gegeben hatte, nicht für gelöst. In der Tat war diese Antwort im Rahmen seines Systems unzureichend, ebenso wie die Antworten, die er später gegeben hat. Der Ort für einen Gottesbeweis, darin haben die späteren Deuter und vor allem Kritiker Ockhams durchaus Recht, existiert in seinem System nicht. (Fs)

77d Umso bezeichnender, dass er sich wiederholt hierum bemüht hat, dass er immer wieder Anläufe, eigenständig oder, wie in Quodl. I q. 1, in Abhängigkeit von den Vorgängern, macht, einen Gottesbeweis zu entwerfen. Das zeigt zumindest eines: Wenn man denn Ockham als einen Zertrümmerer jeglicher Metaphysik, jeglicher philosophischer Gotteslehre betrachten will, und die Tatsache, dass ein Metaphysikkommentar von seiner Hand nicht vorliegt, gibt diesem Bild ja Nahrung, so kann dies vielleicht die Wirkungen seines Denkens beschreiben - seine subjektive Intention ist damit gerade nicht getroffen. Bis an die Grenze der gerade noch aushaltbaren Selbstwidersprüchlichkeit hat er sich bemüht, einen Weg zu einem Gottesbeweis zu finden. Er hat ihn konstruiert, systematisch eingeholt hat er ihn nicht. (Fs)


78a Zurück zu dem Ockham des Sentenzenkommentars. Die Freude über die Neuentdeckung, gegen beinahe alle Philosophen, sie war letztlich die Freude eines Mannes, der Altbekanntes nicht widerlegt, sondern nur auf eine neue Weise bewiesen hatte. So wie die Universalienlehre nichts anderes ist als eine Reformulierung klassischer Positionen, erscheint auch am Horizont der philosophischen Gotteslehre eine letztlich affirmative, traditionelle Position, die mit dem Gestus des Neuen über die eigenen denkerischen Probleme hinwegspielte. Der Ockham des Sentenzenkommentars ist weit weniger ein Neuerer, als seine späteren Deuter - und er selbst - es wahrhaben wollten. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham: Logik - Trinität; Unzulänglichkeit der Suppositionstheorie; logische Gesetzte -> reine Denkgesetze, keine Gründung im Sein

Kurzinhalt: Die logischen Denkregeln gelten als Seinsregeln nur für die Welt der Geschöpfe, aber nicht für das Sein an sich. Das Sein an sich ist mithin, kenntlich an Gott selbst, größer und weiter als das dem denkenden Verstand zugängliche.

Textausschnitt: b) Logik und Trinität

78b Den schwierigsten Testfall für das Verhältnis von Theologie und Philosophie stellte zweifellos die Trinitätslehre dar. Dass diese ein logisches Problem enthält, ist nicht allein ihren außerchristlichen Kritikern aufgefallen, sondern wurde auch innerhalb der selbstverständlich christlichen mittelalterlichen Theologie gesehen. Bereits Duns Scotus hatte sich bemüht, das Problem aufzufangen1, das sich für einen logisch denkenden Theologen stellte, wenn er etwa folgenden Fehlschluss ansah, der scheinbar die reine und akzeptierte Form eines Syllogismus aufwies:

Dieser Gott ist der Vater
Der Sohn ist dieser Gott
Der Sohn ist der Vater

1.Kommentar (20.10.09): Cf. Lonergan, Systematics /home/roland/arbeit/Phsophie/Lonergan/Systematics.odt#LBTS_265b :
Therefore it is illegitimate in a syllogism to argue from what is notional to what is notional using what is essential as the middle term.

265b The reason for this is that syllogisms are based upon the principles of identity and noncontradiction; these principles regard the same in every respect, that is to say, what is the same both really and conceptually. But the notional and the essential, although really the same, are not the same conceptually. Hence to use what is essential as a middle term between notional extremes very easily leads to fallacious conclusions. (Fs)

265c Here is an example. The Son is God; God generates; the one who generates is the Father; the one who is the Father is not the Son; therefore the Son is not the Son. The contradiction arises from the fact that between the notional extremes, both of which are 'Son,' an essential middle term, 'God,' is introduced, so that in different premises there is signified not what is the same in every respect, but the same in different respects. For it is the same God in reality who is both the Father and the Son; but it is in one respect that one premise states that the Son is God and in another respect that the other premise states that God generates or is the Father. (Fs)

Der Schluss war offenkundiger Unsinn, musste es auch sein, weil eben die Trinität als Dreiheit in einer Einheit eine Art von Sein voraussetzte, das mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, dem Zentralsatz der Logik, kaum zu erfassen war. (Fs)

78c Aufgrund seiner logischen Schulung musste Ockham auch die Frage, die der Lombarde in der vierten Distinktion des Ersten Buches stellte, ob man zugeben müsse, dass Gott sich selbst hervorgebracht habe2, mit logisch geschärftem Verstand lesen. Das dahinter stehende theologische Problem war, dass Jesus Christus in der christlichen Theologie zugleich als Gott und als vom Vater gezeugt gedacht wird. Wie sehr Ockham dieses theologische Problem als logisches reformulierte, zeigt sich schon an einer geringfügigen sprachlichen Umformulierung der Frage des Lombarden. Ockham fragte nämlich nun in der ersten quaestio zu derselben Distinktion, "ob Gott Gott hervorgebracht hat"3. Die Auflösung der Präposition machte die logische Problematik noch deutlicher und Ockham hat diese Frage genutzt, um seine Suppositionstheorie zu erläutern und dann zu dem Schluss zu kommen, dass bei klarer suppositionstheoretischer Analyse der Satz "Gott hat Gott hervorgebracht" durchaus zuzugestehen sei.4 Nur: Er muss logisch ebenso zugestehen, dass der Satz "Gott hat nicht Gott hervorgebracht" gleichfalls logisch zutreffend ist, wenn in ihm das Subjekt nicht für den Vater, sondern für den Sohn supponiert - diesen Satz will er in einer merkwürdigen Wendung des Argumentationsstils gleichwohl "wegen der Häretiker" als falsch angesehen wissen.5 (Fs)

79a Damit zeigt sich das heillose Dilemma, in dem der Logiker verstrickt war, wenn er sich der Trinitätslehre zuwandte. Logisch streng konnte Ockham gar nicht umhin, einzusehen, dass aufgrund der Verfasstheit der Trinität von dem sprachlich selben Subjekt Unterschiedliches verifiziert wurde. Und er war hierfür sogar bereit, aus seinem sonstigen denkerischen Rahmen herauszufallen: Während er grundsätzlich die distinctio formalis des Duns Scotus, mit der dieser das Universalienproblem erklärt hatte, ablehnte, war er bereit, für das göttliche Wesen eben eine solche distinctio formalis anzuerkennen.6 An diesem einen Punkt also griffen seine eigenen, so stolz vorgetragenen Überlegungen zur Universalienlehre nicht. (Fs)

79b Damit ist eine entscheidende Grenzziehung für das Verhältnis von Theologie und Philosophie oder wenigstens von Theologie und Logik markiert: Das Wesen Gottes ist so einzigartig, dass es gewissermaßen im Verhältnis zu allen anderen Entitäten vor-logisch strukturiert ist. Während das gesamte Handeln Gottes und damit auch die gesamte Schöpfung mindestens dem Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch unterworfen ist, weil selbst Gott nichts Widersprüchliches tun kann7, greift dieser Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch für die Rede von Gottes Sein selbst nicht. (Fs)

79c Diese Einsicht ist nun fundamental für Ockhams Ontologie und Logik überhaupt: Wenn es ein vor-logisch strukturiertes Sein - eben Gott - gibt, heißt dies in unvermeidlicher Konsequenz, dass Ockham Logik zu keinem Zeitpunkt als etwas anderes betrachtet hat denn als eine Denkregel, dass also seine stete Betonung der Logik in allen Denkzusammenhängen rein denkerisch-methodischen Charakter hat und gerade nicht die Logizität allen Seins behaupten will, sondern allenfalls die Logizität allen geschöpflichen Seins: Die logischen Denkregeln gelten als Seinsregeln nur für die Welt der Geschöpfe, aber nicht für das Sein an sich. Das Sein an sich ist mithin, kenntlich an Gott selbst, größer und weiter als das dem denkenden Verstand zugängliche. Wenn also Ockham später gelegentlich als Rationalist verschrien wurde, so trifft dies zwar sicher seine Argumentationsweise, die oft von geradezu eisiger Kälte geprägt scheint - sie trifft aber nicht, und so war der Vorwurf doch in der Regel gemeint, sein Weltbild. Ockham weiß, und er weiß dies als frommer Franziskaner, dass es eine Realität gibt, die höher ist als die menschliche Vernunft. (Fs) (notabene)

80a Diese Einsicht freilich hat er später eher zurückgedrängt, als er sich der Frage nach der Un-Logik der Trinitätslehre im Rahmen seiner in London entstandenen Summe der Logik zuwandte. Hier nämlich versuchte er das Problem im Rahmen einer allgemeinen Fehlschlusslehre zu entschärfen. Entsprechend seinen theoretischen Grundannahmen geht Ockham das Problem suppositionstheoretisch an. Im Zusammenhang seiner Fehlschlusslehre unterstellt er nun folgenden beiden Fehlschlüssen, dass sie aufgrund desselben Fehlers irrten8:

Sokrates ist ein Mensch Dieses Wesen ist der Vater
Plato ist ein Mensch Dieses Wesen ist der Sohn
Plato ist Sokrates Der Sohn ist der Vater

Dass beides einen Fehlschluss darstellt, ist offenkundig, und Ockham meint auch erklären zu können, worin der gemeinsame Fehler liegt. Beide, so erklärt er, benutzen als Mittelbegriff einen Begriff, der für mehrere Entitäten steht und eben deswegen nicht als Mittelbegriff taugen kann, der Einzelentitäten verbinden soll. Für den Begriff "Mensch" ist es nun unmittelbar einsichtig, dass die mit dem "ist" ausgedrückte Identität zwischen Plato und Mensch nicht eine solche ist, die es erlauben würde, alle Aussagen, die mit Hilfe des Begriffs "Mensch" getroffen werden, auch auf Plato zu übertragen und damit die Gleichsetzung mit Sokrates herzuleiten. (Fs)

80b Dieser Fehlschluss ist nun aber so offenkundig, dass sich gerade darin das Problem von Ockhams Argumentation zeigt. Denn man kann das eben allgemein ausgeführte auch mit Hilfe der suppositionstheoretischen Logik ohne weiteres erklären: "Mensch" supponiert in beiden Fällen personal. Das heißt aber: Im Obersatz supponiert es präzise für Sokrates, nicht für etwas mehreren Menschen Gemeinsames, im Untersatz aber präzise für Plato und wiederum nicht für etwas mehreren Menschen Gemeinsames.9 Dann aber macht schon allein diese suppositionstheoretische Analyse klar, dass "Mensch" in beiden Sätzen schlicht für Verschiedenes steht und eben aus diesem Grunde nicht übertragbar ist. (Fs)

2.Kommentar (21.10.09): Der Grundfehler liegt darin, dass Ockham aufgrund seiner Annahmen nicht mehr in der Lage ist in Relationen metaphysischer Prinzipien zu denken.

80c Der auf Gott und die innertrinitarischen Differenzierungen bezogene zweite Syllogismus hingegen lässt sich nicht in dieser Weise auf ein sprachlogisches Problem zurückführen, sondern das Problem liegt in der Realität selbst: "Wesen" wird nicht deswegen falsch verwendet, weil es einmal eines und ein andermal mehreres bedeutete, sondern weil das Bezeichnete nach der christlichen Trinitätslehre zugleich eines und mehreres ist. Damit aber beruht der Fehler der trinitarischen Fehlschlüsse eben gerade nicht allein auf suppositionslogischen Fehlern, und Ockhams Versuch, die trinitarischen Fehlschlüsse in eine allgemeine Fehlschlusslehre einzubetten, bleibt ebenso inkonsistent wie sein Versuch eines Gottesbeweises. Die Folgen dieser Inkonsistenz hätte Ockham sogar selbst aufgrund seiner frühen Ausführungen offen legen können: Den Fehler des trinitarischen Fehlschlusses erkennt man im Gegensatz zu dem des Sokrates-Plato-Fehl-schlusses allein durch die Offenbarung.10 Wenn aber die widersprüchlichen Grundlagen, die einen scheinbaren Fehlschluss provozieren und diesen lösbar machen, allein aufgrund der Offenbarung, das heißt allein dort, wo der Glaube oder eine der Autoritäten, auf die dieser verweist, dazu zwingt11, erkennbar sind und nicht mehr aufgrund der allgemeinen Syllogismuslehre, dann heißt dies in letzter Konsequenz, dass die Verfügungsgewalt über die Anwendbarkeit der logischen Syllogistik bei außerlogischen Instanzen liegt, zu deren Auslegung die Logik zwar dienen, denen sie aber nicht kritisch gegenübertreten kann. Das aber kann schwerlich im Sinne eines Denkers sein, der die Logik hochhalten will. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham: Eucharistie - Transsubstantiation, Konsubstantiation; Unterschied in der Weise theologischen Denkens zu Thomas

Kurzinhalt: Die Harmonie zwischen theologischen und philosophischen Aussagen, die Thomas noch gelehrt und geglaubt hatte, ist hier völlig durchbrochen. Die theologisch zu erklärenden Phänomene werden einem Test auf ihre Vernünftigkeit nur negativ unterzogen.

Textausschnitt: c) Die Eucharistie: das permanente Wunder?

81a Im Rahmen des vierten Buches seines Sentenzenkommentars musste Ockham auch auf eine Zentralfrage des christlichen Glaubenslebens zu sprechen kommen: die Sakramente des neuen Bundes, insbesondere Taufe und Eucharistie. Es ist bemerkenswert, wie Ockham sich bemüht, die Transsubstantiationslehre als etwas zu erklären, was zumindest denkbar ist. Das IV. Lateranum hatte in seiner ersten Konstitution erklärt, dass Leib und Blut Christi "im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten" seien, "wenn durch göttliche Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesenhaft verwandelt sind".1 Die Definition dieser Wandlung mit dem Verbum transsubstantiare hatte als Spätfolge der Auseinandersetzungen um Berengar von Tours (ca. 1000-1088) im 11. Jahrhundert eine Erklärung des eucharistischen Mysteriums mit aristotelischer Begrifflichkeit dogmatisiert und damit die Rahmenbedingungen für alle weiteren Diskussionen um das Verständnis der Eucharistie bis zur Reformation geschaffen. (Fs)

82a Ockham rang um diese Deutung der Eucharistie, auf deren Unmöglichkeit innerhalb des aristotelischen Substanz-Akzidens-Schemas bereits Berengar hingewiesen hatte, da eine substantielle Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi bei bleibenden Akzidenzien - vor allem Geschmack und Aussehen - der aristotelischen Annahme widersprach, dass Akzidenzien stets nur als anhangend an - dann aber bleibenden - Substanzen denkbar waren, nicht aber gewissermaßen als freischwebend über einer verschwindenden und dann wieder ersetzten Substanz.2 (Fs)

82b Ockham bemühte sich nun angesichts dieser denkerisch problematischen Ausgangslage zunächst und vor allem um den Nachweis, dass die Vorstellung, Christi Leib befinde sich substantiell unter der Gestalt des Brotes, nicht widersprüchlich sei. (Fs)

82c Vordringlich musste er hierzu schlicht die scheinbare Widersinnigkeit erklären, wie es möglich war, dass der ausgedehnte Leib substantiell in etwas lokal präsent war, das offenkundig viel kleiner war als seine natürliche Ausdehnung. Um dies plausibel zu machen, benötigte Ockham eine eigene Definition dessen, was Quantität ist.3 Diese Definition liegt ganz auf der Linie seiner Universalienlehre: Quantität ist nichts für sich Reales, sondern bezeichnet lediglich die räumliche Ausdehnung einer Substanz, ihre gleichmäßige Verteilung in einem umschreibbaren Raum.4 Auf dieser Grundlage ist es dann nicht widersprüchlich, sich den Leib Christi unter der Gestalt Brot vorzustellen.5 Wenn Quantität lediglich eine Ausdehnung der Substanz bedeutet, so ändert sich diese Substanz als solche nicht und wird um nichts Reales reduziert, wenn sie nicht einfach im Raum für sich existiert, sondern durch eine andere Gestalt - eben das Brot - fest umschrieben wird, wie man sich dies in der Eucharistie vorstellen muss. (Fs)

1.Kommentar (23.10.09):Cf. Iserloh, Erwin, 41. Der Nominalismus 432a ff. eg, Wiederum: Ockham kann der Substanz nur deshalb eine Quantität zusprechen, weil eine Substanz (im Sinne eines Thomas') im Rahmen seines Denkens keinen Sinn mehr ergibt. Ist da eine Verbindung von dieser Quantität-Substanz hin zu Descartes?

82d So wie Ockham hier die Denkmöglichkeiten auslotet, tut er es auch im Zusammenhang der verschiedenen Erklärungsmodelle für die Realpräsenz, die sich kurz als Transsubstantiation im strengen Sinne - restlose Wandlung der einen Substanz in die andere -, Konsubstantiation - Nebeneinander der Substanzen des Brotes und des Leibes Christi unter den Akzidenzien des Brotes - und Annihilation - Vernichtung der Substanz des Brotes und wunderhafte Ersetzung durch die Substanz des Leibes Christi - beschreiben lassen. Der Lombarde hatte diese verschiedenen Positionen noch unbelastet von der kirchlichen Lehrentscheidung im Jahre 1215 vortragen können6, und Ockham ging sie nun in einer langen Abhandlung durch, die in der steilen Aussage gipfelte:

"Die erste Auffassung [d.i. die Konsubstantiation] könnte man vertreten, weil sie der Vernunft nicht widerspricht, und auch keinem Zeugnis der Bibel, und weil sie unter allen Weisen am vernünftigsten und einfachsten zu vertreten ist; denn aus ihr folgen weniger unplausible Annahmen als aus irgendeiner anderen Auffassung. Dies leuchtet ein, denn unter allen unplausiblen Annahmen, die als mit diesem Sakrament verbunden festgestellt werden, ist die schwerwiegendste, dass es ein Akzidens ohne ein Subjekt gibt [was im Falle der Transsubstantiationslehre angenommen werden müsste]. Wenn man aber von der ersten Auffassung ausgeht, braucht man dies nicht anzunehmen, also etc. (Fs)

... Nun bestimmt aber die Festlegung der Kirche das Gegenteil, wie aus dem Corpus Iuris Canonici X 1.1.1 Über die Höchste Trinität und den katholischen Glauben und X 3.41.6 Über die Messfeier hervorgeht. Ebenso vertreten alle Kirchenlehrer gemeinschaftlich das Gegenteil. Deshalb vertrete ich die Ansicht, dass auf dem Altar nicht die Substanz des Brotes zurückbleibt, sondern jene äußerliche Erscheinung, und dass der Leib Christi zusammen mit dieser existiert."7

83a Der Widerspruch war in der Tat empfindlich. Eben die Position, die die größten Unwahrscheinlichkeiten mit sich brachte, die Transsubstantiationslehre, wollte Ockham aufgrund der kirchlichen Lehrentscheidung annehmen. Bemerkenswert ist, wie Ockham hier die Valenz seiner Aussagen differenziert. Anders als bei Thomas, der Denknotwendigkeiten oder doch mindestens denkerische Vorteile der Transsubstantiationslehre herauszuarbeiten suchte, ist bei Ockham das entscheidende Argument das Umgekehrte: Die Transsubstantiation ist nicht denknotwendig, ja, sie ist nicht einmal wahrscheinlich. Aber sie ist möglich und das, weil sie nicht widersprüchlich ist. (Fs)

84a Damit ist der eigentliche, nur gelegentlich explizit werdende Denkhorizont von Ockhams Eucharistielehre angesprochen: Das Widerspruchsprinzip als äußerste Kontrollinstanz zur Feststellung dessen, was möglich ist, weist zugleich auf die Grenze von Gottes Handeln. Gott kann tun, was keinen Widerspruch in sich schließt. Und eben davon macht er hier Gebrauch. Auch wenn das Geschehen in der Eucharistie nicht dem normalen Verlauf der Dinge entspricht, kann Gott es möglich machen - und so permanent die normalerweise gültigen Kausalitäten dieser seiner Schöpfung durchbrechen. (Fs)

84b Auf ganz andere Weise als im Zusammenhang der Trinitätslehre kommt Ockham hier mit seinen theologischen Reflexionen an die Grenzen der Philosophie. Das, was er hier beschreibt, ist keineswegs vor-logisch. Es hält vielmehr jeden logisch strengen Test auf Widersprüchlichkeit aus - aber es ist zugleich nicht das philosophisch Adäquateste. Die Harmonie zwischen theologischen und philosophischen Aussagen, die Thomas noch gelehrt und geglaubt hatte, ist hier völlig durchbrochen. Die theologisch zu erklärenden Phänomene werden einem Test auf ihre Vernünftigkeit nur negativ unterzogen. Würden sie dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch widersprechen, so müsste auch der Theologe sie fallen lassen. Aber solange sie dies nicht tun, darf er sie auch dann lehren, wenn sie lediglich, wie es im Zusammenhang der Transsubstantiationslehre heißt, durch die kirchliche Lehrfestlegung gewiss sind.8 Die Theologie ist also zwar, wegen ihrer grundsätzlichen Angewiesenheit auf logisches Denken, aufgefordert, ja genötigt, ihr Denken rational zu überprüfen - aber nicht, es rational zu konstruieren. Hier setzt Ockham scharfe Grenzen für den Zugriff der Philosophie und der Rationalität auf ein religiöses und theologisches Wirklichkeitsverständnis. (Fs)

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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Vorherwissen und Prädestination als philosophisches Problem

Kurzinhalt: Die Glaubensinhalte entziehen sich hier nicht nur, wie in der Eucharistielehre, der rationalen Konstruierbarkeit, sondern sogar der rationalen Re-Konstruierbarkeit: Sie sind nicht nur nicht aus der Vernunft abzuleiten, sondern ...

Textausschnitt: d) Vorherwissen und Prädestination als philosophisches Problem

84c Vor fast noch größere Probleme sah Ockham sich in der Lehr von Vorherwissen und Vorherbestimmung, Prädestination, gestellt. Wenn Gott Allwissenheit zuzusprechen ist, so ergibt sich ein besonderes philosophisches Problem1: Kontingente Wahrheiten sind nicht aufgrund ihrer eigenen inneren Bestimmung wahr, sondern sie könnten, das macht eben definitorisch ihre Kontingenz aus, auch nicht wahr sein. So ist die Aussage "Petrus ist ein Fischer" erst in dem Moment tatsächlich wahr, in dem Petrus diesen Beruf ergreift - er hätte aber auch einen anderen Beruf ergreifen können, und die Aussage wäre mithin nicht wahr. Wegen dieses Andersseinkönnens aber ist es, so Ockham im Anschluss an Aristoteles, philosophisch nicht möglich, dass eine solche kontingente Aussage zu einem Zeitpunkt evident gewusst wird, in dem das durch sie beschriebene kontingente Faktum noch nicht eingetreten ist. Man braucht neben den zu aller Zeit zur Verfügung stehenden Kenntnissen über das Wesen von Dingen noch Informationen über tatsächliche Ereignisse in der extramentalen Realität, die ihrerseits an Raum und Zeit gebunden sind und daher nicht zu aller Zeit zur Verfügung stehen. (Fs)

85a Dieser philosophischen Einsicht aber steht das biblische Bekenntnis zur Allwissenheit und die dogmatische Lehre vom Vorherwissen aller Dinge durch Gott entgegen. Ganz ähnlich wie in der Abendmahlsfrage entscheidet Ockham sich auch in diesem Falle für die biblische und kirchliche Autorität - und wird noch etwas unsicherer als im Zusammenhang der Eucharistielehre:

"Man muss unzweifelhaft davon ausgehen, dass Gott mit Gewissheit und Evidenz alles weiß, was künftig kontingent eintrifft. Dies aber mit Evidenz zu erklären und die Weise, auf die Gott alles, was künftig kontingent eintrifft, auszudrücken, ist in diesem [irdischen] Stand für jede Vernunft unmöglich."2

85b Wieder bekennt Ockham sich keineswegs zu einem widervernünftigen Glauben, aber doch zu einem, der nicht vernünftig aufschlüsselbar ist. Die Glaubensinhalte entziehen sich hier nicht nur, wie in der Eucharistielehre, der rationalen Konstruierbarkeit, sondern sogar der rationalen Re-Konstruierbarkeit: Sie sind nicht nur nicht aus der Vernunft abzuleiten, sondern mit ihren Mitteln auch nicht nachzuvollziehen. (Fs)

85c Die Problematik gewinnt eine weitere Dimension in einem Fragenkomplex, der mit dem Vorherwissen Gottes eng zusammenhängt, nämlich in der Prädestinationslehre. Der "Vorhergewusste", der praescitus, ist hier der zur Verdammnis Bestimmte - eine feine begriffliche Differenzierung, die deutlich machen soll, dass Gottes Prädestination nur Gutes im Sinne hat, dass die Prädestination also nicht als doppelte, zum Heil wie zum Unheil zu verstehen ist, sondern als eine einfache, nur zum Heil führende, deren Kehrseite freilich dann die Verdammnis für die nicht Vorherbestimmten ist. (Fs)

86a Da nun auch der Weg eines Menschen in Verdammnis oder Heil der Sache nach kontingent ist, insofern der zum Heil gelangende Mensch ja seinem Wesen nach auch verdammt sein könnte und umgekehrt3, wird hier die allgemeine Lehre vom Vorherwissen Gottes im Blick auf zukünftiges Kontingentes konkret. Und Ockham geht nun die Beantwortung der Frage, ob es möglich sei, dass ein Prädestinierter verdammt und ein Verdammter erlöst werde - sie findet sich in der vierzigsten Distinktion des ersten Sentenzenbuches -, in doppelter Weise an: der Sache nach und unter Gesichtspunkten der Logik. Der Sache nach besteht kein Zweifel, dass Prädestination zum Heil und Vorherwissen zum Unheil auch anders erfolgen könnten: Hierfür spricht die Freiheit Gottes, zu verwerfen und zu erwählen, ebenso wie die Freiheit des Menschen, ein Verdienst zu erbringen oder eben nicht.4

86b Logisch analysiert aber ist die Sache bedeutend komplizierter.5 Denn der Satz: "Es ist möglich, dass ein Prädestinierter verdammt wird", hieße ja mit einer kleinen grammatikalischen Umstellung: "Möglich ist: Ein Prädestinierter ist ein Verdammter." In diesem Sinne ist die Aussage offenkundig unsinnig. Sinnvoll aber wird sie, wenn man sie logisch aufteilt, im sensus divisionis analysiert. Dann wird deutlich, dass die Aussage "Ein Prädestinierter kann verdammt werden", suppositionslogisch gesprochen, über den, für den das Subjekt supponiert, also einen Prädestinierten - etwa Petrus - eine Möglichkeitsaussage trifft: Für Petrus ist es prinzipiell möglich, dass er verdammt würde. Da er aber von Gott in einem unwandelbaren Ratschluss6 prädestiniert ist, wird er nie verdammt werden. Das heißt: Das Prädikat "verdammt" kann niemals tatsächlich für Petrus supponieren oder supponiert haben. In diesem aufgeteilten Sinne dann kann man die Aussage "Petrus kann verdammt werden" logisch korrekt treffen. (Fs)

86c Auch dieses schon im Sentenzenkommentar angesprochene Problem hat Ockham übrigens nicht losgelassen. In seiner Londoner Zeit, als er sich mit philosophischen Fragen beschäftigte, ist er unter philosophischen Gesichtspunkten erneut hierauf zurückgekommen und hat noch einmal einen eigenen Traktat über die Prädestination verfasst. Wie in allen anderen Grenzfällen von Theologie und Philosophie, so zeigt sich also auch hier, dass Ockham gerade diese Fragen weiter verfolgte, auch wenn er sich zeitweilig ganz auf die Philosophie konzentrierte. (Fs)

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