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Autor: Riesman, David

Buch: Die einsame Masse

Titel: Die einsame Masse

Stichwort: Schelsky: Vorwort; allgemein zu David Riesman

Kurzinhalt: Diese Schematik oder Typologie der Traditions-, Innen- und Außen-Lenkung des Verhaltens stellt das Grobgerüst dieser Analyse dar, in das der Verfasser nun die vielfältigsten Beobachtungen und Deutungen des Zeitgeschehens und der Zeitgenossen einträgt.

Textausschnitt: 8b So stützen sich seine Aussagen über den Charakter des modernen Amerikaners durchaus an vielen und wichtigen Stellen auf empirische sozialwissenschaftliche Forschungen und Befragungen, zum Teil sogar auf die von ihm und seinen Mitarbeitern selbst durchgeführten. Als zweiten Band zu der haben er und seine Mitarbeiter daher auch noch einen Band von Materialien (1952) veröffentlicht, in dem die in diesem Werk geschilderten Wesenszüge des Amerikaners in Monographien einzelner Personen und der Schilderung ihres Lebensalltages individuelles Gesicht gewinnen. So wie sich Riesman durch diesen dauernden Rückgriff auf die empirische Erhebung vor der ideengeschichtlichen Gefahr subjektiver Spekulation und Überfolgerung einzelner Erlebnisgehalte schützt, so weiß er umgekehrt auch um die Nichtigkeit aller übertriebenen methodischen Exaktheit, die auf unserem Wissensgebiet dann sehr schnell in einem aussagelosen Skrupulantentum endet. Er hat in einem Artikel , p. 467 ff) die in den USA mit großem Aufwand an Geld und Methode durchgeführten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte auf ihre geistige Aussage hin kritisiert und ihre Erkenntnisse zwar nicht als belanglos, aber gemessen am Aufwand doch als relativ unerheblich beurteilt; in einigen Fällen konnte er ironisch darauf hinweisen, daß die von der Methode eigentlich nicht eingeplanten Nebenerfolge der Untersuchungen die bei weitem geistvollsten und erkenntnisreichsten Aussagen über die Wirklichkeit geliefert hätten. Wir werden dieser Ironie über Tests, soziometrische Erhebungen usw. auch in dieser Schrift öfters begegnen; sie beruht darauf, daß ein Soziologe die Methoden seines Faches selbst als einen sozialwissenschaftlich bedeutsamen Gegenstand zu sehen und zu deuten vermag. (Fs)

9a Riesman geht es um Aussagen, die sich in ihrer Allgemeinheit der bloß statistischen Exaktheit und Konfiguration weitgehend entziehen. Wir müssen seine soziologischen Wahrheiten eher als eine Art Feldmassierung einleuchtender Gedanken an Hand empirisch erhobener Tatbestände betrachten, als darin etwa abmeßbare Figuren, sei es statistischer oder logisch-systematischer Herkunft, zu suchen. Obwohl er in seiner Analyse von amerikanischem Material ausgeht und die volle Verantwortung seiner Aussagen - laut Titel - auch auf den Amerikaner von heute eingeschränkt wissen will, tun wir ihm doch kein Unrecht, wenn wir seine Erkenntnisse überall dort als zutreffend ansehen, wo die gleichen sozialen Bedingungen wie im modernen Amerika zum Zuge kommen, d. h. wo wir die Auswirkungen der durchgesetzten Industrialisierung und der sie begleitenden Wohlstands- und Konsumerhöhungen, der Vergroßstädterung und Verwissenschaftlichung der Lebensführung usw. antreffen; in diesem Sinne meint er selbst, daß seine Untersuchung (S. 36). Über die notwendige Ignorierung der darin liegenden methodischen Bedenken, die ja nur dem fachkundigen Leser kommen werden, bittet Riesman durch die Mottos des 1. Kapitels den Kenner um stillschweigendes Einverständnis. (Fs)

9b Diese methodische Unbekümmertheit dessen, der etwas Wahres, Wichtiges und Neues auszusagen hat, kommt bereits in dem Grundschema zum Ausdruck, das Riesman seiner Untersuchung zugrunde legt: in der Dreiteilung der Verhaltensformen in traditions-geleitete, innen-geleitete und außen-geleitete. Aus den schwierigen und keineswegs einheitlichen psychologischen und sozialpsychologischen Definitionen des greift sich Riesman ein Bruchstück oder einen Aspekt heraus: die soziale Verhaltensdetermination, die zu einer Verhaltensgleichheit der Zeitgenossen führt, und findet nun an Hand der europäisch-amerikanischen Gesellschaftsentwicklung drei Typen solcher oder sozialer Verhaltenskonstanten: Eine Gesellschaft lenkt die Einzelindividuen durch überkommene, sehr konkrete, oft kasuistische soziale Werte, die durch ihre institutionelle Veräußerlichung in Sitte, Brauchtum, Zeremoniell usw. auf den einzelnen in lange gleichbleibenden Situationen einwirken; die Gesellschaft bestimmt die Individuen durch persönliche, verinnerlichte Werthaltungen prinzipieller Art, die dem dynamischen Wechsel der sozialen Situationen gegenüber durch ihre Abstraktheit anwendbar bleiben; in einer Gesellschaft wird die Anerkennung der , das Sich-Richten nach der öffentlichen Meinung und ihren , d. h. den Informationen der Massenpublizistik, nach Kollegen, Alters- und Standesgenossen usw. zum entscheidenden Maßstab, mit dem die einzelnen ihre Handlungen messen und bewerten. Für die beiden letzten Typen hat Riesman ein einprägsames Bild gefunden: der Mensch handle so, als ob er ein moralisches Gyroskop oder einen Kreiselkompaß in sich eingebaut habe, während der Mensch sein Verhalten sozusagen durch ein Meinungs-Radargerät dauernd orientiere. (Fs) (notabene)

10a Riesman verknüpft diese Typologie des Verhaltens nun soziologisch-historisch mit der Bevölkerungsgeschichte und den Bevölkerungsgesetzlichkeiten, weil er darin mit Recht eine der vitalsten Grundlagen des sozialen Geschehens erblickt. Die traditions-geleitete Verhaltensweise scheint ihm zu der Epoche des hohen Bevölkerungsumsatzes, d.h. der hohen Geburts-, aber auch Sterberate vorindustrieller Gesellschaftsformen zu gehören. Die erste Epoche der Industrialisierung wiederum wird in Europa und Amerika getragen von einer geschichtlich einmaligen Bevölkerungsvermehrung oder Bevölkerungswelle, die aus dem Absinken der Sterbefälle bei gleichbleibender Geburtenhöhe resultiert; ihr ist der Verhaltenstyp zuzuordnen. Mit der Konsolidierung des industriellen Gesellschaftssystems - in Europa-Amerika etwa in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts - setzt nun auch jene Beschränkung der Geburtenzahlen ein, die als Anpassung an die moderne Gesellschaftsstruktur, z.B. an deren gesunkene Sterblichkeitsrate, anzusehen ist und zu einer neuen Konstantheit, ja, sogar zu einer gewissen Schrumpfung der Bevölkerungszahlen der industrialisierten Gesellschaften führt; mit diesem Vorgang scheint für Riesman die Geburt des Menschentyps verbunden zu sein. Indem er so die Entwicklung seiner Verhaltenstypen mit dem Wandel der Bevölkerungsgesetzlichkeiten verbindet, von dem die Demographie beweisen zu können glaubt, daß er in allen Völkern gleichmäßig vor sich ginge, die von einer primär agrarischen Wirtschaftsstufe zu einem industriellen System übergehen (vgl. in der deutschen Literatur dazu Gerhard Mackenroth, , 1953), gewinnt Riesman für seine Aussagen eine über die soziale Entwicklung Amerikas oder auch noch Europas hinausreichende Beweiskraft. (Fs)

10b Diese Schematik oder Typologie der Traditions-, Innen- und Außen-Lenkung des Verhaltens stellt das Grobgerüst dieser Analyse dar, in das der Verfasser nun die vielfältigsten Beobachtungen und Deutungen des Zeitgeschehens und der Zeitgenossen einträgt. Indem das Schema seine Konkretisierung auf den verschiedensten Lebensgebieten erfährt, in der Kindererziehung, in der Haltung zu Literatur und Publizistik, in den Verbrauchergewohnheiten, in der Einstellung zur Berufsarbeit, im politischen Leben usw., gewinnt es die Fülle der Aussage im Detail, die den wissenschaftlichen Gewinn dieses Buches ausmacht. Wie bei Pareto oder Spengler dient eine sehr einfache und schematische Hypothese dazu, die Erscheinungen eines kulturellen Zusammenhanges - hier unserer Gegenwart - unter neue Blickwinkel zu stellen und ihnen so bisher wenig bemerkte Eigenschaften und überraschende Einsichten abzugewinnen. Dieses Grundschema mag also in seiner Einfachheit und Einseitigkeit kritisiert oder gar - wie Spenglers Kulturkreislehre - mit der Zeit widerlegt und abgeschrieben werden, seine Fruchtbarkeit, zu einem tieferen Verständnis unserer Zeitwirklichkeiten geführt zu haben, würde damit wenig berührt. Es wäre daher zu bedauern, wenn die Wirkung dieses Buches allzusehr darin bestünde, daß diese dreiteilige Verhaltenstypologie, zur Formel erstarrt, nun wie eine gängige Münze von Hand zu Hand ginge. Sie wäre schnell abgegriffen und der Verfasser, um den Rang seiner Wahrheiten zu wahren, zum Widerruf genötigt. (Fs)

11a Viel wichtiger erscheint es mir, an Hand seiner Aussagen über den Amerikaner nachzuspüren, wieweit diese auch für unsere eigene soziale und menschliche Wirklichkeit zutreffen. Nehmen wir als Beispiel seine wichtigste Aussage über den Zeitgenossen: daß dieser ein Mensch sei. Verifiziert wird diese Behauptung vornehmlich an dem mittelständisch-bürgerlichen Typ, der in den Wohnvororten der amerikanischen Großstädte zu Hause ist, der eine College-Erziehung genossen oder wenigstens seine alten Vorurteile durch die von den Colleges ausgehenden wissenschaftlichen ersetzt hat; sein Verhalten unterliegt, wenn er von seiner Büroarbeit in seine Wohnsiedlung kommt, stark dem Normierungsdruck seiner Nachbarschaft, der Clubs und der sozial harmonisierenden Veranstaltungen, die ihm Gemeinde, Schule und andere um seine Persönlichkeit bemühte Institutionen unvermeidlich aufdrängen. Vor allem aber wird dieser Verhaltenstyp bereits von einem Grundschulsystem geprägt, das die Erziehung des Menschen zur reibungslosen sozialen Kooperation gegenüber aller Erziehung zur Leistung in den Vordergrund stellt, durch dauernde soziometrische Tests sichert und in seinen pädagogischen Methoden von einer geradezu neurotischen Ängstlichkeit davor ist, Spannungen zu erregen. Ist das alles nicht sehr spezifisch amerikanisch und für uns mehr kurios, als daß es uns selbst beträfe? (Fs)

11b Ich glaube es nicht: schüttelt man dieses Kaleidoskop der Eigenschaften des amerikanischen Zeitgenossen auch nur ein wenig, so erhält man sehr bald Gestaltkonfigurationen, die uns selbst gleichen. Ist nicht auch unsere Schule mit ihrer Betonung der Persönlichkeits- und Charaktererziehung des Kindes und in ihrer Ablehnung des Lern- und Leistungsprinzips der älteren Pädagogik auf einem Wege, dessen Endstationen in dem amerikanischen Beispiel sichtbar werden? Breitet sich nicht auch bei uns eine mittelständische Mentalität immer mehr aus, die aus dem Anwachsen von Büro- und Funktionärberufen jeder Art stammt und vergleichbare Bedürfnisse des sozialen Prestiges nach Teilnahme an den kulturellen und wissenschaftlichen Gütern entwickelt? Vor allem aber scheint mir hier der Einfluß der Massenkommunikationsmittel - der Zeitungen, Illustrierten, des Radios und Kinos usw. - auf die tieferen Verhaltensschichten des Menschen, auf seine Art der Weltsicht und -Orientierung, prinzipieller erfaßt zu sein, als dies bisher in irgendeiner psychologischen oder anthropologischen Analyse sonst der Fall war. Riesman macht ernst mit einem Bilde des Menschen, dessen Welt primär aus Zeitungspapier und sonstigen publizistischen Informationen besteht. (Fs)

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Autor: Riesman, David

Buch: Die einsame Masse

Titel: Die einsame Masse

Stichwort: Schelsky: Vorwort; soziales Gewissen; Sittlichkeit -> Gesinnung;

Kurzinhalt: Sind wir Deutschen heute weniger in unserem Verhalten als etwa unter dem Nationalsozialismus?

Textausschnitt: 12a Zum Kern eines Vergleichs stoßen wir aber wohl erst vor, wenn wir die des modernen Menschen als die Konstituierung und ständige Regelung seiner moralischen Normen durch die Meinung seiner Umwelt oder der Öffentlichkeit begreifen und darin eine Abwendung des neuen Typs von einer älteren Moralität sehen, die darin bestand, daß der einzelne die moralische Verantwortung für seine Handlungen nur in den ein Leben lang festgehaltenen prinzipiellen Grundsätzen seines eigenen Innern und Gewissens fand. als eine neue Form des Gewissens! Nun, ich finde, damit treffen wir auf eine keineswegs unaktuelle oder unwichtige deutsche Wirklichkeit. Die Erfahrung, daß sich durch Veränderungen der sozialen Umwelt und der öffentlichen Meinung die Standards dessen, was als und nicht nur galt, sondern auch von dem einzelnen empfunden wurde, ebenfalls wandelten, und zwar in einem Maße, daß derjenige, der seine eigenen innerlichen Prinzipien der durchhalten wollte, immer im Unrecht oder mindestens in der sozialen Isolierung war - diese Erfahrung sollte uns nicht fremd sein. (Fs) (notabene)

12b Und weiter: Riesman sieht diesen Wandel vom prinzipiellen und individualistischen Gewissen zum keineswegs nur als eine ethische Korruption an, sondern als die Folge einer Entwicklung, in der der Mitmensch und die Rücksicht auf den anderen Menschen immer mehr in den Vordergrund der moralischen Ansinnen getreten sind. Also nicht nur der kollektivistische Terror, sondern auch die betonte und geplante demokratische Kooperation, die Sucht nach heißt ) und Opportunismus (, Riesman, S. 115) zur gebilligten, moralischen Grundausstattung des Menschen gehören. Bei uns nannte man dies und nennt es noch: Gesinnung, in eben der Bedeutung, die ihr Hegel in der Analyse des Tugendterrors Robespierres gegeben hat: (), d. h. sie erfährt ihre Rechtfertigung nur in der Zustimmung, ihre Verurteilung bereits im Verdacht der anderen und nicht des eigenen Gewissens. Wenn Riesman das Kapitel, in dem er diese Erscheinungen beschreibt, mit dem Titel versieht, so muß man, um den Zeittenor dieser Begriffe zu hören, etwa davon wissen, daß es eine in der amerikanischen Wehrmacht gab, die die politische und militärische Standfestigkeit der Soldaten dauernd testete und für ihre Stärkung oder ihren Schutz durch propagandistische Intoxikation sorgte, daß weiterhin zu den wichtigsten Anliegen der ebenfalls unter Kriegsnotwendigkeiten entstandenen amerikanischen Betriebssoziologie das Problem gehörte und damit keineswegs die Frage des Arbeitsethos, sondern der Arbeits- und Betriebsgesinnung, also der sozialen Rechtfertigung und Motivierung der Arbeit, des Arbeitsfriedens und der Produktionswilligkeit, gemeint war usw. Wir glauben also ein Recht gehabt zu haben, jenen Titel im Deutschen mit den Begriffen oder usw. gehören anderen politischen Systemen an als die amerikanischen Beispiele und bedeuten daher politisch etwas anderes; die Frage ist doch aber, ob nicht unterhalb der Verschiedenheit der politischen Systeme - eine Verschiedenheit, die in ihrer Bedeutung nicht verkleinert oder beiseite geschoben werden soll - eine Gleichheit der menschlichen Haltungen und Welteinstellungen in unserer Zeit und modernen Gesellschaft erwächst, die dann wiederum erklärt, weshalb auch ein radikaler politischer Systemwechsel nur die jeweiligen Richtungspunkte und materiellen Gehalte, nicht aber die Reaktionsform selbst dieses zu verändern vermag. Sind wir Deutschen heute weniger in unserem Verhalten als etwa unter dem Nationalsozialismus? Welche neue Art von Moralität bahnt sich unter uns an, wenn wir heute in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. immer wieder der Versicherung begegnen, daß im Mittelpunkt des Geschehens und der Programme zu stehen habe? So etwa müßten die Fragen lauten, die Riesmans Analyse des uns für unsere Selbsterkenntnis nahelegt - und zum Teil wohl auch schon beantwortet, obwohl er nur von Amerikanern spricht. (Fs) (notabene)

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Autor: Riesman, David

Buch: Die einsame Masse

Titel: Die einsame Masse

Stichwort: Schelsky: Vorwort; Soziologie der Freizeit; Konsumpflicht; Verbraucherhaltung im Bereich der Politik

Kurzinhalt: In dieser Betonung und Auswertung der Freizeit oder zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Gegenwart hat Riesman nur einen Vorgänger oder Ahnen in der Geschichte der Soziologie: Thorstein Veblen.

Textausschnitt: 13a In anderen Punkten seiner Analyse ist unser Mit-Betroffensein offenkundiger: etwa in der Bedeutung, die er dem Konsum- und Freizeitverhalten für ein Verständnis des modernen Menschen und seiner Gesellschaft zumißt. Quer durch alle Aussagen Riesmans über einzelne Lebensgebiete zieht sich als eine Grundeinsicht die These, daß die Verbraucherhaltung zur dominanten Reaktionsform des Zeitgenossen geworden ist. Wir in Deutschland empfinden den Materialismus des Lebensgenusses, den wir überall beobachten, als einen Rückschlag gegenüber dem getäuschten Idealismus politischer Hingabe einerseits und als Folge der materiellen Notzeiten andererseits; Riesman sieht weiter: nach ihm muß jede industrielle Gesellschaft an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung - nach der Durchsetzung der Massenproduktion jeder Art - eine Höhe des Güterausstoßes erreichen, die sie zwingt, unter allen Umständen die Bedürfnisse und den Verbrauch zu erhöhen. Das Konsumpotential einer Gesellschaft wird in diesem Stadium wichtiger als etwa das Rohstoff-, Bevölkerungs- oder Arbeitspotential. Die wegen des Bestandes und der Erweiterung der industriellen Grundlage wirtschaftlich aufgedrungene Steigerung des Verbrauchs, die erhöhte Konsumpflicht der Gesellschaft, dringt als das primäre soziale Ansinnen in alle Verhaltensschichten des Menschen ein: in seine Stellung zur Kultur, zur Freizeit, zum Sport, zur Politik; sie bestimmt die Art der Kindererziehung und prägt die Rolle von Mann und Frau neu; sie wird zur Grundlage des sozialen Selbstbewußtseins und des sozialen Prestiges. Hier erst wird die Soziologie entwickelt, die zu den ökonomischen Lehren eines J. M. Keynes gehört. (Fs)

14a Da die Verbraucherhaltungen ihrer Natur nach vor allem in der Freizeit des Menschen aktuell werden (obwohl sie auch in die Formen der Berufsarbeit eindringen, worüber z. B. das Kapitel S. 148 ff einen auch für unsere Verhältnisse einleuchtenden Aufschluß gibt), gilt Riesmans Interesse vor allem einer soziologischen Deutung der Freizeitbeschäftigungen. Wie kein anderer Soziologe der Gegenwart hat er sowohl in diesem Werk als auch in der Aufsatzsammlung (1954) die Formen der untersucht: die moderne Schlagermusik, das Kino und Fernsehen, die Formen der Erholung, das Fußballspiel und seine gesellschaftlichen Zusammenhänge, die soziale Bedeutung der Kitschliteratur, ja, des Lesens bei jung und alt überhaupt usw. Indem er so wichtige Erscheinungen wie das Ineinanderfließen von Arbeit und Spiel im Leben des Erwachsenen, von Schule und häuslicher Freizeit beim Kinde oder das ängstliche Ernstnehmen der Erholung und der Hobbies durch den modernen Menschen und den unkritischen Anspruch der Intellektuellen auf die Freizeit der anderen beobachtet und im kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang deutet, wird ihm der Wandel des Freizeitverhaltens zum entscheidenden Prozeß der sozialen Anpassung des Zeitgenossen an die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur ( heißt der zentrale Aufsatz in , p. 202 ff, deutsch übersetzt in der Zeitschrift , Heft 5,1953). In dieser Betonung und Auswertung der Freizeit oder zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Gegenwart hat Riesman nur einen Vorgänger oder Ahnen in der Geschichte der Soziologie: Thorstein Veblen, dessen Hauptwerk (1899) auch als eine Art in diese Analysen Riesmans eingegangen ist (und dem er ein eigenes Buch gewidmet hat: , 1953). Alle anderen Soziologen von Hegel und Marx über Max Weber bis hin zu Burnham und sonstigen modernen Popularisatoren klassisch-sozialwissenschaftlicher Einsichten haben die gesellschaftliche Struktur und das soziale Verhalten vornehmlich von der Arbeits- und Berufssphäre des Menschen her gedeutet; mit Riesman und seinem Rückgriff auf Veblen (und vielleicht noch Simmel) scheint sich mir ein neues Grundthema im sozialwissenschaftlichen Verständnis der Zeit durchgesetzt zu haben, was übrigens der unwiderlegbarste Beweis für die Richtigkeit der Riesmanschen Behauptung wäre, daß man Arbeit und Beruf dem Menschentyp, Freizeit und Konsum aber dem Zeitgenossen als zentralen Lebenssinn zuzuordnen habe. (Fs)

14b Zu den wertvollsten Einsichten des Buches, auch oder gerade für unsere deutschen Verhältnisse, scheint mir das Aufspüren der im Bereichder Politik zu gehören. Allerdings ergeben sich zunächst in den Äußerlichkeiten, die Riesman in diesem Zusammenhang berichtet, vielleicht die auffälligsten Unterschiede und daher Schwierigkeiten des Verständnisses: Wenn er z. B. die moderne amerikanische Verhaltensform des außen-geleiteten Menschen zur Politik als die des Inside-Dopester bezeichnet, so steht uns für unsere Verhältnisse kein gleichermaßen prägnanter Tatbestand und daher auch Begriff zur Verfügung. Unsere Übersetzung des Inside-Dopester als klärt nur mangelhaft die hier gemeinte passive Haltung zum politischen Geschehen, die im bloßen von Nachrichten, besonders der nicht allen zugänglichen Kulisseninformationen, ein Gefühl des und der Informiertheit erzeugt und darin eine politische Pseudoaktivität, ein bloßes Interesse, absättigt. Immerhin brauchen wir diesen Typ nur ein wenig zu verallgemeinern, und wir befinden uns in durchaus vertrauten Verhaltenslandschaften: das politische Geschehen des eigenen Landes und die Informationen und Verlautbarungen darüber werden als ein Schauspiel aufgefaßt, das andere aufführen und dem man ganz berechtigt als Zuschauer gegenübersteht, als Zeitungsleser, Wochenschaubetrachter, Radiohörer, vielleicht mit einem lebendigen Interesse, was da geschieht, und einem Rest von eigenem , die aber keineswegs so weit gehen, daß man sich zu irgendeiner Aktivität aufgerufen fühlt, zum Beitritt zu einer Partei, zur ehrenamtlichen politischen Mitarbeit oder zur Propagierung eines politischen Programms usw.; das bleibt Sache , deren die Politik ist. Die ideologische Identifikation oder Aktivität im Bereich der Politik erweist sich als eine spezifische Haltung des Menschen, die die Quellen einer prinzipiellen Moral voraussetzt, eines Dranges, abstrakte Wahrheiten und Überzeugungen in der Außenwelt zu realisieren. Ein Appell daran gegenüber dem sozial gezähmten Menschen von heute einfach nicht mehr. So brauchen wir uns nicht zu wundern, daß sich bereits auch in Deutschland Partei- und Wahlversammlungen mit Kaffee, Kuchen und Unterhaltungsmusik gratis als zugkräftiger erweisen denn solche mit ideologischen Programmreden. (Fs)

15a Das in unserer politischen und sozialwissenschaftlichen Literatur genügend diskutierte und strapazierte Thema der -Haltung der Deutschen, des , gewinnt hier eine neue Dimension. Ich habe in meinem Buch < Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart> (1953) diese Haltung eines politischen und gesamtgesellschaftlichen Desinteressements als die Folge und Verarbeitung der Erfahrungen einer enttäuschten politischen Mobilisierung durch ein totales System und einer kollektiven politischen Schuldzurechnung auf der einen und der Rückwendung auf die privaten Interessen durch die Notlagen der Zeit auf der anderen Seite beschrieben. Meiner Behauptung, daß sich hier eine tiefgehende dauerhafte Wandlung in der Haltung der Menschen zur Politik und den öffentlichen Angelegenheiten vollzöge, haben meine Kritiker nicht mit Unrecht entgegengehalten, daß die angegebenen Ursachen dafür mit der Zeit ihre Wirksamkeit verlieren müßten, und daher die Dauerhaftigkeit der -Haltung bezweifelt. Riesman sieht nun aber das gleiche politische Desinteressement, die Apathie gegenüber den politischen Appellen und Ansprüchen, in den Vereinigten Staaten wachsen; er nennt diesen Verhaltenstyp (the new-style indifferent) und unterscheidet ihn von dem politisch Indifferenten der alten traditionsgebundenen Gesellschaftsform (dessen Gleichgültigkeit gegenüber dem politischen Geschehen daher rührte, daß die Politik als eine Angelegenheit der Oberschichten über seinen Kopf hinweg vor sich ging) durch folgende Kennzeichnung: Diese politische Apathie neuen Stils (S. 180). Ausdrücklich erkennt Riesman in dieser Art des politischen Desinteressements die Wahrscheinlichkeit (S. 182): je mehr sich die gegenüber der Politik durchsetzt, um so stärker wird sich die Gruppe derer vermehren, die in der Konkurrenz des Angebotes von sonstigen Freizeit- und Konsumgütern die politischen nicht genügend attraktiv findet, um ihre Nachfrage darauf zu richten. (Fs)

16a Übrigens beurteilt auch Riesman diese Entwicklung nickt nur als negativ: obwohl er den hohlen Skeptizismus und Zynismus, der diese Haltung zur Politik begleitet, genauso durchschaut wie wir bei uns, erkennt er doch eine als einen Gewinn dieser politischen Teilnahmslosigkeit für die Zeitgenossen an: (S. 183). Die Dinge haben immer zwei Seiten, und jede soziale Entwicklung bringt gleichzeitig Erwünschtes und Unerwünschtes. (Fs)

16b Diese nüchterne Feststellung drückt übrigens am besten die Werthaltung aus, die Riesman den von ihm analysierten sozialen Wandlungen gegenüber im allgemeinen einnimmt. Er versucht ständig, was die Zukunftsaspekte seiner Analysen betrifft, eine Position jenseits von Optimismus und Pessimismus zu gewinnen; dafür ist heute der alte Fortschrittsglaube weniger ein Hindernis als der sehr moderne Pessimismus der intellektualistischen Kulturkritik. So sehr Riesman also auf der einen Seite die Werte und Leistungen des alten Lebensideals, soziologisch also des kapitalistischen Hochbürgertums, gegen die leichtfertigen Verdammungsurteile moderner Sozialkritik, Psychologie und sonstiger Reformgesinnungen in Schutz nimmt, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß er bei aller geschichtsphilosophischen Vorsicht in den neuen Strukturen der (S. 318). Aber diese Haltung richtet sich gegen die intellektuelle Wankelmütigkeit der jeweiligen Zeitgesinnungen, gegen die aus sozialen Depressionen oder Euphorien stammenden spekulativen Überfolgerungen, mit der nüchternen Tapferkeit eines sozialwissenschaftlichen Realismus, der über die Grenzen seiner Erkenntnisweise ebenso Bescheid weiß wie über die aller wissenschaftlichen Determination sich entziehende Ursprünglichkeit und Unzerstörbarkeit des Menschen. So sind alle seine wissenschaftlichen Aussagen bewußt in der Reichweite und Dauer ihrer Wahrheit begrenzt, dafür aber auf eine Situation und auf einen Adressaten gezielt. In diesem - Riesman nennt es selber so - einer Sozialwissenschaft, die ihre Methoden, ihre Kategorien, ja, ihre Aussagen wechselt und widerruft, um immer da zu stehen, wo Wahrheiten und Werte

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Autor: Riesman, David

Buch: Die einsame Masse

Titel: Die einsame Masse

Stichwort: Schelsky: Vorwort; Autonomie - Angepasstheit; unechte Verpersönlichungen

Kurzinhalt: ... so liegt die Chance zur Autonomie der Person zwischen Anomalie und Angepaßtheit: der ist der Mensch, der fähig ist, auf die Ansprüche der Gesellschaft einzugehen ...
der aber zugleich die Kraft findet, ...

Textausschnitt: 17a Dieser personalen Verantwortlichkeit, von der aus Riesman seine wissenschaftlichen Aussagen bewußt steuert, gilt nun auch der letzte Teil seines Buches. Bei allen soziologischen Zeitanalysen wird ja immer ein System gesellschaftlicher Determination für das Handeln des Menschen entwickelt, ein Geflecht sozialer Beziehungen, in das er völlig eingespannt zu sein scheint; ebenso selbstverständlich erhebt sich aber gegenüber dieser soziologischen Reduktion die Frage: Was ist der Mensch denn noch? Oder philosophischer formuliert: Wo ist der Raum der Freiheit der Person gegenüber dieser sozialen Determiniertheit? An dieser Frage verlassen Philosophen und Theologen gern die Soziologie, um sich unbeschwert von deren Aussagen im Spekulationsraum menschlicher Freiheiten zu ergehen, während die Soziologen häufig, um bei sich zu Hause bleiben zu können, achselzuckend auf die Beantwortung der Frage verzichten. Nicht so Riesman; er gibt auf die Frage nach der Freiheitschance der Person, die er mit dem Begriff der oder des Menschen zu fassen sucht, eine interessante, und zwar soziologische Antwort: die Sozialstruktur der modernen Gesellschaft ist in sich nicht so homogen, daß sich nicht überall Spannungen und Widersprüche z.B. zwischen dem jeweiligen Zeittrend zur Konformität und den Sachansprüchen der Institutionen oder den in älterer Tradition verharrenden menschlichen und sozialen Beziehungen ergäben; in diesen Spannungen, Widersprüchen und Lücken der sozialen Gesetzlichkeiten liegt die Chance zur Autonomie der Person. (Fs)

18a Mit dieser soziologischen Ortsbestimmung der personalen Eigenständigkeit sind die positiven und direkten Aussagen der Soziologie über die Autonomie allerdings zunächst erschöpft, denn Riesman ist sich der Möglichkeit einer Kausaldetermination des Schöpferischen oder der realisierten Freiheit durchaus bewußt. Nur der Verfall ist voll determiniert; so gelingt es Riesman auch, wesentlich ausführlicher die sozialen Hindernisse für eine Autonomie der Person in der Gegenwart aufzuweisen oder den Charakter der von der abgeglittenen, defizienten Verhaltensformen zu bestimmen. Unfrei ist zunächst der , der aus irgendwelchen Ursachen unfähig ist, den Normen seiner Gesellschaft zu gehorchen und durch diese Anomalität in irgendwelche Zwangsgesetzlichkeiten des Verhaltens, Neurosen, Hysterien, Verwahrlosung, Kriminalität usw., abgedrängt wird. Unfrei und ohne Autonomie ist aber auch der nur oder voll ! Mit dieser These tritt Riesman einem in der amerikanischen Psychologie und Soziologie weitverbreiteten Verhaltensideal und -anspruch entgegen: der als einer unbedingt positiven Verhaltensform. Für ihn ist der voll Angepaßte immer zugleich <über-angepaßt> (overadjusted), jemand, (S. 252), also ein Mensch, den die Gesellschaft geschaffen, der aber sich selbst noch nicht geschaffen hat. Das Verharren in der bloßen sozialen Konformität wird also als ein defizienter Verhaltenstyp bestimmt. (Fs)

18b So liegt die Chance zur Autonomie der Person zwischen Anomalie und Angepaßtheit: der ist der Mensch, der fähig ist, auf die Ansprüche der Gesellschaft einzugehen - was der Anomale nicht kann -, der aber zugleich die Kraft findet, sich zu Zeiten und in bestimmten Bereichen diesem sozialen Konformitätsdruck zu entziehen, was dem Angepaßten und Anpassung Suchenden nicht gelingt. In dieser Definition ist ohne Zweifel ein Ratschlag verborgen: das Ansinnen, sich zu einer wenigstens teilweisen Nonkonformität und Distanzierung gegenüber den Zeittendenzen und dem sozialen Anpassungs- und Zähmungsdruck zu erheben. Es ist der Ratschlag eines Gebildeten, ein - wie man bei etwas tieferem Schürfen leicht feststellen wird - in das weltliche Moderato übersetzter religiöser Vorschlag zu einer verdünnten Askese gegenüber den Sozialansprüchen und -exzessen unserer . Riesman steht mit diesem Ratschlag nicht allein; bei Paul Tillich finden wir den Satz: . New York 1953); Eugen Rosenstock-Huessy spricht in seinem jetzt auch deutsch vorliegenden Buch (München 1955) von der Notwendigkeit von Haltungen, , und sieht in den modernen kollektiven Verhaltensformen geradezu die neue Art der Sünde, die das Christentum vor eine neue Aufgabe der Bekehrung stellt; in der deutschen Soziologie mehren sich die Bemerkungen über , über den Rückzug ins Private, über die Person-Chancen der zwecklosen Muße in der Freizeit, der unorganisierten Hobbies usw. (und der Verfasser dieser Zeilen weiß sich an solchen Hinweisen durchaus mitschuldig). Diese Art Ratschläge finden sich offenbar immer da, wo die Soziologie ernst genommen und doch zugleich transzendiert wird; sie scheinen vorläufig der soziologischen Weisheit letzter Schluß zu sein. (Fs)

19a Aber es sind Wahrheiten, von denen zumindest der Soziologe nur mit Bedenken und innerem Widerspruch die Schleier lüftet; solche Ratschläge tragen für ihn die Gefahr in sich, daß daraus eine wird. Vorschläge von Soziologen werden allzu leicht zum sozialen Programm - und damit zur organisierten Freiheit>. Auch Riesman hätte sich widersprochen, wenn seine in der Arbeit und den ebenso modischen Ansprüchen auf Menschen- und Personbildung in der Freizeit einhergehende Abbau der Sachlichkeit im Beruf und der bloßen Müßigkeit und Zwecklosigkeit der arbeitsfreien Zeit zu unechten übertriebenen führen und heute geradezu als die entscheidenden Hindernisse der Sozialstruktur auf dem Wege zur Autonomie der Person angesehen werden müssen. Diese Kritik der und Humanisierung als eines sozialen Programms, ja, als des pseudoethischen Ideals schlechthin der außen-geleiteten Gesellschaft, ist wiederum explizit und beweiskräftig vorgetragen; daß die darin liegenden Andeutungen oder Schlußmöglichkeiten e contrario zum Verständnis und zur Einsicht über die echte Autonomie der Person fuhren, entzieht sich der soziologischen Demonstration und bleibt Hoffnung des Verfassers. So scheint mir Riesmans Buch zu zeigen, daß das Höchste, was die Soziologie als Analyse der Zeit und des Zeitgenossen zu erreichen vermag, nur eine indirekte Morallehre ist. (Fs) (notabene)

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