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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität: geschichtlicher Charakter; Differenzierung: sozialer, individueller Aspekt; Wurzeln: Christentum; Minnegesang, Marienkult (Bertnhard von Clairvaux)); moderne Wissenschaft

Kurzinhalt: Während die anderen Welt- und Erlösungsreligionen ..., wird der Einzelne im Christentum auf seine Sexualität als eine Aufgabe seiner innersten Person zurückgeworfen

Textausschnitt: 1. Das geschichtliche Verständnis der Sexualität

102a Wir haben in unserer Darstellung immer wieder auf den geschichtlichen Charakter der Sexualität als menschlicher Verhaltensform hingewiesen: Die Erscheinungsform der Geschlechtlichkeit nimmt an den Wandlungen und Entwicklungen der Kultur teil. So unterliegt sie auch einem jeweils zeitbedingten und zeittypischen Verständnis, wobei die Verflochtenheit sexueller Antriebe und Regulierungen mit nahezu allen sozialen Gebilden und Verhaltensformen es fast selbstverständlich macht, daß eine Gesellschaft die Sexualität stets in dem Sinne begreifen muß, wie sie sich selbst als soziale Struktur versteht und interpretiert. Die Sexualtheorien einer Zeit und Gesellschaft decken sich daher mit den jeweiligen Sozialtheorien oder sind vielmehr selbst nur, offen oder verdeckt, Ausfaltungen des jeweiligen sozialen Selbstbewußtseins. Allerdings tritt in unserer Tradition erst nach einem bestimmten geschichtlichen Wendepunkt das Bedürfnis nach einer expliziten und bewußten sozialen Deutung der Sexualität auf: mit der Erschaffung der abendländischen Individualität durch die Erlösungsreligion des Christentums. Solange die sexuellen Antriebe wesentlich von den sozialen Ansprüchen der Gruppe oder Gesellschaft her reguliert und in dementsprechenden religiösen und moralischen Systemen ritualisiert geführt wurden, wird dem Individuum seine Sexualität gar nicht zum Problem; erst indem das Christentum in jedem Einzelnen die Sorge um das Heil seiner Seele erweckt, konfrontiert es ihn unausweichlich mit dem Individualwert seiner Handlungen, so vor allem mit seiner Sexualität, wofür von Paulus ab die Schriften der Kirchenväter beredtes Zeugnis ablegen. Während die anderen Welt- und Erlösungsreligionen die Sexualität im wesentlichen in der traditionellen Schicht gruppenhafter Ritualisierung belassen, wird der Einzelne im Christentum auf seine Sexualität als eine Aufgabe seiner innersten Person zurückgeworfen; erst hier wird die Sexualität individualistisch, und erfordert jetzt eine Deutung für das individuell=personhaft zu verantwortende Führungsschema des Lebens. In diesem Moment müssen ein sozialer und ein individueller Wertungs- und Verständnisaspekt der Sexualität auseinandertreten; beide bestimmen denn auch in ihrem Widerspiel und in ihrer Ergänzung lange Jahrhunderte hindurch die Sexualitätsproblematik des Christentums und gehen säkularisiert in das moderne sozialwissenschaftliche Verständnis der Sexualität ein. In der sozialen Wertungs- und Verständnissicht werden stets die Interessen der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Gebilde am sexuellen Verhalten des Menschen betont (Fortpflanzung, Eheführung, Gesundheit, soziales und politisches Bevölkerungspotential, sozialer Status der Familie usw.); im individuellen Aspekt bestimmen die jeweiligen Interessen der Einzelperson (Heil der Seele, Liebe, Sinnenlust, Genuß usw.) die Wertung und Deutung der Sexualität. Diese beiden Interessen» richtungen gehen in unserer geistigen Tradition dann die verschiedenartigsten Kombinationen und Synthesen ein. (Fs)

103a So finden wir in der christlich-katholischen Kirchenlehre auf der einen Seite die platonisch-manichäische Verurteilung von Sinnlichkeit und Sexualität als Erbsünde, als etwas Befleckendes, von dem sich der Christ um des Heils seiner Seele willen möglichst fernzuhalten habe; von der paulinischen Wertung der Ehe als Zugeständnis zur Verhütung der Unzucht (1. Kor., 7) über die asketische Moral eines Tertullian und Origenes bis zu den asketisch-häretischen Auffassungen der spiritualistischen Sekten, z. B. der Katharer, die Ehe und Schwangerschaft als unsühnbare Verbrechen brandmarkten. Andererseits hat gerade die Kirche mit der Heiligung der Ehe als Sakrament der sozialen Bedeutung der Sexualität in den christlichen Gesellschaften die entscheidende Grundlage gegeben und ist, worauf kürzlich F. Arnold (80) klar hingewiesen hat, der übertriebenen asketischen Sinnesfeindschaft unter Berufung auf die aristotelische Lehre, daß der Leib das Organon der Seele sei, in verschiedenen Konzilen und Synoden entgegengetreten. Bei Thomas von Aquin, ja schon bei Augustin, sehen wir beide Auffassungen vertreten. (Fs)

103b Im Protestantismus finden wir eine ähnliche Kombination der beiden Deutungsaspekte der Sexualität: Auf der einen Seite wird durch die Tendenz der auch der Laienstand in sexuellen Fragen stärker asketisiert als im Katholizismus, und es entwickelt sich eine spezifisch protestantische Prüderie, auf der anderen Seite wird gerade der materialistisch entwertete Geschlechtsakt zur sozialen Pflicht erhoben, wie es in der kalten Zweckrationalität des Ausspruches Franklins: steckt auch in der Lehre Kants, wenn er die Ehe als einen Vertrag «zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften> () erklärt und damit die sexuellen Beziehungen genau nach dem Modell der Staatsvertragstheorien seiner Zeit versteht. (Fs)

103c Dieser die Sinnlichkeit im sozialen Funktionalismus entwertenden Auffassung gegenüber entdeckt die Romantik wieder die individuelle Autonomie der Liebeswirklichkeit in den sexuell-erotischen Beziehungen: So stellt Schleiermacher der puritanischen den Grundsatz 1796) entgegen, so erfährt die Liebe in Schlegels , in Stendhals ihre Darstellung als rein private, allen sozialen Beschränkungen enthobene Schicksalserfüllung der Person, eine Sinndeutung der menschlichen Sexualität, die nicht zuletzt über den Roman zum allgemeinen erotischen Selbstbewußtsein unserer Zeit geworden ist. (Fs)

104a Dieses romantische Verständnis der Liebesbeziehung verweist uns auf eine zweite geschichtliche Wurzel, aus der neben der christlichen Individualisierung die Deutung der Liebe in unserer Tradition gewachsen ist: auf die Kultivierung der Liebe und die Verehrung der Frau durch die Troubadoure und Minnesänger als eine hohe kulturelle Existenzform seit dem 11. und 12. Jahrhundert. Der Kern dieser in ihren Folgen unverlierbaren historischen Wendung ist eine geistige und sittliche Hochstellung und Verehrung der Frau als eines reinen und hehren Wesens, um dessen Zuneigung und Liebe zu erringen, man die höchsten Anstrengungen und Leistungen auf sich zu nehmen hat. Waffentaten und Dichtungen werden von jetzt ab zu Ehren der so Geliebten und Verehrten vollbracht; das Verhältnis des Mannes zur Frau gewinnt dadurch die Möglichkeit einer Vergeistigung und Personsteigerung, die in anderen Kulturen, auch vorher im Christentum, nicht gegeben ist. Mit Recht sagt Russell: (933. (Fs)

104b Die darin liegende Entsexualisierung in der Auffassung der Frau, die an sich der christlichen Welt vorher fremd war, verschmilzt doch gerade durch ihre asketische Neigung gegenüber der geschlechtlichen Vereinigung und durch ihre sittliche Sublimation der Liebesbeziehung sehr schnell mit der christlichen Tradition, eine Synthese, die dann in der erst seit dieser Zeit auftauchenden Marienverehrung ihren höchsten Ausdruck findet; (gegenüber dem 1140 in Lyon institutionaliiierten Fest der sagt noch Bernard v. Clairvaux protestierend, daß es sei). Der höfische Minnedienst selbst trennte in seinen Idealen die Liebe fast vollständig vom geschlechtlichen Besitz der Frau und kultivierte die Verehrung und das Sichsehnen, aber auch den autistischen Genuß der Unbefriedigtheit und des Schmerzes der Liebeswerbung als den eigentlichen Höhepunkt der Liebe; die Aussprüche der Troubadoure wie: oder , zeigen diese unerhörte Befreiung der Frau davon, in der Liebesbeziehung vornehmlich als Sexualobjekt angesehen zu werden, und weisen allen zukünftigen Sublimationsaskesen der Liebe ihren neuen Weg. Die geschichtlich ungeheuer bedeutsame Wirkung dieser Haltung besteht nun aber gerade darin, daß von jetzt ab Liebe dieser Art und Sexualität im idealen Anspruch der abendländischen Person nicht mehr zu trennen sind, sondern diese neugefundene Höhenschicht der Liebesbegegnung als Anspruch der Selbststeigerung in jeder sexuellen Beziehung liegt. Tritt sie aber, was ebenfalls dem Europäer erst von hier ab als eine allgemeine Haltung möglich wird, in und auseinander, so erfährt die von hier aus eine Abwertung, die ihre Begründung nicht nur aus der christlichen Sinnesfeindschaft, sondern aus dem Wesen der Liebe selbst zieht. (Fs)

105a Diese Wandlung in den Beziehungen der Geschlechter ist als eine der ganz großen Kulturleistungen unserer Tradition anzusehen: (E. Lucka, zit. L. L. Matthias, 88, S. 227). (ebd. S. 229). Die schönsten Darstellungen dieser sozial- und sexualgeschichtlich folgenreichsten Leistung des Mittelalters verdanken wir Emil Lucka (86) und J. Huizinga (84); (vgl. a. Denis de Rougemont (92), L. L. Matthias (88), G. R. Taylor (94) u. a.). (Fs)

105b Schließlich ist als dritte Wurzel sowohl der geschichtlichen Gestalt wie des zeitbedingten Verständnisses der Sexualität und Liebe in unserer Gesellschaft noch die moderne Wissenschaft zu erwähnen, und zwar in ihren beiden Formen als Geistes- und als Naturwissenschaft. Ihrem Wesen nach hat die Geisteswissenschaft eher zur Wandlung des Verständnisses der Sexualität als zu deren Verhaltensveränderung beigetragen, (in bezug auf die Formierung des faktischen Verhaltens ist der Einfluß der viel höher einzuschätzen). Man kann sagen, daß zu jeder der großen geistigen Bewegungen der Neuzeit eine ihr eigentümliche Sexualtheorie gehört; so wie dem Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus usw. jeweils eine bestimmte Staats- oder Wirtschaftstheorie eigen ist, müßte man auch bestimmte Auffassungen der sexuellen Beziehungen den jeweiligen Geistesrichtungen zuordnen. Leider hat die übliche Ideengeschichte von dieser Seite menschlicher und sozialer Selbstdeutung erstaunlich wenig Kenntnis genommen; dabei ist z. B. die These von einer entwicklungsgeschichtlich ursprünglich universalen und bedingungslosen geschichtlichen Promiskuität der Menschen eine so typisch liberale Konstruktion oder die Auffassung der geschlechtlichen Ausbeutung der Frau durch den Mann ohne die sozialistische Klassentheorie so wenig zu denken, daß in der analytischen Durchleuchtung dieser geistesgeschichtlichen Abhängigkeiten möglicherweise das Verständnis der einzelnen Geistesbewegungen erst noch ihr anthropologisches Fundament zu gewinnen hat. (Fs)

106a Stärkeren Einfluß auf die sexuellen Verhaltensänderungen hat die moderne Naturwissenschaft ausgeübt: Nach Jahrhunderten wesentlich religiös, moralisch oder sozial normativen Verständnisses der Sexualität schuf sie einen neuen Zugang zu ihr und eröffnete so ganz veränderte Motivschichten des sexuellen Verhaltens. Schon der Begriff kennzeichnet den naturwissenschaftlich entnormisierenden und entmoralisierenden Zugang zum Verständnis des Geschlechts und der Liebe. Diese sachliche, nämlich biologisch-medizinische Autonomisierung und Isolierung der Geschlechtlichkeit als eines eigenständigen, vorwiegend somatischen Geschehensbereichs hat nichtsdestoweniger zunächst gerade den sozialen Anliegen an die Sexualität neue Handlungs- und Behandlungsmöglichkeiten erschlossen: Kontrolle der Geschlechtskrankheiten, Behandlung pathologischen Sexualverhaltens als Krankheitserscheinung, Bevölkerungspolitik usw. Den größeren Einfluß gewinnt die wissenschaftliche Biologie aber dann in ihrer Verbindung mit den Einsichten eines Nietzsche, Freud usw. über die Abhängigkeit geistiger und seelischer Befindlichkeiten von der biologisch begriffenen Triebstruktur des Menschen: In den Auswirkungen einer popularisierten Psychoanalyse in Verbindung mit einer allgemeinen Psychologisierung der Verhaltensmotivation und -steuerung gewinnt die Sexualität heute vielleicht ihren bezeichnendsten Zeitcharakter, dem wir in einem eigenen Kapitel nun nachgehen wollen. In dieser Richtung wirkt das naturwissenschaftliche Verständnis der Sexualität als Betonung und Steigerung der individualistischen, lustsuchenden Interessen an ihr und kann, wie wir gezeigt zu haben glauben, dabei seinerseits in eine biologistische Normativierung mit sozialem und moralischem Verbindlichkeitsanspruch umschlagen. Es wird durch unsere Ausführungen bis hierher hoffentlich deutlich geworden sein, daß wir die Aufgabe eines echten sozialwissenschaftlichen Verständnisses der Sexualität dagegen darin sehen, die im Dualismus sozialer und individueller Interessen gegenüber der Geschlechtlichkeit liegende soziale und persönliche Formierungs- und Gestaltungsaufgabe der bloßen der Sexualität wieder entgegenzustellen und freizulegen. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität: Psychologisierung; Arnold Gehlen; Problem der Anpassung

Kurzinhalt: ... Formel ...

Textausschnitt: 2. Die Psychologisierung der Sexualität

107a Im Vergleich mit dem Liebesleben der Vergangenheit scheint das unserer Gegenwart vor allem durch eine größere Freiheit gekennzeichnet zu sein. Diese Feststellung drückt sich in durchaus gegensätzlichen Bewertungen aus: Einmal meint man damit im kritischen Sinne einen Verfall bindender Sitten und Konventionen für die Liebes- und Geschlechtsbeziehungen, ihre Freistellung zur persönlichen Beliebigkeit, ja bis zur Korruption; zum anderen versteht man darunter die höhere Individualität und Gefühlsbetontheit des Liebesverhältnisses, die eben durch das Zurücktreten gesellschaftlicher und moralischer Konventionen und Gebote ermöglicht worden sind. Dieser in sich identische Tatbestand des Abbaues institutionalisierter und ritualisierter Verhaltensformen zugunsten einer größeren Freiheit innerer Stellungnahmen der Einzelperson stellt einen allgemeinen Vorgang in der modernen Triebgeschichte dar: Auf dem Gebiet der Religion leitet die Reformation diese Wandlung der in Tradition, Institution und Ritual wurzelnden Glaubensformen zu größerer innerer Entscheidungsvielfältigkeit und Selbstreflektiertheit ein, die bis zu dem institutionslos verinnerlichten Subjektivismus moderner Sektengläubigkeit oder des Freidenkertums führt. Später - aber davon nicht unabhängig - emanzipiert sich auch die Liebe der Geschlechter von ihren traditionellen und institutionellen Ordnungen und erfährt ihr Wesen mehr und mehr in den subjektiven Befindlichkeiten einer sich selbst spiegelnden und dramatisierenden Innenwelt der Person. Die allen Konventionen feindliche Liebesauffassung der ästhetischen Kreise der Romantik wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr zum Gemeingut, nicht zuletzt eben durch die romantische Literatur, und gipfelt schließlich in der völligen Privatisierung der Seele in ihren Liebeserlebnissen und deren reflektiertem Verständnis durch die Psychologie. (Fs)

108a Arnold Gehlen hat diesen Vorgang in seiner Schrift auf die zusammenfassende Formel gebracht. Sein Gedankengang ist etwa dieser: In sozial hochdurchgeformten Gesellschaften ist der personale Kontakt der Menschen untereinander bis in das intimste Verhalten hinein gesellschaftlich kanalisiert und vorgeformt, in sozialen Ordnungen und Institutionen, Symbolen und genormten Akten untergebracht. Erst wenn die Institutionen diese vorgeformte und distanzierende Kommunikation nicht mehr leisten, begegnen sich die Menschen in der ganzen Breite ihrer unmittelbaren und natürlichen Person. drängt sich in der Begegnung distanzlos auf. Indem sich die sozial ungeformten, zufälligen Naturen der Individuen gegenseitig reflektieren und geht die Entwicklung der Psychologie mit der Entstehung ihres Gegenstandes, des Seelischen selbst, parallel. Nicht mehr untergebracht und abgesättigt in stabilen Institutionen und Verhaltenskonstanten, schlagen die freigesetzten Bedürfnisse und Affekte des Menschen als Selbstreiz und Unruhe auf den Menschen zurück. (Fs)

Die erwähnte , bringt Gehlen nun in Verbindung zu weiteren seelischen Merkmalen des modernen Menschen: der hohen Bewußtheit, der Dauerreflektiertheit und Selbstbeobachtung des Innenlebens, dem Mangel an direkten und naiven Affekten, der Gebrochenheit des Weltverhaltens, in summa der ganzen Raffinesse und Indirektheit der modernen Selbst- und Fremdinterpretationen, in denen Dieser Kultivierung der Seele entspricht aber die soziale Ausgesetztheit: (sämtl. Zit. 5; a, S. 15-17).

109a Es bedarf keiner großen Interpretation, um in dieser Skizze einer soziologischen das Schicksal der modernen Sexualitäts- und Liebeswirklichkeit und ihres menschlichen Selbstverständnisses im letzten Jahrhundert wiederzuerkennen: Die Liebe als ein ist fast wörtlich die Formel Stendhals, die als die Forderung auf ein natürliches Gefühlsrecht jedes Menschen dann durch den Roman, das Schauspiel, durch Oper und Operette und schließlich durch Kino und Kitschroman zu einer der tragenden Selbstverständlichkeiten unseres kulturellen Zustandes gemacht wird. Die Bewußtheit, Raffinesse und Selbstbespiegelung der Liebeserlebnisse wächst in dem Maße, wie Heirat und Familie ihre gesamtgesellschaftliche Funktion und Bedeutung verlieren und in das bloß Private abgedrängt werden. Der Prozeß der analytischen Erkenntnis der Liebe und Sexualität, die wachsende Distanzlosigkeit des Menschen zu sich selbst, wird unendlich vorwärts getrieben, vorläufig gipfelnd in dem pansexuellen Menschenbild einer popularisierten Libido-Theorie und der Orgasmus-Statistik Kinseys. In immer erneut gewechselten Liebesverhältnissen wird die Sexualität zum Medium einer menschlichen Entdistanzierungssucht schlechthin gemacht. Und wo zeigt sich die von Gehlen charakterisierte Triebunruhe und affektive Unstetigkeit, diese dauernde Selbstmobilisierung von Reizen, denen man dann schutzlos, d. h. disziplin- und wahllos, preisgegeben ist, deutlicher als im Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Sexualität? Wie sich unter dieser unverarbeiteten Reizüberflutung die Zufallsnatur der Charakterbildung des Menschen ergibt, so kann man auch von seinen Liebes- und Geschlechtsbeziehungen sagen, daß die meisten keinen anderen Grund haben als den, daß sich eben die Gelegenheit dazu bot. (Fs)

109b Diese aus Institutionsabbau und Konventionsverlust sich ergebende Distanzlosigkeit und Verhaltenswillkür des Menschen zu sich selbst und zu anderen läßt korrespondierend das Problem der Anpassung des Menschen in ungeahnter Schärfe entstehen: Die bewußte Planung der Integration seiner Triebe und Affekte in die - willkürlich veränderbare - Konzeption einer Person, die ständig erneut organisierte Einfügung des Menschen in eine - selbst dauernd wechselnde - soziale Umwelt werden, nicht zuletzt auch auf sexuellem Gebiet, zu den Forderungen des Tages. Psychotherapie und psychologische Seelsorge, bewußte Sexualerziehung und organisierte Eheberatung, birth-control- und child-guidance clinics, Gruppenpädagogik und human relations, die ganze Apparatur der modernen Seelentechnik oder des tritt an die Stelle der schwindenden Institutions- und Konventionsleistungen in der Formierung der menschlichen Triebwelt. Eine moderne Tiefenpsychologin sagt geradezu: (Esther Harding, 83, S. 307, 316). So steht die Psychologie als Erziehungs-, Behandlungs- und Planungspraxis vor dem Tatbestand des mit ihr als Deutungs- und Selbstverständnisweise erst befreiten, d. h. komplizierten und desintegrierten menschlichen Trieb- und Verhaltensgefüges. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung der Seele; Anpassung des Menschen an die Psychologie; Konvention 1; Kinsey

Kurzinhalt: Konventionalisierung der Seele durch Popularisierung der Psychologie ...der Mensch als lustsuchendes und lustberechtigtes Wesen

Textausschnitt: 110a Aber all diese bewußte Planung und Organisation der menschlichen Verhaltensformierung erscheint mir doch insofern oberflächlich, als sie kaum bemerkt, daß in tieferen Reaktionsschichten, als sie die professionelle Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse erreicht, die popularisierte Psychologie bereits selbst zur sozialen Funktion geworden ist. Der moderne Mensch hat sich nämlich bereits der Psychologie angepaßt, und zwar in einem viel fundamentaleren Sinne, als umgekehrt überhaupt geschehen kann. In Ergänzung zu den von Gehlen beschriebenen Vorgängen der Freisetzung der Seele durch Abbau des konventionellen und zeremonialisierten Verhaltens, der Distanzlosigkeit des Menschen zu seinen Antrieben und Affekten und zu denen der anderen, der Differenzierung und Kultivierung seiner Innenwelt usw., müssen wir jetzt bereits, so glaube ich zu sehen, gegenläufige Prozesse1 feststellen, in denen die Psychologie fast alle die Funktionen und Leistungen zu übernehmen beginnt, die von den schwindenden institutionellen Regelungen und Ordnungen nicht mehr erfüllt werden. Wir möchten diesen Vorgang die Konventionalisierung der Seele durch Popularisierung der Psychologie nennen. In einem viel breiteren Umfange und mit intensiverer Tiefenwirkung, als es je einer bewußten und organisierten psychologischen Beeinflussung gelänge, hat die psychologische Selbst- und Fremddeutung des modernen Menschen eben die Rolle der ritualisierenden, Symbole bietenden, distanzierenden und typisierenden, Norm und Gleichförmigkeit prägenden Kraft im sozialen Leben übernommen, deren Rückzug aus den alten Institutionen sie ihre und ihres Gegenstandes Entstehung verdankt. So muß man aber auch feststellen, daß der wissenschaftliche Erkenntniswert der Psychologie heute fast belanglos geworden ist gegenüber ihrer Bedeutung als gesellschaftlicher Funktion selbst und daß die Psychologen in einem sehr tiefgründigen Sinne damit zu Funktionären und Agenturen der Gesellschaft geworden sind. (Fs) (notabene)

111a Diese Vorgänge sind wohl nirgends deutlicher zu beobachten als im Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Sexualität. Wir wollen einige dieser gesellschaftlich funktionalen Wirkungen der Psychologie auf dem Gebiete des geschlechtlichen Verhaltens hier aufzählen und umreißen und damit eben jene Konventionen zu treffen versuchen, die einen wesentlichen Zug des sozialen Zeitcharakters der modernen Sexualität ausmachen. (Fs)

l. Die wichtigste soziale Konvention, die die Psychologie durchsetzen half und aufrechterhält, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich heute der Mensch als lustsuchendes und lustberechtigtes Wesen versteht. Insbesondere in der Sexualität wurde die zu einer Normalforderung, die praktisch sehr bald in einen allgemeinen Anspruch auf kurzfristige Glücksgefühle durch Orgasmus und sexuelle Potenz denaturierte. Diese Isolierung der Sexualität auf ihre Lustkomponente ist als Tiefenwirkung eines biologisch-psychologischen Menschenbildes anzusehen, das, schon in der philosophie eines Nietzsche und Bergson beginnend, vor allem in der Popularisierung der Lehre Freuds und solcher Aufklärungswellen wie der Kinseys seine im einzelnen durchaus wechselbaren sekundären Rationalisierungen gewinnt. Die soziale Konvention liegt also in der Ablösung der Sexualität von anderen, insbesondere sozialen Lebensgebieten: (Kardiner, 60 b, S. 23). Daß neben dem wirtschaftlichen vor allem der sexuelle zu einem von der gesellschaftlichen Konvention an alle gestellten Lebensanspruch geworden ist, hat man in letzter Zeit besonders für die nordamerikanische Gesellschaft öfters bemerkt; so stellt z. B. L. Keonenberger in einer klugen, kritischen Analyse des amerikanischen Charakters (85) fest, In diesem Ausspruch wird ein tiefgründiger Mechanismus deutlich, auf den auch Kardiner (60 b, S. 60) hinweist: Indem sexuelle Potenz und Orgasmus zum konventionellen Normalanspruch werden, schafft dieser zur gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit erhobene Standard natürlich die Furcht und Angst, ihm nicht zu genügen. Potenzfurcht und Ängstlichkeit wird zur modernen Sozialfurcht. Der Abbau der Schamkonventionen durch sexuelle Offenheit schafft nur die umgekehrte soziale Konvention des Orgasmus-Zwanges. (Fs)

112a Am deutlichsten ist diese Veränderung wohl in dem von der Gesellschaft heute als normal bewerteten sexuellen Verhalten der Frau zu bemerken: Daß auch für sie die Sexualität primär der eigenen Lustsuche zu dienen hat und auch ihre Veranlagung nur als anzusehen ist, wenn sie die Fähigkeit besitzt, eine Klimax im Geschlechtsverkehr zu erreichen, ist eine Normvorstellung durchaus neueren Datums. Sie ist zwar keineswegs allein durch die lustbetonende psychologische Deutung der Sexualität geschaffen worden, sondern hat z. B. in der universellen Ausbreitung der empfängnisverhütenden Mittel (wir kommen später darauf zurück), in der Gleichberechtigungsforderung der Frauenemanzipation usw. ihre Voraussetzungen, aber die psychologische Lustbetonung der Sexualität ist ja weitgehend nur eine geistige Verarbeitung der Verbreitung der Kontrazeption, die Gleichberechtigung der Frau auf diesem Gebiete interpretiert sich psychologisch usw. Diese neue Konvention geht ungeprüft dann bereits als Grundlage in die wissenschaftliche Forschung über das geschlechtliche Verhalten der Frau ein, wofür vielleicht der Kinsey-Report über das sexuelle Verhalten der Frau das beste Beispiel ist. (Fs)

So wirft Kardiner Kinseys zweitem Bericht vor allem eine völlig unkritische Verwendung des Orgasmus-Begriffes bei der Frau vor und deckt daran eben jene pseudo-wissenschaftliche Verführung der weiblichen Selbstdeutung als soziale Breitenwirkung des Reports auf, die wir schon S. 57 erwähnten. (60 b, S. 73). (Fs)

113a Sein Urteil - das eines Psychiaters und Psychosoziologen, der glänzend mit tiefenpsychologischen Hypothesen arbeitet -, daß (ebd. S. 80), gilt also keineswegs der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Schriften, sondern zielt eben auf diese tiefergehende soziale Wandlung der Konventionen und Normalansprüche, auf die Begründung neuer (Nietzsche), die von ihnen ausgeht und deren spezifischen Gefahren und Notständen wir - und erst recht die Psychologie - dann hilflos gegenüberstehen. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 2; psychologisch Fremddeutung

Kurzinhalt: ... auf der anderen Seite übernimmt aber gerade heute die Gewohnheit, die Verhaltensformen und Reaktionen des anderen auf ihre psychologischen Zusammenhänge, Motive und Charakterstrukturen zurückzuführen, eben wieder jene Funktion,

Textausschnitt: 113b
2. Eine zweite soziale Funktion der Psychologie sehe ich darin, daß die psychologische Fremddeutung heute zu eben der konventionellen Form der Distanzierung der anderen Person wird, die im Verfall der Institutionen und Zeremonielle alter Art verlorengegangen ist. Auf der einen Seite hat der Institutions- und Formenverlust, wie es Gehlen analysiert, zu der Distanzlosigkeit der vollen Eigenschaftsbreite des anderen Menschen geführt, auf der anderen Seite übernimmt aber gerade heute die Gewohnheit, die Verhaltensformen und Reaktionen des anderen auf ihre psychologischen Zusammenhänge, Motive und Charakterstrukturen zurückzuführen, eben wieder jene Funktion, ihn als Person zu verdecken und zu distanzieren. Von Situationen zu enger und womöglich zu verpflichtender Kommunikation entlastet man sich heute danach durch Psychologisierung der anderen und der Situation; ich halte dies durchaus für eine der wesentlichsten Konventionen unseres gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens. Sie macht es möglich, auf wohl ausgegliederte Teilaspekte des anderen Menschen hin sich zu verhalten, ihn gegenständlich zu dirigieren und ihn in den Zwang vorkalkulierbarer Situationen zu stellen, und schafft schließlich, da ich ein ähnliches Fremdverständnis bei ihm auch voraussetzen kann, eine neue Form des gemeinsamen Einverständnisses, eben jenen Consensus der Konvention, im gegenseitigen Verhalten. Dies ist eine der wesentlichsten Ebenen, auf denen heute, gesellschaftlich vorgeformt, die Geschlechts- und Liebesbeziehungen ablaufen: Man verhält sich zum Triebbedürfnis des anderen, reduziert die Motivationen auf den bloßen Stimmungsgehalt der Situation und verdeckt sich den personalen Anspruch des Verhältnisses durch eine Beschränkung des Interesses auf die Neugier am bloß Eigenschaftlichen des anderen. In der Erziehung verhindert die psychologische Vergegenständlichung des immer mehr das Eingehen eines echten personellen Lehr- und Lern-Verhältnisses, worauf neuerdings sowohl D. Riesman in einer Kennzeichnung der amerikanischen Erziehungsmethoden (90) wie E. Rosenstock-Huessy in einer Interpretation der Schrift Augustins (91 b, S. 134 ff.) hingewiesen haben. So haben wahrscheinlich die wenig erforschten Formen der modernen konventionellen Distanzierung der anderen Person, die das Verhalten mit ihr leicht und stereotyp, in Ablaufformen und Konsequenzen voraussehbar und begrenzt, also konventionell machen, wie in den sexuellen Beziehungen so auf allen Lebensgebieten ihren Ursprung in eben der psychologischen Fremddeutung, die zunächst die Nähe der anderen Person aufdringlich vorgespiegelt hat. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 3; Selbstverständnis: psychologisch typisiert; fehlender Normgehalt psychologischer Erkenntnisse (Gehlen)

Kurzinhalt: ... tritt mit ihrer konventionellen Selbstdeutungsfunktion eben der Tatbestand einer völligen Triebgebundenheit des Handelns mit konventioneller sekundärer Rationalisation als eine durchgängige Erscheinung unseres gesellschaftlichen Verhaltens auf.

Textausschnitt: 114a
3. Wie die Fremddeutung so wird natürlich auch das Selbstverständnis des modernen Menschen über die Psychologie und ähnliche Wissenschaften konventionell und wird so sozial stereotypisiert. Auch zu sich selber gewinnt der Mensch heute in breitem Ausmaße nur noch in der psychologischen Reflexion Distanz, da das direkte Motivverständnis an sozialen, moralischen oder religiösen Wertmaßstäben immer mehr zurücktritt. Da aber die psychologischen Erkenntnisse, worauf Gehlen (55 a, S. 33 f.) hinweist, niemals echte Motive des Handelns werden können, weil ihnen der Normgehalt abgeht, tritt mit ihrer konventionellen Selbstdeutungsfunktion eben der Tatbestand einer völligen Triebgebundenheit des Handelns mit konventioneller sekundärer Rationalisation als eine durchgängige Erscheinung unseres gesellschaftlichen Verhaltens auf. Kardiner hat diese Beziehung für das sexuelle Verhalten richtig erkannt, wenn er das Bedürfnis nach geschlechtlichem Ausleben, die , als den primären und dauerhaften Tatbestand, ihre Begründung als sekundär und in den Zeiten wechselnd bestimmt: Noch im 1. Weltkrieg hätte die Motivation gelautet: ; nach dem Kriege sei dann die pseudo-freudsche Einsicht von der populär geworden und heute biete Kinsey neue Möglichkeiten der sekundären Rationalisation (60 b, S. 79 f.). So dienen abgeplattete tiefenpsychologische Theoreme und Formeln als stereotype Auffangsysteme des Selbstverständnisses insbesondere für die Schwierigkeiten, die die Menschen mit ihrer Sexualität haben; die therapeutische Analyse wird zum gesellschaftlichen Ritual (so sehr, daß z. B. auf einer internationalen Tagung abgelehnt wurde, mit Leuten überhaupt zu diskutieren, die nicht analysiert seien!), das Bekenntnis zu bestimmten Theorien zu sozial verbindlichen Glaubensformen mit all ihren Folgerungen der sozialen Diffamierung Andersdenkender, der kritischen Unangreifbarkeit durch Tatsachen usw. Bürger-Prinz weist darauf hin, daß heute der Kranke seine Beschwerden bereits in der Form pseudo-wissenschaftlicher Deutung vorzutragen pflegt und daß diese Form des Selbstverständnisses völlig der Stereotypie und Konventionalität der öffentlichen Meinungsbildung entspricht:

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 4; Typisierung des Originellen und Individuellen

Kurzinhalt: Es gibt heute so etwas wie die Originalität von der Stange, wofür der Existenzialismus als Mode das beste Beispiel ist. In ähnlicher Weise wird auch heute der Individualitätsanspruch der Liebe konventionell in Scheinoriginalitäten umgesetzt ...

Textausschnitt: 115a
4. Über die Konventionalität dieser Fremd- und Selbstdeutungen täuscht häufig ihr auf den ersten Blick vielfältig und hoch variabel erscheinender Inhalt, aber die Potenzierung der Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten des modernen Menschen verhindert keineswegs ihre Stereotypisierung. Im Gegenteil: das Originelle und Individuelle wird selbst sterotyp und konventionell. (P. Hofstätter, 57, S. 205). Diese sozial (ebd. S. 78) stellt eine der Überforderungen und Belastungen des modernen Menschen dar, die aus dem Verfall der alten Institutionen und bindenden sozialen Formen entstanden sind; in der Beziehung der Geschlechter bezeugt etwa die Forderung auf den einmaligen Leidenschafts-Charakter jeder Liebesbeziehung, auf die der Konventionalität enthobene , diesen universal gewordenen Individualitätsanspruch. A. Gehlen hat mit Recht gegenüber dem billigen Gerede von der Uniformierung des Massenmenschen darauf hingewiesen, daß die Gesellschaft heute wie nie zuvor eine ungeheure Mannigfaltigkeit an Geschmacks-, Wertungs- und Meinungsvarianten zulasse, daß unter der Decke einer großorganisatorischen Konformität die starke Ausfaltung individuell-psychologischer Eigenschaftlichkeit stecke (, 55 e), und in der Tat hat es wohl nie eine zivilisatorische Situation gegeben, in der dem einzelnen die kulturellen Gehalte der ganzen Welt und Vergangenheit für eine Verlebendigung in seiner Individualität so offengelegen hätten wie heute. Aber eben die Tatsache, daß dieser Anspruch an jeden gestellt wird, bedingt die Konventionalität seiner Erfüllung: Indem die Massenproduktion von Unterhaltungs- und Gebrauchsgütern das individualistische Bedürfnis im Prinzip der berücksichtigt - Vielfältigkeit des Oberflächenmusters bei genormten Gegenständen -, erlaubt sie, die sozial angesonnene [eg: sic] Originalität und Individualität im Vorhof der Person zu erledigen. Es gibt heute so etwas wie die Originalität von der Stange, wofür der Existenzialismus als Mode das beste Beispiel ist. In ähnlicher Weise wird auch heute der Individualitätsanspruch der Liebe konventionell in Scheinoriginalitäten umgesetzt: Das zur Sentimentalität nivellierte Bedürfnis nach seelischer Tiefe und das fast ausnahmslose Jagen nach sexuellen Sensationen sind solche konventionell gewordenen Beruhigungsmechanismen des als Individualität überforderten Zeitgenossen, deren Gebrauch, von den verschiedensten Organisationen der Gesellschaft freigebigst angeboten, ja aufgedrungen, kaum noch zu vermeiden ist. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 5; Konventionalität der Freiheit u. des Non-Konformismus

Kurzinhalt: Daß junge Menschen ein haben, wird in der amerikanischen Sitte des Dating schon sehr früh durchaus zum konventionellen Zwang mit allen Charakteristiken des sozialen Prestiges im einen, der sozialen Verachtung im anderen Falle.

Textausschnitt: 116a
5. Neben die Konvention der Individualität tritt die Konventionnalität der Freiheit in unserer Gesellschaft, ja sie ist wohl nur noch eine Variation und zusätzliche Schattierung der bereits erwähnten Formen der Konventionalisierung der Seele des modernen Menschen durch die Popularisierung der sie deutenden und reflektierenden Wissenschaften. Auf sexuellem Gebiet ist der gesellschaftliche Druck zur Freiheit zwischen den Geschlechtern und zur sexuellen Freizügigkeit gar nicht zu übersehen: Daß junge Menschen ein haben, wird in der amerikanischen Sitte des Dating schon sehr früh durchaus zum konventionellen Zwang mit allen Charakteristiken des sozialen Prestiges im einen, der sozialen Verachtung im anderen Falle.
117a Als eine besondere Form dieser erzwungenen Freiheit auf sexuellem Gebiet, dieser zeittypischen Konventionalisierung des Non-Konformismus, ist wohl die Art zu betrachten, in der unsere Gesellschaft bereit ist, die sexuell abnormen Verhaltensweisen hinzunehmen oder gar zu übernehmen. Auch diese stammt keineswegs aus einer echten Toleranz, die den gesellschaftlichen Anspruch auf Konformität durch das Prinzip der Achtung vor der Eigenheit der Person oder des Privatlebens des anderen begrenzt, sondern aus dem vagen Druck psychologischer Popularisierungen, daß eine Aburteilung oder Ablehnung solcher Verhaltensweisen die Unfähigkeit zu einer gesellschaftlich geforderten Verständnis- und Bildungsstufe, also Banausentum, demonstrieren würde. Nicht das abnorme Verhalten, sondern seine schlichte Bewertung als solches erscheint mehr und mehr suspekt. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 6; große Verbreitung und Anwendung typisierender Schemata

Kurzinhalt: Such- und Darbietungsbild der erotischen Kommunikation geraten in eine gesellschaftlich geforderte und auf gedrungene Standardisierung, die sich sehr frühzeitig der Phantasie der jungen Menschen aufprägt ...

Textausschnitt: 117b
6. Schließlich wäre als ein auffallendes Beispiel dafür, wie die hohen Variationsmöglichkeiten der Individualität und Reaktionen heute konventionell bewältigt werden, noch die große Verbreitung und Anwendung typisierender Schemata zu nennen. Auch hier geraten irgendwelche wissenschaftlichen Hypothesen, Typentheorien des Charakters, der Triebstruktur, des Erscheinungsbildes usw., meist sogar alles miteinander kombiniert, in die Rolle gesellschaftlicher Konventionen der Fremd- und Selbstbeurteilung; die Rassentheorie z.B. mit ihren einfachen Kriterien des äußerlichen Aussehens kam diesem allgemeinen Wunsch nach Sicherheit des Urteils im Schema optimal entgegen. Aber auch differenziertere Typenunterscheidungen halten sich trotz ihrer jeweils bald nachgewiesenen wissenschaftlichen Belanglosigkeit recht dauerhaft in den Köpfen der Menschen, weil sie immer dieses Bedürfnis nach konventioneller Ordnung noch besser befriedigen als eine der Vielfältigkeit der wirklichen Tatbestände gerecht werdende wissenschaftliche Einsicht. In der Beziehung der Geschlechter zueinander spielen diese konventionell typisierenden Schemata heute eine große Rolle. Indem sich der moderne Mensch in umfassender Anonymität begegnet und sein Triebleben in einem breiten, ungeformten Wunschstrom dahinfließt, scheint aus dem Mangel an äußerer und innerer Orientierung etwa die Anbahnung erotischer Kontakte völlig zufällig zu sein; hier setzt die Typenschematisierung in den Verhaltens- und Verständnisformen der Menschen als eine durchgehend gebräuchliche Vorformung und Kanalisierung des Verhaltens zueinander ein. Als kollektiv typisierte Hungerstimmungen hat A. Mitscherlich geradezu die erotischen Ausgangssituationen der Partnerwahl des modernen Großstädters bezeichnet: (89, S. 209). Such- und Darbietungsbild der erotischen Kommunikation geraten in eine gesellschaftlich geforderte und auf gedrungene Standardisierung, die sich sehr frühzeitig der Phantasie der jungen Menschen aufprägt und nur mit der Sanktion eines erheblichen Chancenverlustes durchbrochen werden kann. (Fs)

118a In diesem Beispiel kündigte sich bereits eine zweite, ergänzende Verhaltensgesetzlichkeit des modernen Menschen in seinen erotischen Beziehungen an: die Eingespanntheit auch dieser Reaktionen in das Schema von Angebot und Nachfrage, also die Verbraucherhaltung auf erotisch-sexuellem Gebiet, deren Erörterung wir uns zum Schluß zuwenden möchten. Zusammenfassend wollen wir noch einmal feststellen, daß es uns in diesem Kapitel darum ging, aufzuweisen, daß die gleichen Kräfte, die aus dem Abbau und Verfall der alten Konventionen und institutionellen Regelungen des Geschlechtslebens entstehen und diesen Prozeß mit vorwärtstreiben, inzwischen zu eigener Konventionalität umgeschlagen sind und in einer gesellschaftlich angesonnenen Standardisierung der sexuellen Verhaltensweisen den zeittypischen Sozialcharakter der Sexualität in einem wesentlichen Ausmaße bilden. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität als Konsum 1; Freizeit, Orientierungssystem: Herrschaft der Konsumbedürfnisse; Voraussetzung: empfängnisverhütende Mittel; Kontrazeption -> Schwäche der Moral


Kurzinhalt: Die soziale Zuordnung der Menschen wird heute in viel stärkerem Maße durch die arbeitsteiligen und großorganisatorisch-bürokratischen Produktions- und Verwaltungsformen bestimmt, so daß ...

Textausschnitt: 3. Sexualität als Konsum

118b Man kann dem sozialen Zeitcharakter der Sexualität noch auf eine andere Weise nahe kommen, als daß man ihn von der Selbstdeutung und Innengeführtheit des Verhaltens her begreift: indem man ihn nämlich von der Struktur und den Verhaltenskonstanten der Gesamtgesellschaft her versteht. Daß die Rolle und Bedeutung der Sexualität in der Gesellschaft immer von der Verfassung des sozialen Gesamtgefüges her mitbestimmt war, haben wir an vielen Stellen unserer Untersuchung gesehen: an der Unterordnung der Sexualität unter familiäre Statusbedürfnisse in allen Gesellschaften, in denen der Familienverband noch die rechtliche Grundeinheit der öffentlichen Ordnung war, an der Trennung zwischen Lust und in der Klassengesellschaft usw. Welches sind die Wesenszüge, die dem sexuellen Verhalten heute von der Gesamtstruktur der Gesellschaft aufgeprägt werden? (Fs)

119a Um dies zu beantworten, wäre nun zuerst eine Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur erforderlich; wir müssen uns hier auf einige Andeutungen beschränken. Es herrscht in der Soziologie allgemeine Übereinstimmung darüber, daß die Klassenspannung und -Schichtung nicht mehr als die tragende Strukturgesetzlichkeit der westlichen Gesellschaften angesehen werden kann, sondern daß sich eine weitgehende Verwischung und Nivellierung der Klassengegensätze und -unterschiede vollzogen hat, die sich auch in einem verhältnismäßig nivellierten und vereinheitlichten Verhaltenstypus kleinbürgerlich-mittelständischer Art auf allen Lebensgebieten ausdrückt. Die soziale Zuordnung der Menschen wird heute in viel stärkerem Maße durch die arbeitsteiligen und großorganisatorisch-bürokratischen Produktions- und Verwaltungsformen bestimmt, so daß eine bestimmte Spannung des Menschen in seinen kleinräumigen, privaten Interessengruppierungen gegenüber der hohen Abstraktheit, Anonymität und kalten Disziplin der öffentlichen Ordnung, der Arbeitswelt und der verschiedenartigen Großorganisationen zur verhaltensführenden und entwicklungsleitenden dynamischen Gesetzlichkeit der industriellen Gesellschaft zu werden scheint. Durch die Versachlichung und damit , denen der Mensch in den modernen Arbeitsformen und in den Organisationen der öffentlichen Ordnung ausgesetzt ist, verlagert sich das von ihm als personhaft und ihm zugehörig empfundene Verhalten immer mehr von diesen Bereichen seines Lebens hinweg in ein kompensatorisch-privates Tätigkeitsfeld: in seine Freizeit. Diese wird zum Orientierungssystem der Privatheit und Personhaftigkeit des Menschen ausgebaut, hier sucht er sein soziales Geltungs- und Rangstreben zu erfüllen, hier befriedigt er die Sinnansprüche und Initiative seines Daseins, die ihm die Abhängigkeit und sachliche Eingespanntheit der Arbeitswelt verwehrt. (Fs) (notabene)

119b Allerdings gerät nun diese Freizeit weitgehend unter das Diktat einer anderen industriegesellschaftlichen Gesetzlichkeit: unter die Herrschaft der Konsumbedürfnisse. Indem die Kompensation für den Mangel an Sinnerfüllung, Daseinsfreude und Persongehalt der Arbeit im Verbrauchergenuß der Freizeit gefunden wird, unterwirft sich der Mensch unversehens wieder einem zweiten - und Dirigierungsprozeß der industriellen Organisation: der Enthemmung seiner Konsumbedürfnisse, die in der systematischen und künstlichen Stimulierung dauernd veränderbarer und unendlich zu steigernder Verbraucherbedürfnisse von Seiten der Produktions- und Darbietungsorganisationen besteht. Der Mensch unserer Gesellschaft tritt in der Freizeit unter den Zwang und die Gesetzlichkeit des industriegesellschaftlichen Konsums, wie er in der Arbeitszeit unter dem Zwange der industriell-bürokratischen Produktionsform steht; beide wirken gleichermaßen entpersönlichend und verhaltensnivellierend. Der beherrschende Einfluß dieser Konsumbestimmtheit des modernen Lebens auf die gesamte Verhaltens- und Gesellschaftsstruktur der gegenwärtigen westlichen Zivilisation ist schon verschiedentlich betont worden (vgl. Gehlen 55 g, Habermas 82 u. a.) ; neuerdings hat vor allem D. Riesman (90) in einer einfallsreichen Darstellung des amerikanischen Charakters diese Konsumorientiertheit als die wesentlichste Grundlage des gesamten zeittypischen Verhaltenssystems dargestellt. (Fs)

120a In den Einfluß dieser vom Freizeitraum des modernen Daseins ausgehenden Konsumgewohnheiten und Verbraucherhaltungen gerät nun auch das sexuelle Verhalten und erhält von dort seine charakteristischste zeittypische Prägung. Allerdings bedurfte diese Angleichung des sexuell-erotischen Habitus an die modernen Konsumverhaltensweisen sehr gewichtiger Voraussetzungen, unter denen die umfassende Verbreitung der empfängnisverhütenden Mittel und Praktiken sowie die medizinischen Fortschritte in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und anderer gesundheitlicher Gefahren an erster Stelle stehen. Ihre Auswirkung schuf überhaupt erst die Grundlage dafür, daß sich soziale Strömungen wie die allgemeine Liberalität gegenüber dem privaten Bereich, die Gleichberechtigungsforderung der Frau auch auf erotischem Gebiet, die geschlechtliche Neutralisierung der modernen Arbeitsbedingungen und damit das Auftauchen der Frau als Konkurrentin des Mannes in der industriell-bürokratischen Arbeitswelt durchsetzen konnten. Erst wenn eine geschlechtliche Vereinigung zweier Menschen nicht mehr von der Wahrscheinlichkeit der Empfängnis begleitet ist, hört sie auf, eine primär soziale und kollektive Angelegenheit zu sein und wird privat in dem Sinne, den z. B. die moderne Psychologie der Liebe und Sexualität ohne weiteres unterlegt. Erst diese Entwicklung hat neben den sozialen Folgen auch die Chancen der Gefahr und des Leidens in der Sexualität so verringert, daß sie ihren vieltausendjährigen zwiegesichtigen Charakter, Daseinserhöhung und -bedrohung zugleich zu sein, fast verloren zu haben scheint zugunsten einer Bändigung und Verharmlosung zum bloßen Genuß. In diesem Vorgange liegt auch die Schwäche der Moral gegenüber dem Geschlechtlichen heute mit begründet: Die Hemmungen und Sanktionen, die gegenüber dieser in ihrer Eigenbedrohung gebändigten und sozial verhältnismäßig folgenarm gewordenen Sexualität aufgebracht werden können, bestehen eben nur noch in den kaum noch durch aufdringliche Tatsachenfolgen gestützten rein sittlichen Grundsätzen. (Vgl. dazu Kardiner, 60 b, S. 52 f und Harding, 83, S. 229 f)

121a Damit sind wir aber bereits bei einem der wesentlichsten Züge der Konsumhaltung im Geschlechtlichen: , dieser Werbeslogan einer Filterzigarettenfabrik, in dem die Rücksicht auf gesundheitliches Skrupulantentum mit der Anerkennung des Bedürfnisses auf nervöse Erregtheit klug kombiniert wird, kennzeichnet ohne Zweifel ebenso das allgemeine Wunschbild und weitgehend auch die Praxis des sexuellen Verkehrs in der modernen westlichen Zivilisation. Die Forderung auf Risikolosigkeit und der pure Genußstandpunkt des Verhaltens setzen sich dabei gegenseitig voraus. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität als Konsum 2; neue Form der Herrschaft (Paul Tillich); Erziehung zur Anpassung

Kurzinhalt: So kommt es zu dem an sich paradoxen Verhältnis, daß heute gerade der Bereich, in dem sich das Individuum anscheinend frei auslegt und auslebt, ... fast im stärkeren Maße die Verhaltensweisen vereinheitlicht und stereotypisiert ...

Textausschnitt: 122a Damit wird ein zweiter Zug des sexuellen Genuß-Verhaltens deutlich: seine Kurzfristigkeit und Punktualität. Die Abtrennung der langfristigen Persönlichkeitschancen von der sexuellen Beziehung, die Überschätzung des gegenwärtigen Vollzugsgenusses durch Mangel an persönlicher Kontinuität, verraten die Entwertung der sexuellen Beziehung zu einem Unterhaltungsgut, zu einem Mittel der Zerstreuung, das schnell zuhanden, aber auch schnell erledigt sein soll. (E. Harding, 83, S. 316). (Dieser Tendenz der Vertändelung der erotischen Impulse im Kleinkonsum widerspricht nicht eine Neigung der Jugend zu früher partnerschaftlicher Bindung und Heirat, da diese gerade auf dem Zurücktreten der Bedeutung der Sexualität für die Partnerbindung beruht.) So wird die in der geschlechtlichen Beziehung liegende Aufforderung zur gegenseitigen Intimität der Person immer flüchtiger ausgeschöpft und bleibt oberflächlicher, sich wandelnd in ein Bedürfnis nach schnellem Wechsel grober und doch flacher Sensationen. Gegenüber den Extremen des klassengesellschaftlichen Sexualitätshabitus, der von Innerlichkeit und Idealität erfüllten Liebe auf der einen und der Käuflichkeit prostituierter Liebe auf der anderen Seite, spielt sich heute das Nivellement der von einigen genußsteigernden Erlebnistönen und Gefühlchen begleiteten, leicht einzugehenden, aber auch häufig gewechselten, verhältnismäßig wahllosen geschlechtlichen Beziehung als der breite Weg des typischen Durchschnittsverhaltens ein. Seine Gleichstellung mit anderen Arten des konsumtiven Freizeitverhaltens, mit dem ebenso unverbindlichen Verbrauch sonstiger Bildungs-, Unterhaltungs- und Sensationsgüter, scheint mir unverkennbar zu sein. (Fs)

123a Diese Freistellung der Sexualität von schwerwiegenden persönlichen und sozialen Folgen zu verhältnismäßig großer persönlicher Beliebigkeit und Leichtfertigkeit hat zu der zunächst bestechenden These geführt, die Art der modernen sexuellen Beziehungen müsse wesentlich als Spiel begriffen werden und es sei auch die bevorzugteste Form des Spielerischen für Millionen von Menschen geworden (N. Foote, 81); dies erkläre auch, weshalb sich heute die Sexualität wie jede Art von Spiel von der Verbindlichkeit des Ernstes auf anderen Lebensgebieten emanzipiere und isoliert ihre eigenen Spielregeln, Werte und Moralität entwickele, denen sich dann alle Teilnehmer an diesem Spiel freiwillig unterwerfen. Ich glaube nicht, daß diese Deutung den Kern der für unsere Zeit typischen Sexualität richtig trifft: Diese hat den Charakter eines echten Spieles mindestens genau so verloren wie z. B. das Fußballspiel, wenn es durch Massenpublikum und nationale oder regionale Leidenschaften, durch Berufsspielertum und Totospekulation zu einem bitter ernst genommenen Konsumgut für modernen Sensationshunger geworden ist. Sexualität als Spiel, das heißt schließlich: sich einlassen auf die Kultivierung der Formen der Werbung und der vielfältigen menschlichen Kontakte der Geschlechter, heißt als gesellschaftliches Umgangszeremoniell, als geistvolle und gefühlsraffinierte Kommunikationsfähigkeit, alles Formen sublimer Leichtigkeit in der Beziehung der Geschlechter, die letztlich darauf beruhten, daß man das Endziel nicht zu wichtig nahm und geradezu in der Abwendung davon die Vorbereitungen darauf zu einem raffinierten, ästhetisch befriedigenden Spiel ausgestaltete. Diese Form der erotischen Beziehung gehörte anderen, vergangenen Gesellschaftssystemen an. Heute muß man geradezu einen Abbau der Kultivierungen und erotischen Durcharbeitung der Sexualität zugunsten eines immer massiveren Interesses am bloßen sexuellen Vollzug konstatieren, ja,
124a Vor allem aber bedeutet die Leichtfertigkeit und Flüchtigkeit der heutigen sexuellen Beziehungen keineswegs ihre innere Gelockertheit und spielerische Hingegebenheit; die festgestellte Angleichung an die Konsumverhaltensweisen sagt fast das Gegenteil aus; denn: Konsum wird heute ernst genommen. So wie der scheinbar frei und beliebig wählende Verbraucher längst unter der Rute des Absatzterrors will, wie er muß, und den Anschein seiner Freiheit vorgeplant in ein dirigiertes Geschäft einbringt, so ist die sexuelle Lustsuche längst zu einer unersetzlichen Methode persönlicher und sozialer Daseins- und Selbstbestätigung geworden und damit weit entfernt von der Heiterkeit des Spiels. Daher gebe ich Riesman recht, wenn er sagt: (90, S. 175). (Fs)

124b Diese Unersetzlichkeit der Sexualität als eines Vehikels persönlicher Selbstwertbestätigung hängt eng mit der Gesamtstruktur unserer Gesellschaft zusammen: So wie die Versachlichung und Entpersönlichung der Arbeits- und Produktionsformen im allgemeinen den privaten Lebenssinn immer mehr aus der Berufswelt heraus in die Freizeit und den Konsum drängt, so wird die sexuelle Lustsuche dank ihrer unaufhebbaren Reste an persönlicher Initiative, an Intimität, an Sensation und Nervenkitzel und schließlich vor allem an Geheimnis und Irrationalität zu der verfügbarsten Kompensation für die disziplinierte Abhängigkeit und Dirigiertheit, die sachliche Monotonie und Rationalität der Arbeitswelt, ja des gesamten organisierten Daseins. Man hat nicht zu Unrecht als den psychischen Grundzug der gegenwärtigen Zeit (Taylor, 94, S.288) festgestellt; macht man sich klar, in welchem Maße diese personverarmende innere Abhängigkeit von kollektiven Zwängen und die kompensatorische Lustsuche eben in der von uns geschilderten Art des sexuellen Verhaltens kulminieren, so hat man den strukturellen Zusammenhang der zeittypischen Sexualität mit der modernen Funktionär- und Verbrauchergesellschaft erkannt. In der allgemeinen Durchorganisiertheit und Versachlichung bietet die noch so verflachte sexuelle Beziehung und Sensation doch so etwas wie ein letztes persönliches Abenteuer, einen Ausweg gegenüber der Apathie der Rationalität in eine Ahnung elementarer Kräfte oder in die Beruhigung und den Ausgleich der disziplinären Spannungen durch einen, wenn auch flüchtigen Rausch. So kann man sagen, daß (Horney, 59 b, S, 156), was wiederum für alle Konsumverhaltensweisen und -Steigerungen heute zutrifft. (Fs) (notabene)

125a So kommt es zu dem an sich paradoxen Verhältnis, daß heute gerade der Bereich, in dem sich das Individuum anscheinend frei auslegt und auslebt, nämlich auf dem Felde des individuellen Freizeitkonsums, fast im stärkeren Maße die Verhaltensweisen vereinheitlicht und stereotypisiert als die zur verengenden Spezialisation zwingende Arbeits- und Berufswelt. Die Methode, diese Konformität zu erzeugen unter scheinbarer Zugestehung von Individualität und Wahlfreiheit des Verhaltens, besteht darin, das Angebot bestimmter Verhaltensformen unausweichlich zu machen; diese Einsicht hat kürzlich Paul Tillich treffend formuliert: (95). (Fs)

125b Dies ist nun genau der Mechanismus, mit dem die westliche Zivilisation auch die unerhörte Konformität zeittypischer sexueller Verhaltensweisen erzeugt: durch aufdringliches Bereitstellen unausweichlicher Triebphantasmen. Man hat sich oft gestritten, ob unsere Zeit eigentlich einen hohen Grad an Erotisierung zeige oder nicht; die Bejaher dieser Ansicht konnten für ihre Behauptung auf die Allgegenwärtigkeit erotischer Bilder in der modernen Publizität und Propaganda, auf die offenherzigste Ausbreitung sexueller Anreize in Illustrierten, Kinos, Schlagermusik, Reklamebildern, Fernsehschirmen und sonstwo hinweisen. Die Frage, ob das eine Erotisierung schlechthin bedeutet, erscheint mir belanglos gegenüber der Einsicht, daß durch diese im Dauerdruck moderner Massenkommunikationsmittel aufgedrängten erotischen Bilder und Klischees die im Individuum entspringende Triebphantasie bis zu Untätigkeit entlastet und also in Wirklichkeit gehemmt wird. Man kommt der individuellen erotischen Einbildungskraft zuvor, indem man ihr zur Übernahme und zum Gebrauch mehr anbietet, als sie im Durchschnitt von sich aus überhaupt aufzubringen vermocht hätte. Die Folge ist eine Erotisierung, besser sogar Sexualisierung des modernen Menschen von außen, eine Daueraktualisierung sexueller Impulse durch die Gesellschaft ohne eigentlichen Triebdruck vom Individuum her und mit der Konzession weitgehender Phantasie- und Gefühlsträgheit. Die wird mitgeliefert. Über den Weg der publizistischen Massen-Produktion werden wohl-standardisierte Gefühle so universal angeboten und bereitgestellt, daß sie bald als Massenbedürfnis empfunden und im Massenkonsum verbraucht werden. Dies muß man bedenken, wenn man darauf hinweist, daß heute die Sexualität insbesondere in den breiten Bevölkerungsschichten und also erotisierter sei als die Sexualität älterer Generationen (so z. B. Undeutsch, 97); dies ist im Tatbestand an sich richtig, aber es sind eben weitgehend öffentlich bereitgestellte Gefühle, die die Menschen von der Aufgabe, ihre Sexualität mit eigener Gefühlsursprünglichkeit zu erfüllen, gerade weitgehend befreien. In dieser Einsicht schließt sich zugleich der Bogen der Betrachtung, indem die Identität dieses Vorganges der konsumtiven Bereitstellung standardisierter sexueller Verhaltensweisen und Reize mit der früher geschilderten Kon-ventionalisierung der Seele durch die ebenso freigebig popularisierte psychologische Selbstdeutung wohl deutlich wird. (Fs)

Zum Abschluß dieser Analyse des zeit- und gegenwartstypischen Charakters der Sexualität seien noch zwei Gedanken vorgetragen: Zunächst muß man wohl darauf hinweisen, daß es auch heute vielerlei andere Arten von Geschlechts- und Liebesbeziehungen gibt, als die hier als zeittypisch dargestellten. Schon die Diagnose wäre unmöglich, wenn dies nicht der Fall wäre. Es hieße den Begriff des Zeit-Charakters der Sexualität überfordern, wenn man alle Erscheinungsweisen eines menschlich so ursprünglichen Verhaltensbereiches wie der Geschlechtlichkeit darin einfangen wollte. Aber umgekehrt scheint es uns deutlich, daß keine anderen Formen des sexuellen Verhaltens in dem Maße die Tendenz zur gegenwartstypischen Durchschnittlichkeit und den prägenden Einfluß der gegenwärtigen Sozialverfassung aufweisen als die von uns geschilderten. (Fs)

127a Schließlich bedarf es noch eines Hinweises darauf, daß der kritische Ton in der Darstellung des Zeitcharakters der Sexualität nicht mit Pessimismus verwechselt werden sollte. Die breite gesellschaftliche Abhängigkeit und Durchformung der Sexualität, die soziale Standardisierung und Konventionalisierung der sexuellen Verhaltensweisen stellen zweifellos nicht die Höhen der Personalität dar, die als Ansinnen und innerer Auftrag im Verhältnis jedes Menschen zu seinen Trieben liegen; daher der kritische Ton jeder Tatbestandsfeststellung in dieser soziologischen Schicht des Verhaltens. Auf der anderen Seite erscheint mir diese Konventionalisierung und soziale Durchformung des geschlechtlichen Verhaltens erst einmal notwendig, um überhaupt sittlichen und personbildenden Impulsen höherer Art eine auch nur einigermaßen breite und verbindliche Grundlage zu schaffen. Nichts hat die Menschen im Verhältnis zu ihren Trieben mehr überfordert als das Ansinnen, unmittelbar Person und Individualität sein zu sollen. So verbinden wir mit der Schilderung der heute wiederum sehr weitgehenden Konventionalisierung und gesellschaftlichen Normierung der Sexualität durchaus die Überzeugung, daß erst auf diesen Tatbestand hin sich wieder die Chance einer neuen Verbindlichkeit von Geist, Kultur und Sittlichkeit gegenüber der Geschlechtlichkeit des Menschen eröffnet. In welchen Formen dies geschehen kann? - Wir haben nicht die Absicht, den Appell, den die Feststellung der Tatsachen in sich trägt, durch soziologische Deduktionen und Spekulationen von Zukunftsentwicklungen abzuschwächen.

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität: anthropologische Grundlagen; Plastizität (Gehlen);

Kurzinhalt: ... zeigt also eine biologisch notwendige Angewiesenheit des menschlichen Geschlechtstriebes auf soziale und kulturelle Formung, offenbart aber zugleich ...

Textausschnitt: 11a Die neueren sozialwissenschaftlichen Theorien der Sexualität wenden sich zunächst gegen die in der älteren Soziologie vielfach vertretene Ansicht, die Sexualität des Menschen stelle ein biologisch in seinem Ablauf so gesichertes Instinktverhalten dar, daß eine Soziallehre der Geschlechtlichkeit in ihr einen präsozial weitgehend festgelegten Verhaltenskomplex einfach aufzunehmen habe oder gar von ihm soziale Beziehungen und Formen in ihrer Struktur deduzieren könne. Die moderne Anthropologie und die auf ihr aufbauenden Kulturlehren, wie sie in den Werken von Bronislaw Malinowski, Margaret Mead, Ruth Benedict, Clyde Kluckhohn, Arnold Gehlen u. a. vorliegen, sehen in der Sexualität wie in anderen biologisch bedingten Antrieben des Menschen eher weitgehend unspezialisierte Grundbedürfnisse, die gerade wegen ihrer biologischen Ungesichertheit und Plastizität der Formung und Führung durch soziale Normierung und durch Stabilisierung zu konkreten Dauerinteressen in einem kulturellen Überbau von Institutionen bedürfen, damit die Erfüllung schon des biologischen Zweckes, so im Falle der Sexualität etwa die Fortpflanzung, sichergestellt ist. (Fs) (notabene)

11b Von dem in seiner Auslösung, seinem Ablauf und seinem Gattungszweck instinktgesicherten Sexualverhalten der Tiere, wie es vor allem Konrad Lorenz in seinen tierpsychologischen Untersuchungen geklärt hat, unterscheidet sich die biologische Situation der menschlichen Geschlechtlichkeit in zwei wesentlichen Merkmalen, die zugleich die Grundlage ihrer sozialen Formung ausmachen: in einer weitgehenden Instinktreduktion, die mit der Bildung eines sexuellen Antriebsüberschusses Hand in Hand geht, und in der Ablösbarkeit des sinnlichen Lustgefühls vom biologischen Gattungszweck, womit die Lust als ein neuer Zweck des Sexualverhaltens unmittelbar intendierbar wird. (Fs)

11c Eine der entscheidenden Abweichungen des menschlichen vom tierischen Geschlechtsleben besteht im Fehlen des jahreszeitlichen Rhythmus der sexuellen Antriebe (Brunstzeiten). Infolge der Daueraktualität des menschlichen Geschlechtstriebes, verbunden mit seiner Hypertrophierung unter einigermaßen günstigen Umweltbedingungen, entsteht ein sexueller Antriebsüberschuß, der nur in den seltensten Fällen in rein sexuellen Verhaltensweisen unterzubringen ist. Dieser Erhöhung der sexuellen Triebenergien steht nun auf der anderen Seite ein Abbau der organischen Kontrollen und Sicherungen dieses Verhaltens im Sinne biologischer Zweckmäßigkeit gegenüber: der Mensch verfügt weder im Einsatz noch im Ablauf seines Sexualverhaltens über eindeutige Instinktmechanismen oder feste
12a In dieser biologischen Gefährdung des menschlichen Trieblebens liegt nun aber zugleich seine kulturelle Chance: indem der Mensch dem Zwang der Umweltgebundenheit und der Instinktstarre entronnen ist, kann und muß er über seine Antriebe in bewußten Handlungen verfügen; daß das menschliche Triebleben auf kulturelle Führung und Regelung angewiesen ist, stellt die Grundeinsicht dar, die die neuere deutsche philosophische Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen) herausgearbeitet hat und die von der Humanbiologie heute als Grundlage angenommen ist (vgl. z. B. Adolf Portmann, Otto Storch u. a.). Dieser Notwendigkeit der kulturellen Führung unterliegen insbesondere alle menschlichen Triebenergien, die auf ein Handeln unter mehreren Individuen zielen: die kulturelle Überformung der sexuellen Antriebe gehört sicherlich ebenso zu den ursprünglichen Kulturleistungen und Existenzerfordernissen des Menschen wie Werkzeug und Sprache, ja, es spricht nichts dagegen, in dieser Regelung der Geschlechts- und Fort- Pflanzungsbeziehungen des Menschen die primäre Sozialform alles menschlichen Verhaltens zu erblicken. (Fs) (notabene)

12b Die Leistungen des kulturellen Überbaus von Sozialformen gegenüber der geschilderten sexuellen Antriebsstruktur des Menschen gehen in zweierlei Richtungen: zunächst bedeutet die soziale Regelung der Geschlechtsbeziehungen eine Kontrolle und Zucht zur biologischen Zweckmäßigkeit, insofern das biologisch ungesicherte Sexualverhalten durch soziale Einschränkungen auf Dauerinteressen und Selektivität der Sexualziele eingestellt wird; (Clyde Kluckhohn). Dabei erweist sich die instinktschematisch ungesicherte Plastizität menschlicher Sexualbedürfnisse gerade als eine Chance zur Ausbildung einer höheren Selektivität der Sexualziele, die über den bloßen Gattungszweck hinausführt und die Einfügung von seelischen, kulturellen oder sozialen Differenzierungen in die sexuelle Antriebssphäre ermöglicht. Weiterhin bewirkt der kulturelle Überbau die Ablenkung der im Geschlechtsverhalten nicht unterzubringenden Energien auf nichtsexuelle oder pseudosexuelle Ziele. Indem sich aus den sozialen Institutionen, die das Triebleben regeln, institutionseigene Bedürfnisse entwickeln, die aber in ihrer Energiezufuhr auf sexuelle und andere primär biologische Triebquellen angewiesen sind, pendeln diese Institutionen in ihrer Entwicklung ständig in der Waage zwischen Ent- und Resexualisierung. Dies sowie die Tatsache, daß in den Formen dieses kulturellen Überbaus stets andere als sexuelle Grundantriebe zugleich mit aufgenommen und geregelt sind, macht die Analyse sozialer Gebilde in ihrer Beziehung zur Sexualität so außergewöhnlich schwierig. (Fs)

13a Eine weitere Grundlage für die kulturelle Formung des sexuellen Verhaltens müssen wir darin sehen, daß die Lustempfindung des Triebverhaltens beim Menschen vom Gattungszweck ablösbar ist und zum eigenständigen Motiv bewußter Handlungen zu werden vermag. Indem die Sinneswahrnehmung des Menschen ihre organische Verwurzelung in bestimmten umweltgebundenen Funktionskreisen löst, gewinnt sie zugleich die Verfügbarkeit über das alles tierische Triebverhalten nur begleitende Lustgefühl, das jetzt, enthoben der biologischen Zweckmäßigkeit, zum Ziel dieses Verhaltens selbst werden kann. Diese Akzentuierung des Genusses hat O. Storch (161, S. 23 f.) für die Funktion der menschlichen Ernährung als Grundlage der menschlichen nachgewiesen: indem sich die Geschmacksqualitäten von der Funktion der bloßen Nahrungsaufnahme freisetzen lassen und um ihrer selbst willen erstrebt werden können, schaffen sie erst den eigentümlichen menschlichen Anreiz, Geschmacks» und Genußbedürfnisse um ihrer selbst willen zu verfolgen und diese daher als hohe kulturelle Differenzierung in die Formen der Nahrungsaufnahme einzubauen. So gehört das reine Genußmittel von vornherein ebenso zu den Wesenseigentümlichkeiten des Menschen wie die Verfolgung der bloßen geschlechtlichen Lust um ihrer selbst willen. Die primäre biologische Funktionslosigkeit dieser beiden autonomen Genuß- oder Lusttendenzen bedingt dann auch die in beiden angelegte Steigerung in den Rausch als eine nur vom Menschen anzustrebende Befindlichkeit. Von dieser Verselbständigung des Genusses her gesehen wird das menschliche Sexualverhalten mit Recht als Sinnlichkeit schlechthin bezeichnet. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß fast alle menschlichen Sinnesorgane im Dienst der Sexualität stehen und so - trotz der Verdichtung sexueller Lustempfindungen in den primär sexuellen Zonen des Leibes - die gesamte Leiblichkeit dem Menschen als Organ dieses Lustgewinnes zur Verfügung steht. Dieser realisiert sich nun in den sehr verschiedenen Abstufungen und Distanzverhältnissen leiblicher Sinneskommunikation zwischen den Individuen, zugleich aber als leibliches Selbstgefühl des Einzelnen im Hinblick auf dieses Kommunikationserlebnis. (Fs)

14a Dieses im interindividuellen Kontakt auftretende, von der Bindung an einen biologischen Gattungszweck befreite leibliche Luststreben bildet als Bereich der Erotik eine stets vorhandene Schicht des menschlichen Sexualverhaltens, die ihrerseits nun genau so der sozialen Formung und Institutionalisierung unterliegt wie die primären Geschlechtsbeziehungen. Da dieser universal-leibliche Lustgewinn keineswegs an den Geschlechtsakt gebunden ist, sondern in jeder noch unmittelbar sinneshaften menschlichen Kommunikation erlebbar ist, besteht praktisch für alle sozialen Gebilde und Verhaltensformen, in denen die Menschen in leiblicher Gegenwart miteinander verkehren, die Möglichkeit der Erotisierung dieser Beziehungen. Eine Soziologie der Erotik sieht sich also von vornherein vor der Aufgabe, nicht nur die Anwesenheit erotischer Triebmomente in den verschiedenen personhaften Formen der sozialen Beziehungen zu diagnostizieren, sondern vorwiegend gerade das Ausmaß und die Art ihrer Neutralisierung und Hemmung als die spezifisch soziale und kulturelle Leistung zu verdeutlichen. Erst die von der leiblichen Präsenz der Person entbundenen abstrakten und großorganisatorischen Sozialbeziehungen der modernen Gesellschaft versagen sich grundsätzlicher dieser Erotisierbarkeit. (Fs)

14b Die Ausdehnung dieser Art sexueller Lustimpulse auf jede Form der Sinneswahrnehmung des Menschen erklärt weiterhin, weshalb alle kulturellen Gebilde und Verhaltensformen, die auf der Kultivierung und Differenzierung sinnenhafter Ausdrucks- und Eindrucksweisen beruhen - wie jegliche Kunst, aber auch die Rituale des religiösen, des kämpferischen Verhaltens usw. - stets in erotischen Lustgewinn ausweitbar sind. Diese Erscheinung wird nun zum sozialen Tatbestand, insofern diese kulturellen Gebilde zu einem künstlichen Medium sinnlicher Kommunikation, zu einem Vehikel der Leiblichkeit werden und damit neue Bereiche und Formen zwischenmenschlicher erotischer Beziehungen schaffen, wie wir sie vor allem in den Auswirkungen der darstellenden Kunst, von den Frauenstatuetten der Steinzeit bis zur modernen Reklame, studieren können. (Fs)
15a Schon diese kurze und durchaus fragmentarische Darstellung der anthropologischen Grundlagen der menschlichen Sexualität zeigt also eine biologisch notwendige Angewiesenheit des menschlichen Geschlechtstriebes auf soziale und kulturelle Formung, offenbart aber zugleich die Vielfältigkeit und Ausfaltung dieser sozialen und kulturellen Befriedigungs- und Kontrollmöglichkeiten. Die allseitige Durchdringung menschlicher Handlungsformen mit sexueller Aktivität wie umgekehrt die Entfremdung geschlechtlicher Antriebe in und durch andere Schichten und Impulse menschlichen Verhaltens2, beides Vorgänge, die sich zudem in dauerndem Wechsel und dynamischem Widerspiel befinden, lassen daher eine präzise Bestimmung, was soziale Formen der Sexualität sind und was nicht, gar nicht zu; eine Soziologie der sexuellen Beziehungen wird daher wesentlich immer im Nachweis bruchstückhafter und wechselbarer sexueller Bezüge innerhalb funktional vielseitiger und umfassender sozialer Gebilde und Verhaltensformen zu bestehen haben. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Die soziale Polarisierung der Geschlechter; Material: M. Mead; soziale Überformung des Biologischen; möglicher Einwand; Reprimitivisierungen

Kurzinhalt: Die wirklich vorhandenen biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind demgegenüber verhältnismäßig belanglos und mehr Anlaß als Ursache für die sozial verschiedenartige Formung der Rolle von Mann und Frau ...

Textausschnitt: 1. Die soziale polarisierung der Geschlechter

16a Das soziale und kulturelle Leben aller Gesellschaften baut sich in seinen Formen weitgehend auf dem Unterschied der Geschlechter, der Verschiedenheit der Rolle von Mann und Frau, auf. Gemeinhin sieht man in dieser verschiedenen sozialen Rolle einen naturgegebenen biologischen Unterschied, aus dem der soziale und kulturelle Aufbau nur die unumgänglichen Folgerungen für die sozialen Rollen der Geschlechter gezogen hat. Tatsächlich scheint es aber weitgehend umgekehrt zu sein: gerade weil fast alle Gesellschaften in ihren sozialen Verhaltenskonstanten und Institutionen auf dem Unterschied von Mann und Frau beruhen, wird dieser Unterschied nun auch über seine biologische Festgelegtheit hinaus sozial fixiert und mit allen Mitteln der sozialen Sanktionierung und Tabuierung absolut gesetzt, um damit aus dem Bereich der verfügbaren Verhaltensveränderungen ausgeblendet zu werden. Der Glaube an die der Geschlechtsunterschiede und des daraus folgenden unterschiedlichen sozialen und kulturellen Verhaltens ist selbst nur eine spezifisch moderne Form der sozialen Sanktionierung der Grundlagen der eigenen Kultur und Gesellschaftsverfassung (vgl. S. 48 ff.). Die wirklich vorhandenen biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind demgegenüber verhältnismäßig belanglos und mehr Anlaß als Ursache für die sozial verschiedenartige Formung der Rolle von Mann und Frau im sozialen und kulturellen Leben. (Fs) (notabene)

16b Diese Einsicht, daß jede Kultur in irgendeiner Weise die Rolle des Mannes und der Frau standardisiert und institutionalisiert, inhaltlich aber die Bestimmungen, was männliche und weibliche Verhaltensformen und Eigenschaften sind, in den Kulturen sehr verschieden, ja, in vielen Fällen durchaus gegensätzlich getroffen werden, hat vor allem Marg. Mead (23 b, d) an einem umfassenden ethnologischen Material zu belegen versucht. Wenn sie sagt, daß darstellt, die in ihren jeweiligen Bestimmungen sich weit mehr aus den Gestaltungsprinzipien des betreffenden kulturellen Gesamtgefüges als von biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern ableiten und verstehen läßt. Der einzige fortführende Einwand gegen diese These hätte darin zu bestehen, daß bei der Abwehr des biologischen Dogmatismus in der Auffassung der Geschlechter hier nun eine falsche Betonung des überläßt, während ja die Angewiesenheit auf die soziale Überformung gerade als biologisches Kennzeichen der menschlichen Geschlechtlichkeit aufzufassen wäre und die Ergebnisse Marg. Meads dazu führen müßten, das Biologische und Kulturelle als untrennbar bereits in der Humanbiologie zu behaupten. (Fs)

17a Da sich das Geschlechtliche des Menschen in alle kulturellen Handlungsschichten und Gebilde hin auszufalten vermag, reicht auch die soziale Differenzierung der Geschlechter in alle diese Bereiche hinein, so daß es müßig ist, die Gebiete, in denen diese Rollenverteilung zwischen Mann und Frau durchgeführt ist, einzeln aufzählen zu wollen: sie ist praktisch so universal wie die Sexualisierung menschlicher Handlungsformen überhaupt. Alle soziale und politische Betätigung sowie die sie regelnde Rechtsordnung, insbesondere der Erbgang sozialer Rechte, sind in allen Kulturen mehr und minder von der Unterschiedlichkeit der Rolle der Geschlechter her differenziert; das gleiche gilt für die religiösen, künstlerischen und geselligen Verhaltensformen, ja, diese Differenzierung reicht in manchen Kulturen sogar bis zur Entstehung eigener Frauensprachen, die die Männer nicht verstehen oder schicklicherweise nicht verstehen dürfen, während andererseits die ebenfalls bis ins Sprachliche gehende Geheimniskrämerei der Männer in ihren Männerbünden und -häusern die umgekehrte Aussonderang des anderen Geschlechtes darstellt. (Fs)

17b Diese geschlechtlich zwiegespaltenen Verhaltensformen aller Kulturbereiche können damit zu unabdingbaren sexuellen Reizvoraussetzungen und zugleich sexuellen Befriedigungsmöglichkeiten im Verkehr der Geschlechter untereinander werden, wie sie umgekehrt wiederum auch die Form der Kontrolle und Führung des geschlechtlichen Verhaltens darstellen. Die umfassende Übernahme aller fundamentalen und traditionellen Verhaltensformen des gesamten jeweiligen Kulturgefüges durch die heranwachsenden jungen Menschen ist also die unmittelbarste Sexualerziehung und Prägung der Geschlechtsmoral, die es überhaupt gibt, da alle kulturellen Verhaltenskonstanten sich eben nur in der Form der jeweiligen Geschlechtskonformität erwerben lassen. Zugleich erkennt man von hier aus, daß alle Geschlechtsmoral in ihrem kulturellen Grundbestand immer ist und sein muß, da es immer zwei Rollen zu stilisieren gilt, deren sozial bedingte Variabilität allerdings auch den Grenz- und Sonderfall möglich macht, diese beiden Verhaltensprinzipien annähernd gleichartig zu standardisieren. Wo die Tendenz dazu mehr ist als eine bloße Mäßigung extrem gegensätzlich gewordener geschlechtlicher Rollenverschiedenheiten, beruht sie fast immer auf einer künstlichen Absonderung und Verselbständigung der Geschlechtsbeziehungen von den übrigen Lebens- und Kulturgebieten, wobei dann allerdings auch immer die Problematik einer gesonderten Sexualerziehung, etwa als , auftaucht. Wird die Gesamtheit kultureller Lebensformen unwirksam gegenüber dem geschlechtlichen Verhalten und dieses autonom, so führt das hier wie da zu einem Abbau von Geformtheiten, also zu Reprimitivisierungen. (Fs)

18a Müssen wir die verschiedenartige Formung der geschlechtlichen Rollen als die normale Grundlage des kulturellen Gefüges ansehen, so zeigt uns doch jeder Kulturvergleich, daß der Inhalt dessen, was in einer Kultur als der Unterschied von männlicher und weiblicher Rolle gilt, nun wieder außerordentlich variabel ist; auch interkulturell können wir in all den genannten Lebensbereichen durchaus gegensätzliche soziale Standardisierungen der Geschlechtscharaktere des Männlichen oder des Weiblichen feststellen, so z. B. in der Rechtsordnung die Gegensätzlichkeit von Mutter- und Vaterrecht, die sich widersprechende Bedeutung der Frau oder des Mannes in den verschiedenen Religionen usw. Die Abstufungen des Unterschieds zwischen den Geschlechtern auf allen kulturellen Lebensgebieten und die interkulturelle Variabilität dieses Unterschiedes ergeben zusammen den Grundbestand einer bereits unübersehbaren Fülle sozialer Formen von Geschlechtsbeziehungen. (Fs)

18b Nur auf einem Lebensgebiet wollen wir dieser sozialen Rolle der Geschlechter näher nachgehen: auf dem der Produktionsformen der Gesellschaft; gerade an der geschlechtlich differenzierten Arbeitsteilung lassen sich vielleicht am besten das Ausmaß und die Berechtigung dieser These von der sozialen Superstruktur des Geschlechtlichen verdeutlichen. Gegen die Behauptung der fast unbeschränken sozialen Variabilität dessen, was eine Kultur als männlich oder weiblich standardisiert, könnte man schließlich den gleichen Einwand erheben, mit dem sich William G. Sumner in einem nüchternen Satz gegen den Versuch, die Rolle von Mann und Frau möglichst gleichartig zu bestimmen, wendet: 1. Gerade in den Arbeits- und Produktionsformen, in denen die körperliche Verfassung stets eine wichtige Rolle spielt, müßten die natürlichen Nachteile der Mutterschaft und Menstruation für das weibliche Geschlecht am klarsten in Erscheinung treten und daher zu einer in allen Kulturen annähernd oder wenigstens in den Grundzügen gleichartigen Verteilung der Arbeitsweisen auf die Geschlechter geführt haben. Ein Überblick über das vorhandene ethnologische Material, wie ihn etwa Goldenweiser (19) gibt, zeigt dagegen sehr bald, daß, wenn überhaupt, nur sehr wenige und keineswegs produktionsgrundsätzliche Beschäftigungen ausschließlich von dem einen oder dem anderen Geschlecht praktiziert werden. Die zweifellos vorhandene biologische Behinderung der Frau durch ihre Geschlechtlichkeit erweist sich als durchaus anpassungsfähig gegenüber einer bis in die Gegensätze gehenden Variation der sozialen Verteilung der Arbeits-Rollen; daß zudem diese Behinderung in unserer modernen Welt bei weitem überschätzt wird, zeigt jeder Vergleich mit der Arbeitsleistung und -kontinuität der Frau in vielen primitiven Gruppen oder rein bäuerlichen Gesellschaften und hängt vor allem mit der Lebensart zusammen, die unsere soziale Tradition und Sitte der Frau im allgemeinen, besonders aber der schwangeren Frau, auferlegt haben, wobei konstitutionelle Veränderungen in diesem Zusammenhang durchaus zugestanden seien. (Fs)

19a So trägt bei Primitiven im allgemeinen die Frau die Last des Ackerbaus - vielfach mit der ideologischen Begründung, daß sie dazu bestimmt sei, da sie als Gebärerin allein etwas wachsen lassen könne -, während bei den europäischen und asiatischen Kulturvölkern die Verhältnisse meist umgekehrt liegen. Selbst in den gemeinhin als eigentümlich männlich angesehenen Beschäftigungen der Jagd oder der Kriegsführung oder umgekehrt der als spezifisch weiblich betrachteten des Kochens und der Haushaltsführung gibt es genügend sozial bedingte Ausnahmen: unter den Tasmaniern wird die schwierige Seehundsjagd durch Frauen betrieben, 2. In der Völkerkunde berühmt ist die sehr kriegerische und grausame Leibgarde des Königs von Dahomey, die aus Frauen bestand; umgekehrt finden wir bei Athenäus, einem griechischen Schriftsteller des 3. Jahrhunderts, den Ausruf: 3! Allerdings haben gerade die industriell-bürokratischen Produktionsbedingungen wiederum einen großen Bestand an geschlechtlich neutralen Arbeits- und Berufsmöglichkeiten geschaffen und sind so ihrerseits zu einer Ursache der modernen Tendenz der Angleichung in der Rolle der Geschlechter geworden. Es bleibe dahingestellt, ob dies nicht eine Begleiterscheinung des Beginns aller großen, epochalen Produktionsveränderungen darstellt und ob daher mit der sozialen Verarbeitung dieser Revolution der Produktionsbedingungen nicht doch wiederum eine geschlechtlich unterschiedlichere Stilisierung auch dieser Art von Arbeitsformen zu erwarten ist. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Unterschied der Geschlechter: geistig, psychlogisch;

Kurzinhalt: ... immer schimmert durch diese vermeintlich allgemeingültigen Wesensprinzipien ihre Bedingtheit durch eine soziale Rollenverteilung gerade einer bestimmten kulturellen Tradition hindurch.

Textausschnitt: 20a Indem sich diese soziale Differenzierung der Geschlechter bis in die sublimsten seelischen und geistigen Haltungen hin verzweigt und auswirkt, begründet sie im wesentlichen auch den Gegensatz, den man gemeinhin als den psychologischen, geistigen oder gar metaphysischen Wesensunterschied und Charakter der Geschlechter anspricht. Für sehr viele Philosophen und Psychologen ist und heute noch ein absolutes, inhaltlich eindeutig bestimmtes Wesensprinzip, das sich auf den verschiedensten Stufen menschlicher Wirklichkeit ausprägt oder gar in seinem Gegensatz das ganze All durchwaltet. An sich ist diese konstruktive Metaphysik der Geschlechter berechtigt als unbewußte geistige Sanktionierung der darin liegenden sozialen Fundamente unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens; erstaunlich ist nur, wie sich die Denkformen dieses Glaubens auch dort noch blind durchsetzen, wo man ihm geistig entronnen zu sein glaubt und den Mut zu seiner Behauptung längst aufgegeben hat. (Fs)

20b Die konsequenteste Durchbrechung dieser metaphysischen Sanktionierung der Geschlechterrollen besteht in der empirisch-statistischen Untersuchung darüber, in welchem Maße sich bestimmte Verhaltensformen oder Eigenschaften in einer repräsentativen Auswahl von Männern und Frauen einer Gesellschaft verteilen. Schon 1917 hatte Otto Lipmann (22) solche experimentellen Untersuchungen der Geschlechtscharaktere veröffentlicht; heute liegt in den von Terman und Miles (24) an vielen Hunderten von Schülern, Studenten und Erwachsenen aller Berufsgruppen, an Sportlern, Kriminellen und Homosexuellen mit den verschiedensten Arten von Testen und Befragungen durchgeführten Untersuchungen wohl der umfassendste und sorgfältigste Versuch einer experimentellen Bestimmung der charakterlichen Geschlechtsunterschiede vor. Wenn dann als Ergebnis dieser Studien festgestellt wird, daß , so ist damit sehr deutlich nur die soziale Berufsteilung einer ganz bestimmten Gesellschaft, Zeit und Kultur beschrieben, zu der sich dann natürlich auch ganz spezifische charakterliche Eigenschaften auffinden oder gar erst in der Reflexion davon abstrahieren lassen: usw.1 (Fs)

21a Man kann diese Abstraktion von einer bestimmten sozialen Wirklichkeit noch weiterführen und wie Philipp Lersch (21; vgl. F. J. J. Buytendijk, 18) den Geschlechtern verschiedene und , der Frau eine mehr konkrete, gegenwartsverhaftete und in sich geschlossene Welt unter der Betonung des Persönlichen und Anschaulich-Individuellen, dem Mann dagegen eine offene, sich in Vergangenheit und Zukunft ausweitende Welt mit der Betonung des Sachlichen und Begrifflich-Allgemeinen zuordnen, immer schimmert durch diese vermeintlich allgemeingültigen Wesensprinzipien ihre Bedingtheit durch eine soziale Rollenverteilung gerade einer bestimmten kulturellen Tradition hindurch. Wenn Marg. Mead (23 b) dagegen das Verhältnis der Geschlechter bei dem Südseestamm der Tschambuli so schildert, daß die Frau der selbstbewußte, dominierende, sachliche, organisierende und verwaltende Teil ist, der die Güterherstellung und den Handel betreibt und auch im Erotischen die Initiative ergreift, während der Mann den abhängigen, scheuen, gefühlsbetonten, koketten, tratsch- und zanksüchtigen und sich ästhetischen Beschäftigungen zuwendenden Partner darstellt, so gilt offensichtlich für diese kulturelle Tradition eine gegenüber der europäischen genau umgekehrte Psychologie oder gar Metaphysik der Geschlechter. Gegenüber allen Thesen, die im oder absolute und eindeutige Wesensprinzipien sehen, müssen wir also auf deren hohe Variabilität innerhalb der verschiedenen kulturellen Strukrurgefüge hinweisen und betonen, daß sie (Else Vogtländer)2 darstellen. (Fs)

22a Auf die Frage der Entstehung dieser typischen geschlechtlichen Rollen oder Charaktere in ihrer sozialen Institutionalisierung hat Marg. Mead (23 b) mit einer interessanten Hypothese geantwortet: aus der in jeder Bevölkerungsgruppe verhältnismäßig gleichmäßig in beiden Geschlechtern vorhandenen Vielfältigkeit von angeborenen Anlagen und Temperamenten seien bestimmte Temperaments- und Charakterzüge, emotionelle und intellektuelle Veranlagungen ausgewählt und nun als Norm für ein Geschlecht spezialisiert und institutionalisiert worden, während in gleicher Weise andere Temperamentszüge wieder dem anderen Geschlecht vorbehalten wurden. Diese soziale Normierung zwingt jetzt die Angehörigen eines Geschlechts, die in ihnen vorhandene Variabilität angeborener Charakterzüge und Verhaltenstendenzen möglichst der für sie geltenden sozialen Norm anzupassen. Im Sozialbewußtsein wird dieses kulturelle Leitbild des Geschlechts, das übrigens weiterhin für die einzelnen Altersstufen, Klassenschichtungen oder Berufsgruppen differenziert sein kann, dann stets in der Weise gerechtfertigt, daß die jeweils dekretierte Norm dem einen Geschlecht als das einzig Verhalten hingestellt und dem anderen als verboten wird (vgl. S. 50). Ob diese Stilisierung bestimmter Spielarten aus der Fülle angeborener Temperaments- und Veranlagungsverschiedenheiten die einzige Entstehungsquelle der sozialen Normen des Geschlechtsverhaltens bildet, bleibe dahingestellt. Richtig und wichtig erscheint uns an dieser These die Einsicht, daß die soziale Normierung der Rolle der Geschlechter es vor allem mit der Regulierung der natürlichen Variabilität und Plastizität angeborener Anlagen und Verhaltenstendenzen zu tun hat. Erst dieser Akt der normativen Polarisierung der Vielfältigkeit angeborener Temperamente macht diese zu sozialen Kräften und integriert, was sonst bloße Varianten der Natur bliebe, zu kultureller Spannung und Schöpfung. (Fs)

23a Darüber hinaus wäre noch zu fragen, weshalb denn in einer Kultur gerade diese, in einer anderen Kultur gerade jene Züge als mannlich oder weiblich ausgelesen und institutionalisiert worden sind. Zweifellos hat dies viele Ursachen, unter denen die jeweiligen Produktions- und Arbeitsformen, zu denen eine Menschengruppe auf Grund der Höhe und Art ihrer kulturellen Entwicklung, ihrer geographischen Umwelt, ihrer sozialen Beziehungen zu anderen Menschengruppen usw. gezwungen war, sicherlich an erster Stelle stehen. Letzten Endes ist aber die konkrete Gestalt der jeweiligen Rolle der Geschlechter immer nur zu verstehen aus dem geschichtlichen Zusammenhang des einzigartigen Werdens eines bestimmten Kulturgefüges und einer bestimmten Gesellschaftsverfassung. Die Rolle der Geschlechter wie die sozialen Formen der Geschlechtlichkeit überhaupt sind also zutiefst historische Erscheinungen und den geschichtlichen Wandlungen und Entscheidungen einer Gesellschaft mit unterworfen. Wir werden auf diese historische Wandelbarkeit der menschlichen Sexualität, die, auf soziale Formung angewiesen, den Menschen selbst in seiner biologischen Verfassung zu einem geschichtlichen Wesen macht, am Schluß unserer Darstellung zurückkommen. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Ehe, Familie: primär auf langdauernder Fürsorge basierend; nur sekundär: Regelung der Sexualität

Kurzinhalt: Keineswegs sind Ehe und Familie einfach als Institutionalisierungen der Geschlechtsbeziehungen zu deuten, vielmehr liegt in ihnen nur eine indirekte Regelung der Geschlechtsbeziehungen vor, ...

Textausschnitt: 1. Die Ehe keine primär sexuelle Institution

27a Nach Klärung der grundsätzlichen und bis ins Tiefste reichenden sozialen und kulturellen Bestimmung des Verhaltens und des Verhältnisses der Geschlechter wollen wir uns der Erörterung der sozialen Institutionen zuwenden, die diese soziale Regulierung der Geschlechtlichkeit vornehmlich leisten. Unter diesen Einrichtungen steht zweifellos die Ehe an erster Stelle; die Beziehung zwischen Geschlechtstrieb und Ehe wird gemeinhin als ein eindeutig kausales Abhängigkeitsverhältnis verstanden: der Geschlechtstrieb scheint den wesentlichsten biologischen Faktor für die Entstehung und die innere Strukturierung der Ehe abzugeben, die ihrerseits also als Hauptaufgabe die Regulierung der Geschlechtsbeziehungen zu leisten hätte. In dieser Auffassung spricht sich im Grunde das naive Mißverständnis der spätbürgerlichen europäischen Gesellschaft aus, ihre sozial weitgehend funktionslos gewordene, auf die Intimität der reinen Personbeziehungen reduzierte Ehe, bei der sexuell-erotische Bedürfnisse das Primat als Heirats- und Partnerwahlmotiv erlangten, für das Urmodell der Ehe zu halten. Der sexuelle Trieb genügt sicher nicht, mehr als die gelegentliche Vereinigung der Geschlechter zu sichern; er kann daher nicht, wie es vielfach geschehen ist, als der familien- und ehebildende Faktor par excellence angesehen werden, vor allem, weil er das Moment der Dauerhaftigkeit der sozialen Bindung, die das Wesen der Ehe ausmacht, nicht erklärt. (Fs) (notabene)

27b Wenn man schon nach biologischen Faktoren und Tatsachen sucht, die gerade beim Menschen die Entstehung und den Bestand der Institutionen Ehe und Familie verursacht und gesichert haben, so steht zweifellos das spezifische Fürsorgeverhältnis, das beim Menschen zwischen Mutter und Kind gesetzt ist, also eher der als der Geschlechtstrieb, hier an erster Stelle. Soviel ich sehe, hat John Fiske in seinem Buch (1883) als erster ausführlich darauf hingewiesen, daß die beim Menschen gegenüber allen Tieren ungewöhnlich lange Zeit der Kindheit und der Unfertigkeit der Verhaltensformen eine viele Jahre dauernde Fürsorge der Mutter für das Kind erzwingt und damit ein Dauerverhältnis zwischen Mutter und Nachkommen schafft, in das aus Gründen der Lebenssicherheit und des Lebensunterhaltes der Vater miteinbezogen wird. Dieses Dauerverhältnis der biologisch erforderlichen Fürsorge ermöglicht beim Menschen neue Formen der Affektbindungen und gegenseitigen Aktivität, der Sympathiever-hältnisse und moralischen Verpflichtungen, die ihrerseits dem bloßen Geschlechtsverkehr, sofern er zur Zeugung führt, eine ganz neue Bedeutung geben. (Fs)

28a Diese These gestattet zwei wichtige Einsichten in die Funktion der Ehe als sozialer Regulierung der menschlichen Geschlechtsbeziehungen: Zunächst verdeutlicht sie nämlich die Tatsache, daß sich die geschlechtlichkeitsregelnden Formen der Ehe erst sekundär von den Erfordernissen ableiten, die biologisch und sozial mit den Folgen des Geschlechtsaktes, dem Kinde, gesetzt sind, d. h. daß die Familienhaftigkeit die Struktur der Ehe als Geschlechtspartnerschaft bestimmt. Umgekehrt formuliert heißt dies, daß die Ehe unmittelbar keineswegs alle Geschlechtsbeziehungen reguliert, sondern nur diejenigen, die in der sozialen Anschauung und Sitte als auf Kinderzeugung abgestellt angesehen und anerkannt werden. Diese Einsicht in die sekundäre und partielle Regulierungsfunktion der Ehe gegenüber den menschlichen Geschlechtsbeziehungen lassen die meisten völkerkundlichen und soziologischen Erörterungen der Eheformen in anderen, speziell frühen und primitiven Gesellschaften vermissen; allzuoft wird in ihnen mit der nur für bestimmte Kulturzustände gültigen Annahme gearbeitet, daß die durch die Ehe geregelten Geschlechtsverhältnisse sich mit den legitim erlaubten völlig decken, so daß die nachgewiesenen regulären außerehelichen Geschlechtsbeziehungen dann als unerlaubte Ausnahmen, soziale Verfallserscheinungen oder gar als eigentümliche Variationen der erklärt werden müssen. Etwas anderes ist es, daß sich die aus der langdauernden Fürsorgegemeinschaft der Ehegatten erwachsenden sozialen, affektiven und moralischen Dauerhaltungen auch auf ihr Verhältnis als Geschlechtspartner übertragen, so daß dies, von habituellen und sozialen Stabilitätsbedürfnissen getragen, die Tendenz zum Vorrang vor flüchtigeren Geschlechtsbeziehungen, ja, die Tendenz zur Monopolisierung der sexuellen Beziehungen entwickelt, deren volle soziale Anerkennung aber erst von einem bestimmten kulturellen Stadium der gesellschaftlichen Verfassung an als gegeben angenommen werden kann. (Fs)

28b Weiterhin weist die Theorie Fiskes auf einen Tatbestand hin, der heute von den Völkerkundlern als der allgemeinste und vordringlichste Wesenszug aller Formen der Ehe und Familie angesehen wird: daß sie vorwiegend eine ökonomische Einrichtung und Gemeinschaft darstellt, daß diese Institution also in der Tat primär ihre soziale Stabilität der gegenseitigen Lebensfürsorge, den Sicherheits- und Unterhaltsleistungen von Eltern gegenüber Kindern und Ehegatten untereinander verdankt (vgl. z. B. Starcke, 35, S. 13; Westermarck, 40, Bd. I, p. 26; Malinowski, Science, Religion and Reality, 1926, p. 41). Aus dieser Funktion und Leistung heraus werden sich für die Ehegatten in einem von der jeweiligen Kultur- und Produktionsverfassung abhängigen Maße Beschränkungen der sexuellen Beziehungen als notwendig erweisen; insbesondere liegt hier ein gewisses Indiz dafür vor, daß in den Urkulturen aus der Schwere der Lebenssicherung und -unterhaltung sowie der Schwierigkeit der Kinderaufzucht sich die Einehe als optimale Lösung anbot, wenn man darunter gerade nicht eine religiöse und moralisch gestützte Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen versteht (sogenannte ). Aus dem Primat der daseinssichernden und wirtschaftlichen Funktionen der Ehe und Familie wäre auch zu verstehen, daß der Mann, sofern er diesen Aufgaben ausschließlicher zugeordnet ist als die aus der leiblichen Intimität zum Kinde unmittelbarer zur Fürsorge verpflichtete Frau, auch für die ihm in der Ehe gebotenen sexuellen Chancen immer mehr den Gesichtspunkt des , des oder entwickelt, d. h. daß die in der wirtschaftlichen und sozialen Durchsetzung und Vorsorge für die familiäre Gemeinschaft erworbenen Haltungen rückwirkend sein gesamtes geschlechtliches Verhalten als Führungsmotive durchdringen. In dieser Rolle als Medium für die Auswirkung außergeschlechtlicher Verhaltenskonstanten auf die Geschlechtlichkeit liegen die wesentlichsten Regulierungsfunktionen, die die Ehe gegenüber der menschlichen Sexualität erfüllt. (Fs)

29a So müssen wir Ehe und Familie als eine zwar auf den Geschlechtsbeziehungen zwischen Mann und Frau aufbauende, primär jedoch der biologisch erforderlichen langdauernden Fürsorge für die Nachkommenschaft gewidmete, vorwiegend ökonomische Gemeinschaft verstehen, deren Dauer und Verpflichtungen durch Religion, Sitte und Gesetz sozial geregelt und anerkannt sind. Keineswegs sind Ehe und Familie einfach als Institutionalisierungen der Geschlechtsbeziehungen zu deuten, vielmehr liegt in ihnen nur eine indirekte Regelung der Geschlechtsbeziehungen vor, die allerdings deshalb so hervorstechend und dauerhaft ist, weil in ihr der umfangreichste nichtsexuelle Tatbestand mit in die Institutionalisierung einbezogen ist. Alle Stabilität der Geschlechtsbeziehungen scheint also wesentlich aus nichtsexuellen Tatbeständen zu stammen und abgeleitet zu sein. (Fs) (notabene)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Ehe als soziale Regulierung der Geschlechtsbeziehungen; Formen der Ehe; kulturformende Kraft -> Einehe; Entsexualisierung durch Monopolisierung der Geschlechtlichkeit; Polygamie, Monogamie: gemäßigt, absolut

Kurzinhalt: Sicherlich erklärt sich auch hieraus, weshalb bei den großen Kulturvölkern, ... die stärkste soziale und politische Energiefülle und Formkraft, ihr weltgeschichtliches Ausgriffsvermögen, mit dem Zustand der strengen Einehe zusammenfallen.

Textausschnitt: 2.Die Ehe als soziale Regulierung der Geschlechtsbeziehungen

30a Die Ehe braucht daher keineswegs im Sinne einer Ausschließlichkeit der Geschlechtsbeziehungen auf die Ehepartner institutionalisiert zu sein, sondern Sitte und Gesetz oder wenigstens soziale Duldung können nebenehelichen Geschlechtsverkehr gestatten, zuweilen sogar gebieten. In zahlreichen Gesellschaften ist dies für den verheirateten Mann der Fall, aber es gibt solche Regelungen auch für die verheiratete Frau, sei es, daß ihr außerehelicher Verkehr überhaupt oder wenigstens mit ihrer Altersklasse gestattet ist, ein Tatbestand, der lange als sogenannte verkannt worden ist, sei es, daß er ihr in der Form von Gastrechten, Herrenrechten, religiöser usw. sogar geboten wird. Zweifellos liegt nun aber in der Freistellung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe immer die Möglichkeit einer Störung oder Gefährdung der in der Ehe und Familie institutionalisierten nichtsexuellen, z. B. ökonomischen oder den Erbgang und sozialen Status betreffenden Tatbestände und Verhaltensformen; die Ehe und Familie als Institution wird daher in allen in sozialer Fortentwicklung befindlichen Gesellschaften, und zwar primär gerade aus nichtsexuellen Bedürfnissen heraus, die Tendenz entwickeln müssen, die Geschlechtsbeziehungen der Ehepartner zu monopolisieren oder wenigstens die außerehelichen unter ihre Kontrolle zu bringen. In dieser Tendenz übernimmt die Ehe die wichtige Funktion der Entsexualisierung der anderen Bereiche und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, in denen bei gelungener ehelicher Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen andere Antriebsenergien in höherem Maße entfaltet, bzw. die in ihnen verbliebenen sexuellen Triebkräfte vollständiger auf nicht-sexuelle Ziele abgelenkt werden können und müssen. Sicherlich erklärt sich auch hieraus, weshalb bei den großen Kulturvölkern, den Sumerern, Babyloniern, Griechen, Römern, Germanen usw. die stärkste soziale und politische Energiefülle und Formkraft, ihr weltgeschichtliches Ausgriffsvermögen, mit dem Zustand der strengen Einehe zusammenfallen. (Fs) (notabene)

30b Wie die aus der vergleichenden Völkerkunde und Gesellschaftswissenschaft bekannten Eheformen diese eheliche Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen in sehr verschiedenem Maße beanspruchen und leisten, so institutionalisieren sie auch die ehelichen sexuellen Chancen in sehr unterschiedlichem Ausmaß und in durchaus ungleicher Verteilung auf die Partner; sehen wir einmal davon ab, daß die verschiedenen Verfassungen der Ehe in ihrem Ursprung, ihrer Struktur und ihrem Bestand wesentlich von außersexuellen, meist wirtschaftlichen und produktionstechnischen oder auch herrschaftspolitischen Zuständen der Gesellschaft her bestimmt sind und getragen werden, und rangieren wir die wichtigsten Eheformen unter dem Gesichtspunkt der ehelich institutionalisierten sexuellen Freiheit oder Gebundenheit der Partner, so kommen wir zu folgender Reihenfolge:

a) gemäßigte Polygamie: der Mann kann mehr als eine Ehefrau zu gleicher Zeit haben, die Frauen können ihren Ehegatten gemäß den in Sitte oder Gesetz festgelegten Regeln verlassen, weder Mann noch Frau sind geschlechtlich während ihres ganzen Lebens aufeinander angewiesen;
b) absolute Polygamie: die Frau ist gezwungen, ihre geschlechtlichen Beziehungen während ihres ganzen Lebens ausschließlich ihrem Ehemann zuzuwenden, während er noch andere eheliche Geschlechtspartner haben kann;
c) gemäßigte Monogamie: es ist nur ein Geschlechtspartner erlaubt, von denen aber jeder die Verbindung nach den geltenden Sitten und Gesetzen lösen kann, besonders wenn es sich um einen dauerhaften Wechsel des Partners handelt (Scheidung);
d) absolute Monogamie: Einehe, bei der die Frau unter strenger Strafe oder bei sonstigen Sanktionen ihr Leben lang geschlechtlich an ihren Ehepartner gebunden ist und das gleiche von ihm in dem Maße erwartet wird, wie seine Gattin diesen sozialen Erwartungen entspricht (nach Unwin, 38, p.342 f). (Fs)

31a Fast alle Eheformen geben also dem Manne eine höhere sexuelle Freiheit und Chance in der Ehe als der Frau; der Grund dafür ist wohl vor allem darin zu suchen, daß die nebenehelichen sexuellen Beziehungen des Mannes für den Bestand der Ehe und Familie und damit auch für die Grundordnungen des gesamtgesellschaftlichen Gefüges folgenloser sind als die der Frau, eine Tatsache, die erst durch die modernsten Entwicklungen einer verbreiteten Empfängnisverhütung und der weitgehenden Privatisierung der Familie, die in der bürokratisierten Gesellschaft nicht mehr ist, an sozialem Gewicht und daher an Überzeugungskraft ein» gebüßt hat. Schließlich soll nicht verkannt sein, daß auch die herrschaftspolitische Struktur oder sonstige Funktionsteilungen zwischen den Geschlechtern für die größere sexuelle Freiheit des Mannes eine Rolle spielen. Im übrigen hängt die Häufigkeit des nebenehelichen Geschlechtsverkehrs für beide Partner jenseits der offiziellen Eheverfassung jeweils davon ab, in welchem Maße Ehebruch in einer Gesellschaft bestraft oder sozial diskriminiert wird. (Fs)

32a Die nebenehelichen sexuellen Chancen des Mannes bestehen bei einer wachsenden sexuellen Gebundenheit der verheirateten Frau in der Ehe vor allem in einer vorehelichen geschlechtlichen Freiheit der Frau; diese zu beschränken hat aber die Familie ein Interesse, weil sie damit eine größere Verfügung über die Tochter zu Gunsten ihrer wirtschaftlichen, sozialkooperativen oder machtpolitischen Familienziele, die sie mit einer Verheiratung der Tochter verbindet, behält und so das Risiko der familiären Lasten einer möglicherweise aus diesen Geschlechtsbeziehungen erwachsenden Nachwuchsfürsorge vermeidet. Während die vorehelichen Sexualregulationen, soweit sie eine Enthaltsamkeit des Mannes vom Geschlechtsverkehr fordern, dies zumeist tun, um seine Interessen und Energien auf andere als familiäre Tatbestände und Aufgaben der Gesellschaft zu konzentrieren und die Macht der Familie gerade zu brechen (Männerbünde, religiöse, kriegerische, sportliche Enthaltsamkeit usw.), ist die voreheliche geschlechtliche Enthaltsamkeit der Frau stets von ihrer zukünftigen Ehelichkeit und Familienhaftigkeit her bestimmt. Wir können diese vorehelichen Regelungen des Geschlechtsverkehrs nach dem Grad der in ihnen geforderten Enthaltsamkeit in folgende Gruppen einteilen:

a) Sexuelle Freiheit: Mann und Frau sind in ihrem vorehelichen Verhalten völlig frei zu beliebigem Geschlechtsverkehr. (Fs)

b) Teilweise geschlechtliche Enthaltsamkeit: die sexuellen Möglichkeiten werden für beide Geschlechter, vor allem aber für die Frau, auf den zukünftigen Ehepartner beschränkt; eine Verpflichtung beider Partner zum Eheschluß wird durch einen sozialen Akt, die Verlobung, gefordert. Eine andere Form, zu teilweiser geschlechtlicher Enthaltsamkeit vor der Ehe zu zwingen, besteht darin, daß eine Gesellschaft zwar den vorehelichen Geschlechtsverkehr freisetzt oder duldet, aber die voreheliche Schwangerschaft oder Mutterschaft sozial ächtet und den Erzeuger ökonomisch belastet oder gar bestraft; auch in diesem Falle ist die Frau durchschnittlich stärker zur Enthaltsamkeit genötigt als der Mann. (Fs)

c) Voreheliche Keuschheit: eine Gesellschaft, die ernsthaft auf völliger vorehelicher Enthaltsamkeit besteht, führt dies meist nur in bezug auf die Frau durch, zuweilen übrigens verbunden mit einer symbolischen Prüfung oder Demonstration, daß die Braut in der Hochzeitsnacht noch Jungfrau war (Auslegung der Brautlaken usw.). (Fs)

32a Ein völkerkundlicher Vergleich zeigt, daß jede dieser Stufen vorehelicher Freiheit oder Enthaltsamkeit mit jeder Form der ehelichen Beschränkung sexueller Freiheit zusammengehen, also z. B. durchaus absolute Monogamie mit unbeschränktem vorehelichem Geschlechtsverkehr vorkommen kann, wenn auch in der allgemeinen sozialgeschichtlichen Entwicklung eine aus den Stabilitätsbedürfnissen der Ehe und Familie fließende Tendenz zur Kombination der maximalsten ehelichen und vorehelichen Sexualbeschränkung der Frau unverkennbar ist. Gesellschaften, die diese Regelung, also absolute Monogamie oder Polygamie auf der Grundlage vorehelicher Keuschheit der Frau, erreicht haben, ermöglichen den vorehelichen oder nebenehelichen Geschlechtsverkehr des Mannes meist durch die Einrichtung einer sozial gebilligten und geregelten Prostitution (vgl. S. 39 ff.). Diese hat sich als die Art des nebenehelichen Verkehrs des Mannes erwiesen, die die spezifischen, d. h. außersexuellen Interessen der Familie am wenigsten berührt und gefährdet, ja, zum Teil noch stabilisiert, was selbst dort gilt, wo sie, wie in Japan oder Griechenland, die geistig-seelischen und kulturellen Sublimierungen der Erotik auf sich zog. (Fs)

32b Dieser skizzenhafte Überblick über die verschiedenen sozialen Beschränkungen der ehelichen und vorehelichen sexuellen Freiheit und ihrer Kombinationen kompliziert sich nun noch dadurch, daß in entwickelteren Gesellschaften diese Normierungen bei den verschiedenen sozialen Schichten durchaus unterschiedlich durchgeführt und gültig sind, zunächst meist in der Form, daß die oberen und normtragenden Sozialschichten die rigoroseren Haltungen zuerst durchsetzen und eigentlich nur für sich selbst als verbindlich ansehen; in Verfallszeiten der sexuellen Moral ergeben sich allerdings dann zeitweise schichtenspezifisch umgekehrte Konstellationen. Aus dieser Unterschiedlichkeit der sozialen Regelung der Geschlechtsbeziehungen in den sozialen Schichten erwachsen dem Manne der oberen Klassen meist größere sexuelle Chancen und Freiheiten gegenüber den Frauen der unteren Schichten, als er sie innerhalb der eigenen Klasse besitzt. Leider können wir hier dieses Thema, das eine Fülle von Material in sich birgt, nicht weiter verfolgen. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Christentum, Einehe; Emanzipierung der Frau; Klischee: Publizistik, Propaganda; Ehebruch: monogame Wurzeln; Situation der gegenwärtigen sexuellen Problematik

Kurzinhalt: ... die Regelung der ehelichen Geschlechtsbeziehungen im Sinne des religiösen Heils steht daher weltgeschichtlich berechtigt mit im Mittelpunkt der frühchristlichen Kirchenlehre.

Textausschnitt: 32c Wo, wenn auch nur zeitweise, eine rigorose Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen durch die Ehe gelingt, wird diese mit starken sexuellen Bedürfnissen aufgeladen, die besonders dann innerhalb der Ehe und Familie dominant werden, wenn eine solche Gesellschaft eine Epoche mit viel Wohlstand und Luxus und damit eine Entlastung der Familie von vielen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Funktionen erreicht hat; in diesen Fällen pflegt sich die Bedeutung der Frau weitgehend auf ihre Stellung als Sexual- oder Liebespartner zurückzuziehen, wie wir es für die absolute Polygamie im orientalischen Harem, für die absolute Monogamie aber vor allem in der hoch- und spätbürgerlichen Ehe unserer Zivilisation feststellen können. Diese Konzentration der Sexualität in der Ehe verleiht dieser zwar hohe geistige und seelische Sublimationschancen, entwickelt regelmäßig aber auch Kräfte und Bedürfnisse, die ihrerseits rückläufig nun wieder die Stabilität der Ehe und Familie untergraben und zu einer Lockerung der sexuellen Normen und Standards drängen. Wir wollen diesen Prozeß kurz an der Problematik der Einehe in unserer Gesellschaft verfolgen. (Fs)

34a Unabhängig von der Berechtigung der Behauptung, daß die Monogamie die Urform der Ehe überhaupt sei, kann man wohl sagen, daß sie die gebräuchlichste, sozial stabilste und an Entwicklungsmöglichkeiten reichste Form der Ehe darstellt. Sie führt zur klarsten Struktur und Konzentration der Autorität innerhalb der Familie, vor allem aber ist sie wie keine andere Eheform erfüllbar mit Gefühlen und Affekten, mit sittlichen und kulturellen Ansprüchen der Partner gegeneinander. So ist insbesondere die Vereinigung der christlichen Erlösungsreligion mit den Prinzipien der strengen Einehe zum Geburtsschoß unserer abendländischen Kultur und ihrer geistig-seelischen Haltungen geworden; die Regelung der ehelichen Geschlechtsbeziehungen im Sinne des religiösen Heils steht daher weltgeschichtlich berechtigt mit im Mittelpunkt der frühchristlichen Kirchenlehre. In dieser Tradition ist ein Ehe-Ideal entstanden, das bei einer Monopolisierung der geschlechtlichen Beziehungen in der Ehe den einzelnen Ehepartner über das Streben nach persönlichem, insbesondere sexuellem Glück grundsätzlich hinauszuführen trachtet und in der Erzeugung einer den Tod überdauernden Zusammengehörigkeit und Schicksalseinheit von Mann und Weib als Grundlage der Ehe und Erfüllung der Persönlichkeit gipfelt. Gerade weil diese Forderung die menschliche Geschlechtlichkeit in die sublimsten Höhen der menschlichen Existenz und Geistigkeit einschmilzt, wird sie trotz aller statistischen und psychologischen Nachweise über die Seltenheit und Unwahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung als letzter Anspruch an das Verhältnis zwischen Mann und Frau in unserer Kultur unverlierbar bleiben. (Fs)

34b Keine Gesellschaft hat aber die strenge Monogamie über längere Zeit wirklich aufrechterhalten können; gerade weil in den patriarchalisch-männlichen Gesellschaften mit monogamer Eheverfassung die Tendenz zur unbedingten sexuellen Abschließung der Frau in der Ehe so stark ist, entwickelt sich in ihnen - sofern nicht die damit verbundenen erotischen Sublimationsbedürfnisse des Mannes von Hetären oder Geishas befriedigt werden - ein weit über ihre Rolle als Geschlechtswesen hinausreichender Individualitäts- und Partnerwert der Frau. Dieser Vorgang, der zunächst zu einer Idealisierung und moralischen Hochwertung der Frau führt, trägt auf lange Sicht doch die Tendenz zu ihrer sozialen Gleichstellung mit dem Mann in sich; so scheint die der Frau unfehlbar als geschichtlicher Vorgang aufzutreten, sobald einmal die strenge Monogamie durchgesetzt ist. (Fs) (notabene)

35a Daß gerade die Entwicklung der sexuell-erotischen Bedürfnisse innerhalb der absoluten Einehe die Kräfte erzeugt, die zur Lockerung dieser Eheform, ja, zur Erschütterung und Gefährdung der Institution der Ehe und Familie führen können, zeigt am besten die Einwirkung, die diese Eheform auf das außereheliche Geschlechtsverhalten gehabt hat. Erst in der Einehe der abendländischen Kulturtradition sind die hohen Gefühls-, Gemüts- und Persönlichkeitsansprüche an den Liebespartner entwickelt worden, jene verfeinerte Erotik des amour passioné, die im allgemeinen Sozialisierungsprozeß der Moderne aus der Grundhaltung erst nur der europäischen Oberschichten zur Liebeserwartung weitgehend aller Gesellschaftsschichten geworden ist. Vergröbert und standardisiert, zugleich aber ungeheuer verbreitet und aufgedrungen durch die erotischen Klischees der modernen Publizistik und Propaganda, erfüllt dieses Liebesideal die gesteigerte erotische Reizbarkeit, Erlebens- und Sensationslust des modernen Menschen, die ebenfalls ihre tiefen Wurzeln in der durch die strenge Einehe hervorgerufenen Affekt- und Erlebnissteigerung der Liebesbeziehungen haben. Sobald diese Liebeserwartungen zum primären Motiv des Sichfindens und der Heirat der Ehepartner werden, muß ein Familienleben, das sich im Durchschnitt nicht auf die wirtschaftlich entlastete, kulturell-luxurierte Lebensweise elitärer Oberschichten stützen kann, sondern die Ehepartner mit den Alltagssorgen des Nahrungserwerbs, der Kleinkinderpflege und des sonstigen Haushaltes belädt, diese Ansprüche enttäuschen und die ursprüngliche Gemeinsamkeit der erotischen Erlebnisbasis entzaubern. Gerade daß die Partner an den ursprünglichen Liebeserwartungen der Einehe festhalten, führt dann zu dem Bedürfnis nach erotischen Erlebnissen außerhalb der Ehe, zum Wechsel des Liebespartners und zur ehelichen Untreue. Der so viel zitierte Trieb des Mannes oder des Menschen überhaupt hat, wenigstens was die Bedürfnisse zum Wechsel der Liebespartner in unserer Gesellschaft betrifft, durchaus monogame Wurzeln und Ursprünge. Indem die strenge Einehe die Geschlechtsbeziehungen der Partner auf die ehelichen Beziehungen zu konzentrieren und beschränken versucht, erzeugt sie gerade ganz neue Motivschichten des Ehebruchs und prägt den Charakter der durch die Lockerung und den Verfall ihrer sexualmoralischen Rigorosität sich steigernden außerehelichen Geschlechtsbeziehungen. Diese Beobachtung gilt wahrscheinlich für die sexuellen Beschränkungen aller Eheformen, so daß wir einer eigenen Psychologie des Ehebruchs für jede Ehe- und Gesellschaftsverfassung bedürften. Im außerehelichen Geschlechtsverkehr unseres gesellschaftlichen Zustandes ist jedenfalls immer, wenn auch durch die Gewohnheit der Ausschweifung noch so verdunkelt, ein monogames Liebesbedürfnis und damit das Risiko enthalten, in einer noch so flüchtig gemeinten erotischen Beziehung den schicksalshaft einzigen Liebespartnei anzutreffen. (Fs)

36a Die damit gekennzeichnete Situation der gegenwärtigen sexuellen Problematik besteht unter den von uns entwickelten Gesichtspunkten also darin, daß man im allgemeinen Sozialbewußtsein die Beschränkung der Geschlechtsbeziehungen auf die Ehe als Sollensanspruch festgehalten und im Recht, in der Kirchen- und Morallehre sowie in der Erziehung usw. verfestigt hat, in Wirklichkeit sich aber die außerehelichen sexuellen und erotischen Chancen und Freiheiten, die allerdings nie völlig beschränkt waren, in unserer Gesellschaft heute erheblich vergrößert und vermehrt haben. In welchem Ausmaß hier soziale Sollensforderung und Seinsillusion der Realität widersprechen, verdeutlichen die Angaben der Kinsey-Reporte - die deshalb in ihrer umfassenden Publizität so schokierend wirkten -, daß ungefähr die Hälfte aller verheirateten Ehemänner zu irgendeiner Zeit während ihrer Ehe Geschlechtsverkehr mit anderen als ihren Ehefrauen gehabt haben und daß sich ungefähr 50% des gesamten geschlechtlichen Verhaltens der gesamten männlichen Bevölkerung der USA in Bahnen vollzieht, die sozial mißbilligt werden oder sogar unter Strafe stehen (62a p. 284, 528). Daß diesen Tatbeständen ein gewisser Wechsel in den geschlechtlichen Verhaltenskonstanten der letzten Generationen zugrunde liegt, zeigt das Absinken der geschlechtlichen Unberührtheit der Brautleute beim Eingehen der Ehe, für das M. L. Terman (36, p. 321) aus einer umfangreichen empirischen Untersuchung amerikanischer Ehepaare 1938 exakte Angaben beibrachte (vgl. nachstehende Tafel). (Fs)

36b Es besteht die Neigung, dieses Dilemma durch offenes Senken der moralischen Ansprüche, d. h. durch Anpassung der Rechtsprechung, der Erziehungsziele usw. an die Tatsächlichkeit der Geschlechtsbeziehungen, zu mildern und damit die darin liegenden sozialen und seelischen Konflikte aus der Welt zu schaffen. Dieser Weg hat nur

im Text hier Grafik

zu einem geringen Grade Erfolg und insofern auch wenig Berechtigung, als zunächst der Gegensatz von Norm und Realität zum Wesen der sozialen Überformung der Geschlechtsbeziehungen gehört, außerdem in einer kulturellen Tradition die einmal erreichten absoluten moralischen Werte niemals von einer sinkenden menschlichen Verzichtleistung und Disziplin als bloßer Realität widerlegt und von dort her aufgegeben werden können (vgl. S. 52 ff.). Solange aber in den Heirats- und Eheerwartungen die erotische Erlebnisgemeinschaft der Ehepartner an erster Stelle steht, und das heißt, solange die hoch-und spätbürgerliche Eheform ihren Einfluß auf die Menschen unserer Gesellschaft und ihre Lebenswünsche noch nicht verloren hat, wird das dazugehörige Ideal unbedingter außerehelicher Keuschheit ebensowenig außer Kraft zu setzen sein wie die sich eben von dort her verstärkenden Bedürfnisse nach sexuellem und erotischem Wechsel. Allerdings haben wir Anlaß, zu vermuten, daß sich heute ein Wandel im Sexualwert der Ehe in unserer Gesellschaft vollzieht. Die hohe Erotisierung z. B. der spätbürgerlichen Ehe hatte ihren Grund nicht zuletzt in dem weitgehenden Abbau ihrer institutionellen, d. h. wirtschaftlichen, fürsorgerischen, sozialsolidarischen Funktionen, der zu ihrer Reduktion auf die personalen Sympathie- und Liebesbeziehungen führte. Die Schwere der sozialen Schicksale der letzten Jahrzehnte hat in den davon betroffenen Gesellschaften die institutionellen, insbesondere die Solidaritäts-Funktionen in und außerhalb der Ehe wieder in den Vordergrund gerückt. Die von den Ehepartnern, aber auch den Unverheirateten, verlangten Energien des Sichdurchsetzens im Lebenskampf absorbieren die vitalen Kräfte des Menschen und entziehen sie weitgehend dem sexuellen Bereich; die tiefgreifende Zerstörung des sozialen Bindungsgefüges bedeutet zugleich einen Verlust an überlieferten sexuellen Verhaltensformen. (Fs)

38a So haben neuere Diagnosen einen auffälligen Abbau der Erotik in den ehelichen und außerehelichen Beziehungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft feststellen können. (Allerdings sei hier gleich darauf hingewiesen, daß diese behauptete Enterotisierung ein Zurücktreten der Sexualität im Gesamtverhalten der Gesellschaft oder des Einzelnen meint, also eine Minderung des sozialen Stellenwertes der Sexualität angibt und daher durchaus mit der Tatsache zusammengehen kann, daß für bestimmte Bevölkerungsschichten die sexuelle Beziehung als solche gefühlsbetonter und erotischer geworden ist als früher, während sie bei anderen Gruppen an erotischer Kultivierung eingebüßt hat; vgl. dazu S. 125 ff.). So hat Bükger-Prinz gezeigt (47 b), daß sich wahrscheinlich aus den angegebenen Ursachen die sexuelle Kriminalität mehr in Delikte auf Grund mangelnder sexueller Durchsetzung verschiebt, und erklärt aus dieser auch sozial bedingten Infantilisierung der Sexualität das auffällige Ansteigen der Vergehen an Minderjährigen. Wir fanden in unseren familiensoziologischen Untersuchungen sehr deutlich ein Zurücktreten der sexuellerotischen Verhaltensmotive gegenüber den Ansprüchen der Familie an Solidarität im Daseinskampf, und zwar gilt dies sowohl für die Bedeutung erotischer Motive in ehelichen Konflikten wie etwa bei der Partnerwahl und den Heiratsmotiven der Jungen (34 b, S.279 ff.). Der Abbau der erotischen Komponente im Leben der Jugendlichen ist heute, im Gegensatz zur Zeit nach dem vorigen Kriege, ganz unverkennbar; die frühzeitiger einsetzende sexuelle Bindung und eheliche Partnerwahl der Jugendlichen erfolgt vielfach mit einer unerotischen Sachlichkeit, die die Älteren, wenn sie es bemerken, erschreckt. (Fs)

38b In Wirklichkeit stehen hinter diesen Vorgängen veränderte Grundbedürfnisse unseres gesellschaftlichen Zustandes: Das Suchen nach einem sozialen Halt in der intimen Partnerschaft, das Bedürfnis nach Solidarität und Gemeinschaft in der Bewältigung des Lebens, setzt sich früh und vordringlich durch, da diese Aufgabe in ihrer Härte heute schon frühzeitig an die Jugendlichen herantritt. Die Wandlungen der Gesamtsituation unserer Gesellschaft aus der spätbürgerlichen Wohlstandsphase in die einheitlich sich über alle Sozialschichten verbreitenden industriegesellschaftlichen Notstandsprozesse oder wenigstens sozialen Überlastungs- und Vereinsamungsgeschehnisse drängen den Wert und die Bedeutung der Sexualität vor und in der Ehe wieder zurück zugunsten anderer sozialer Verhaltensansprüche. Der Prozeß der ständigen Ent- und Resexualisierung der sozialen Gebilde, insbesondere auch der Ehe, und der damit verbundene Wandel des jeweils typischen geschlechtlichen Verhaltens ist also auch als unser eigenes Zeitschicksal zu beobachten. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Ehe, Sexualität, Sexualmoral: Normen; Doppeldeutigkeit: Natur (Hauptproblem der Sexualmoral unserer Gesellschaft); Dogmatismus des Natürlichen, Biologismus; Normanspruch der psychologischen Aufklärung


Kurzinhalt: Erst indem die biologische, medizinische oder tiefenpsychologische Aufklärung im Begriff des bewußt oder unbewußt selbst einen sozialen Normanspruch stellt, zerstört ... sie die sozialen Formierungen der Geschlechter ...

Textausschnitt: 1. Über die Absolutheit sexueller Normen

48a In unserer sozialwissenschaftlichen Analyse der Geschlechterrollen und Sexualbeziehungen tritt an den wesentlichen Stellen immer wieder die Notwendigkeit eines moralischen Anspruches auf normgerechtes Sexualverhalten hervor. Wenden wir uns diesem zentralen Thema einmal zusammenfassend zu! Ohne hier die Abgrenzung eines sozialen und eines biologischen Begriffs der des sexuellen Verhaltens erörtern zu wollen, sei zunächst nur die Frage erhoben, in welchem Bereich denn überhaupt der Anspruch auf ein normgerechtes geschlechtliches Verhalten wurzelt. Offensichtlich doch wesentlich im Sozialen, da es eine Forderung an die Motivations- und Entscheidungsfähigkeit eines kommunikativen Verhaltens ist; alle in anderen Bereichen menschlicher Wirklichkeit orientierten Normen müssen sich notwendig als soziale Norm interpretieren und auswirken. Ein Anspruch auf biologische Normgerechtigkeit wäre z. B. die Forderung nach normgerechtem Sexualorganen und gliche etwa einer Forderung nach normgerechten Haarfarbe; werden solche Forderungen erhoben - was im einzelnen ja geschehen ist -, so setzt sich in diesem Falle ein an sich nur biologisch-diagnostischer Normbegriff sehr deutlich in einen sozialen Anspruch um. Solange die sozialen Normierungen der Rolle der Geschlechter und des Geschlechtsverhaltens in das Absolute einer unbezweifelten religiösen oder metaphysischen Gültigkeit transponiert werden konnten, unterlag jede Abweichung davon, gleichgültig ob sie bewußt und gewollt oder triebhaft und pathologisch war, in der gültigen Sexualethik einer so absoluten Verdammung, daß selbst rein somatische Krankheitserscheinungen der Sexualität nicht als normneutrale Ausnahmesituationen, sondern eben moralisch-religiös (und das heißt zugleich sozial) als bewertet werden mußten. Dieser Übersteigerung der sozialen Normierungsfähigkeit scheint aber heute umgekehrt eine übertriebene Abwehr der sozialen Normierungsnotwendigkeit gegenüberzustehen. (Fs)

48b Die Erkenntnis, daß die Normierung der Geschlechtlichkeit zeitlich und kulturell bedingt und mithin veränderlich ist, scheint nicht nur ihre religiös-absolute Fundierung zu relativieren, sondern darüber hinaus die Gültigkeit sozialer Normen auf diesem Gebiete überhaupt zu erschüttern. Ich halte diese weitverbreitete Ansicht für falsch und die auf ihr beruhenden Normabschwächungen für unberechtigt und gefährlich. Wenn der Kulturvergleich zu einer solchen Relativierung unserer eigenen Geschlechtsmoral führte, dann wäre die Analyse nur halb durchdacht, und der Soziologe bliebe in seinen Schlußfolgerungen mitten auf seinem Wege stehen. Gewiß sind auch die Sexualnormen relativ. Aber worauf? In ihren Grundtatbeständen immer auf das Gesamtgefüge der jeweiligen Kultur. Diese Normen zu erschüttern, heißt dann nicht mehr und nicht weniger, als das Gesamtgefüge der jeweiligen Kultur in seinen Grundlagen angreifen. Es würde eine Leugnung der geschichtlichen Dimension unseres kulturell-konkreten Menschseins bedeuten, wollte man aus der grundsätzlichen sozialen Variabilität und Formbarkeit des Geschlechtlichen schließen, daß man es nun zu jeder Zeit beliebig sozial normieren oder umstellen könne. Wir sind nicht soeben ! (Fs) (notabene)
49a Aber nicht die Erkenntnis der kulturellen , d.h. der Bezogenheit des geschlechtlichen Verhaltens auf die geschichtlichen Bedingungen der jeweiligen Kultur, mindert und erweicht heute die sexuelle Moral, sondern viel mehr die wenig erkannte Tatsache, daß an die Stelle der in ihrer Gültigkeit erschütterten religiös-metaphysischen Maßstäbe der Dogmatismus und Absolutismus des im Sinne der Biologie als soziale Norm zu treten beginnen. Die Beliebigkeit des sexuellen Verhaltens und Bewertens findet ihre grundsätzliche Rechtfertigung in der biologischen Variabilität und Plastizität der natürlichen Anlagen, während die Tatsache der kulturell bedingten Unterschiede sozialer Regulierungen nur zur nachträglichen Begründung benutzt wird. Dabei liegt der biologische Dogmatismus unseres Zeitalters nicht darin, daß die Verknüpfung von hochgeistigen, künstlerischen und sozialen Leistungen einerseits und den triebhaft-biologischen Anlagen und Bedürfnissen des Menschen andererseits erkannt wird, sondern darin, daß mit der Erkenntnis dieser Abhängigkeit aller Handlungsformen vom Biologisch-Vitalen jede sie einengende und disziplinierende soziale Formierung als widernatürlich abgewertet und die Variabilität der leiblichen Anlagen und Antriebe oder die Krankheitserscheinung als soziales Recht verfochten werden. Man übersieht in unserem rationalistischen Zeitalter der Verehrung der allzu gern, daß diese in allen Formen, die von Belang sind, immer nur ist, was der Mensch aus ihr gemacht hat und zu machen gezwungen war; dies gilt für das Sexualverhalten und den Unterschied der Geschlechter gleichermaßen wie für die Vernunft oder die «natürlichem Rechte. Erst indem die biologische, medizinische oder tiefenpsychologische Aufklärung im Begriff des bewußt oder unbewußt selbst einen sozialen Normanspruch stellt, zerstört, vereitelt oder erschwert sie die sozialen Formierungen der Geschlechter und ihrer Beziehungen, die bisher die Grundlage unserer kulturellen Tradition bildeten. (Fs) (notabene)

50a Gerade weil die soziale Normierung des Geschlechtsverhaltens zu den grundlegenden Kulturleistungen gehört, wird sie mit Recht in allen Gesellschaften über die biologische Gebundenheit hinaus fixiert und mit allen verfügbaren Mitteln sozialer Sanktionierung und Tabuierung geschützt. In allen Gesellschaften nehmen daher diese Normen mit tiefer Notwendigkeit den Charakter des Absoluten an. Sie werden so absolut gesetzt, damit der Gedanke, sie zu verändern, keine Motivstütze findet, diese Möglichkeit vielmehr aus dem Bewußtsein weitgehend ausgeblendet wird. Aber die Kraft, die hinter dieser Absolutierung der sexuellen Normen steht, ist eben gerade nicht die biologische Natur, sondern die soziale, die moralische, ja meist die religiöse Potenz einer Gesellschaft. In der metaphysischen Überhöhung ihrer sexuellen Normen verteidigt jede Kultur ihre versehrbaren Fundamente. (Fs) (notabene)

50b Gelingt es, die sozial gesetzten Sexualnormen im sozialen und menschlichen Selbstbewußtsein einer Gesellschaft absolut erscheinen zu lassen, so wird sich danach zu verhalten allgemein als empfunden. Aber dann trifft die Behauptung des keineswegs ein biologisches Datum, sondern ist ein Anzeichen dafür, daß die Norm unbezweifelt ist. Das ist nicht die biologische Natur, sondern die anerkannte Sitte. Vom Glauben und Gehorsam her lassen sich dann diese Normen nur als =Rechte in ihrer Verpflichtung deuten. Aber die Verweisungen auf die biologische Natur dabei sind meist nur sekundäre Rationalisationen; so trägt auch, wie wir auf S. 19 sahen, bei vielen primitiven Völkerstämmen die Frau -Begriff der Natürlichkeit hat sich nun der kritisch-diagnostische Natur-Begriff der modernen Wissenschaft gelöst, ohne dabei den Normierungszwang dieses Begriffes immer vollständig von sich abzutun. In der Doppeldeutigkeit, die dieser normative Begriff des in einer wissenschaftsgläubigen Zeit durch den Einfluß einer doch nur deskriptiven Biologie gewinnt, liegt heute das Hauptproblem der Sexualmoral unserer Gesellschaft. (Fs) (notabene)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Moral - Kinsey-Report; biologische Faktizität -> Norm; Dogmatismus des "Naturhaften"; Moralperfektionismus - Anpassungs-Perfektionismus; die normative Kraft des Faktischen


Kurzinhalt: Aus der biologischen Faktizität wird so ein neuer Normanspruch abgeleitet: Das biologisch Naturhafte wird unversehens zum moralisch . ... also auch im Sexuellen die ... anerkennen wollen, heißt praktisch ...

Textausschnitt: 2. Die Moral der Kinsey-Reporte

51a Wohl nirgends ist dieses Dilemma zwischen biologisch-wissenschaftlicher Tatbestandsaufnahme und sozialem Normierungsanspruch des sexuellen Verhaltens zeitgeschichtlich offenkundiger geworden als in der Auswirkung und den Absichten der Kinsey=Berichte in den Vereinigten Staaten. Kinsey und seine Mitarbeiter haben mit ihrer Sozialstatistik der körperlichen Vorgänge der Sexualität vor allem die - den Fachleuten längst, wenn1 auch nicht in dieser exakten Form bekannte - hohe Variabilität und Vielfältigkeit dieser Akte einem breiten Publikum als allgemeine Erscheinung zum Bewußtsein gebracht. Kinsey vertritt nun die These - und dahin zielt auch die Breitenwirkung seiner Publikationen -, daß viele der bisher im Allgemeinbewußtsein als , Perversionen oder Anomalien geltenden Formen der sexuellen Betätigung keineswegs krankhafte, sondern Ausdrucksweisen der Variabilität des Sexualverhaltens seien. Seine Berichte beschäftigen sich in der Tat fast ausschließlich mit sexuellen Verhaltensformen, die, sofern man sie als oder bezeichnet, dieses Urteil zum großen Teil nur von der sozial-kulturellen Normsetzung her beziehen und fast kaum echte somatische Krankheitserscheinungen darstellen. Zu dieser naturhaften Variationsbreite der Sexualität gehören zweifellos die verschiedenen Formen des Koitus und sexueller Reizsituationen, die Masturbation, zum größten Teil auch die Homosexualität usw. Die Behauptung, daß diese hohe Variabilität der sexuellen Verhaltensabläufe keineswegs krankhaft ist, sondern in der biologischen Spannweite der menschlichen Natur liegt, können wir Soziologen Kinsey durchaus abnehmen und bestätigen. (Fs)

51b Aber seine These, daß diese Vielfältigkeit und Plastizität der Sexualbetätigung sei, meint ja mehr: Weil sie in der biologischen Natur des Menschen liege, sei unberechtigt, sie durch soziale und kulturelle Normen und Tabus einzudämmen und teilweise abzuwerten, d. h. die biologisch natürliche Variabilität des Sexualverhaltens müsse moralisch erlaubt sein. Aus der biologischen Faktizität wird so ein neuer Normanspruch abgeleitet: Das biologisch Naturhafte wird unversehens zum moralisch . Man kann dann dieses naturhaft variable Sexualverhalten mit Worten wie demokratischer Pluralismus der Sexualität bezeichnen und ihm gegenüber fordern und es durch Einfügung in das geltende soziale und politische Normgefüge der Gesellschaft zu legitimieren versuchen1, man wird sich aber immer bewußt sein müssen, daß damit an die Stelle der erschütterten religiös=metaphysischen oder traditionellen gesellschaftlichen Maßstäbe geschlechtlichen Verhaltens jetzt der Dogmatismus und Absolutismus des im Sinne der Biologie als eine neue sozial-moralische Norm tritt. In der Argumentation und den Reformabsichten Kinseys werden Biologie und Statistik so zu normativen Wissenschaften. (Fs)

52b Mit seiner normativen Opposition will Kinsey den Beweis führen, daß das tatsächliche sexuelle Verhalten sich in keiner Weise mit den gültigen Normen der Beurteilung des geschlechtlichen Verhaltens deckt, und impliziert eigentlich stets den Anspruch, die normativen Bewertungen den Tatsachen anzugleichen oder wenigstens anzunähern. Darin offenbart sich eine seltsame Schwäche im Ertragen der Widersprüchlichkeit von Idealitäten gegenüber dem Faktischen, ein Mangel, der aus dem zur zivilisatorischen Heilslehre erhobenen Prinzip der und der Vermeidung von resultiert. Es fehlt die Einsicht, daß der Widerspruch zwischen den Sexualnormen einer Gesellschaft und der natürlichen Variationsbreite des faktischen Sexualverhaltens strukturell notwendig und immer vorhanden ist und daher grundsätzlich hingenommen werden muß. Die Idealität der Nonnen wird nie erreicht, aber sie ist erforderlich, um die Sitten und Gewohnheiten zu stützen, und eine Sitte ist voll wirksam, wenn, wie Kardiner einmal sehr summarisch bemerkt (60 b, S. 110), sich 75% der davon Betroffenen danach richten. Im Bestand dieses Hiatus, dieser nie ganz zu schließenden Kluft, liegt ja die humanisierende Wirkung der Moral gegenüber der bloßen . Aus der biologischen Faktizität die Norm machen und die ihr widersprechende Norm abschaffen, also auch im Sexuellen die (wie die Juristen diese Wendung genannt haben) anerkennen wollen, heißt praktisch den Anspruch auf Sexualethik und Sexualerziehung überhaupt aufgeben. Diese Absicht verkennt, daß eine soziale Normierung des Sexualverhaltens und der Rolle der Geschlechter es ja gerade und immer mit der Regulierung, Disziplinierung und Führung der im biologischen Sinne zweifellos Breite angeborener Anlagen zu tun hat und daß eben diese Akte der sozialen und moralischen Einschränkung, Standardisierung und Stilisierung der biologischen Vielfältigkeiten und Tendenzen diese erst zu sozialen und humanen Kräften integrieren. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Kinsey-Report; biologische Faktizität; Forderung einer Angleichung von Mann - Frau

Kurzinhalt: Ähnliche Argumente aus der Variabilitätsbreite der natürlichen Anlagen werden ja auch gegen die bisherige soziale Polarisierung der Rolle des männlichen und weiblichen Geschlechts erhoben und in vielerlei Formen zur Forderung einer Angleichung ...

Textausschnitt: 53a Ähnliche Argumente aus der Variabilitätsbreite der natürlichen Anlagen werden ja auch gegen die bisherige soziale Polarisierung der Rolle des männlichen und weiblichen Geschlechts erhoben und in vielerlei Formen zur Forderung einer Angleichung und Nivellierung dieser sozial gesetzten Unterschiede verwandt. Auch hier ist zu betonen, daß das Wissen um die soziale Formung der der beiden Geschlechter in unserer Tradition und ihre Andersartigkeit in den verschiedenen Gesellschaften nicht dazu führen darf, diese Formung für belanglos zu halten und sie beliebig zu stilisieren: Unsere Kultur beruht auf einer bestimmten, und zwar gegensätzlichen Formung der Rollen der Geschlechter; ihre Nivellierung bedeutet also zweifellos eine Veränderung der Grundlagen unserer tradierten Kultur. Ob ein neues kulturelles Gesamtgefüge sich auf der Angleichung der Geschlechter aufbauen kann und wird, ist durchaus ungewiß; daß unser kulturelles Erbe dabei nicht gewahrt werden kann, aber offensichtlich. Sehr deutlich hat gerade Marg. Mead (23 b, S. 213) darauf hingewiesen, daß ein Aufgeben von sozialen Differenzierungen in dieser Hinsicht auch ein Opfer an Komplexität des Verhaltens und damit an Kulturniveau bedeuten kann; die gänzliche Gleichberechtigung und Gleichverpflichtung von Mann und Frau könne gerade dazu führen, daß in unserer Gesellschaft die Möglichkeit und Berechtigung zu Minderheitenhaltungen - wie sie etwa innerhalb einer kriegerisch=männlichen Gesellschaft die Frau in einer ausschließlichen und für ihre Lebenshaltung auch anerkannten Zuwendung zum Caritativen und rein Privaten entwickeln konnte - immer mehr verlösche. Aus dieser Furcht vor der Reprimitivisierung zum will Marg. Mead die nachlassende Trennung und Spannung zwischen den Rollen der beiden Geschlechter durch andere Differenzierungsprinzipien, vor allem durch die betontere Anerkennung des Unterschieds individueller Begabungen und Anlagen ersetzt sehen. Meines Erachtens überschätzt sie allerdings die Chance einer in dieser Weise differenzierten sozialen Normierung des menschlichen Verhaltens, weil Selbsttäuschung und Beliebigkeit in der Beurteilung anderer auf dem Gebiet der Begabungen, Anlagen und Talente keine sozial und persönlich eindeutige und verbindliche Zurechnung des einzelnen zu bestimmten Verhaltensformen erlauben. Eines aber wird aus diesen Überlegungen Marg. Meads ebenfalls deutlich: Der Sinn einer soziologischen Tatbestandsaufnahme kann nur darin liegen, gerade den Zwang zur sozial verbindlichen Normsetzung der Geschlechtlichkeit als Gestaltungsaufgabe im zeitgeschichtlichen Umbruch der Verhaltensformen freizulegen und anzusinnen. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Kinsey-Report; neue Norm: Anerkennung des Faktischen; Ehebruch - Statistik

Kurzinhalt: ... man darf nicht übersehen, daß mit der Einebnung des Unterschiedes zwischen Norm und Faktizität im Geschlechtsverhalten nur die moralischen, religiösen ... Motive ihre Existenz verlieren und die eben nur in der Form ...

Textausschnitt: 54a Wir wollen diesen Widerspruch zwischen den sexuellen Normen und Werturteilen auf der einen und der sexuellen Verhaltenswirklichkeit auf der anderen Seite sowie die unterschiedlichen Motivierungen, mit denen das soziale Bewußtsein seine jeweilige Stellungnahme zu diesem Widerspruch rechtfertigt, noch einmal am Beispiel der vorehelichen Keuschheit bzw. des vorehelichen Geschlechtsverkehrs verdeutlichen. Über dessen tatsächliche Verbreitung sind wir durch Kinsey und andere ziemlich sicher informiert:
[...]

55a Aus den Untersuchungen Gorers gehen nun auch außerordentlich klar die Motive oder wenigstens die intellektuellen Deutungen für die jeweilige moralische Stellungnahme zur vorehelichen Keuschheit hervor: Ihre Befürworter führen ganz eindeutig nur moralische und religiöse Argumente oder Begründungen der Menschenwürde für ihre Stellungnahme an, während sie biologisch-materielle Motive oder sogenannte praktische Überlegungen kaum äußern; bei den Befürwortern des vorehelichen Geschlechtsverkehrs finden wir dagegen das ganze Arsenal der popularisierten, vulgär gewordenen Psychologie und Psychiatrie und die Argumente der biologischen Gesundheit als sekundäre Rationalisierungen ihrer Stellungnahme vor. Man mag diese Unterschiede in der Beziehung zwischen Werturteilen und faktischem Sexualverhalten in der deutschen und englischen Gesellschaft mit dem typisch englischen (Scheinheiligkeit) erklären, man mag ihn als bezeichnen (und damit auf die Seite der naturalistischen treten), aber man darf nicht übersehen, daß mit der Einebnung des Unterschiedes zwischen Norm und Faktizität im Geschlechtsverhalten nur die moralischen, religiösen, auf Menschenwürde ausgehenden Motive ihre Existenz verlieren und die eben nur in der Form einer Anerkennung des einmal Faktischen bestehen kann, die sich dann vulgär=wissenschaftlich rechtfertigt. Genau in dieser Richtung wirkt sich der Anspruch der Kinsey=Reporte aus. (Fs)


55b Einen gleichen Vorgang können wir in ihrem Einfluß auf die Stellungnahme zur ehelichen Treue beobachten. Wir sahen S. 33 ff, daß die Entwicklung der Monogamie in der abendländischen Kulturtradition in dem Ideal einer unbedingten ehelichen Treue gipfelte und daß selbst im Ehebruch noch das Motiv, den schicksalshart einzigen Liebespartner anzutreffen, wirksam blieb. Auf der Grundlage dieser strengen monogamen Verpflichtung blieb daher die eheliche Untreue bisher ein jeweils individueller Akt, dessen Verständnis - Verzeihung oder Verdammung - von den Beteiligten jeweils in einer personenhaften Beziehung der Ehepartner, in einer intimen gegenseitigen moralischen und sich wenigstens in einem Verpflichtungsgefühl personal eins wissenden Auseinandersetzung gewonnen werden mußte. Die von Kinsey in das Allgemeinbewußtsein erhobene Statistik des Ehebruchs konfrontiert aber mit einem ganz anderen Tatbestand; wir wollen dies an einer Zeitungsmeldung verdeutlichen: Hier bewirkt also eine bloß statistische Angabe offensichtlich eine ihrem Inhalt kritiklos entsprechende Interpretation der eigenen Situation und eliminiert aus dieser die ihr wesentliche Grundlage personenhafter Bindung; ich finde diese Form der Selbstdeutung fast noch unmoralischer als den Ehebruch selbst, weil die aus ihr sprechende Beziehung zum Ehepartner bereits so entpersönlicht ist, daß berechtigte Eifersucht oder Schuldgefühl demgegenüber noch als wünschenswerte Personbindungen erscheinen können. (Fs)

56a Diese Selbstdeutung auf Grund einer Statistik ist allerdings nur verständlich im Zusammenhang mit der außerordentlichen Unsicherheit im ehelichen und familiären Verhalten, die wir in der nordamerikanischen Bevölkerung beobachten müssen; auf sie spekuliert ja auch die Publizität der Kinsey-Berichte. Diese von allen Berichterstattern bezeugte hohe Ratlosigkeit und Unsicherheit der Amerikaner in der Partnerwahl, in der Eheführung, Kindererziehung usw. hat verschiedene Ursachen: Der generationshafte Zusammenhang und die Autorität der Eltern zur Prägung und Erhaltung familiärer Verhaltenskonstanten sind durch die starke räumliche Trennung und Mobilität der Familien weitgehend zerrissen und abgeschwächt, vor allem aber durch die Völkermischung der Einwanderungsgesellschaft außer Kraft gesetzt. Es gibt kaum noch in sich homogene Heiratsgruppen in den USA; indem die sozial verschiedenartigsten Menschen mit den unterschiedlichsten Resttraditionen familiärer Verhaltensvorstellungen einander heiraten, gibt es keine Kontinuität einer verbindlichen Norm und damit keine vererbte Sicherheit auf diesem Lebensgebiet. Marg. Mead hat darauf hingewiesen, daß in einer Gesellschaft, in der das Verhalten zwischen den Geschlechtern groß geschrieben würde, im Grunde niemand mehr wisse, was eigentlich sei, und sagt mit Recht: Wir betonen immer die Wichtigkeit der Anpassung und verlieren dabei immer mehr die Fähigkeiten, die zur Anpassung führen. In ähnlicher Weise wirkt vor allem noch der allgemeine soziale Aufstiegsdrang, insbesondere der Eingewanderten: es läßt sich nachweisen, daß bei den Aufstiegsfamilien, also der Majorität der typischen middle=class=Bevölkerung, die Autorität und Tradition der Eltern minimal ist, ja, daß geradezu der Grundsatz gilt: Es kann alles richtig sein - nur so, wie unsere Eltern es getan haben, war es bestimmt falsch. (Fs)

57a Dem aus dieser Lage stammenden Mangel an Verhaltensmaßstäben und -Vorbildern sucht man nun auch im privaten Bereich der Partnerwahl, Eheführung, Elternschaft und natürlich erst recht des Geschlechtsverhaltens durch wissenschaftliche Planung und Einsicht abzuhelfen. Auf ausdrücklichen Wunsch der Jugend sind in den meisten amerikanischen Hochschulen daher Kurse über rechte Partnerwahl, richtige Kindererziehung, usw. eingerichtet worden, die sich durch ihre hohe Besucherzahl fast als das amerikanische Studium Generale ausweisen. Die Folgen dieser Wissenschaftsgläubigkeit werden oft genug geschildert: Jede wissenschaftliche Mode der Kinderpflege hat breite Auswirkungen auf das Verhalten der Eltern, es gibt schnell wechselnde, sich auf psychologische Erkenntnisse berufende Moden des Partnerverhaltens in der Ehe usw. Das heißt doch, daß die Pseudo-Führung der Wissenschaft im intimen und personalen Bereich nur die Unsicherheit und Diskontinuität des Verhaltens steigert. Auf dieser Grundlage ist die erschütternde und verderbliche Wirkung der Kinsey=Reporte gar nicht zu unterschätzen: Genau so wie die Soldaten in Korea werden Tausende von Frauen jetzt die ehelichen Schwierigkeiten, die sie sonst vielleicht noch als relativ selbstverständliches Eheschicksal hingenommen und getragen hätten, im Lichte der Statistiken der Kinsey-Reporte interpretieren und nun endlich wissen, . Nach der Psychologisierung der Selbstdeutungen scheinen Zoologie und Statistik als Medien des menschlichen Selbstverständnisses an der Reihe zu sein. Aber auch diese Wissenschaften werden, im Glauben, die Konflikte einer veralteten Moral zu beseitigen, nur neue schaffen, zu deren Meisterung uns dann kaum noch ein moralischer Ansatz zur Verfügung steht. (Fs)

57b Aber was nützt denn, so könnte man einwenden, eine Sexualmoral, wenn sie zwar echte moralische Maßstäbe aufrechterhält, praktisch aber so wenig wirksam ist, daß das faktische Geschlechtsverhalten davon kaum beeinflußt wird? Wenn Kinsey sieht, daß der sexuelle Habitus der nordamerikanischen Bevölkerung und die noch vorhandenen Sittenanschauungen oder gar strafrechtlichen Regelungen inzwischen so stark auseinanderklaffen, daß daraus ständige soziale, seelische und rechtliche Konflikte entstehen, ist es dann nicht berechtigt, nach einer neuen Sexualmoral zu rufen und zu suchen, die dem tatsächlichen Verhalten nicht so wirklichkeitsfremd und daher ein« flußlos gegenübersteht? Nun, auch wir würden von unserem Standpunkt diese Absicht und die Möglichkeit des Wandels der Sexualmoral nicht verneinen; gerade weil die sexuellen Normen primär soziale Gestaltungen sind, unterliegen sie natürlich auch der geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderung in den Wandlungen der gesamten Gesellschaftsstruktur, was sich in strafrechtlichen Reformen usw. ausdrückt. Was wir ablehnen, ist nur die Methode Kinseys und seiner Parteigänger, die Sexualmoral so ändern zu wollen, daß man die biologische Faktizität zur Norm oder zum Richtmaß erhebt; damit ist zwar der Konflikt zwischen Moral und Triebtendenzen am leichtesten und vollkommensten gelöst, aber eben auf Kosten der Moral und mit Aussicht auf neue Konflikte. (Fs)

58a Was Kinsey übersieht und mit seiner Methode, nur sozialstatistische Tatsachen zu erheben, vielleicht auch gar nicht bemerken kann, ist der Umstand, daß in dem Konflikt zwischen faktischem Sexualverhalten und moralischen Anschauungen ja nicht nur die sexuellen Normen die Variable bilden, sondern in den entstehenden Spannungen die Sexualität auch variabel und daher anpassungsfähig ist. Ein geändertes Verhältnis zwischen beiden ist also nicht nur vom Wandel der Sexualmoral, sondern vielleicht mehr noch von der Veränderung der Rolle der Sexualität in der Gesellschaft im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Wandel der gesamtkulturellen Struktur und Verhaltensweise zu erwarten. Wir sahen (vgl. S. 37 f.), daß in den umwälzenden Geschehnissen der deutschen Gesellschaft ein Zurücktreten der Sexualität in ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Bedeutung bereits zutage trat, und können von dort her vielleicht auch verstehen, weshalb die Kinsey=Berichte in Deutschland kein vitales Interesse erweckten, sondern sich höchstens als interessanter Lesestoff erwiesen. Nun schafft allerdings ein Abbau der Rolle der Erotik, wie wir ihn diagnostizierten, keineswegs unmittelbar eine neue und höhere Sexualmoral, bietet aber vielleicht langfristig der Durchsetzung strengerer sexueller Normen durchaus eine neue Chance. Ich halte es nicht für unmöglich, daß die heranwachsende Generation einmal wieder prüde wird. Vor allem aber scheinen uns diese Einsichten zu zeigen, von welchen Tiefenschichten des Gesamtverhaltens her überhaupt Änderungen des Verhältnisses von Moral und faktischem Sexualverhalten zu erwarten sind. Die sexualmoralisehe Problematik der Kinsey-Berichte könnte sich also als eine Sorge erweisen, die an den Bestand einer spezifisch spätbürgerlichen Gesellschaftsverfassung gebunden ist und mit ihr vergeht. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Abnormalität - Gesellschaft; das Soziale: nicht nur Orientierungssystem, sondern Ermöglichung neuer personaler Möglichkeiten; Abnorme (Norm) - höhere Seinsformen einer Gesellschaft

Kurzinhalt: ... während umgekehrt die Toleranz gegenüber dem Abnormen ... mit der Erniedrigung und dem Verfall persönlicher und sozialer Seinsmöglichkeiten zusammenhängen,

Textausschnitt: 3. Die Abnormen und die Gesellschaft

59a Die Erkenntnis, in welchem Ausmaß die Normen des geschlechtlichen Verhaltens sozial bestimmt und anthropologisch und gesellschaftlich notwendig sind, erfährt ihre in der sozial-wissenschaftlichen Deutung der Anomalien des geschlechtlichen Verhaltens. Die populär naturwissenschaftliche Ansicht, daß hier im wesentlichen doch , d. h. biologische Krankheitserscheinungen vorliegen, kann nach der Einsicht in die Doppeldeutigkeit des Begriffes des im sexuellen Verhalten nicht mehr befriedigen. So ist Kinsey dem umgekehrten Trend gefolgt, der das anormale Verhalten als solches vor allem von der sozialen Normsetzung her verstanden wissen will. Auch Marg. Mead (23 b, p. 96) kennzeichnet den () als . Damit wird eine weitgehende Plastizität der sexuellen Veranlagung angenommen, wie es ja schon in der Libido=Konzeption Freuds der Fall ist (), und die Prägung des sexuellen Verhaltens dem sozialen und kulturellen Normsystem der Gesellschaft zugeschrieben. Die Abnormitäten treten dann dort auf, wo ein spezifisches soziales Normensystem nicht hinreicht oder gar zu eng und zu starr ist, um alle biologischen Veranlagungen seinen sozialen Verhaltensmustern und Zielen einzuordnen; man kann sagen, daß jede Gesellschaft sich durch ihre soziale Normsetzung des natürlichen Sexualverhaltens> ihre Abnormen selbst schafft. (Fs)

59b In der psychoanalytischen Lehre Freuds ist dieser soziale Normeinfluß auf die Formierung der Sexualität in der Rolle und Bedeutung grundsätzlich erkannt, die er der und dem <Über=Ich> zuschreibt; während er jedoch, in den Ansichten des kulturellen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts befangen, die sich aus dem Widerspiel von Triebstruktur und kulturellem <Überbau> der Moralanforderungen ergebenden psychischen Mechanismen für universal menschlich hielt und so eine naturwissenschaftliche Lehre der und Krankheitserscheinungen schlechthin zu geben glaubte, ist die von Freud ausgehende neuere psycho=soziologische oder die ihn aufnehmende ethno=soziologische Forschung durch die Methoden des Kultur- und Gesellschaftsvergleiches zu der Feststellung gekommen, daß die Verhaltensgrundlagen und Triebformierungen viel stärker durch das jeweilige kulturelle Norm- und Institutionsgefüge differenziert und bedingt werden. So haben uns Malinowski, Marg. Mead und Ruth Benedict den prägenden Einfluß des gesamten Kulturgefüges auf alle Verhaltensweisen, insbesondere auch auf die Rolle der Geschlechter und das sexuelle Verhalten, an ihren Deutungen der Sozialstruktur der Südseevölker, der Indianer usw. sehen gelehrt (vgl. 76, 23, 8); systematisch hat der Psychiater und Psycho-Soziologe Abram Kardiner (60) daraus seine Lehre von der der jeweiligen Kultur entwickelt, dem Einfluß der Grundwerte und -institutionen einer Kultur auf die Formierung und Fixierung der Antriebsstrukturen in der frühen Kindheit; die Neoanalyse, z. B. Karen Horney (59), weist die starke Abhängigkeit seelischer Krankheitserscheinungen von der sozialgeschichtlich und in den Kulturen wechselnden gesellschaftlichen Situation der Menschen nach und erweitert bewußt die Freudsche Lehre in das Soziologische, und die Einsicht in diesen Zusammenhang schlägt bei der tiefenpsychologischen Sozialpsychologie, etwa bei E. Fromm (53), F. Alexander (44), J. C. Flügel (49) u. a. sogar in den Versuch um, aus diesen Spannungen zwischen der Breite biologisch-ursprünglicher Antriebsrichtungen und ihren mehr oder minder gelungenen sozialen Formierungen das historische und politische Geschehen einer Gesellschaft selbst zu erklären. (Fs)
60a Alle diese Lehren haben zweifellos die psycho-soziologischen Wechselwirkungen in der Trieb- und Persönlichkeitsformierung aufgedeckt, sie haben uns das System der sozialen Normen und Institutionen als ein Prägungs- und Führungssystem gegenüber der Antriebs- und Motivationsstruktur der Menschen sehen gelehrt. Psychologische und soziologische Betrachtungsweise scheinen in ihnen vollkommen zur Deckung gekommen zu sein. In diesen Lehren geraten die Abnormen in die Position von Gruppen, die sich zwar innerhalb der psychobiologischen Veranlagungsbreite befinden, durch bestimmte Kulturansprüche und kulturell gesetzte Dilemmen aber in Leistungs- und Verhaltensunfähigkeiten und damit in Anomalie und Krankheit gedrängt werden. Die Sozialverfassung wird als verursachender Faktor der Krankheit entdeckt, wie umgekehrt psychische Gesundheit wesentlich in der Einordnung und Leistungsfähigkeit gegenüber den Verhaltensgrundansprüchen der Gesellschaft gesehen wird. So weit entsprechen diese Ansichten durchaus den von uns bisher entwickelten Zusammenhängen. (Fs) (notabene)

61a Aber bei aller Liebe und Anerkennung, die neuerdings Psychologie und Psychiatrie der Soziologie entgegenbringen, gerät diese doch unversehens in die Gefahr, dabei in ihren wesentlichen Aussagen überspielt zu werden. Die Psychologie arbeitet hier mit der Grundannahme, daß die für sie erkennbaren und wesentlichen Wirklichkeiten identisch sind mit jenen, die die Soziologie festzustellen hat. Dieses Postulat erscheint uns zweifelhaft. (Daß die moderne Psychologie eine ähnliche Identitätspostulierung ihres Gegenstandes auch gegenüber der Biologie vornimmt, kann uns bei unserer Fragestellung nicht interessieren, obwohl auch hier am deutlichsten an der Diagnose
62a Diese Einsicht macht uns auch den zweiten Gedankengang verständlich, mit dem wir zu unserem Ausgangspunkt, der Frage nach der Rolle der Abnormen in der Gesellschaft, zurückkehren: Indem der Mensch durch die Verselbständigung, man kann auch sagen, durch die Entfremdung seiner Antriebe ins Institutionelle sich der Subjektivität seiner Triebe und seiner Konstitution entzieht, wird er überhaupt erst zum Träger sozialer und kultureller Ordnungen und erschließt sich selbst die höheren Seinsweisen, in denen sein leiblich-seelisches Dasein aufgeht in der Sache, die er vertritt, in seinen Schöpfungen, in der Erfüllung der Aufgaben des Geistes, des Glaubens, der Gerechtigkeit und der Liebe. Das Verhalten, die Moral, hätte in sich keinen Wert, wenn sie nicht eben diese höheren Seinsformen des Menschen sowohl als Person wie als Gesellschaft erst ermöglichte; dieser Zusammenhang von Moral und Freiheit der Person oder dauerhafter Ordnung der Gesellschaft ist von der tiefsinnigen Philosophie immer gesehen worden. Die Abnormen sind also nicht durch eine gleichsam willkürliche Normsetzung der Gesellschaft nur in der öffentlichen Meinung und im Sozialbewußtsein zu einer Außenseiterrolle verdammt worden, sondern das Normverdikt ist die Feststellung einer Kultur, daß diese Gruppen die in der jeweiligen Kultur oder dem jeweiligen Sozialgefüge angelegten höheren Seinsformen der Person oder der Gesellschaft zu erreichen nicht fähig sind. Mit der Erhöhung und Differenzierung institutionalisierter persönlicher und sozialer Seins- und Verhaltensebenen wächst also die Rigorosität der Moral und verschärft sich die moralische Ausschließung derer, die zu diesen Seinsformen unfähig sind, während umgekehrt die Toleranz gegenüber dem Abnormen, die Aufweichung der moralischen Konturen mit der Erniedrigung und dem Verfall persönlicher und sozialer Seinsmöglichkeiten zusammenhängen, was uns jede Gegenwartsdiagnose lehren könnte. Daß mit dem Auftauchen neuer, überhöhender Seinsmöglichkeiten des Menschen sich auch neue, rigorosere Moralsysteme entfalten müssen, dafür ist die geschichtliche Wirkung des Christentums wohl das für uns sinnfälligste Beispiel (vgl. S. 34). (Fs) (notabene)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Abnormalität - Gesellschaft; Moral als Zwangssystem: 2 Prämissen (Aufklärung, Biologismus); Subjekt - Institution (Arnold Gehlen); Funktion der Norm; Freud

Kurzinhalt: ... so daß dies das Gefühl von Leuten bezeichnet, für die ihre Gesellschaft zu große Kleider der Persönlichkeit geschneidert hat, um den Ausdruck Marg. Meads abzuwandeln. Indem die Menschen vor ihrer Tradition versagen ...

Textausschnitt: 63a Die Einschätzung der Moral und sonstiger gesellschaftlicher Normen als bloßer Orientierungssysteme, ja, im Extremen sogar als der inneren Person fremde Zwangssysteme, beruht auf zwei geschichtlich durchaus datierbaren Wurzeln des modernen Selbstverständnisses: einmal auf der Reduktion der Person auf die Bewußtheit des Ichs, der Grundprämisse aller Aufklärung, zum anderen auf der Auffassung, daß Normen wesentlich als Hemmungen des Trieblebens wirken, dem Erbe der biologisch orientierten Psychologie. Die erste Prämisse wertet alle sozialen und persönlichen Verhaltensordnungen, die nicht von der sich selbst verstehenden und sich innebleibenden Bewußtheit des Menschen her gesteuert werden, als ab und verfehlt eben damit die Einsicht, daß der Mensch sich gerade in der Entäußerung an die Sache, im Aufgehen in die Institutionen als die das Ich überhöhenden Ordnungen und Seinsformen in seiner höheren und sozialen Existenzweise erst gewinnt. Arnold Gehlen hat diesen Zug aller Aufklärungsmoral von Fichte über Marx bis zur Psychoanalyse - etwa in den Thesen, die E. Fromm in seiner tiefenpsychologischen Ethik vorträgt (53 b) - aufgewiesen und ihm genau die Einsicht entgegengestellt, auf die es uns hier ankommt:

(55 f, S. 351 f.). (Fs)

64a Die zweite Prämisse von der Hemmungsfunktion der Norm, die für unsere Frage hier bedeutungsvoller ist, verallgemeinert im Grunde die Position der Abnormen gegenüber der Norm zu einer anthropologischen Grundaussage, insofern hier die Norm als etwas der Triebtendenz Äußerliches, ja Entgegengesetztes bestimmt wird; die Funktion der Norm beruht aber gerade darin, die Antriebe auf die Personalität und Ordnung hin zu integrieren, auf die hin der Mensch auch biologisch angelegt ist. Diese Leistung der Normen ist eben das, was ein System intakter Institutionen dem Menschen zu bieten hat und wodurch es ihn erst zu dem vielberufenen sozialen Wesen> macht. Wir können in dieser anthropologischen Wirkung der Institutionen gegenüber den menschlichen Antrieben zumindest drei Seiten unterscheiden:

1. kanalisieren die institutionellen Setzungen den Ablauf triebursprünglicher Verhaltensweisen so, daß ein person- und gesellschaftsoptimaler Zusammenhang des Gesamtverhaltens gewahrt bleibt;
2. werden institutionell Gegenstand und Ablauf triebursprünglicher Verhaltensweisen so auf Dauer gestellt, daß der Mensch dadurch fähig wird, stabile Ordnungen seiner Person und Gesellschaft zu tragen und zu formieren;
3. entlastet die so erfolgte Habitualisierung des triebursprünglichen Verhaltens und seine Einordnung in dauerhafte überindividuelle Bezüge den Menschen weitgehend von der unmittelbaren und bewußten Konfrontierung mit seinen Trieben und schließt seiner Lebensenergie damit die Verhaltensräume erst auf, in denen der Mensch zu kulturellen Leistungen fähig wird. (Fs)
64b Indem so die Institutionen den Menschen sowohl über seine Triebbestimmtheit wie über sein individuelles Bewußtsein hinausdrängen, erreichen sie paradoxerweise, daß er beides erst in die Hand bekommt und zu führen versteht. (Vgl. dazu Arnold Gehlen, 9 und 55 a und d).

64b Indem so die Institutionen den Menschen sowohl über seine Triebbestimmtheit wie über sein individuelles Bewußtsein hinausdrängen, erreichen sie paradoxerweise, daß er beides erst in die Hand bekommt und zu führen versteht. (Vgl. dazu Arnold Gehlen, 9 und 55 a und d).

65a In bezug auf die Sexualität hat Freud den Übergang triebursprünglichen Verhaltens in kulturelle Leistungen als beschrieben, etwa in der Formulierung: (52 c). Aber die diesen Worten unterliegende Wertung, daß hier ein das Triebleben Akt, eine im Sinne der Triebtendenz illegitime Entwicklung vor sich geht, kommt in seiner Annahme eines grundsätzlichen zum Ausdruck (; ebd.): Die Metamorphose zur Kultur geht auf Kosten der Trieberfüllung. Wir sehen dagegen in der mit Gustave Thibon der menschlichen Triebstruktur. (Fs)

Gustave Thibon weist mit Recht darauf hin, daß in der Sublimation gar keine Umwandlung der Sexualität als solcher, sondern nur ihre Einordnung in ein umfassender strukturiertes menschliches Gesamtverhalten vor sich geht:
[... ] Ähnliche Gedanken schon bei Max Scheler (66a). Von diesem Standpunkt aus ist , das Freud in dem übermäßigen Entzug von Triebenergien zu kulturellen Leistungen begründet sieht, vielleicht eher gerade als ein Ausgeliefertsein an die Triebwelt und als ein Versagen vor den Seinsansprüchen des kulturellen Normen- und Institutionensystems zu verstehen, so daß dies das Gefühl von Leuten bezeichnet, für die ihre Gesellschaft zu große Kleider der Persönlichkeit geschneidert hat, um den Ausdruck Marg. Meads abzuwandeln. Indem die Menschen vor ihrer Tradition versagen und die Institutionen nicht mehr zu wahren vermögen, erlischt auch die Triebordnung, die von diesen ausging; (Gehlen, 55 d, S. 54). (Fs)

66a So treffen recht eigentlich in der Frage, welche Rolle die Normen und die sozialen Institutionen in der Bestimmung des menschlichen Handelns spielen, heute eine aufklärerisch-naturwissenschaftlich-psychologische Richtung der Anthropologie mit einer Anthropologie - sagen wir - der Gegenaufklärung aufeinander, die primär von der Eigengesetzlichkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Verhaltensebene ausgeht und die psycho-biologischen Bereiche des Menschen als untergeordnete und auf jene höheren Seinsformen hin angelegte Strukturen versteht. Es wird einleuchten, daß die Unterschiedlichkeit dieser Positionen gerade für die Beurteilung der Rolle der Abnormen in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist; und nicht verwundern, daß daher fast alle moderne psychologische und psychiatrische Literatur, die zur Rolle der Sexualität, und insbesondere der abnormen, Stellung nimmt, dies vom Standpunkt der psychologischaufklärerischen Anthropologie aus tut. Die Erkenntnis sowohl der Grenzen psychologischer Determination und Gesetzlichkeit überhaupt als auch der Autonomie sozialer und institutioneller Zusammenhänge im menschlichen Handeln, bezogen auf ein soziologisches Verständnis des abnormen Sexualverhaltens, finde ich am weitesten vorwärtsgetrieben in den sexualwissenschaftlichen Schriften von H. Bürger-Prinz, dessen Gedankengängen wir in unserer sozialwissenschaftlichen Deutung der Situation der Abnormen in der Gesellschaft jetzt weitgehend folgen wollen1. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Biologischer Reifungsprozess (Puberät) - soziale Umwelt; Max Scheler: Scham; Bürger-Prinz; geschlechtliche Abnormalität: Verfehlen der primären Sozialbeziehung; Normunfähigkeit - Normsucht der Anomalen

Kurzinhalt: In der Analyse der Rolle der Scham kommt Scheler zu gleichen Schlüssen wie wir über die Bedeutung des primären Sozialkontaktes, den er als begreift, ... Die Abnormität wurzelt also in einer primären geschlechtlichen ...

Textausschnitt: 67a Die gemeinsame Grundlage alles sozial belangvollen abnormen Sexualverhaltens scheint ein Phänomen zu bilden, das man bisher allzu psychologisch als heterosexuelle Kontaktschwäche oder -unfähigkeit gedeutet und damit als soziales Grundphänomen weitgehend übersehen hat. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, daß libidinöse Lustempfindungen bereits zum Erfahrungsbestand des kindlichen Lebens gehören, aber alle diese in einem sehr weiten Sinne sexuellen Lusterlebnisse sind primär autoerotisch, an die Selbstgenügsamkeit und Erfahrung des bloß eigenen Leibes gebunden. In der geschlechtlichen Reife der Pubertät steigert und konzentriert sich nun die menschliche Sexualität nicht nur sexualorganologisch, sondern richtet sich im Normalfall zugleich auf den gegengeschlechtlichen Partner aus. Dieser Vorgang der Entdeckung des sexuellen und erotischen Partners wird gemeinhin als bloße Folge der sexuellen Reifung verstanden, gleichsam als sei dieser Partner - dessen andersgeartete Leiblichkeit ja vorher schon bekannt ist - nun nur unter einen geschärften sexuellen Blickwinkel geraten und gegenüber dem gesteigerten und gereiften Sexualbedürfnis einfach vorhanden und verfügbar. (Fs)

67b Hier hat wohl Scheler richtiger gesehen, daß dieser Zugang zum heterosexuellen Partner ein Reifungsergebnis und ein personaler Vorgang eigener Art ist und als verhältnismäßig autonomer Vorgang neben die Steigerung und Zentrierung des sexuellen Triebes und Lustbedürfnisses gestellt werden muß (66 b, S. 104). Die in der Pubertät aufschießende und reifende Sexualität ist mehr als Anlaß und Schauplatz für eine Leistung zu betrachten, die der Jugendliche in dieser Altersstufe in der ganzen Verhaltensbreite zu vollbringen hat: die Ablösung aus der sozialen Geborgenheit der Eltern-Kind-Beziehung und das Hinaustreten aus der familiären Intimgruppe in ein außerfamiliäres gesellschaftliches Kontaktverhalten als autonome Individualität. Man kann diesen Prozeß geradezu so beschreiben, daß aus der ursprünglichen kindlichen und familiären Wirhaftigkeit des Menschen jetzt erst sowohl das Du wie das Ich als selbstbewußte und sozial selbständige Verhaltensindividualität entstehen. Dieses Erwachsenwerden, das sich in der sozial-ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft zumeist vorläufig erst als eine Teilablösung des Jugendlichen aus der Familie vollziehen kann, da diese eine ganze Reihe langfristig gewordener wirtschaftlicher und sozialer Fürsorgeaufgaben für den Jugendlichen noch behält, zeigt sich im Aufbau einer immer stärker außerfamiliären Verhaltens-Orientierung z. B. in Lehrer-Schüler-Verhältnissen, in Meister-Lehrlingsbeziehungen, im Eingehen männerbündlerischer Freundschaften usw., was zugleich immer einen Abbau der Präge- und Bindungsgewalt der alten, elterlich-familiären Wir-Gruppe bedeutet. Eben dieser primär soziale Auf- und Abbauvorgang reicht mit der sexuellen Reifung bis in die vitalen Verhaltensgründe hinab: indem er die sexuellen Antriebe auf ein gegengeschlechtliches Du richtet, wird der Zustand autoerotischer Lust- und Körperempfindung und seine soziale Beheimatung in der Eltern-Kind-Beziehung abgebaut und eine neue Ebene eines zugleich vitalen und sozialen Zueinanders geschaffen, auf der sich die Geschlechtlichkeit als eine Partnerschaft von Individualitäten überhaupt erst zu bilden vermag. Daß dieser Vorgang eine relativ selbständige und ursprüngliche sozialkulturelle Personformierung darstellt und nicht nur als Teil des biologischen Reifungsvorganges verstanden werden kann, zeigen am besten die Tatsachen, daß die soziale Umweltstruktur, also vor allem das elterliche Familienleben, und soziale Erfahrungen des Kindes und Jugendlichen ihn entscheidend beeinflussen, also fördern oder stören, im Extremfalle auch verhindern können, ohne daß sich aus der somatischen Reifung der Sexualität für diese Varianten des geschlechtlichen Partnervollzuges hinreichend verursachende Faktoren aufweisen ließen. Da aber die Frage des normalen oder anormalen Geschlechtsverhaltens sich eben an diesem Aufbau eines vollen heterosexuellen Partnerverhältnisses entscheidet, ist sie von vornherein im sozialen Bezug der Geschlechtlichkeit geortet und nicht primär vom Somatischen her zu bestimmen. Die Verarbeitung des Triebes in der sozialen Ursprungsleistung des Aufbaues eines gegengeschlechtlichen Partnerverhältnisses gehört zur sozialen Formierung der Person, von deren Gelingen oder Nichtgelingen her sich Normalität oder Perversion des Geschlechtsverhaltens ableiten. (Fs)

In der Analyse der Rolle der Scham kommt Scheler zu gleichen Schlüssen wie wir über die Bedeutung des primären Sozialkontaktes, den er als begreift, und über die Entstehung abnormen Geschlechts-Verhaltens: (66b, S. 106,116). (Fs)

70a Die primäre Leistung der Scham sieht Scheler also darin, daß sie den Aufbau des geschlechtlichen Partnerbezuges überhaupt erst ermöglicht; erst wenn diese primäre der menschlichen Geschlechtlichkeit gelungen ist, wirkt die Scham weiterhin als Grundlage für die Formierung des partnerschaftlichen Sexualhabitus, für den Aufbau von sexueller Sitte und Moral: (66 b, S. 117). Die Scham als vormoralische Reaktionsweise des Menschen wird dann zum Ferment der verschiedenartigen, immer eine primär gelungene Partnerschaftszuordnung voraussetzenden sozialen Normen des Geschlechtsverhaltens. (Fs)

70b Allerdings kann auch die Primärleistung der Scham, die Distanzierung von der eigenen Leiblichkeit und die Aufschließung des grundsätzlichen geschlechtlichen Partnerbezuges, nicht als instinktiv gesichert betrachtet werden, sondern sie erweist sich durchaus als ablenkbar, ja sogar als sozial beeinflußbar; so haben Bürger-Prinz (47 g, S. 546) und andere Psychiater darauf hingewiesen, daß eine übersteigerte Scham gerade auch die Leiblichkeit des Du verhüllen und damit den Weg zum Partner versperren kann. Dies wird vor allem der Fall sein, wenn ein gesellschaftlich stilisiertes Schamverhalten das subjektive oder Schamempfinden unangemessen übersteigert, wie es etwa in der immer sozial bedingten Prüderie zum Ausdruck kommt; in diesen Fällen drängt das Schamverhalten dann in die Anomalität oder in die neurotische oder hysterische Erkrankung. Aus dieser Funktion der Scham in der Epoche der hochbürgerlichen Prüderie hat die Psychoanalyse in hohem Maße ihr Anfangskapital bezogen. (Fs)

70c Von hier aus wird das Verfehlen des Partners im Aufbau der primären Sozialbeziehung der erwachsenen Individualität als das Grundphänomen aller sexuellen Abnormität deutlich. Bürger-Prinz faßt dann auch in dieser Erscheinung die verschiedenen Arten des abnormen Sexualverhaltens zusammen, indem er in ihnen jeweils Varianten der Partnerverfehlung erblickt:

(47 g, S. 542, 544). (Fs)

71a Die Abnormität wurzelt also in einer primären geschlechtlichen . Indem der Aufbau einer vollen gegengeschlechtlichen Partnerbeziehung dem Individuum nicht gelingt, bleibt es in seiner leiblichen Bezogenheit mehr oder weniger autistisch oder narzißtisch, so daß sein seelischer und sozialer Normalzustand vom Vitalen her bereits die Einsamkeit ist. Das Verharren beim eigenen Leibe, dieser Solipsismus tiefer Lebensschichten, verschließt solchen Menschen von vornherein den ursprünglichen Zugang zur Soziabilität; sie erreichen auf einem lebenswichtigen Gebiet überhaupt nicht die Verhaltensebene, auf der sich sexualmoralische Normen, die ja immer soziale Bezüge regeln, produktiv entfalten können. Deshalb ist das Normverdikt der Gesellschaft gegenüber diesen im primären Sozialbezug sexuell Anomalen nicht eigentlich die Feststellung einer Übertretung der Norm, sondern die tiefere Ablehnung einer Normenthobenheit und Normunfähigkeit, was auf der anderen Seite die ständige der Anomalen begründet. Hierin wurzelt auch die offensichtliche Tendenz jeder Gesellschaft, das Vorhandensein der Anomalen nach Möglichkeit zu übersehen oder ihr sexuelles Verhalten zu vereinzelten Normverstößen zu deklarieren, da das schlechthin Unsoziale des Phänomens gesellschaftlich nicht anerkannt werden kann. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Soziologie der Sexualität - Abnormalität; Normalität des Leibes; soziale Sinnlosigkeit des abnormen Geschlechtsverhaltens; Leistungen der normalen menschlichen Sexualität (Hierarchie d. Funktionen); Modell: Trieb-Psychologie

Kurzinhalt: Indem sie [Soziologie] beim Abnormen die primäre gegengeschlechtliche Sozialbeziehung nicht voraussetzen kann, entgleitet dieser in seinem ursprünglichen Sexualbezug dem sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereich ...

Textausschnitt: 71b Für eine Soziologie der Sexualität hat dieser Tatbestand der primären Unsozialität des sexuell Abnormen besondere Bedeutung; sie zerfällt an ihm sozusagen in eine und eine Soziologie. Indem sie beim Abnormen die primäre gegengeschlechtliche Sozialbeziehung nicht voraussetzen kann, entgleitet dieser in seinem ursprünglichen Sexualbezug dem sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereich und bleibt als konstitutionell Vereinzelter legitim nur Objekt einer Individual-Wissenschaft. Dies bietet auch umgekehrt die Begründung dafür, daß die sexualwissenschaftliche Psychologie nicht von dem Abnormen als ihrem Modell loskommt. Individualobjekt und Individualwissenschaft fordern sich gegenseitig. Die sozialen Beziehungen, an denen natürlich auch die Abnormen als Glieder einer Gesellschaft trotz ihrer sexuellen Kontaktschwäche irgendwie teilhaben, sind nur von einem primären Nichtvorhandensein des sexuell-sozialen Grundvollzuges her zu begreifen; es sind in den vielfältigen Formen abnormer Verhaltensweisen, ja sogar dort, wo kein abnormer Zug in ihren sozialen Verhältnissen zutage tritt, immer gesellschaftliche Ersatzleistungen für ein Fehlendes. Die Soziologie der von ihrem Leib zur Einsamkeit Verdammten gleicht der Soziologie aller biologisch bedingten Minderheiten: Das Fehlen eines in der Gesellschaft selbstverständlich vorausgesetzten vorsozialen Merkmals durchdringt alle anscheinend mit der Majorität oder Normalität gleichgelagerten Sozialstrukturen der Anomalen und verändert alle, nicht nur die sexuellen Beziehungen in ihrer sozialen und persönlichen Bedeutung. So ist die Normalität des Leibes eine von der Soziologie wenig beachtete, nichtsdestoweniger aber konstitutive Voraussetzung ihres Gegenstandes, der sozialen Beziehungen und Verhaltensformen der Menschen, weil in ihr auch über die sexuellen Beziehungen hinaus soziale Sinnhaftigkeit und Struktur angelegt sind, die den leiblichen Anomalen verschlossen bleiben. (Fs)

72a Dies wird deutlich, wenn wir einmal der sozialen Sinnlosigkeit des abnormen Geschlechtsverhaltens im einzelnen nachgehen. Daß im normalen Sexualverhalten sowohl biologische als auch soziale Befriedigung gesucht und somit vom Trieb her ein organischer Bedarf und zugleich soziale Bedürfnisse befriedigt werden müssen, haben Autoren wie Hofstätter (57), Kardiner (60b), Bürger-Prinz (47g) u. a. immer wieder betont. Legen wir diese Unterscheidung zugrunde und erinnern wir uns, daß es weiterhin zum Wesen der menschlichen Sexualität gehört, daß die jeweilige Lust- oder Gefühls-komponente vom Zweck des Verhaltens, dem Gattungszweck, ablösbar und zu einem eigenen Verhaltensziel zu verselbständigen ist (vgl. S. 13 f.), so glauben wir folgende Stufung funktionaler Leistungen der normalen menschlichen Sexualität feststellen zu können:

1. sie erfüllt den biologischen Zweck der Artfortpflanzung;
2. sie befriedigt die biologisch-triebhaften Lustbedürfnisse;
3. durch ihre Institutionalisierung wird sie zu einem Fundament der Grundgebilde sozialer Sicherung, wie sie in Ehe, Familie und Ver-wandtschaft auch noch den differenziertesten Gesellschaftssystemen unterliegen;
4. die normgerecht vergesellschaftete Sexualität wirkt wiederum auf das soziale und persönliche Selbstbewußtsein des Individuums zurück, indem sie dessen dauerhafte Verhaltensformen und moralisches Selbstgefühl stabilisiert und bestätigt, soziale Achtung, Anerkennung und Zufriedenheit erzeugt und damit zur Erfüllung der Bedürfnisse gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit, Einordnung und Verläßlichkeit beiträgt;
5. auf der Grundlage der institutionell und habituell regulierten Sexualität ist der Mensch triebhaft entlastet und damit frei für eine Versachlichung seines Verhaltens zu kulturellen Zwecken, und schließlich
6. bietet die so integrierte Sexualität die größten Chancen zur Steigerung der Persönlichkeit in höhere Seinsformen der Liebe, Hingabe, Gläubigkeit usw. (Fs)

73a So stufen sich in den Funktionen des normgerechten Sexualverhaltens eine biologisch-triebhafte, eine soziologische und eine kulturelle Schicht des Verhaltens hierarchisch übereinander. Die Aufgabe und Leistung sexueller Normen besteht darin, diese verschiedenen Schichten und Funktionen der Sexualität einander harmonisch und produktiv zuzuordnen.
73b Nach diesem Schema bedeutet ein den Partner verfehlendes, autistisch bleibendes Sexualverhalten funktional das Verharren auf der bloßen Lustfunktion der Sexualität. Sowohl der Gattungszweck als auch die gesamte soziale Funktionsschicht der Sexualität werden vom abnormen Geschlechtsverhalten nicht erfüllt, die kulturellen Funktionen allenfalls umwegig erreicht und dann durch Triebgebundenheit dauernd gefährdet. (Bürger-Prinz,47g). Die soziale Sinnlosigkeit der sexualen Anomalität liegt also einmal in ihrer biologischen Zwecklosigkeit, in der prinzipiellen Ausschaltung der Fortpflanzungsfunktion, die ja immer zugleich ein soziales Anliegen ist, aber auch in ihrer Unergiebigkeit für die höheren Beiträge des Triebes zur Ordnung und Stabilisierung der Gesellschaft. Daß die Perversion prinzipiell im Privaten, im Autistischen und bloß Individualistischen verharren muß, ist der Grundvorwurf, den die Gesellschaft gegen diese nur lustsuchende Sexualität richtet. (Bürger=Prinz, ebd.).
(Fs) (notabene)

74a Für den Anomalen bedeutet dies aber umgekehrt, daß sein sexuelles Verhalten, und damit einer der wesentlichen Bezirke seines Lebens überhaupt, der sozialen und kulturellen Stützungen entbehren muß. Die gesellschaftlichen Institutionen, Rituale und Normsysteme, diese hilfreichen Entlastungen des Menschen in seiner Lebensführung, schließen den Anomalen aus; fügt er sich ihnen, so nur auf Kosten seiner sexuellen Lustsuche, so daß er als vital hohler Mensch in ihnen steht. Der nicht gelungene Schritt zur Norm - von der Gesellschaft als Überschreitung der Norm verkannt und verurteilt, wo sie die nicht mehr übersehen kann - isoliert ihn sozial, sei es durch offenes gesellschaftliches Verdikt und Entzug der gesellschaftlichen Achtung, sei es vor ihm selbst durch eine ständige geheime Bedrohtheit bei einer äußerlichen Eingliederung in das geltende Normengefüge. Weil ihm so die gesellschaftlichen Stützen und damit die sozialen und kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten seines Sexualverhaltens fehlen, bleibt der Anomale darin auch triebgebundener als der Normale. Der Zwangs- und Suchtcharakter der Perversionen stammt also mit aus dem Mangel ihrer sozialen und normativen Verarbeitung: (Bürger-Prinz, ebd.). (Fs) (notabene)

74b Hofstätter hat einmal bemerkt, daß als besonders ein Verhalten empfunden wird, das den von der Gesellschaft gesetzten Normen oder ihrem Verhaltenshabitus widerspricht (57, S. 237 f.); von unserer Sicht aus wird es deutlich, daß die gesellschaftliche Norm selbst ein sozial verarbeiteter, überhöhter Trieb ist und daher das anomale Verhalten in der Tat darin besteht, bloß triebhaft zu bleiben. In dieser Lage gewinnt der Mensch nicht die Positionen, von denen er seine Triebe und damit sein Leben fuhren kann, er verliert sie und sich aus der Hand, und der Mechanismus der Triebe autonomisiert sich in ihm. Dieser Mensch ist dann das Modell der Trieb-Psychologie, die alles Normative gegenüber dem Triebhaften nur als Hemmung, Zensur, Disziplinierung usw., d. h. als begreifen kann und damit die soziologische Ebene des Verhaltens, die gesteigerte Lebensform der , in ihren Grundkategorien verfehlen muß. Es gibt keinen direkten Weg von der Psychologie der Abnormen zur Soziologie der Normalen. Oder jedenfalls nur in einer Gesellschaft, die sich in ihren Strukturen selbst durchgängig , d. h. ihre normierende und institutionelle Kraft weitgehend eingebüßt hat oder verliert. Hier liegen die Zusammenhänge von Kulturkrise, Kulturkritik und Triebpsychologie: Ein Verständnis der Sexualität vorzüglich als Trieb muß dies alles zugleich sein. - (Fs) (notabene)

75a Diese kurze Darstellung der Zusammenhänge zwischen sozialer Norm und der Abnormität des Sexualverhaltens wäre durch einige kritische Ausführungen über den Schematismus dieser Skizze zu ergänzen: etwa durch Hinweis auf die Komplikationen, die dieses Schema dadurch erführe, daß z. B die primäre gegengeschlechtliche Partnerfindung weder vollständig gelingen noch vollständig mißlingen kann und dann normales und abnormes Sexualverhalten im gleichen Individuum nebeneinander herlaufen oder daß ein gleicher Zustand durch den Versuch des Anomalen, sich bei Abkapselung oder Unterdrückung des autistischen Sexualbezuges an die soziale Normschicht anzupassen, erreicht werden kann. Der Versuch, diese Differenzierungen des Schemas auszuführen, hieße eine ganze Sozialpathologie der Sexualität schreiben; wir wollen uns hier damit begnügen, die gewonnenen Grundeinsichten über die sozialen Strukturen sexueller Perversionen an einem Beispiel des abnormen Sexualverhaltens, der Homosexualität, noch einmal zu verdeutlichen und in einigen Punkten weiterzuführen. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Soziologie der Sexualität - Abnormalität; Homosexualität: soziale Faktoren (allgemein; Schwierigkeit der Mann-Rolle in der modernen Gesellschaft)

Kurzinhalt: Die umgekehrte These, daß die soziale Ordnung und Umwelt Ursache und Veranlassung homosexueller Geschlechtsbeziehungen bilden, ... ist bisher weitgehend vernachlässigt worden ...

Textausschnitt: 4. Soziale Faktoren der Homosexualität

75b Die homosexuelle Geschlechtsbeziehung entspricht in ihrer Verfehlung des gegengeschlechtlichen Parrnerbezuges, ihrem autistischen und narzißtischen Verharren beim eigengeschlechtlichen Leibe und ihrer biologischen und sozialen Zwecklosigkeit wohl am offenbarsten unserer Kennzeichnung des abnormen Sexualverhaltens. Sie ist neben oder nach der Masturbation wohl die zahlenmäßig am häufigsten auftretende sexuelle Anomalie; folgen wir den Angaben der KiNSEY-Berichte für die amerikanische Bevölkerung, so betätigen sich rund 4% der männlichen Bevölkerung ausschließlich homosexuell, während etwa 46% mit unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität sich sowohl homo- als auch heterosexuell im Laufe ihrer Erwachsenenjahre verhalten; für die Frauen will Kinsey diese Angaben auf die Hälfte bis zu einem Drittel reduziert wissen. Andere Schätzungen liegen zum Teil höher, bei strengerer Begriffsfassung eines perversen Verhaltens zum Teil niedriger; es besteht aber unter den Sachkennern die Neigung, diese Angaben Kinseys für durchaus vertretbare Annäherungswerte in allen Gesellschaften moderner westlicher Zivilisation zu halten. (Fs)

76a Sehr verbreitet ist die Ansicht, die Homosexualität als eine angeborene, also wesentlich biologisch bestimmte Variante der Geschlechtlichkeit zu verstehen; das Schwanken zwischen hetero- und homosexueller Geschlechtsbetätigung wird ebenso biologisch auf eine jedem Menschen eingeborene Bisexualität zurückgeführt. Abgesehen davon, daß der Einfluß der Vererbung oder der hormonalen Konstitution auf einen homosexuellen Geschlechtshabitus noch sehr ungeklärt ist, leisten die biologischen Deutungen nichts zur Erklärung des für die Homosexualität gerade sehr wesentlichen Tatbestandes, daß sie in ihrer Häufigkeit sehr starken Schwankungen unterliegt; wir wissen, daß homosexuelle Beziehungen ausgesprochen zur werden können, d. h. sich in verhältnismäßig kurzen Zeitspannen erheblich vermehren oder vermindern. Eine so starke biologische Variationsschwankung ist undenkbar, und die Frage, welche Faktoren jeweils bei einer hypothetisch angenommenen allgemeinen Bisexualität das eine oder das andere Geschlechtsverhalten aktualisieren, führt uns erst recht über die biologische Bedingtheit sofort hinaus. (Fs) (notabene)

76b Wir kommen in dieser Frage weiter, wenn wir uns dem Gedankengang anschließen, den Abram Kardiner in dem hochinteressanten Kapitel seines Buches über (60 b, 164 ff.) entwickelt hat: Er unterscheidet als bestimmende Kräfte der homosexuellen Verhaltensprägung die Faktoren der individuellen Entwicklung und den Einfluß der Gesellschaft. Dabei ist ihm bewußt, daß bereits in der individuellen Entwicklung zahlreiche soziale Faktoren mitwirken: Der Einfluß der Familienstruktur, des Eltern-Kind-Verhältnisses, der Erziehungsdisziplinen und Erziehungsziele des Elternhauses, dessen sozialer Status usw. sind als soziale Einwirkung von der Entwicklung des Kindes nicht zu trennen; aber dessen Kontakt zur Struktur der Gesamtgesellschaft vollzieht sich in dieser Entwicklungsphase doch im wesentlichen innerhalb der familiären Situation. Unter den Einflüssen der Gesellschaft versteht Kardiner die Auswirkungen, die die außerfamiliäre soziale Umwelt auf das Geschlechtsverhalten ausübt, wenn das Individuum als Erwachsener oder Halberwachsener bei der Ablösung aus der kindlich=familiären Situation der gesamten Sozialordnung gegenübersteht und voll an ihr teilnimmt. (Fs)

77a Wir sind damit bei der Frage, die wir im vorigen Abschnitt noch zurückstellten: welche Faktoren denn die von uns so betont herausgestellte primäre des Geschlechtstriebes, den Aufbau eines gegengeschlechtlichen Partnerverhältnisses, bestimmen oder jedenfalls erleichtern oder erschweren. Kardiner unterscheidet darin mit Recht zwei Phasen und Faktorengruppen: einmal die kindliche Entwicklungsphase mit vorwiegend familiär-sozialen Beeinflussungen, zweitens die beim Jugendlichen und darüber hinaus noch beim Älteren auftretenden unmittelbaren Auswirkungen der Sozialordnung und der sozialen Umwelt. Zweifellos liegt die Prägung des homosexuellen Verhaltenstypus bei denjenigen, die ausschließlich zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen imstande sind - Kardiner nennt sie die - der spätere Einfluß gesamtgesellschaftlicher Faktoren von größerer Bedeutung ist, als man bisher allgemein zugestand. Verursachende soziale Faktoren für die Entstehung homosexueller Haltungen sind also zunächst fast ausschließlich in der kindlichen Entwicklungsphase gefunden worden; es sind zumeist die psycho-sozialen Familienzusammenhänge, wie sie vor allem die Tiefenpsychologie entdeckt und beschrieben hat. Kardiner faßt die Ergebnisse der Analyse dieses Sektors folgendermaßen zusammen: (ebd., p. 182). Wir wollen diese von der psychoanalytischen Literatur breit behandelten Zusammenhänge hier dahingestellt sein lassen. (Fs)

78a Die Zusammenhänge zwischen homosexueller Haltung und sozialen Verhältnissen, die jenseits dieser kindlich-familiären Prägungsphase liegen, hat man nun bisher fast ausschließlich unter einem Gedankengang erforscht: daß die vorhandene homosexuelle Anlage und Betätigung die betreffenden Menschen zum Eingehen bestimmter sozialer Bindungen veranlaßt, d. h. es sind die sozialen Folgen der Homosexualität, ihr Einfluß auf die Gesamtgesellschaft, untersucht worden. Die umgekehrte These, daß die soziale Ordnung und Umwelt Ursache und Veranlassung homosexueller Geschlechtsbeziehungen bilden, und zwar vor allem bei jenen, die homo- und heterosexuelles Verhalten gleichzeitig zeigen, ist bisher weitgehend vernachlässigt worden; sie wird, wie wir sahen, von Kardiner, im deutschen Schrifttum vor allem von Bürger-Prinz vertreten, mit dem Ergebnis, daß sich viele soziale der Homosexualität bei genauerem Hinsehen in ihre zu verwandeln beginnen, einer für alle praktischen Stellungnahmen zur Homosexualität außerordentlich wichtigen Wendung ihres Verständnisses. Teilen wir unsere Analyse der sozialen Faktoren der Homosexualität also zunächst schematisch in die zwei Themen: soziale Verhältnisse als Ursache der Homosexualität einerseits und Vergesellschaftungen als Folge dieser sexuellen Haltung andererseits; auf die typisch sozialwissenschaftliche Schwierigkeit, daß im sozialen Bereich diese Gegenüberstellung nicht bis aufs letzte durchzuhalten ist, da in ihm immer ursprüngliche Ursachen und Folgen funktionell in Wechselwirkung zu treten pflegen, sei hier nur vorläufig hingewiesen. (Fs)

78b Der gemeinsame Grundgedanke aller Thesen, daß soziale Verhältnisse den jugendlichen oder auch älteren Menschen in der Verfehlung der gegengeschlechtlichen Partnerbeziehung bestimmen oder beeinflussen können, liegt in der Einsicht, daß die soziale Umwelt an der Bestimmung und Aufrechterhaltung des Verhaltensnormgefüges jedes einzelnen ständig beteiligt ist, auch an der bis in das Sexuelle reichenden Stilisierung und Behauptung der Rolle als Mann oder als Frau. Überall, wo die Gesellschaft dieses Normgefüge und diese geschlechtliche Rollenverteilung, auch auf ganz unsexuellen Lebensgebieten, ihrerseits in Frage stellt oder in den Zuordnungen entscheidend verändert, beeinflußt sie die im Aufbau des Partnerverhältnisses zu leistende primäre der Geschlechtsbeziehung des in die außerfamiliäre Umwelt hinaustretenden Jugendlichen und ihre Stabilität im Verlauf seines Lebens. Zur Diskussion steht also recht eigentlich die Auswirkung aller außerfamiliären Sozialstrukturen auf das sexuelle Normgefüge. In Richtung einer homosexuellen Verfehlung der gegengeschlechtlichen Partnerbeziehung scheinen uns nun in der Gegenwart vor allem vier soziale Konstellationen und Zusammenhänge zu wirken:

[...]

83b 4. Die Schwierigkeit der Mann-Rolle in der modernen Gesellschaft: Schließlich ist zu fragen, ob nicht die Struktur der modernen indu» strieLUbürokratischen Gesellschaft selbst Schwierigkeiten für die Ausbildung einer angemessenen heterosexuellen Partnerbildung in sich trägt. Während wir bisher vor allem den sozialen Verhältnissen nachgingen, die ein Verfehlen der gegengeschlechtlichen sexuellen Bindung durch soziale Abdrängung von der Frau oder durch allgemeine Normensenkung und Normverluste verursachten, müssen wir jetzt unser Augenmerk einmal darauf richten, daß es auch soziale Faktoren geben kann, die vom Ergreifen der normalen gesellschaftlichen Mann-Rolle abhalten, die ja auch immer das Eingehen heterosexueller Geschlechtsbeziehungen in sich schließt. Es ist die Hauptthese Kardiners in der Erklärung der sozial bedingten Homosexualität, daß die Chancen der in der modernen Gesellschaft zu gering oder ihre Behauptung jedenfalls für viele zu schwer geworden sind, so daß eine auch in der sexuellen Rolle eintritt. Als Begründung dafür, daß diese heutzutage so schwer zu entwickeln oder zu behaupten ist, führt er die ständigen wirtschaftlichen Depressionen, Arbeitslosigkeiten, Kriege und Kriegsängste an; dazu kommen die hochgeschraubten Ansprüche auf Lebenserfolg im Beruflichen, die harte Konkurrenzsituation in der westlichen Wirtschaftsordnung und schließlich nicht zuletzt die Tatsache, daß die Frau selbst auf der einen Seite als Mitbewerber und Gleichberechtigte im beruflichen Dasein auftritt, auf der anderen Seite aber als Herrscherin der Konsum-Ansprüche hohe Anforderungen an die Lebenstüchtigkeit und Durchsetzungskraft des Mannes stellt. So gibt es viele, die sich den Erwartungen, die die soziale Rolle des Mannes heute an sie stellt, nicht gewachsen sehen und in ihrem Sexualverhalten in eine schutzsuchende Rolle ausweichen: (ebd. S. 175). (Fs)

84a Man muß diesen Faktoren, die zur Angst vor der Mann-Rolle in unserer Gesellschaft und zu ihrer Ablehnung führen, noch ihre mangelnde Ausgeprägtheit, ja ihre Nivellierung gegenüber der Frauen-Rolle als eine in gleicher Richtung wirkende Sozialstruktur an die Seite stellen. Die wachsende Geschlechtsneutralität unserer Arbeitsbedingungen, unseres öffentlichen und kulturellen Lebens, die nur zum Teil Folge der weiblichen sozialen Emanzipation, zumeist eine Konsequenz der Entwicklung unserer technischen und organisatorischen Produktionsbedingungen ist, diese entpersönlichende Versachlichung und Funktionshaftigkeit unseres modernen Daseins, läßt einen für alle Männer verbindlichen und zugänglichen Standard männlichen Verhaltens immer unklarer und unsicherer werden; das wird in immer willkürlichere und subjektivere Seiten der Personformierung abgedrängt und verliert seine soziale Bedeutsamkeit in unserer Gesellschaft1. Am eindringlichsten ist dies in letzter Zeit in der Wandlung der Vater-Rolle gezeigt worden: besonders E. Michel hat immer wieder darauf hingewiesen, daß der Mann als funktionalisierter Leistungsträger abstrakt arbeitsteiliger Berufsaufgaben wesentliche Grundlagen seiner persönlichen Autorität in der Familie und gegenüber dem anderen Geschlecht verliert und weitgehend nicht mehr die eigentlich väterliche Erziehungs- und Prägeleistung, den Kindern und der Gesamtfamilie den Zugang zur sozialen Umwelt und Ordnung zu öffnen, erfüllen kann (31 b; vgl. auch M. Horkheimer 58). Zweifellos trägt dieses zur Erschwerung stabiler heterosexueller Partnerverhältnisse bei Jugendlichen bei, und sei es nur durch die Steigerung der Dominanz, die dadurch das Mütterliche in der Intimstruktur der Familie gewonnen hat. - (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Soziologie der Sexualität - Abnormalität; Homosexualität: Vergesellschaftung; Toleranz - Minderheitengruppe

Kurzinhalt: Im übrigen weist Kardiner mit Recht darauf hin, daß die Forderung der sozialen Toleranz gegenüber der Homosexualität in keiner Weise das mit ihr aufgeworfene Problem löst, weilweil sie an den Symptomen einer sozialen Erkrankung, nicht aber ...

Textausschnitt: 84b Wir haben diesen Gesichtspunkt, wie weit soziale Verhältnisse und Konstellationen verursachend sind für die Verfehlung des gegengeschlechtlichen Partners und für die Prägung homosexueller Verhaltensformen, ausführlicher behandelt, da er in der sexualwissenschaftlichen Forschung etwas vernachlässigt wird; die in entgegengesetzter Richtung laufenden Vorgänge der Vergesellschaftung Homosexueller auf Grund ihrer Veranlagung und ihres geschlechtlichen Verhaltenshabitus sind kürzer darzustellen. Das wesentlichste Kennzeichen der sich aus dem Streben nach homosexuellem Lustgewinn ergebenden sozialen Kontakte scheint deren Flüchtigkeit zu sein. Ihr mangelnder sozialer Tief gang, ihre zeitliche Kürze, häufig auch Anonymität, ihre menschliche Unverbindlichkeit werden von allen Fachleuten betont:

(Bürger-Prinz, 47 c, S. 876). (Friedemann, 51, S. 74). (Kardiner, 60 b, S. 185). (Fs)

85a Wir kennen aber durchaus lockere Gruppenbildungen von gleichgeschlechtlich sich Betätigenden in Clubs, ständigem Lokalbesuch usw., die sich dann zuweilen auch mit künstlerischen und ähnlichen außersexuellen Zielen verbrämen; allerdings ist der versachlichende, zu kulturellen Leistungen führende Wert dieser Sexualbeziehungen nie sehr hoch und mit den Antriebssteigerungen und -Umsetzungen normaler Liebesverhältnisse nicht zu vergleichen. In Einzelfällen finden wir länger dauernde Paarbeziehungen, häufig mit Hörigkeits-Charakter von einer Seite. Als Grundmotiv zu diesen etwas festeren Gruppenbildungen scheint aber weniger die homosexuelle Verbindung als solche, sondern eher die aus ihr folgende menschliche und soziale Isolierung und Einsamkeit zu wirken. Der gesellschaftliche, in vielen Ländern auch der gesetzliche Druck der sozialen Umwelt auf diese Außenseiter, die Furcht und das Streben, mit seiner abweichenden Persönlichkeitsstruktur in einer als feindlich empfundenen Welt nicht allein zu stehen, und schließlich oft die Reaktion auf die Tatsache, sich einmal als Homosexueller exponiert zu haben, veranlassen also primär das gruppenhafte Zusammensintern solcher Abnormen. G. Th. Kempe hat daher die Verfassung dieser so zustande kommenden sozialen Gebilde mit Recht als bezeichnet: sozial bekannt, aber nicht anerkannt (61); aus diesem Zustande einer Sozialisierung aus Negation lassen sich die meisten ihrer sozialen Reaktionen ableiten. (Fs)

86a Die große Mehrzahl der zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen Neigenden aber bringt, um der gesellschaftlichen Ächtung und ihren diskriminierenden Folgen für das private und berufliche Dasein zu entgehen, das Opfer, wenigstens auf ständige homoerotische Lustsuche zu verzichten; der Wille, sich trotz des Bewußtseins abnormer Veranlagung den gesellschaftlichen Normen einzupassen, dieses reine Sozialstreben ohne korrespondierende Vitalgrundlage, kann in Einzelfällen zu großen Leistungen auf künstlerischem, wissenschaftlichem oder gesellschaftlichem Gebiet oder auch zum Eingehen einer Ehe und zur Familiengründung mit peinlichster Erfüllung der sozialen Pflichten des Ehemanns und Vaters führen. Die seelischen Schwierigkeiten und Spannungen einer solchen Existenzweise sind nicht zu übersehen; das innerlich Übersteigerte und Verkrampfte ihrer sozialen Normerfüllung und Verhaltensstilisierung wird von der Umwelt oft unklar empfunden und durch ihre Reserviertheit noch gesteigert. (Fs)

86b Es fehlt daher nicht an wohlmeinenden Anregungen und Bemühungen, die homoerotische Beziehung, sofern sie nicht durch Verführung Jugendlicher usw. jemanden schädigt, von der gesellschaftlichen Diskriminierung zu befreien und ihr als einer geschlechtlichen Minderheitenhaltung die soziale Anerkennung zu gewähren (vgl. Kempe, auch Kinsey u. a.). Dabei fragt es sich allerdings, ob sich solche Versuche einer gesellschaftlichen Normierung der Homosexualität bewußt sind, daß damit die sozialen, kulturellen und geistigen Grundordnungen unserer geschichtlichen Tradition in noch viel stärkerem Maße erschüttert würden, als es bereits durch die Wandlungen im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander geschehen ist. Die häufigen Hinweise auf die soziale Anerkennung - möglicherweise war es auch nur eine Duldung - der Homosexualität in Epochen der griechischen und japanischen Geschichte gehen insofern fehl, als sie verkennen, daß in diesen Gesellschaften die heterosexuelle eheliche Geschlechtsbeziehung nicht den Wert der einmaligen, personalen Liebesbeziehung gewonnen hatte, den sie in der christliehen Tradition des Abendlandes unaufgebbar erhalten hat und in der sie in eben den von uns auf S. 72 f. geschilderten funktionalen Stufungen zur Grundlage unserer Tradition und Kultur geworden ist. Im übrigen weist Kardiner mit Recht darauf hin, daß die Forderung der sozialen Toleranz gegenüber der Homosexualität in keiner Weise das mit ihr aufgeworfene Problem löst, weil sie an den Symptomen einer sozialen Erkrankung, nicht aber deren Ursachen kurieren will (60 b, S. 163, 192); aus diesem Grunde bedürfen gerade die verursachenden sozialen Faktoren einer steigenden Homosexualität der größeren Aufmerksamkeit. Auch in der Frage der Toleranz gegenüber der Vielfalt geschlechtlicher Beziehungen und Verhaltensformen bedürfte es der Klärung, daß diese nur in der Ausdehnung des normfreien, der privaten Intimität anheimgestellten Raumes des Sexualverhaltens bestehen kann, nicht aber in einer sozialen Norm-Anerkennung des Abwegigen (vgl. S. 51 f.). Allerdings wäre auch unter diesem Gesichtspunkt eine Überprüfung der gesetzlichen Strafbestimmungen über gleichgeschlechtlichen Verkehr durchaus zu erwägen.) (Fs)

87a Nun ist unsere gegenwärtige Gesellschaft durch allgemeine Normenerweichung ohnehin bereit, auch auf sexuellem Gebiet vieles zu übernehmen, was unter anderen Voraussetzungen und sozialen Umständen als abnorm erschien. Die breite Popularisierung des psychologischen Selbst- und Fremdverständnisses hat gerade gegenüber Abnormitäten und Erkrankungen des Sexualverhaltens Gleichgültigkeit, Verständnis, Duldung, ja, vielfach sogar ausgesprochenes Interesse erweckt (vgl. S. 107 ff.). Außerdem hängt die soziale Normkraft gegenüber dem Geschlechtlichen eng mit dem jeweiligen Zeitcharakter der Sexualität und ihrem Stellenwert innerhalb des gesamten gesellschaftlichen Lebens zusammen; ehe wir zu einer Klärung dieser Erscheinungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft übergehen, müssen wir aber unsere Aufmerksamkeit noch einem grundsätzlicheren Zusammenhang, nämlich der sozial erzwungenen völligen Entsexualisierung bestimmter Lebensbeziehungen, zuwenden. (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Neutralisation der Sexualität; Inzestverbot - Exogamie; Freud, Levi-Strauss; Geschwisterehe (Ägypten

Kurzinhalt: Das Inzestverbot ist nur die negative Seite eines Sozialgebotes, der Exogamie, das in allen Gesellschaften erforderlich wurde, um die über die familiäre Einheit hinausreichende soziale Struktur ... zu sichern

Textausschnitt: 1. Die Inzestverbote

88a Der in alle Lebensgebiete und menschliche Verhaltensformen eindringende sexuelle Antriebsüberschuß mit seiner praktisch unendlichen Verschiebbarkeit sexueller Zielsetzungen ist in den sozialen Regulierungen, die wir bei der Institutionalisierung der Geschlechterrolle und der sozialnormierenden Funktion der Ehe betrachtet haben, im wesentlichen jeweils nur kanalisiert, d. h. auf bestimmte, sozial zugelassene Verhaltensformen und -ziele beschränkt und hingeleitet worden; neben diesen sozialen Formierungen der Geschlechtsbeziehungen gibt es nun in jeder Kultur gewisse Lebensbereiche und menschliche Beziehungen, an deren völliger Entsexualisierung die Gesellschaft ein großes Interesse hat. Hier treten dann die sozialen Normierungen mit der Absicht einer völligen Verneinung und Neutralisation aller geschlechtlichen Antriebe und Zielsetzungen innerhalb dieser Verhaltensbereiche auf. Umfang und Raum dieser sexuell neutralisierten Zonen sind in den Kulturen sehr verschieden; immer und in allen Gesellschaften gehören aber die unmittelbarsten Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der biologischen Familie außer der Gattenbeziehung zu den für sexuelle Betätigung am strengsten gesperrten personalen Zuordnungen. (Fs)

88b Das Verbot des Inzestes oder der Blutschande trifft also zunächst die drei primären Verwandtschaftsbeziehungen Vater-Tochter, Mutter-Sohn und Bruder-Schwester, greift aber in vielen Kulturen auf weitere, entferntere Personalbeziehungen über, sei es, daß es bestimmte Grade oder gar die Gesamtheit der Verwandtschaft entweder nur väterlicher oder nur mütterlicher oder beidelterlicher Abstammungsrichtung einbezieht, sei es, daß die ganze soziale Gruppe des Stammes oder Clans auch ohne Nachweis der Abstammungsfolge des einzelnen für ihn als sexuell neutralisierter Verwandtschaftsbereich erklärt wird. Bezeichnen wir also den Inzest als die verbotene Geschlechtsbeziehung zwischen Blutsverwandten, so müssen wir uns darüber klar sein, daß der Begriff der Blutsverwandtschaft hier keineswegs ein biologisches Datum ist, sondern weitgehend der sozialen Regulierung unterliegt; in manchen primitiven Gesellschaften genügt ein gleicher oder ähnlicher Name oder ein gleiches, oder ähnliches Totemtier, um daraus eine die Heiratsbeziehungen hemmende Verwandtschaft abzuleiten, so daß gerade an der Kasuistik der Inzestverbote primitiver Gesellschaften sehr deutlich wird, daß das soziale Verbot der Heirat primär, seine Begründung als Blutsverwandtschaft aber durchaus derivativ und verhältnismäßig beliebig ist. (Fs)

89a Das universale Vorkommen des Inzestverbotes gegenüber den Verwandtschaftsgraden der engeren biologischen Familie in allen historisch erkennbaren Gesellschaftsverfassungen hat dazu geführt, dieser sozialen Regelung eine biologische Ursache zu unterlegen; allerdings kam man dabei zu durchaus gegensätzlichen Auffassungen: Einmal wurde eine instinktiv gesicherte Inzestscheu des Menschen angenommen (z. B. Westermarck), die sich in diesen sozialen Verboten in allen Kulturen einheitlich geäußert hätte; zum anderen postulierte man gerade einen allgemeinen Inzesttrieb und erklärte, daß alle anfänglichen Formen der menschlichen Sexualbeziehungen inzestuöser Natur gewesen seien (z. B. Marcuse) und daher alle Gesellschaften, um die auf die Dauer biologisch schädlichen Folgen inzestuöser Verbindungen zu vermeiden, zu ihrer strengen Unterdrückung genötigt hätten. Diese Erklärungsversuche sind beide unbegründet, und zwar vor allem deshalb, weil sie verkennen, daß die Inzestverbote gar nicht primär den Interessen und Bedürfnissen der Sexualregulierung entspringen. (Fs)

89b Die Inzestverbote sind in jedem Falle abhängig von den Exogamieregelungen, die eine Gesellschaft aufstellt, d. h. von den Geboten, außerhalb einer bestimmten Gruppe oder Sozialbeziehung zu heiraten, deren negative Seite dann das Verbot ist, innerhalb dieser Gruppe den Ehepartner zu suchen, das sich sekundär als das Verbot der Geschlechtsbeziehungen überhaupt innerhalb dieses Umkreises auswirkt. Das Inzestverbot ist nur die negative Seite eines Sozialgebotes, der Exogamie, das in allen Gesellschaften erforderlich wurde, um die über die familiäre Einheit hinausreichende soziale Struktur und kooperative Verbindung zu erreichen und zu sichern. (Fs) (notabene)

89c Solange eine Gesellschaft noch keine höher entwickelte politische Organisation hat, die von eigenständigen politischen, produktionstechnischen usw. Interessen und Haltungen getragen wird, bilden die Verwandtschaftsbeziehungen der verschiedenen biologischen Familien fast immer die Grundlage auch der überfamiliären Sozialstruktur dieser Gruppe oder Gesellschaft. Jede Familie wie die gesamte Gesellschaft hat also ein Interesse daran, daß diese Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der größeren sozialen Gruppe oder Einheit als der der biologischen Familie immer erneut geknüpft und verfestigt werden, da darauf so wichtige Verpflichtungen wie Hilfe im Kampf, Beistand im Rechtsstreit, Kooperation im Ackerbau, bei der Jagd, ja die gesamte überfamiliäre Rechts-, Wirtschafts- und Herrschaftsordnung überhaupt beruhen. Eine Heiratsregelung, die eine Verehelichung innerhalb der biologischen Familiengruppe erlaubte, würde diese dauernde Integration der höheren sozialen Einheit und Kooperation verhindern, die Familie sozial isolieren, sie ihrer außerfamiliären Verbündeten und Hilfskräfte berauben und damit den Bestand der Familie in der Auseinandersetzung mit anderen familiären Gruppen gefährden. Die Blutsverwandtschaft der biologischen Familie, die im Inzestverbot die Grundlage des Ehe- und Geschlechtlichkeitshindernisses bildet, ist also wesentlich als die Intimität einer sozialen Solidarität begriffen, die es aus Gründen einer höheren Soziabilität ständig zu überschreiten und zu verlassen gilt; so wird auch verständlich, weshalb der Begriff der Blutsverwandtschaft und damit das Inzestverbot durchaus auf beliebige Grade der biologischen Abstammung oder gar auf biologisch unabhängige Gruppierungen ausdehnbar sind, wenn ein intimer sozialsolidarischer Zusammenhang mit ihnen auch ohne Anknüpfung und Bestätigung durch neue Heiratsbeziehungen gesichert erscheint1. (Fs) (notabene Fußnote)

Fußnote:
1 Wie sehr der Mensch primitiver Gesellschaften in diesen Exogamiegeboten die Chance zu höherer sozialer Solidarität und Kooperation sieht und wie wenig zuweilen die damit verbundenen sexuellen Einschränkungen überhaupt beachtet werden, zeigt Marg. Mead (23 b, p. 67 f.) in sehr anschaulicher Weise: In ihren Untersuchungen bei dem Südseestamm der Arapesh hatte sie außerordentliche Mühe, ihren Gewährsleuten überhaupt den Tatbestand des Inzests klarzumachen; als es ihr endlich gelang, den älteren Männern hypothetisch die Frage zu stellen, was sie denn sagen würden, wenn ihr Sohn ihre eigene Tochter heiraten wolle, erhielt sie die Antwort: So kommt die Verfasserin zu dem Urteil, daß

90a Diese Einsicht in den primären Gebotscharakter der Exogamie zu Gunsten einer höheren Soziabilität und der erst daraus abgeleiteten Bedeutung der Inzestverbote als Neutralisation der Geschlechtsbziehungen unter Blutsverwandten hat neuerdings vor allem Cl. Levi-Strauss in einem umfangreichen Werk belegt (75); er leitet aus der Institutionalisierung des Frauentausches und dem damit auf Gegenseitigkeit erzwungenen Verzicht der Familien auf den in primitiven Gesellschaften sowohl biologischen wie sozialen Wertbesitz par excellence, die Frau, die ganze rationalisierte Kasuistik primitivgesellschaftlicher Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen, Exogamie- und Endogamieregeln ab. (Die Endogamieregelungen, also die Gebote, nur innerhalb einer gewissen sozialen Gruppe zu heiraten, sind gegenüber der Exogamie sekundär und treten erst bei höheren Differenzierungs- und Kommunikationsmöglichkeiten einer Gesellschaft als soziale Bedürfnisse auf, haben auch viel seltener zu einer so tiefgehenden sozialen Neutralisierung von Geschlechtsbeziehungen mit den außerhalb der endogamiegebotenen Heiratsgruppen stehenden Personen geführt, wie wir es bei den Exogamiegeboten sehen). Allerdings haben schon vor Levi-Strauss wesentliche Autoren auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen, so auch Freud (52 a), wenn er sieht, daß die einer Kulturforderung der Gesellschaft entspricht, die sich damit , oder W. Koppers mit seinem Urteil: (74, Seite 120). (Fs)

91a Mit der Einsicht, daß starke nichtsexuelle, soziale und kulturelle Interessen die Inzestverbote erzwungen und stabilisiert haben, gewinnt ein großer Teil der bisher als Ursachen der Inzesthemmungen behaupteten unmittelbaren sexuellen und erotischen Motivationen überhaupt erst Sinn und Wahrheitsgehalt. Wenn von Freud, B. Seligman u. a. einerseits Sexualneid und Eifersucht des Vaters, der die inzestuösen Wünsche der Söhne unterdrücken will und sie so zu Geschlechtsbeziehungen außerhalb der biologischen Familie zwingt, als Ursache der Inzestverbote angenommen werden, andererseits Briffault, der von der mutterrechtlichen Familienverfassung als gesellschaftlichem Urzustand ausgeht, die bewahrende erotische Liebe und Eifersucht der Mutter gegenüber ihren Söhnen, die diese oppositionell zum Geschlechtsgenuß außerhalb der Familie führt, als Erklärungsgrund heranzieht, so wird von beiden Theorien verkannt, daß der Sexualneid bzw. inzestuöse Wünsche und die Eifersucht darauf zu ihrer Entstehung eine Hemmung voraussetzen, die Sexualbedürfnisse nicht in dieser Weise innerfamiliär befriedigen zu können, diese Hemmung allerdings, wenn sie einmal besteht, nun mit neuen und in diesem Falle unmittelbar sexuellen Motiven dialektisch verstärken. (Fs)

92a Am deutlichsten wird dieser Zirkelschluß der unmittelbar sexuellen Erklärung der Inzesthemmungen in der von Westermarck Malinowski (76 b, p. 251) u. a. vorgetragenen Theorie, daß das intime familiäre Zusammenleben von Eltern, Kindern und Geschwistern sowie die Erziehungs- und Fürsorgesituation der Eltern gegenüber den Kindern eine Gefühlsverfassung untereinander erzeugen, die erotische Bedürfnisse und Liebesleidenschaften innerhalb der Familie normalerweise nicht entstehen lassen; hier ist ganz deutlich der Bestand eines sexuell neutralisierten Familienlebens als Ursache eben der Neutralisation begriffen. Allerdings muß man betonen, daß auf der Basis einer aus höheren Soziabilitätsinteressen entstandenen sexuellen Neutralisation der familiären Beziehungen dann in diesen auch jene Gefühlshaltungen der rein fürsorgenden und selbstlosen Liebe, der Erziehungsverantwortlichkeit, ja, ein ganz neues sittliches System entwickelt werden können, die mit ihren nun unmittelbar sexualmoralischen und -normierenden Ansprüchen die Inzestverbote durchdringen und unterbauen. (Fs)

92b So sehr also in einer familiengebundenen Gesellschaftverfassung die Exogamiegebote und die daraus folgenden Inzesthemmungen und -sanktionen erforderlich sind, um eine höhere soziale Organisation und die damit verbundenen politischen und kulturellen Haltungen zu erreichen und zu stabilisieren, so verlieren sie doch ihre soziale Bedeutung weitgehend, sobald diese höheren Schichten der Kultur und Gesellschaftsorganisation genügend eigenständige Antriebsstrukturen und Motivationen für ihren Bestand erzeugt haben. In unserer modernen Gesellschaft, in der weitere Verwandtschaftsbeziehungen keinerlei sozialtragende Bedeutung mehr haben und die engeren Familienbeziehungen in ihrer sozialen Funktion sehr beschränkt worden sind, verlieren die Inzestverbote daher ihre sozialvitale Bedeutung, schrumpfen an Umfang auf den engsten familiären Kreis ein und unterliegen auch im Vergleich zu früher geringeren Sanktionen. Zwar kann sich die Inzestscheu gegenüber primären Verwandten der unmittelbaren biologischen Familie heute auf die in jahrtausendelanger Tradition entwickelten höheren familiären und sozialen Haltungen stützen und bedarf daher, wo diese normalen sittlichen und kulturellen Bedürfnisse unseres Zeitalters voll aufgenommen werden, kaum noch der Sanktion. Aber der Grad der Blutsverwandtschaft, bis zu dem Inzestverbote aus sozialen Gründen für erforderlich gehalten werden, ist auch in unserer Kultur erheblich herabgesetzt worden: Noch Papst Gregor I. (590-604) erklärte Blutsverwandtschaft bis in den 7. Verwandtschaftsgrad für ehehindernd, wogegen schon das Laterankonzil von 1215 sie auf den 4. Verwandtschaftsgrad ermäßigte. In einer von abstrakter Sozialbeziehungen getragenen Gesellschaft, in der die Familie wesentlich nur seelische Intimitätsgemeinschaft ist, bleibt nur noch der sexual-neutralisierende Charakter der Inzestverbote sichtbar, auf den sich daher zunächst auch alle Erklärungsversuche gerichtet haben. (Fs)

93a Ein letztes Wort noch zu den Geschwisterehen oder gar Heiraten zwischen Elternteilen und Kindern, die wir aus der Geschichte der Herrscherhäuser in Ägypten, in Persien (Artaxerxes), in Siam, Birma und Hawaii oder bei den Inkas, den Phöniziern usw. kennen; diese Beispiele werden sehr häufig als Beleg dafür angeführt, daß es durchaus entwickelte Gesellschaften gegeben habe, die die Inzestverbote nicht kannten. Diese Auffassung übersieht, daß es sich hier um die soziale Ausnahmestellung der Herrscher handelt, die aus den gleichen Motiven, aus denen die Inzestverbote für die breite Bevölkerung ihrer Untertanen gelten, zur Durchbrechung der Inzestschranken in der Geschwisterehe usw. geführt werden: Ein autokratisches, sich in seiner Ökumene als einzig betrachtendes, vielfach göttlichen Rang genießendes Herrscherhaus würde in einer Verwandtschaftsintegration mit seinen Untertanen kaum an sozialer Kraft gewinnen, sondern eher die vorhandene gefährden und einbüßen, und bestätigt daher gerade in der inzestuösen Ehe seine soziale Herrschaftsstellung und Einzigartigkeit. Sobald es mehrere Herrscherhäuser in einer Staaten- und Völkergruppe gibt, übernehmen auch die Herrscher die familiären Exogamiegebote, beschränken sie aber aus den gleichen sozialen Bedürfnissen, die zur Inzestehe geführt haben, durch eine strenge standesgemäße Endogamie; R. Fortune (72) macht in diesem Zusammenhange die kluge Bemerkung, daß . (Fs)

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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität, Religion - Askese; Kulturentwicklung; Unwin: sozialstatistische Untersuchung

Kurzinhalt: Die Ähnlichkeit der Haltungen gegenüber Sexualität und Religion ist immer erkannt ... worden ... Allerdings finden sich in den Lehren von der Sublimation der Triebe zu kulturellen Leistungen vielfach funktionalistische Kurzschlüsse:

Textausschnitt: 2. Die geschlechtliche Askese und ihre Folgen für die Kulturentwicklung

93a Die Analyse eines so zentralen Beispiels der sexuellen Neutralisation eines ganzen Komplexes von Lebensbeziehungen, wie sie in den Inzestverboten erfolgt, zeigt wiederum, was wir schon bei der Regelung der Geschlechtsbeziehungen durch die Ehe sahen, daß die Stabilisierung der Sexualverhältnisse des Menschen gerade aus nichtsexuellen Bedürfnissen der Gesellschaftsordnung erforderlich ist und daß dazu jeweils der gesamte kulturelle und soziale Zusammenhang aufgeboten und ins Spiel gebracht werden muß. Die Labilität und Plastizität des sexuellen Antriebsüberschusses des Menschen erweist sich als eine ständige Bedrohung seiner sozialen Ordnung, welche nicht zuletzt wiederum als existenz- und arterhaltendes biologisches Führungssystem für ihn unentbehrlich ist. Dieser Charakter der dauernden Bedrohung alles Gesetzten und Geschaffenen, der der Geschlechtlichkeit anhaftet, ist wohl einer der Gründe zu ihrer allgemeinen Tabuierung im Alltagsleben der Gesellschaften, einer in ihren komplexen Ursachen außerordentlich schwer zu erklärenden Erscheinung. Der Geschlechtsakt wird überall den Augen anderer entzogen; es ist verpönt, über geschlechtliche Vorgänge und Zusammenhänge zu sprechen; die mit der Sexualität, besonders der Frau, zusammenhängenden organischen Vorgänge wie Menstruation, Geburt usw. gelten als ; es entwickelt sich ein religiös und sozial gestütztes Schamgefühl gegenüber geschlechtlichen Dingen; all diese Erscheinungen sondern die Geschlechtlichkeit in einem Maße aus dem alltäglichen Leben der Familie und Öffentlichkeit aus, das sie nur noch mit den religiösen Vorgängen und Erscheinungen teilt. (Fs)

94a Die Ähnlichkeit der Haltungen gegenüber Sexualität und Religion ist immer erkannt und z. B. von W. Schubart als ein vollkommener Parallelismus geistvoll analysiert worden (78); ihre weitgehende Verschmelzung kann man darauf zurückführen, daß sowohl in beiden dem Menschen schwer manipulierbare Bedrohungen des Gewohnten und der Alltagsordnung entgegentreten, als auch, daß beide Lebensgebiete ihm die Chance der extremen Lebens- und Gefühlszustände bieten. Beides führt dazu, daß sich gegenüber der Sexualität wie gegenüber den religiösen Verkörperungen übermenschlicher Kräfte, den Toten oder den Gottheiten, die gleichen ambivalenten Haltungen einer Mischung von Scheu, Furcht, Schrecken einerseits und Verehrung, Hingezogenheit und Hingabe andererseits entwickeln. Das Tabu ihnen gegenüber bedeutet also daß man beide Lebensgebiete als Situationen von hoher Gefahr ansieht, in die man sich nur unter strengster Beachtung ganz bestimmter Vorsichtsmaßnahmen und sichernder und versöhnender Praktiken begeben kann. Dabei sind diese Tabus gegenüber der Geschlechtlichkeit und den Gottheiten dadurch gekennzeichnet - worauf Marg. Mead hinweist (23 a) -, daß ihnen äußerliche soziale Sanktionen weitgehend fehlen; gerade weil das Verhalten des Menschen gegenüber diesen Situationen und Kräften niemals ganz durch äußerliche Verbote in Form von Gesetzen oder durch irgendwelche von der Umwelt auferlegte Sitten zu sichern und zu bändigen ist, wird ihnen gegenüber ein Gemütszustand erforderlich, der seine Sanktionen beim Bruch der Tabus aus sich selber produziert, also der Angst, der Schuld und eines dauernden Versöhnungsbestrebens. Diese Tabus sind daher, wie es Marg. Mead exakt formuliert,
95a Diese Geisteshaltung des Versöhnungsstrebens mit den außeralltäglichen Mächten führt zu ihrer Bekundung im Opfer, das immer einen Verzicht auf Werte des Alltagslebens, insbesondere auf sinnliche Genüsse, ja zuweilen schon eine Vorwegnahme der Sanktionen durch freiwilliges Ertragen von Schmerzen (Geißelung usw.) darstellt. In diesen Verzichten auf Trieberfüllung zur Versöhnung dieser Mächte steht nun das Opfer des Sinnengenusses schlechthin, der Geschlechtlichkeit, bei weitem an erster Stelle. Das Orgiastische, Rauschhafte, dem temperierten Alltagszustand Entrückende der geschlechtlichen Erlebnisse fordert also zur sexuellen Verzichtleistung, zur geschlechtlichen Askese, selbst heraus. Ist diese zunächst eine Methode der Versöhnung mit den übermächtigen Kräften der Gottheit und des Geschlechtes, so erweist sie sich, rückwirkend auf die Handlungsverfassung des Menschen, sehr bald als der Weg, auf dem er diese Mächte in sich selbst, sowohl die sexuellen Triebe wie die Furcht und den Schrecken seines Herzens vor den Gottheiten und Gestorbenen, in die Hand bekommt. In der Askese, besonders der geschlechtlichen, schafft sich der Mensch eine der Trieberfüllung entgegengerichtete Antriebsstruktur, deren Bestand wir als Grundlage aller höheren sozialen und kulturellen Organisation ansehen müssen. Dieser auch in anderen psychischen Vorgängen erkennbare Zusammenhang ist als der Triebe (Freud), als (Scheler, 15, S. 51 f.), als (Gehlen, 9, S. 398 ff.) daher oft als die konstituierende Leistung des Kulturwesens Mensch beschrieben worden. (Fs)

95b Für das soziale Zusammenleben der Menschen bedeutet die geschlechtliche Askese zunächst eine Methode der Einübung von Verzichtleistungen; sahen wir diese in den von den Exogamiegeboten abhängigen Inzestverboten noch durch den Mechanismus des Gütertausches geregelt und bestimmt, so erreicht die geschlechtliche Askese auf Grund ihres seine Sanktionen selbst produzierenden Gemütszustandes, also mit religiösen Motivierungen, eine viel höhere Soziabilitätsleistung: sie führt nämlich nicht nur zur Ausdehnung und Sicherung der sozialen Kooperation, was die institutionalisierte sexuelle Tauschbeziehung schon leistet, sondern sie ermöglicht eine Konzentration der Antriebsenergien auf überindividuelle Ziele, also z. B. auf soziale Güter und Leistungen, von denen sich der einzelne zunächst gar keine individuellen Triebbefriedigungen oder Vorteile mehr versprechen kann. Die asketische Stauung der Triebenergien und ihre soziale Kanalisierung auf nur wenige derartige Handlungsmöglichkeiten hat sich daher zu allen Zeiten als hervorragendes soziales Führungsmittel erwiesen. Der Zusammenhang von Keuschheit und Gehorsam, der sich schon in den Enthaltsamkeitsregeln der Männerbünde primitiver Gesellschaften und in fast allen religiösen Korporationen nachweisen läßt, hat im christlichen Mönchs- und Nonnenwesen seinen klarsten Ausdruck gefunden und ist noch in der Formierung des preußischen Offiziers durch Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. aufdeckbar, die bewußt, wenn auch in säkularisierter Form, die consilia evangelica der Keuschheit, Armut und des Gehorsams aus dem Ordensrittertum übernahmen. Diese Interessen der Herrschaft an der sexuellen Askese sind vom Kardinal Carpi in seinem Gutachten über die Ehelosigkeit der Priester auf dem Tridentiner Konzil mit den Worten bekannt worden: (Fs)

96a Aber die Autoritäts-Chance der Askese liegt noch in anderer Richtung: Insofern das Opfer der sinnlichen Triebbefriedigung sich im allgemeinen Sozialbewußtsein als religiöser oder sittlicher Sollensanspruch höheren Ranges durchsetzt, verleiht jede Form radikalerer Askese ihren Trägern im Gewissen der anderen, triebgebundeneren Schichten eine soziale Autorität, die in keiner äußerlichen Herrschaftsordnung, sondern in der bis in die Vitalschicht hinabreichenden scheuen Anerkennung einer existenziellen Überlegenheit wurzelt. Das Urteil, (Schubart, 78, S. 174). (Fs) (notabene)

97a Der Zusammenhang zwischen sexueller Enthaltsamkeit oder Askese und kulturellen Leistungen, dessen psychischen Mechanismus die Psychoanalyse weitgehend aufgewiesen hat, ist von J. D. Unwin an einem breiten völkerkundlichen Material von 80 Kulturen sozialstatistisch untersucht worden; aus den Ergebnissen glaubt er eine genaue Entsprechung zwischen dem Grad der vorehelichen sexuellen Enthaltsamkeitsregelung, der Weltanschauungs- oder Religionsform und der sozialen Energie einer Gesellschaft folgern zu können, und zwar in der Art, daß alle deistischen Gesellschaften (Kriterium: das Vorhandensein von Tempelbauten) irgendwann auf vorehelicher Keuschheit bestanden hätten, daß alle manistischen Gesellschaften (die nur die Stufe der Totenverehrung und -kulte erreicht haben) nur zu teilweiser geschlechtlicher Enthaltsamkeit vor der Ehe zwangen, während sich in den von ihm zoistisch genannten Gesellschaften (Kriterium: weder Tempelbau noch Totenkult) völlige voreheliche sexuelle Freiheit nachweisen ließe. So hält er die Beschränkung der sexuellen Freiheit für einen unentbehrlichen vorausgehenden Faktor höherer sozialer und kultureller Energieentfaltung und glaubt, enge Korrelationen zwischen der vorehelichen sowie ehelichen sexuellen Enthaltsamkeit und Freiheit mit dem Ausmaß der sozialen und politischen Energie einer Gesellschaft aufweisen zu können. Die Vorteile einer hohen Kultur genießen und zugleich die sozial erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit abschaffen zu wollen, erscheint ihm in der menschlichen Natur nicht nur unvereinbar, sondern geradezu widersprüchlich zu sein; jede menschliche Gesellschaft sei frei, entweder die Entfaltung großer Energien oder den Genuß sexueller Freiheiten zu wählen; alle Beweise liefen darauf hinaus, daß sie beides nicht länger als eine Generation hindurch vereinen könne (38, p. 412). (Fs)

97b Diese Untersuchung erscheint uns insofern von Bedeutung, als sie auf Grund eines sozialstatistischen völkerkundlich-historischen Vergleiches analytisch zu dem gleichen Urteil kommt, das uns auch die christliche Moral- und Enthaltsamkeitslehre ansinnt. (Ball, 70, S. 208). (Fs)

98a Allerdings finden sich in den Lehren von der Sublimation der Triebe zu kulturellen Leistungen vielfach funktionalistische Kurzschlüsse: am auffälligsten vielleicht in der Anschauung, daß künstlerische, religiöse und sonstige kulturelle Betätigungen und Leistungen nur Ersatzbefriedigungen etwa der in ihrer direkten Abfuhr verhinderten sexuellen Antriebe wären. Diese Auffassung verkennt, daß sich in diesen Sublimationen nicht nur die Ziel- und Gegenstandsbesetzung der Triebe verschiebt, sondern daß das Eingehen auf die Eigengesetzlichkeit der neuen Handlungsmöglichkeiten eine Veränderung der vitalen Bedürfnisse selber, also z. B. eine echte Entsexualisierung der Antriebsverfassung, nach sich zieht. Wo wir, wie in manchen Formen des religiösen , der Madonnenverehrung oder des pietistischen religiöse Ersatzbildungen für sexuelles Begehren oder bloße Verdrängungen offensichtlich erotischer Konflikte aufweisen können, handelt es sich immer um mindere Manifestationen dieser kulturellen Bereiche, deren hysterische und neurotische Komponente gerade darin zu erblicken ist, daß hier die vitale Antriebsverfassung der Menschen den von ihnen akzeptierten sittlichen und kulturellen Sollensansprüchen und Verpflichtungen noch nicht nachgewachsen ist. (Fs)

98b Neben diesem verhältnismäßig leicht nachweisbaren Fehler eines kurzschlüssigen biologischen Funktionalismus in der Betrachtung des Verhältnisses von Sexualität und Kultur findet sich oft, und zwar vorwiegend gerade in den sozialwissenschaftlichen Theorien über geschlechtliche Enthaltsamkeit und Askese, ein als kurzschlüssiger kultureller Funktionalismus zu bezeichnender Denkfehler; da auch unsere Ausführungen, infolge ihrer Kürze vielleicht unvermeidlich, diese Verkennung der Umwandlungsgesetzlichkeiten sexueller Aktivität in kulturelle und soziale Leistungen nahelegen, wollen wir zum Schluß darauf noch eingehen. Wir zielen mit dieser kritischen Bemerkung auf die Auffassungen, die der , also z. B. der sexuellen Enthaltsamkeit und Askese, unmittelbar eine soziale oder kulturelle Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit als Intention unterlegen. Wenn wir bei Pareto (§§ 1163-1208) den Asketismus als eine Hypertrophie sozialer Instinkte interpretiert finden, die in ihrer Übersteigerung den sozialen Zweck aus den Augen verloren hätten, so liegt dieser Ansicht der Gedankengang zugrunde, daß der geschlechtlichen Askese und den sonstigen Verzichtshaltungen gegenüber sinnlichen Genüssen primär der Zweck einer höheren Soziabilität oder kulturellen und geistigen Leistung innewohnt, diese Disziplinierungen sich später aber als Antriebe isolieren und verselbständigen können und dann ins sozial Zwecklose oder gar Schädliche umschlagen. (Fs)

99a Es scheint sich aber gerade umgekehrt zu verhalten: Indem die Askese die ursprünglichen Triebenergien hemmt und staut, ruft sie einen leiblichen und seelischen Zustand hervor, der zwar dem rauschhaften Trieberleben invers ist, aber genau wie dieses der Person eine außeralltägliche Bewußtseinskraft und Erlebensqualität bietet; gerade darin, daß sowohl die Trieberfüllung wie ihre Askese in der Ekstase münden, liegt überhaupt die Chance, daß die vitalen Bedürfnisse dieser Inversion der Antriebsrichtung voll nachwachsen und daß es dann höhere Begierden gibt, die für die Person genau so triebhafter Selbstzweck sind wie die primäre Trieblust. Indem (Gehlen, 55 c, S. 336 u. 55 b, S. 56 f.) auch diese Antriebsinteressen aus sich selbst heraus stabilisiert und steigert, sind die religiösen, künstlerischen oder geistigen Betätigungen, die darauf beruhen, primär jeder sozialen oder kulturellen Funktions- und Zweckverhaftetheit entzogen; das Gewissen des Anachoreten, das Ingenium des Künstlers, der Geist des Gelehrten, sie alle empfangen ihre Verpflichtung unabhängig von der Konstellation ihrer Umwelt und ihrer zweckmäßigen Rolle darin aus der in einer bis ins Tiefste veränderten Natur ihrer Triebe. (Fs) (notabene)

99a Allerdings bemächtigen sich nun, sind diese neuen Handlungsmöglichkeiten und Antriebsformen in ihrem vitalen Selbstwert einmal vorhanden, die Bedürfnisse des sozialen und kulturellen Zusammenhanges dieser Verhaltenschancen und erfüllen sie in sekundärer Zwecksetzung mit gesellschaftlichen Funktionen und Nützlichkeiten. So wird etwa die sexuelle Askese, wenn sie einmal aus der bloßen Verneinung des Bedrohlichen der orgiastischen Ekstase in den Rang einer dauerhaften autonomen Antriebsrichtung aufgestiegen ist, ihrer primären sozialen Zwecklosigkeit oder Schädlichkeit entkleidet und zum Mittel der Disziplinierung. Wir können dies deutlich verfolgen, wenn wir die Rolle der Askese im frühchristlichen Anadioretentum mit ihrer Bedeutung für das mittelalterliche Mönchtum der Benedictiner oder für den Jesuitenorden vergleichen. Erst in diesem Stadium der Einschmelzung der asketischen Antriebsrichtung in die sozialen und kulturellen Funktionszusammenhänge erfolgt dann ihre Reglementierung, Ritualisierung, Institutionalisierung usw., d. h. jene Formierung in zweckrationale Verhaltensschemata, in der sich die Kultur und die Gesellschaft den Dienst der höheren Begierden sichern. Die Zwecke der Kultur wachsen den höheren Begierden nach, die selbst erst aus der sozialen Formierung und Neutralisation der unteren entstanden sind. (Fs)

100a Stabilisiert sich diese Hierarchie der Akte in der Antriebsstruktur der Person und im kulturellen Zusammenhang, so übernehmen die höheren Bedürfnisse immer selbständiger die Führung der unteren und entlasten diese von der Strenge ihrer Formierung: Wird die geschlechtliche Askese spiritualisiert und rationalisiert, so erwächst daraus ein eigenes Bedürfnis nach einer Disziplin geistiger Art, das die Härte des ursprünglichen Kampfes gegen die Geschlechtlichkeit mäßigen kann, da es von vielerlei persönlichen und kulturellen Antriebsschichten her gestützt und gespeist wird. So tritt in der christlichen Tradition die Aufgabe der Askese als eines ständigen Kampfes gegen den in der Versuchung durch Teufel und Dämonen erlebten Ansturm der sexuellen Affekte zurück gegenüber der in methodischen Übungen zu erreichenden Disziplinierung des Willens im Dienste geistiger und sozialer Ziele, und ist schließlich, wie im Offizierstum und Gelehrtentum, von den ursprünglichen religiösen Motivierungen völlig ablösbar. Dann bleibt die institutionelle Verhaltensstütze des Zölibats noch eine Weile in immer lässigerer Form aufrechterhalten, wie wir es im preußischen Offizierskorps oder im nachklerikalen Gelehrtenwesen feststellen können - den Sprachforschern, Humanisten und Logikern wurde erst 1808 durch Napoleon das Verheiratungsrecht zugebilligt -, und zerbröckelt dann gegenüber der (wenigstens auf eine gewisse Epoche hin stabilisierten) selbstverständlichen Sicherheit, mit der der Vorrang der geistigen, kulturellen und höheren sozialen Bedürfnisse sich im Interessenhaushalt der jeweiligen Funktionsgruppen der Gesellschaft zur Geltung bringt. (Fs)

100b Von dieser durch die geschlechtliche Askese und ähnliche Neutralisationen und Sublimierungen primärer Triebe erreichten Höhe und vitalen Eindringlichkeit der Kultur werden dann auch die in den erotischen Beziehungen einer Gesellschaft entwickelten Verhaltensformen und -bedürfnisse geführt und bestimmt. Der in unserer Kultur mit der Liebe verbundene Lebensanspruch der Person gründet sich nicht nur, was wir schon nachwiesen, auf die in der geschlechtlichen Beschränkung der absoluten Monogamie entwickelten Gefühlsbedürfnisse, sondern ist ebenso auf eine wenigstens partielle Askese aufgebaut, die aus den Klöstern kommt; Abälard und Heloise sind mit Recht als das klassische Liebespaar unserer modernen Kultur begriffen worden. Die Dramatisierung des Liebeswerbens, die Verwirklichung von Geschmack und höherer Lebensart, von Zartheit und Tiefe in den erotischen Beziehungen, die Ästhetisierung der Liebe, die aus ihr eine raffinierte Kunst des Lebensgenusses machte, all diese Formen des modernen Liebeslebens setzen die Verfügung über eine Haltung voraus, die das triebhafte Sexualziel distanziert hat. Die Komplexität einer Kultur und der in ihr vorhandenen Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten entspricht der Komplexität und Hierarchie ihrer Konventionen, Hemmungen und emotionalen Verzichtleistungen; in diesem Sinne können wir das Wort Leon Bloys, daß die Geistigkeit des Mittelalters auf zehn Jahrhunderten der Ekstase aufgebaut war, dahin erweitern, daß die Möglichkeit und Wirklichkeit der Liebe in unserer Zeit auf Jahrtausenden der Askese beruht. (Fs)

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