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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Geschmack an der Freiheit - Leidenschaft für die Gleichheit (l'amour de l'égalité)


Kurzinhalt: Nur wenn es gelingt, die Freiheit und das Streben nach Gleichheit zu verbinden, ist es möglich, der Gefahr der Verwaltungsdespotie zu entgehen

Textausschnitt: 97a Nur wenn es gelingt, die Freiheit und das Streben nach Gleichheit zu verbinden, ist es möglich, der Gefahr der Verwaltungsdespotie zu entgehen. Freiheit und Gleichheit müssen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gebracht werden. Ich habe darauf hingewiesen, dass der freiheitsgefährdende Rückzug der Bürger auf das Streben nach privatem Wohlstand durch die Gleichheit der Bedingungen möglich wird. So kann also unter bestimmten Bedingungen die Freiheit in Gegensatz zur Gleichheit geraten, d.h., demokratisch-egalitäre Verhältnisse können die Freiheit als politisches Gut und politische Praxis zerstören, weil die Menschen diese vergessen. Tocqueville beschreibt diesen Vorgang:

»Die demokratischen Völker lieben die Gleichheit zu allen Zeiten, es gibt aber gewisse Epochen, wo sie die Leidenschaft für sie bis zur Besessenheit steigern. Dies geschieht im Augenblick, wenn die alte gesellschaftliche Hierarchie, seit langem bedroht, sich nach einem letzten Bürgerkrieg vollends vernichtet, und die Schranken, die die Bürger trennen, endlich fallen. Die Menschen stürzen sich dann auf die Gleichheit wie auf eine Eroberung und sie klammern sich an sie wie an ein kostbares Gut, das man ihnen rauben will. Die Leidenschaft nach Gleichheit dringt von allen Seiten in das menschliche Herz ein, breitet sich darin aus, erfüllt es ganz. Man sage den Menschen nicht, dass sie durch diese blinde, ausschließliche Hingabe an eine Leidenschaft ihre teuersten Anliegen aufs Spiel setzen; sie sind taub. Man zeige ihnen nicht die Freiheit, die ihren Händen entschlüpft, während sie anderswo hinblicken; sie sind blind, oder vielmehr, sie erblicken im ganzen All nur ein Gut, das des Begehrens würdig ist.«1

98a Diese Beschreibung des selbstvergessenen Verfolgs der Gleichheit wird nun von Tocqueville nicht dazu benutzt, die Gleichheit zu verwerfen. Er schreibt, das oben zitierte Kapitel abschließend, über die Gleichheit: »In unseren Tagen kann die Freiheit nicht ohne ihre Hilfe begründet werden [...].«2 Es handelt sich also beim Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im politischen Denken Tocquevilles nicht - wie oft behauptet wird - um einen strukturellen Gegensatz, sondern um ein Spannungsverhältnis, das sehr wohl vernünftig gestaltet werden kann: »Man kann sich einen äußersten Punkt vorstellen, wo Freiheit und Gleichheit sich berühren und verschmelzen. Ich setze voraus, dass alle Bürger an der Regierung teilhaben und dass jeder einen gleichen Anspruch auf diese Mitwirkung besitzt. Da keiner sich demnach von seinen Mitbürgern unterscheidet, wird niemand eine tyrannische Macht ausüben können; die Menschen werden vollkommen frei sein, weil sie alle völlig gleich sind; und sie werden alle vollkommen gleich sein, weil sie alle völlig frei sind. Dies ist das Ideal, dem die demokratischen Völker nachstreben.«3 Das völlige Verschmelzen von Gleichheit und Freiheit, das Tocqueville beschreibt, ist aber nicht die Situation, die man tatsächlich in den bestehenden politischen Gesellschaften vorfindet. Und so deutet er verschiedene Variationsmöglichkeiten - etwa soziale Gleichheit bei gleichzeitiger politischer Ungleichheit oder politische Gleichheit bei allgemeiner Unfreiheit - an, um darauf hinzuweisen, dass »man mithin berechtigt ist, die beiden voneinander zu unterscheiden.«4

98b Erst nach diesen allgemeinen Bemerkungen stellt er das politische Problem dar. Dieses besteht nicht im Gegensatz von Gleichheit und Freiheit, sondern vielmehr in den verschiedenen Beweggründen, die die Menschen dazu veranlassen, eher die Gleichheit zu lieben oder aber eine stärkere Vorliebe für die Freiheit zu entwickeln. Was also in einer mit Missverständnissen überfrachteten Debatte als Gegensatz von Dingen diskutiert wird, ist bei Tocqueville eine Frage der Ordnung des Bewusstseins, der Psyche. Er unterscheidet zwischen dem Geschmack an der Freiheit (goût de liberté) und der Leidenschaft für die Gleichheit (l'amour de l'égalité). Beides steht nicht im Gegensatz zueinander; doch es ist unübersehbar, dass in der Psyche des Menschen sehr wohl eine Präferenz für eins von beiden bestehen kann. Auf dieser Ebene handelt es sich mithin um eine Konkurrenz verschiedener psychischer Bewegungen, die die Lebensweise des Bürgers bestimmen können. (Fs)

99a Tocquevilles Analyse bleibt allerdings auch bei diesem Punkt nicht stehen. In seinem politischen Denken ist die platonische Einsicht präsent, dass die Polis der groß geschriebene Mensch ist. Tocqueville weiß, dass die Ordnung der Psyche des Einzelnen - und damit die Konkurrenz des Geschmacks an der Freiheit und der Liebe zur Gleichheit - nicht von der Gesellschaft isoliert werden kann. Die Meinungen, Stimmungen, Überzeugungen und vorherrschenden Glaubenshaltungen der Gesellschaft wirken auf den einzelnen Bürger ebenso ein, wie dieser jene beeinflusst. Hier liegt nun nach Tocqueville eines der zentralen Probleme demokratischer Gesellschaften. Die besondere und vorherrschende Erscheinung, die das Zeitalter der Demokratie auszeichnet, ist nach seiner Analyse die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, und »die Hauptleidenschaft, die in solchen Zeiten die Menschen bewegt, ist die Liebe zu dieser Gleichheit«5. Die Entwicklung zur Gleichheit der Rechte und zur Gleichheit der Bedingungen verstärkt in den Bürgern diese Liebe und das Streben nach Gleichheit noch, was wiederum auf den gesellschaftlichen Prozess verstärkend zurückwirkt. Da die Menschen gleich sein und als Gleiche behandelt werden wollen, sieht Tocqueville wenig Sinn in einer Debatte, die dieser Entwicklung gegensteuern wollte. Er ist vielmehr der festen Überzeugung, dass die Frage vernünftiger demokratisch-egalitärer Ordnung unter dem Aspekt der Wiederherstellung oder Erhaltung politischer Freiheit in der egalitären Gesellschaft gesehen werden muss. Die Einleitung zur Demokratie in Amerika, behandelt als zentrale Gegebenheit die Entwicklung moderner Gesellschaften hin zu demokratischer Gleichheit der Bedingungen. Diese nach Tocqueville unaufhaltsame Entwicklung konfrontiert er mit der Aufgabe seiner »neuen politischen Wissenschaft«, die eben in der Herstellung und Erhaltung der Freiheit in der Demokratie besteht. Es handelt sich somit beim Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nach Tocqueville nicht um einen unüberwindbaren Gegensatz, sondern um ein bedeutend differenzierteres In-einanderwirken von Geschmack an der Freiheit und Liebe zur Gleichheit. Hier und erst hier, im Ineinanderwirken von Freiheitsstreben und Liebe zur Gleichheit, die in der Psyche des Menschen aufeinander treffen und vom Entwicklungsprozess der Gesellschaft beeinflusst sind, findet jene dramatische Konkurrenz der verschiedenen Beweggründe statt, deren Beschreibung einen großen Teil des Werkes von Alexis de Tocqueville prägt. (Fs)

100a Die Konkurrenz von Freiheit und Gleichheit, die sich in der Psyche als Konkurrenz von Geschmack an der Freiheit und Liebe zur Gleichheit abspielt, wird in der Gesellschaft zur Konkurrenz verschiedener Aktivitäten. In der Gesellschaft der gleichen Startchancen verdrängt das ökonomische Erwerbsstreben tendenziell das politische Handeln, welches für Tocqueville die Praxis der Freiheit ist. Damit aber wird eine Lebensweise in der Gesellschaft zum »normalen« Habitus, die nicht die Lebensweise des freien Bürgers in der Republik ist; dies wiederum gefährdet die Republik selbst. Wirtschaftliche Vorteile werden in diesem Verständnis nicht als Basis praktischer politischer Aktivität angestrebt. Im Gegenteil: Die in der Politik errungenen gleichen Rechte werden zu Instrumenten des Strebens nach Wohlstand. Der politische Bereich der Praxis der Freiheitsrechte wird den Imperativen privater, ökonomischer Ziele untergeordnet. Die Politik wird zur Magd der Wirtschaft und die Freude am Freisein wird wegen der wirtschaftlichen Vorteile, die die Gleichheit bringt, der Liebe zu ebendieser Gleichheit unterworfen. (Fs) (notabene)

101a Die von Tocqueville festgestellte Konkurrenz zwischen Geschmack an der Freiheit und Liebe zur Gleichheit entpuppt sich bei genauer Untersuchung als Konkurrenz der Tätigkeitsbereiche Wirtschaft und Politik. Es geht dabei nicht um eine Konkurrenz, bei der das eine das andere ausschließt, sondern um eine Konkurrenz um die Vorherrschaft. Tocqueville, dem es um die Erhaltung praktischer Freiheitsrechte geht, warnt vor der Unterwerfung der Freiheit unter die Imperative ökonomischen Besitzstrebens. (Fs)

101b Jenseits der bis auf den heutigen Tag zweifellos wichtigen Untersuchungen Tocquevilles, in denen die Durchdringung der Politik mit wirtschaftlichem Denken kritisch dargestellt wird, hat der französische Liberale aber auch im politischen Bereich selbst problematische Auswirkungen der demokratischen Liebe zur Gleichheit auf die Republik beschrieben. Wir wollen deshalb seine kritischen Bemerkungen über die Auswahl politischer Repräsentanten in der Demokratie und seine Analyse der Gefahren eines übergroßen Konformisierungsdruckes untersuchen, um die Darstellung dann mit Tocquevilles wichtiger Unterscheidung von Einheitlichkeit und Gleichheit fortzusetzen. (Fs)

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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Dilemma: Rekrutierung der politischen Führungsschicht; Problem des Wählens

Kurzinhalt: Woher und wie sollen aber die weniger klugen ... Wähler die Maßstäbe haben, um die Klügeren und Kenntnisreicheren als ihre Vertreter auswählen zu können?

Textausschnitt: Der Sieg des Mittelmaßes

101c Auch demokratische Gesellschaften bedürfen politischer Repräsentanten und politischer Führer. Da aber das Volk selbst das entscheidende Wort bei der Auswahl der politischen Elite spricht, tritt hier eine Reihe von bedeutsamen Problemen auf. Nach den Beobachtungen Tocquevilles ist die Auswahl der Inhaber öffentlicher Ämter weniger von abwägender Überlegung als von Stimmungen und Emotionen bestimmt. Er hat den Verdacht, dass es nicht immer das Bestreben ist, den Besten auszuwählen, welches das wählende Volk bei der Stimmabgabe bewegt. Es ist weniger böser Wille oder eine Vernachlässigung des Wohles des Landes, was die Bürger Fehlern beim Auswählen politischer Repräsentanten machen lässt, als vielmehr ihre Unfähigkeit, klug und wohl abgewogen über Kandidaten für öffentliche Ämter zu entscheiden. Diese hat eine ihrer Ursachen darin, dass die meisten Bürger einen großen Teil ihrer Zeit mit anderen Dingen beschäftigt sind als mit der Politik. Das Volk muss »immer in Hast urteilen und sich an das Vordergründigste halten. Dies hat zur Folge, dass Schwindler aller Art sich trefflich darauf verstehen, dem Volk zu gefallen, während seine wahren Freunde darin sehr häufig scheitern.«1 (Fs)

102a Das von Tocqueville angesprochene Problem der Rekrutierung der politischen Führungsschicht ist in der Tat ein gewichtiges Dilemma demokratischer Ordnung. Einerseits sollen die politischen Repräsentanten die Interessen, Wünsche und Vorstellungen der Bürger in der Politik berücksichtigen und beachten. Wie könnte dies besser erzwungen werden als dadurch, dass das Volk seine Vertreter selbst wählt? Andererseits erfordert die sachgerechte und abgewogene Auswahl politischer Amtsinhaber einen hohen Grad von Kenntnissen der öffentlichen Angelegenheiten. Besäßen die Bürger diese Kenntnisse, wäre die Wahl von Repräsentanten eigentlich unnötig. Die Bürger wüssten dann ja selbst, was notwendig und vernünftig ist. So hat das Wählen politischer Vertreter seinen Sinn nicht in der Identität von Wählern und Gewählten, sondern im Ziel der Auswahl der Besten. Woher und wie sollen aber die weniger klugen, weniger kenntnisreichen und weniger interessierten Wähler die Maßstäbe haben, um die Klügeren und Kenntnisreicheren als ihre Vertreter auswählen zu können? Die Möglichkeiten, die die Demokratie Demagogen, Scharlatanen und Schwindlern bietet, stellen tatsächlich eine unübersehbare Gefahr dar. Die Antwort, die die moderne Politik mit den politischen Parteien gefunden zu haben scheint, verschiebt nur das Problem, ohne es tatsächlich zu lösen. Denn für die Auswahl von Kandidaten in den Parteien gilt entsprechend, dass weniger kundige Parteimitglieder den Bürgern die Kundigsten als Kandidaten vorschlagen sollen. (Fs)

103a Dieses nicht endgültig lösbare Problem auch demokratischen Regierens wird durch einen sozialpsychologischen Umstand noch verstärkt. Wo die Gleichheit annähernd verwirklicht ist, beobachtet Tocqueville, wird das Streben nach ihr zum Hindernis der Wahl hervorragender Männer.1 Alles, was das Volk »in irgendeinem Bereich überragt, erscheint ihm als ein Hindernis seiner Wünsche, und es gibt keine noch so erwiesene Überlegenheit, deren Anblick sein Auge nicht belästigt«2. Der Durchschnittsbürger neigt dazu, »bedeutende Männer von der Macht fernzuhalten«3, teils aus Neid4, teils infolge des Wunsches nach Ausbau der Gleichheit und teilweise, weil er sich mit einem hervorragenden Repräsentanten nicht identifizieren kann. Objektiv hat er außerdem Schwierigkeiten, die Besten als solche zu erkennen. All dies weist darauf hin, dass der Vorzug des allgemeinen Wahlrechts ganz sicher nicht darin liegt, dass es die Gewähr für die Wahl der Besten gibt. »Das allgemeine Wahlrecht hat andere Vorteile, aber nicht diesen.«5 (Fs)

103b Wer immer das Problem des Wählens in einer demokratischen Gesellschaft vorurteilslos analysiert, muss einräumen, dass Tocqueville eine richtige Beobachtung wiedergibt. Die demokratischen Verfahren zur Bestellung politischer Amtsinhaber sind keine automatischen Garanten für die Qualität der Gewählten; und die Stimmungen und Meinungen der Wähler sind nicht immer das vernünftigste Kriterium für die Auswahl der Repräsentanten des Volkes. Was Tocqueville über die Möglichkeit sagt, dass die Wähler Irrtümern, Fehleinschätzungen oder falschen Auswahlkriterien erliegen, gilt nicht nur für die Masse des Volkes. Auch »die größten Geister« können sich bei der Beurteilung von Personen - das schreibt er ausdrücklich - irren.6 (Fs)

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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Tyrannei der Mehrheit; Konformitätsdruck; Despotismus - Anarchie

Kurzinhalt: ... dass in der Demokratie ein Typus von Amtsinhabern vorherrschend wird, der seine Meinungen, Ziele und Vorstellungen den Stimmungen seiner Wähler anpasst und sie nicht an den Prinzipien der Freiheit, des Rechts und der Verfassung entwickelt.

Textausschnitt: 104a Nun kann man nicht ohne Grund einwenden, dass die Politik gar nicht so sehr überdurchschnittlicher Menschen bedarf und dass der politische Alltagsbetrieb wahrscheinlich sogar unter allzu vielen außerordentlichen Persönlichkeiten mehr leiden als davon profitieren würde. Dieser Einwand träfe Tocqueville jedoch nur dann, wenn man seine Aussagen im Sinne einer vom Geniekult des 19. Jahrhunderts geprägten Vorstellungswelt interpretiert, die ihre Vorbilder aus der italienischen Renaissance bezieht. Tocqueville ist weder Opfer eines wie auch immer gearteten Geniekults noch ein nostalgischer Verehrer italienischer Condottieri. Die Commentaries on American Law (1826-1830) des Juristen und Politikers James Kent zitierend, macht er deutlich, dass er Menschen mit einer strengen, nicht auf Popularität abgestellten Lebensführung und »Unnachgiebigkeit in den Grundsätzen« meint.1 (Fs)

104b Tocqueville befürchtet ganz offensichtlich - und nicht zu Unrecht -, dass in der Demokratie ein Typus von Amtsinhabern vorherrschend wird, der seine Meinungen, Ziele und Vorstellungen den Stimmungen seiner Wähler anpasst und sie nicht an den Prinzipien der Freiheit, des Rechts und der Verfassung entwickelt. Dies jedoch gefährdet die Freiheit der Bürger. Das Streben nach Sicherheit, Stabilität und Wohlstand, das das Verhalten der Mehrheit bestimmt, kann, wenn sich die Repräsentanten des Volkes dem anpassen, leicht zur Zerstörung von Freiheit und republikanischer Verfassung führen, auf jeden Fall aber einen so massiven Konformitätsdruck erzeugen, dass der Wille der Mehrheit sich in allen Fragen des kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Lebens durchsetzt. »Die Mehrheit hat in den Vereinigten Staaten also tatsächlich eine unermessliche Macht [...]; und steht sie einmal in einer Frage fest, gibt es sozusagen keine Hindernisse, die sie, ich sage nicht einmal aufhalten, sondern auch nur in ihrem Vormarsch verzögern könnten [...]. Die Folgen dieser Verhältnisse sind unheilvoll und für die Zukunft gefährlich.«2 Tocqueville bezeichnet hier die Möglichkeit der Unterdrückung nicht mehrheitskonformer Meinungen, Einsichten und Vorstellungen und prägt in diesem Zusammenhang die Formulierung von der »Tyrannei der Mehrheit«. (Fs)

105a Eine der Voraussetzungen für eine solche Entwicklung ist jener Typus von Bürger, der nicht Freiheit und Gerechtigkeit als einsetzbare und vorgegebene Prinzipien kennt und zur Maxime seines Urteils macht, sondern sich nach den Meinungen und Stimmungen der Mehrheit richtet. »Es gibt Leute, die sich nicht scheuen zu sagen, ein Volk könne in den Angelegenheiten, die es allein angehen, nicht vollkommen die Grenzen von Recht und Vernunft verlassen, und man solle sich folglich auch nicht scheuen, der Mehrheit, die es vertritt, alle Macht zu geben. Aber dies ist die Rede von Sklaven.«3 Tocqueville nennt diese Meinung nicht etwa unüberlegt oder irrig sklavisch: Denn tatsächlich handelt es sich bei dieser Meinung und der sich aus ihr ergebenden Haltung um eine Form von Unterwerfung und Selbstaufgabe, die sehr wohl sklavische Züge erkennen lässt. Warum sollte eine Mehrheit nicht irren können? Warum sollte sie nicht ungerecht, unvernünftig oder freiheitsfeindlich sein? Nur weil eine Überzeugung oder eine bestimmte Politik die einer Mehrheit ist, gewinnt sie noch keine qualitative Überlegenheit; sie ist mächtig und durchsetzbar; ob sie allerdings richtig, gerecht und vernünftig ist, kann nicht durch Abstimmung festgestellt werden. (Fs)

106a Wer also die Beurteilung, Kritik und Auseinandersetzung mit Mehrheitsmeinungen von vornherein ablehnt, unterwirft sich ihnen unter Verzicht auf die Anwendung der eigenen Vernunft. Er verhält sich sklavisch. »Was ist denn die Mehrheit im Gesamten genommen anderes als ein Einzelner, der Meinungen und meist Interessen hat, die einem anderen Einzelnen entgegenstehen, den man Minderheit nennt. Wenn man einräumt, dass ein Mann, der über Allmacht verfügt, diese gegen seine Gegner missbrauchen kann, warum soll man dann nicht auch zugeben, dass dies auch für eine Mehrheit gilt?«4 Gleichgültig, wer sie ausübt und welche Mehrheiten hinter ihr stehen, unkontrollierte und durch keine Gegenkräfte im Zaum gehaltene Macht ist eine Bedrohung der Freiheit. »Sehe ich also, dass irgendeiner Macht das Recht und die Fähigkeit, alles zu tun, eingeräumt wird, ob man sie Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennt und ob man diese Macht in einer Monarchie oder in einer Republik ausübt, ich erkläre: Hier ist der Keim der Tyrannei und ich will unter anderen Gesetzen leben.«5

106b Der geistige und politische Konformitätsdruck, die irrige Meinung, die Mehrheit habe nicht nur immer Recht, sondern auch das Recht, alles zu bestimmen, sowie die fehlende Standfestigkeit von demokratischen Politikern stellen so im geistigen und politischen Leben einer Demokratie eine Gefahr für die Freiheit dar. Tocqueville, der seine französische Erfahrung auf die Zustände der amerikanischen Republiken bezieht, sieht drohend den Despotismus als Folge eines übermächtigen Strebens nach Konformität, das die Freiheit nicht gleichzeitig erhalten will. Dieser Despotismus kann jedoch in Anarchie umschlagen. »Sollte jemals die Freiheit in Amerika untergehen, so wird man dafür die Allmacht der Mehrheit verantwortlich machen müssen, die die Minderheiten zur Verzweiflung trieb und sie zwang, Gewalt anzuwenden. Man wird dann Zeuge der Anarchie sein, aber sie wird als Folge des Despotismus eintreten.«6 (Fs)

107a Der schrittweise Entzug politischer Praxis und damit erfahrbarer Freiheit drängt die Bürger dorthin, wo ihr Wohlstandsstreben, wenn es denn ihre Existenzausrichtung allein bestimmt, sowieso hinzielt: in die individualistische Privatexistenz. Die Mittel gegen die Gefahren des Individualismus stellen die aus der Untersuchung Amerikas gewonnenen Einsichten in die heilsame Wirkung lokaler Politik und freiheitlicher Praxis zur Verfügung. Für diese plädiert Tocqueville. (Fs)

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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Französische Revolution: Bedingungen: Stellung von Adel, Klerus, intellektuelles Klima, Realitätslosigkeit der Literaten

Kurzinhalt: einer der wichtigsten Faktoren, die die Entwicklung zur Revolution in Frankreich begünstigten, ist die Kluft ... Reichtum ... des Großbürgertums einerseits und der moralischen Einflusslosigkeit der Geistlichkeit bzw. der ... Machtlosigkeit des Adels

Textausschnitt: Die Bedingungen der Revolution

113a Einer der wichtigsten Faktoren, die die Entwicklung zur Revolution in Frankreich begünstigten, ist die Kluft zwischen dem Reichtum und der Bildung des Großbürgertums einerseits und der moralischen Einflusslosigkeit der Geistlichkeit bzw. der tatsächlichen Machtlosigkeit und Erniedrigung des Adels andererseits.1 Adel und Geistlichkeit waren ihrer politischen Verantwortlichkeiten und der eigentlichen Aufgaben ihres Standes (Regelung der lokalen Angelegenheiten, Fürsorge für die Bevölkerung etc.) schon lange entfremdet und nutzten ihre privilegierte Stellung nur noch für ökonomische Vorteile aus.2 Politische Führung, Verantwortlichkeit und Ordnungsfunktion der angeblich »politischen Klasse« waren längst verloren gegangen, ihre Privilegien waren auf gesellschaftlich-ökonomische Vorrechte (wie z.B. Steuerprivilegien) heruntergekommen, denen keine politische Aufgabe mehr entsprach. Der Hass der Bürger gegen diese Vorrechte, deren Grund niemandem mehr einsichtig war, war umso größer.3 (Fs) (notabene)

114a Frankreich mit England vergleichend, stellt Tocqueville darüber hinaus fest, dass eine der wesentlichen Bedingungen der Revolution in Frankreich ein intellektuelles Klima war, das die Revolution förderte.4 Das Auftreten einer Klasse von Intellektuellen - Tocqueville nennt sie Schriftsteller (écrivains) -, die durch die Zentralisation und durch ihre besondere Situation in der Gesellschaft bar jeder praktischen politischen Erfahrung sind, wird zu einer der entscheidenden Bedingungen der Französischen Revolution, die nicht nur für die Auslösung der gewaltsamen Ereignisse, sondern auch für den Verlauf der Revolution von entscheidender Bedeutung sind.5 Die öffentliche Debatte, die diese Intellektuellen entscheidend tragen, ist bestimmt von der Diskussion allgemeiner Ideen und Konzepte, von Doktrinen und politischen Dogmen, die in ihrer Allgemeinheit eine enge Beziehung zu den konkreten Problemen der Gesellschaft vermissen lassen. Die an allgemeinen und abstrakten Doktrinen ausgerichtete Debatte führt aber zu einem Fehlen vernünftiger Reformgedanken, die ohne Revolution ausführbar wären.6 (Fn) (notabene)

114b Eine Suche nach neuen Lösungen, die auch die Regierenden erfasst, findet zu einem Zeitpunkt statt, der von der Unfähigkeit der herrschenden Klasse geprägt ist, Probleme und Ausmaß der Krise zu erkennen oder gar selbst vernünftige Reformkonzepte zu entwickeln. Die Regierenden sind nicht nur von der Gesellschaft isoliert und repräsentieren diese nicht mehr, sie sind auch nicht in der Lage, diesen Tatbestand überhaupt zu erkennen. Die traditionelle praktische Klugheit, zu der die Regierenden erzogen sind, versagt sowohl bei der Analyse des Bewusstseinszustandes der Gesellschaft als auch beim Entwerfen von Reformkonzepten, die der neuen Situation entsprechen.7 Eine Debatte über Verfassungsprinzipien, eine abstrakt-formale Gerechtigkeit und aus philosophischen Systemen abgeleitete Ordnungsentwürfe liegen jenseits des Horizontes der politischen Machthaber. Die Regierenden bemerken weder, was in der Gesellschaft tatsächlich geschieht, noch was ihnen droht, weil sie diese »Debatte der Träumer« nicht als ordnungs-gefährdend erkennen. (Fs) (notabene)

115a Tocqueville betont, für die Analyse der vorrevolutionären Situation in Frankreich sei die Untersuchung der abstrakten Doktrinen wichtiger als die praktischen Überlegungen der Regierenden, und in diesem Zusammenhang nennt er die Verfechter der abstrakten Prinzipien der Aufklärung »Träumer«.8 Seine Kritik zielt auf jenen Glauben der Aufklärung, man könne jede beliebige Gesellschaftsordnung vom Schreibtisch aus errichten und so eine menschliche und doch absolute Gerechtigkeit ohne Gott erreichen. Sie zielt zum anderen darauf, dass jene Prinzipien- und Doktrinendebatte der französischen Gesellschaft nicht die konkreten Probleme der französischen Gesellschaft behandelt, keinen realen Ort hat, auf den sie sich bezieht, und keine soziale und politische Realität hat, mit der sie sich auseinander setzt. (Fs) (notabene)

115b Der Träumer und Ideologe, der in die Welt seiner Fantasien und »Modelle« flieht, bewegt sich nicht in der Welt der Erfahrungen, die für die Wachenden der verlässliche Bereich ist, den sie gemeinsam haben, der Ort ordnenden Denkens, Redens und Handelns der Menschen. Wahrscheinlich ist eine der Ursachen für die radikale Dynamik ideologischer Revolutionen in der Realitätslosigkeit der Literaten zu sehen, die die Gedanken der Revolutionäre geprägt haben. Tocqueville betont diese Tatsache für die Französische Revolution und kritisiert die Losgelöstheit der Aufklärungsschriftsteller von der konkreten Realität ihres Landes. Tatsächlich müssen natürlich Revolutionäre den Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie nicht unter Beachtung der konkreten Bedingungen und Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft denken und handeln. Das Entwickeln abstrakter »Ordnungsmodelle« und der Glaube, alles stünde zur Disposition der Handelnden, signalisieren eine Weltlosigkeit im Bewusstsein der Revolutionäre, die zusammen mit den Handlungsmöglichkeiten in der Revolution zu fantastischen Ergebnissen führen muss. Der Ort der Revolution ist so tatsächlich zuerst das Bewusstsein der Revolutionäre; die Gesellschaft, ihre Institutionen und letztlich die Bürger werden zu disponiblen Gegenständen, die sich gefälligst nach dem Bewusstsein des Revolutionärs zu richten haben. (Fs) (notabene)

116a Weltlosigkeit und allgemeine Menschheitsideen verführen die Revolutionäre in der Folge zum großen Pathos der neuen Ordnung, das eben keine Rücksicht auf die vorgefundene Wirklichkeit mehr nimmt. Die Welt soll nach den eigenen Träumen gestaltet werden, die Revolution richtet sich am Bewusstsein der immer realitätsfeindlicher werdenden Revolutionäre aus. Das revolutionäre Denken, das sich an der eigenen Radikalität berauscht, verselbstständigt sich. Nicht mehr die Freiheit, sondern die Revolution selbst und ihre Fortsetzung gegen eine sich sträubende gesellschaftliche Realität werden zum Ziel der Überlegungen. (Fs) (notabene)

116b Diese Tendenz der Perpetuierung der Revolution sieht Tocqueville nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass das »wahre Ziel der Revolution weniger eine Regierungsform als eine soziale Ordnung war, weniger die Eroberung öffentlicher Rechte als die Zerstörung von Privilegien«9. Das heißt, die Revolution hat das Ziel der sozialen Gleichheit und wird deshalb so lange weitergehen, wie das letzte große Privileg, das Eigentum, weiterbesteht.10 Tocqueville hat diesen Gedanken der Interpretation der Französischen Revolution unter ihrer Zielsetzung völliger sozialer Gleichheit nicht mehr zu Ende geführt11, stellt aber fest, dass die neu entstandene »Rasse« der Revolutionäre unter anderem deshalb so ungestüm, gewalttätig und gegen die Rechte Einzelner eingestellt sei, weil sie aus der Schicht der De-pravierten kommt.12 Die intellektuellen Führer der Revolution finden insbesondere um 1789 Gefolgschaft in einer Bevölkerung, die nicht vom später vorherrschenden Wunsch nach Stabilität und Ruhe bestimmt ist. Frankreich ist zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution nicht industrialisiert und hat damit noch keine Bevölkerung, »die den inneren Frieden brauchte und glaubte, ihn unbedingt nötig zu haben, um zu leben«13. Tocqueville deutet hier eine These an, die - allerdings unter völlig anderen Vorzeichen und kombiniert mit der Unterstellung, durch das Ausbleiben der »letzten« Revolution sei das Reich der Freiheit verpasst worden - von Herbert Marcuse vertreten wird. Marcuse ist der Überzeugung, durch die Manipulation der Konsumwünsche der Bürger und ihre Disziplinierung im industriellen Arbeitsprozess sowie durch die gestiegenen Annehmlichkeiten der Industriegesellschaften wäre eine Revolution heute unmöglich. Ähnlich äußert sich Tocqueville, allerdings ohne die Untertöne Marcuses, der von der Revolution Erlösung erwartet von »den vielen kleinen Annehmlichkeiten, die zu Bedürfnissen der Völker unserer Tage werden und die ihnen die innere Ruhe um jeden Preis notwendig machen«14. (Fs)

117a Tocqueville weiß sehr wohl, dass es auch ökonomische Bedingungen gibt, die den Ausbruch der Revolution begünstigten15, aber für ihn sind die Bewusstseinslagen der handelnden Revolutionäre, der ihnen folgenden Massen und der von der Revolution angegriffenen Regierenden nicht nur für den Ausbruch, sondern auch für den Verlauf der Revolution von entscheidender Bedeutung. (Fs)

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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Französische Revolution: Verlauf; Traum der Revolutionäre; Einbruch der Wirklichkeit in den Traum;

Kurzinhalt: Die Erfahrung, dass die konstruierende Vernunft die Wirklichkeit nicht nach ihrem Bild neu zu errichten vermag, zerstört die Traumwelt menschheitsbeglückender Spekulation ... So tritt der Despotismus das Erbe der Revolution an ....

Textausschnitt: Der Verlauf der Revolution

118a Im Jahre 1789 war die gesamte französische Nation von einem revolutionären und politischen Geist bestimmt, der jedermann über seine engen persönlichen, ökonomischen, sozialen oder ständischen Interessen hinaushob. Das öffentliche Wohl bestimmte Handlungen und Gedanken der Akteure: »Ich glaube nicht, dass es jemals in der bekannten Geschichte irgendwo auf der Welt eine vergleichbare Zahl von Menschen gab, die so ernsthaft vom öffentlichen Wohl bestimmt waren, die so wahrhaftig ihre Interessen vergaßen, die so völlig in der Überlegung eines großen Werkes gefangen waren, die so entschieden waren, alles, was Menschen an Teurem im Leben haben, einzusetzen, und die so sehr davon in Anspruch genommen waren, sich über die kleinen Leidenschaften ihrer Herzen hinauszuheben. Dies ist der gemeinsame Grund der Leidenschaften, des Mutes und der Hingabe, aus dem alle großen Handlungen, die die Französische Revolution erfüllen werden, hervorgingen.«1 Mit diesen Worten schildert Tocqueville das geistige Klima direkt vor dem Ausbruch der Revolution, und es ist nicht zu übersehen, dass in dieser begeisterten Schilderung gleichzeitig eine kritische Distanz zum »juste milieu« seiner Zeit und zum politischen Krämergeist der späteren Phase der Entwicklung, in der Tocqueville lebt, sichtbar wird. Wie konnte dieser Geist des Neubeginns, der Freiheit und der Selbstlosigkeit verloren gehen? Wie ist es möglich, dass die Franzosen von 1789 bis 1799 ihre Liebe zur Freiheit so radikal aufgaben und den wahren Wert der Freiheit vergaßen? (Fs)

118b Die Überschätzung der realen Möglichkeiten, die zum Wunsch nach einer Reform von allem und jedem führte, die sich nicht beschied, die vielmehr alte Bräuche, Meinungen und Gewohnheiten, eben alles in der Gesellschaft auf einmal ändern wollte und die deswegen auch zu einer allgemeinen Erschütterung der moralischen Welt führte, erzwingt letztlich den Zusammenbruch des revolutionären Geistes. Die Realität erweist sich als stärker. Der Traum der Revolutionäre kann nicht ewig dauern. Das Bewusstsein der Revolutionäre hat sich zu weit von den konkreten Gegebenheiten der Gesellschaft entfernt; der Druck der Wirklichkeit zwingt sie in die Realität zurück. Die Erfahrung, dass die konstruierende Vernunft die Wirklichkeit nicht nach ihrem Bild neu zu errichten vermag, zerstört die Traumwelt menschheitsbeglückender Spekulation. Tocqueville spricht in diesem Zusammenhang von einem »Fall« (chute), der die Revolutionäre in die Welt zurückführt.2 (Fs)

119a Dieser »Fall«, nämlich das Einbrechen der Realität in die Träume und literarischen Fantasievorstellungen der Revolutionäre, führt zu jenem eigenartigen Bruch im revolutionären Bewusstsein, der wahrscheinlich ein Hauptcharakteristikum der Entwicklung der Französischen Revolution ist. (Fs) (notabene)

119b Der Revolutionär erwacht aus seinem Traum, aufgeweckt von den harten Rückschlägen der Erfahrung einer widerstehenden Gesellschaft, und wird auf sich und seine persönlichen Interessen zurückgeworfen. Das Ergebnis: Wenn man schon die erträumte totale Freiheit nicht erreichen kann, will man wenigstens für sich selbst die Früchte der Revolution retten. Ein neuer Egoismus macht sich als Folge der gescheiterten Hoffnungen breit. »Was die Menschen in langen Revolutionen aber am meisten demoralisiert, sind weniger ihre Fehler oder gar ihre Verbrechen, die sie im Feuer ihrer Leidenschaften und ihres Glaubens begehen, als vielmehr das Misstrauen, das sie gegenüber eben jenem Glauben und eben ihren Leidenschaften entwickeln, die sie zu Handlungen trieben. Jetzt sind sie ermüdet, ernüchtert und enttäuscht und wenden sich zuletzt gegen sich selbst und finden, dass sie kindisch in ihren Hoffnungen, lächerlich in ihrer Begeisterung und vor allem noch lächerlicher in ihrer Hingabe gewesen seien.«3 Jetzt findet jene Besinnung auf die eigenen Interessen statt, auf die man sich im Gegensatz zum eigenen Enthusiasmus meint verlassen zu können. Gesellschaft und Politik werden nur noch als Mittel gesehen, privaten sozioökonomischen Zielen nachzujagen.4 Die Gesellschaft wird in den Augen ihrer Bürger zur Aktiengesellschaft. (Fs)

120a Und die Revolution? Sie wird weiter bejaht. Nicht, weil sie Freiheit stiften wollte - diese hat man ja als allgemeines Menschheitsideal verfolgt und nicht erreicht. Die Revolution wird bejaht als die Schöpferin der neuen Ordnung5, die jedem den Verfolg seines privaten materiellen Glücks erlaubt. Sie wird bejaht, weil sie die Abschaffung der Adelsprivilegien gebracht hat, und deren Früchte will man - besonders im wirtschaftlichen Bereich - ernten. Die Gesellschaft der Konsumhedonisten, der Wirtschaftsbürger tritt das Erbe der Revolution an, die ihr ursprüngliches Ziel, die Freiheit, verpasste. (Fs)

120b Die Revolution hat die alten Privilegien beseitigt, Traditionen und die als selbstverständlich akzeptierte überkommene Feudalordnung zerstört. Ihr Abfallen vom Ziel der Freiheit und der Selbstregierung hat Besitzstreben und privaten Individualismus freigelegt und zum bestimmenden Faktor der sozialen Ordnung gemacht. Diese privatistische Haltung der Bürger und Regierenden wie auch die noch immer vorhandenen utopischen Ziele erweisen sich nun freilich selbst als gefährdend für die neue Ordnung: An die Stelle des Strebens nach Freiheit tritt das Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz vor utopischen Träumern und Stabilität, die allein die Konzentration auf wirtschaftliche Ziele ermöglichen. Ruhe und Stabilität sind nicht mehr Bedingungen der Freiheit, sondern selbst oberstes Ziel der öffentlichen Ordnung. Die politische Verfassung wird unter diesem Ziel gesehen, und ein möglicher Usurpator kann leicht den Anschein erwecken, die gewünschte Stabilität noch besser zu garantieren als die Republik. Der erfolgreiche Putsch von Louis Napoleon verschiebt die Beweislast vor den Augen der an Ruhe interessierten Bürger zu denen hin, die Widerstand leisten wollen: Das Ziel der Stabilität macht Freiheit entbehrlich. (Fs)

121a So tritt der Despotismus das Erbe der Revolution an, die ihr Ziel der Freiheit enttäuscht durch Besitzstreben ersetzte. Eine allmächtige Bürokratie garantiert dem Land die gewünschte Stabilität und handelt sich dafür das Recht ein, die Politik bei sich zu monopolisieren und die Bürger von den allgemeinen Angelegenheiten fern zu halten. (Fs)

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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Französische Revolution: Dynamik

Kurzinhalt: Nicht mehr die Freiheit, sondern das Streben nach Gleichheit wird verlaufsbestimmend, die Revolution mündet in die Diktaturen von Napoleon I. und Napoleon III.

Textausschnitt: Die Dynamik des revolutionären Prozesses

121b Am Beginn der Revolution steht der Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Stellung des Adels und der Geistlichkeit, die in wirtschaftlichen Privilegien sichtbar wird, und der Bedeutung des aufsteigenden Großbürgertums. Die Institutionen sind nicht an die neue Situation und die neuen Bedürfnisse der Menschen angepasst.1 Die Welt- und Praxislosigkeit der revolutionären Intellektuellen, die die wichtigsten Repräsentanten des revolutionären Bewusstseins sind, schafft im Verlauf des Revolutionsprozesses einen neuen Gegensatz zwischen den revolutionären Zielen und den durch sie bestimmten Handlungen auf der einen und den tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten der Gesellschaft auf der anderen Seite. Der revolutionäre Prozess zerbricht an der widerstrebenden gesellschaftlichen Realität, die sich als stärker erweist. Die Revolution ändert ihre Richtung: Nicht mehr die Freiheit, sondern das Streben nach Gleichheit wird verlaufsbestimmend, die Revolution mündet in die Diktaturen von Napoleon I. und Napoleon III. ein. Die Freiheit wird der Gleichheit geopfert. Dieser Verzicht auf Freiheit ist die Folge der Desillusionierung der revolutionären Bewegung, die ihren eigenen Idealen und Wunschträumen abschwört und an deren Stelle kleinbürgerlich-materielle Wünsche nach Wohlstand und wirtschaftlicher Stabilität verfolgt. Die Träume und Illusionen jener der praktischen Vernünftigkeit entfremdeten Revolutionäre aber werden in die geistige Subkultur der Gesellschaft zurückgedrängt, wo sie fortleben2 und mit ihren radikal
-egalitären Forderungen immer wieder in die Politik einzudringen drohen. (Fs) (notabene)

122a Damit der verschüttete revolutionäre Impetus erneut wirksam werden kann, muss ein Teil der politisch herrschenden Schicht die Führung übernehmen. »Die Erfahrungen der letzten siebzig Jahre haben bewiesen, dass das Volk allein keine Revolution machen kann; solange dieses notwendige Element der Revolutionen auf sich selbst angewiesen ist, ist es ohnmächtig. Das Volk wird erst in dem Augenblick unwiderstehlich, in dem sich ein Teil der Führungsschicht ihm beigesellt; und dieser gewährt dem Volk erst dann moralische Unterstützung oder materielle Zusammenarbeit, wenn er nichts mehr von ihm befürchtet. Dies ist die Ursache dafür, dass in den letzten sechzig Jahren jeweils dann, als die Regierung am stärksten schien, der Anfang jener Krankheit sie befiel, die sie untergehen ließ.«3 Mit anderen Worten, die Ursache für den Wechsel von stabilen Phasen und revolutionären Ereignissen im Verlauf der Revolution liegt in der spirituellen Gespaltenheit der französischen Gesellschaft, deren gemeinsame äußere Ordnung nicht durch entsprechende Gemeinsamkeit im Bewusstsein gesichert ist. Sobald der Anschein äußerlicher Ruhe weitergehende Stabilität vortäuscht, tritt die Segmentierung der Gesellschaft wieder in Erscheinung. Die Revolutionäre der Führungsschicht meinen, sich ohne Gefahr für die äußere Ordnung mit den Volksmassen verbinden zu können: Eine neue Phase des Umsturzes beginnt. (Fs)

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