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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Omnipotenzprinzip (Blumenberg) - Nezessitarismus (Plato, Aristoteles); potentia absoluta - ordinata; zweifache Freiheit; Ockham - Augustinus; Kontingenz, Kontingenzprinzip

Kurzinhalt: An die Stelle der augustinischen Erkenntniserweiterung durch Illumination setzt Ockham die Erkenntniskritik ...; daß die natürliche Vernunft infolge ihrer Endlichkeit die Welt zwar als rational, nicht aber als notwendig zu denken vermag ...

Textausschnitt: 36a Ockhams Denken ist durchgängig und nachhaltig von drei Prinzipien geprägt: vom Omnipotenz-, vom Widerspruchs- und vom Ökonomie-Prinzip. Das Omnipotenzprinzip, auch Prinzip der göttlichen Allmacht genannt, besagt, daß Gott in seinem Handeln durch nichts und niemanden eingeschränkt ist. Er ist absolut frei, sein Tun und Lassen unterliegt keinerlei Notwendigkeit. Mit einer einzigen Ausnahme: Gott vermag nichts Widersprüchliches zu tun oder zu schaffen. Das Widerspruchsprinzip besagt, daß ein Sachverhalt nicht zugleich bestehen und nicht bestehen kann. Ob das Widerspruchsprinzip, das man genauer als Prinzip der Widerspruchsfreiheit bezeichnen muß, das Omnipotenzprinzip einschränkt, wird uns noch beschäftigen. Soviel aber sei schon jetzt festgestellt: Das Omnipotenzprinzip gilt naturgemäß nur für Gott, das Widerspruchsprinzip hingegen für Gott und Mensch. Das Ökonomieprinzip schließlich, wonach in der Erklärung von Sachverhalten nicht mehr Annahmen gemacht werden sollen, als unbedingt notwendig ist, gilt ausschließlich für den Menschen. Es würde Gottes Freiheit widersprechen, verpflichtete man ihn auf die Einhaltung des Ökonomieprinzips. Sehen wir uns diese drei Prinzipien und ihr inneres Verhältnis zueinander näher an. (Fs)


1. Das Omnipotenzprinzip

36b "Gott ist niemandes Schuldner" ("Deus nullius est debitor". OT VII, 45).1 Er hat die Welt und alles in ihr Befindliche aus freien Stücken geschaffen. Er hätte die Welt und jeden einzelnen Menschen oder Gegenstand auch anders erschaffen können, als er es de facto getan hat, ja, er besitzt die Freiheit, die Welt und alles in ihr Befindliche jederzeit zu ändern. Schrankenlose Allmacht? Nach Ockham gilt es hier zu unterscheiden: Notwendige Bedingung für die Existenz der Welt ist Gottes uneingeschränkte Allmacht ('potentia absoluta'), hinreichende Bedingung hingegen seine Macht, die Welt nach einem Ordnungskonzept zu schaffen ('potentia ordinata'). Man nennt dies die Theorie von Gottes "doppelter Allmacht",2 ein mißverständlicher Ausdruck. Gott verfügt nicht etwa über zweierlei Macht. Es ist vielmehr ein und dieselbe Allmacht, die sich auf eine zweifache Weise manifestiert: zum einen insofern, als Gott alles kann, zum zweiten insofern, als er sich innerhalb der unbeschränkten Möglichkeiten seines Könnens hinsichtlich der Ausübung seiner Allmacht in einer bestimmten Richtung oder Weise entscheiden kann. Dieser doppelten Manifestation göttlicher Allmacht entspricht eine doppelte Manifestation seiner Freiheit: Es ist die Freiheit der Wahl, und es ist die Freiheit der Entscheidung, seine Wahl auch in die Tat umzusetzen. Auch letzteres ist mißverstanden worden, so als habe Ockham die Welt einem 'Willkürgott' ausgeliefert. Diese seit der frühen Neuzeit gängige Deutung läßt sich leicht widerlegen, beruht sie doch auf der offensichtlichen Verwechslung von göttlicher Freiheit und der standpunktgebundenen menschlichen Beurteilung derselben. Der Mensch ist versucht, nur das für eine Manifestation von Freiheit gelten zu lassen, was er in den Grenzen seiner eigenen Vernunft und Freiheit als solches zu begreifen vermag. (Fs) (notabene)

37a Subtiler ist eine andere, in unseren Tagen vorgetragene Deutung: Wenn mit der tatsächlich vorhandenen Welt aus der Sicht Gottes nur eine der möglichen Welten erschaffen worden ist, wenn es zu ihrer Erschaffung keine wie auch immer geartete Notwendigkeit gegeben hat, ist dann nicht die Welt ein "pures Faktum verdinglichter Allmacht", Resultat des "unbefragbaren Willens" Gottes, dessen Entscheidung "unergründlich" ist?1 Wenn die Welt nur eine der möglichen Welten ist, noch dazu eine solche, die Gott jederzeit ändern kann, so scheint es keine "ratio creandi, keine Begründung für die Erschaffung der Welt"2 zu geben. In solchem Licht sieht Hans Blumenberg den Gott der Nominalisten; dieser stehe "mit seinem Werk in dem weitesten Horizont der widerspruchslosen Möglichkeiten, innerhalb dessen er wählt und verwirft, ohne daß das Resultat Rechenschaft über die Kriterien seines Willens ablegt".3 Philosophisch gesprochen würde dies bedeuten: Da die Welt nur eine der möglichen Welten ist, die Gott aufgrund seiner unendlichen Freiheit schaffen kann, gibt es für den Menschen keinerlei Garantie, daß seine Weltdeutung irgendwo sicheren Boden findet. Gegenüber der Allmacht Gottes, so wie Blumenberg sie versteht, nimmt sich die menschliche Vernunft wie Ohnmacht aus. (Fs)

38a Eine solche Deutung der göttlichen Allmacht übersieht ein Zweifaches: zum einen, daß Ockham mit dem Omnipotenzprinzip etwas ganz anderes beabsichtigt, nämlich den Nezessitarismus des antiken Denkens endgültig zu verabschieden, und zum zweiten, daß das Prinzip der göttlichen Allmacht durch ein weiteres Prinzip vor Willkür bewahrt wird, durch das Widerspruchsprinzip. Den Nezessitarismus Platons, für den "das Werden dieser Weltordnung ... einer Vereinigung von Notwendigkeit und Vernunft"1 entstammt, und des Aristoteles, für den "das Seiende, sobald es existiert, notwendig ist",2 mit Vernunftgründen überwunden zu haben, ist eine der großen intellektuellen Leistungen des Mittelalters. Ockham hat daran maßgeblichen Anteil. Veranlaßt wurde dieselbe fraglos durch den Offenbarungsglauben, welcher einen Anfang der Welt und alles in ihr Seienden in der Zeit lehrt. Für die Philosophie hat dies die doppelte Konsequenz, daß zum einen die Welt nicht mehr als ein in sich notwendiger Kosmos, sondern als eine der möglichen Welten im Universum angesehen wird, und zum zweiten, daß die menschliche Vernunft die Rationalität der Welt und ihrer Entstehung nur mehr in dem Maße aufdecken kann, in dem es gelingt, in den göttlichen Ideenplan Einblick zu gewinnen. (Fs) (notabene)

38b Wieweit dies möglich ist, ist im Mittelalter Gegenstand tiefgreifender Diskussion gewesen. Für Augustinus, der, in der platonisch-neuplatonischen Tradition stehend, die Ideen zu Gedanken Gottes transformiert hat und den Zugang hierzu durch göttliche Erleuchtung ('illuminatio') des menschlichen Verstandes ermöglicht sieht, führt der Weg von der Abwendung von der dinglichen Welt hin zum eigenen Selbst und von dort zum göttlichen Licht. Für Ockham hingegen, der die natürliche Vernunft in ihren eigenen Möglichkeiten auszuschreiten sucht, geht mit der prinzipiellen Rationalität von Gottes schöpferischer Freiheit nicht notwendig die vollständige Einsehbarkeit derselben seitens der menschlichen Vernunft einher. An die Stelle der augustinischen Erkenntniserweiterung durch Illumination setzt Ockham die Erkenntniskritik: In dem Augenblick, da die menschliche Vernunft die Welt nicht mehr als die notwendige Welt begreifen kann, sondern als eine der möglichen Welten denken muß, erfährt sich die menschliche Vernunft als eine solche, die neben ihren rationalen Möglichkeiten die eigene Begrenzung erkennen muß.1 (Fs) (notabene)

39a Mit dem zuletzt Gesagten sind wir an einer Nahtstelle zwischen theologischem und philosophischem Denken angelangt: Das Theologumenon von der göttlichen Allmacht hat seine philosophische Entsprechung in dem Umstand, daß die natürliche Vernunft infolge ihrer Endlichkeit die Welt zwar als rational, nicht aber als notwendig zu denken vermag. Im Unterschied zur theologischen ist diese Endlichkeit jedoch keine solche in der Zeit, sondern eine solche der kognitiven Potenz. Die natürliche Vernunft ist nicht schon deswegen endlich, weil sie an die biologische Existenz des Menschen in der Zeit gebunden ist, sondern weil sie in jedem Augenblick dieser Existenz eine geschaffene Vernunft ist und bleibt. Die Endlichkeit der Vernunft ist insoweit eine Folge der Kontingenz alles (außerhalb Gottes) Existierenden. Ockhams gesamtes Denken läßt sich als ein solches im Horizont der Kontingenz bezeichnen, und zwar insoweit, als es nach ihm außerhalb Gottes als dem einzigen notwendigen Sein keine notwendigen, sondern nur kontingente Dinge gibt. Das philosophische Pendant zum theologisch fundierten Omnipotenzprinzip ist mithin das Kontingenzprinzip. Es besagt: Was immer außerhalb Gottes ist: es kann nur als ein solches gedacht werden, das auch anders hätte ausfallen können, ja das jederzeit geändert werden kann. Hierzu bedarf es freilich der Erfüllung einer einzigen weiteren Bedingung, derjenigen der Widerspruchsfreiheit. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Widerspruchsprinzip: nicht nur logisch, sondern epistemologisch

Kurzinhalt: Widersprüchlichkeit und Erkennbarkeit schließen einander nicht nur logisch, sondern auch epistemologisch aus. Daraus folgt ...

Textausschnitt: 40a Das Widerspruchsprinzip gilt für jedes Philosophieren. Wenn es eigens ein wichtiges Prinzip des Ockhamschen Denkens genannt wird, so deswegen, weil Ockham ihm eine besondere Bedeutung gegeben hat. Zur Erinnerung: Die Formulierung des Widerspruchssatzes findet sich erstmals bei Aristoteles, der es für unmöglich hält, "daß dasselbe demselben unter der gleichen Rücksicht zugleich zukommt und nicht zukommt".1 Damit ist die logische Bedeutung dieses Prinzips genannt: Es ist ausgeschlossen, daß zwei Aussagen, die ein und demselben Subjektterm dasselbe Prädikat einmal zu- und im gleichen Augenblick und unter den gleichen Bedingungen absprechen, gleichzeitig wahr sind. In seiner logischen Form gilt der Satz vom Widerspruch für jedes Philosophieren. Doch Ockham geht einen Schritt weiter, indem er betont, daß Widersprüchliches unmöglich Gegenstand von Erkenntnis sein kann. Widersprüchlichkeit und Erkennbarkeit schließen einander nicht nur logisch, sondern auch epistemologisch aus. Daraus folgt, daß alles, was prinzipiell erkennbar ist, nach Ockham zugleich prinzipiell widerspruchsfrei sein muß (vgl. OT II, 313 f). Sodann hat Widerspruchsfreiheit - der deutsche Terminus Widerspruch weist ebenso wie sein lat. Äquivalent 'contradictio' darauf hin - mit Aussagen bzw. deren logischer Form, d.h. mit Sätzen zu tun. Ein Widerspruch liegt z.B. dann vor, wenn von den Aussagen "X ist a" und "X ist nicht-a" behauptet wird, sie seien zur gleichen Zeit und in gleicher Hinsicht wahr. Dies wäre nur dann möglich, wenn das X im ersten Satz für etwas anderes stünde als im zweiten Satz, d. h., wenn es sich nicht um einen, sondern um zwei verschiedene Gegenstände handelte. In diesem Sinne nennt Ockham den Widerspruchssatz den "zuverlässigsten Weg des Nachweises der Unterschiedenheit der Dinge" (OT I, 174). Der Widerspruchssatz reicht damit weit über den Bereich der Logik hinaus in den des Erkennens und nicht zuletzt in den des Seienden hinein: Alles Seiende ist nach Ockham singuläres Seiendes, und Widerspruchsfreiheit ist ebenso Garant für wie Ausdruck von Singularität. (Fs)

41a Kontradiktorisches, so kann man es auf den Punkt bringen, kann man nach Ockham weder aussagen (es wäre unwahr) noch erkennen (es wäre kein Erkenntnisobjekt) noch antreffen (es besäße keine singuläre Existenz). Hier wird deutlich, warum das Widerspruchsprinzip nicht nur für den Menschen, sondern auch für Gott gilt: Gott vermag nichts zu tun und zu bewirken, was einen Widerspruch in sich enthielte (OT IV, 36). Alles, was er tut, und alles, was er tun könnte, ist gleichermaßen widerspruchsfrei. Schränkt dies nicht seine Allmacht ein? Ockham antwortet darauf: Nein, "denn Gott vermag nichts ungeordnet zu tun" ("quia Deus nil potest facere inordinate". OT IX, 585/6). Alles was Gott zu tun und zu schaffen vermag, besitzt eine Ordnungsstruktur. Das Kontradiktorische hingegen besitzt eine solche Ordnungsstruktur nicht, es hat mithin in Gott keinen Platz. Das Omnipotenzprinzip steht insoweit nicht im Gegensatz zum Widerspruchsprinzip; vielmehr muß letzteres nachgerade als Bedingung des ersteren angesehen werden. Damit verbietet sich zugleich die Deutung göttlicher Allmacht als schrankenlose Willkür: Die göttliche Allmacht ist - weil untrennbar mit Widerspruchsfreiheit verbunden - eine prinzipiell und ausnahmslos geordnete; sie als eine solche zu betrachten, die der Willkür und Unordnung fähig wäre, hieße einen grundsätzlichen Widerspruch in den Gottesbegriff hineintragen. Darin, daß Gott zwischen den unendlichen Möglichkeiten widerspruchsfreien Tuns wählen kann, liegt seine Freiheit. Die Dinge, welche Gott aus der unbegrenzten Menge seiner schöpferischen Möglichkeiten auswählt, stehen ausnahmslos in einem rationalen Kontext. "Gott erkennt die Dinge, bevor er sie erschafft ...; er heißt mithin mit Recht ein rational Handelnder" ("Deus ipsasmet res praecognoscit quas postea producit ...; ideo dicitur rationabiliter operans." OT IV, 504). (Fs)

41a Daß Gott sich selbst als einen widerspruchsfrei Handelnden begreift, bedeutet freilich nicht, daß dies auch dem Menschen im vollen Umfang möglich wäre. Die Vernunft des Menschen ist eingeschränkt, weil und insoweit sie sich nur im Rahmen und auf dem Boden ihrer eigenen Möglichkeiten bewegen kann. Hierauf wird im folgenden Kapitel näher einzugehen sein. Nur soviel sei schon jetzt gesagt: Nach Ockham unterliegt alles menschliche Erkenntnis- und Wissensstreben dem Gebot der Ökonomie. Dasselbe besagt: Was sich mit einfacheren Annahmen erklären läßt, das wird umsonst mit komplizierteren versucht. Daß es sich dabei um ein Grundprinzip Ockhamschen Denkens handelt, soll im folgenden gezeigt werden. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Ökonomieprinzip, Rasiermesser (rasorium): kein ontologisches Prinzip - Vermeidung eines Parallelismus zwischen Dingen und Begriffen

Kurzinhalt: Kurz: Der 'Razor' Ockhams ist kein gegenstandsbezogenes Prinzip, sondern eine erkenntnis- und wissenschaftsleitende Maxime, dies freilich nicht im Kantischen Sinne ...

Textausschnitt: 3. Das Ökonomieprinzip

41b Es gehört zu den Paradoxien der Wirkungsgeschichte Ockhams, daß das Wenige, was über die Jahrhunderte bis heute von ihm einen relativ weiten Bekanntheitsgrad besitzt, in dieser Form gar nicht von ihm stammt. Gemeint ist das berühmte 'Rasiermesser' ('rasorium'), welches seit je her in der Form zitiert wird: "Seiendes darf nicht ohne Not vervielfacht werden" ("entia non sunt multiplicanda sine necessitate").1 Diesem Prinzip zufolge sollen "überflüssige Entitäten" vermieden bzw., wenn sie dennoch angenommen werden, 'wegrasiert' werden. Das Ökonomieprinzip hat, so verstanden, eine eindeutig ontologische Funktion. Doch ist es wirklich möglich, irgendwelche 'Dinge' für 'überflüssig' zu erklären und sie deswegen zu eliminieren? Dies zu bejahen hieße behaupten, die Welt und alle Dinge in ihr seien nichts anderes als eine Projektion des menschlichen Geistes, dergestalt, daß sich ihr Umfang nach Belieben erweitern oder vermindern ließe. Einen derartigen Standpunkt hat weder das Mittelalter im allgemeinen noch Ockham im besonderen vertreten. Für ihn ist die Wirklichkeit eine solche radikaler Singularität alles Seienden. Das Seiende aber ist durchgängig kontingent, d.h. frei von jedweder ontischer Notwendigkeit. Das Ökonomieprinzip könnte nur dann ein ontologisches Prinzip sein, wenn man von der Annahme ausginge, die Welt und das in ihr Seiende gehorche dem Prinzip der Sparsamkeit, und zwar so, daß die Wirklichkeit ohne Beachtung des Ökonomieprinzips abundant und einzig mit ihm angemessen strukturiert wäre. Dies aber würde eine Notwendigkeitsstruktur in die Welt hineintragen, die sie infolge ihrer Kontingenz nicht besitzen kann. Die Welt und alles in ihr Seiende muß als Resultat der unbegrenzten Freiheit eines Schöpfers gedacht werden, welcher in seinem Tun und Lassen an keinerlei Ökonomie gebunden ist. "Es gibt viele Dinge, die Gott mit einem größeren Aufwand tut, die er aber auch mit einem geringeren Aufwand tun könnte" (OT III, 432, vgl. OT IX, 450). Die Wiedergabe des Ökonomieprinzips in der Form, es sei 'Seiendes' ('entia'), welches nicht vervielfältigt werden dürfe, ist Resultat der Verdinglichung eines seiner Natur nach methodologischen Prozesses, welcher als solcher Ausdruck grenzenloser Freiheit ist. Eben deswegen gilt dieses Prinzip nicht für Gott, weil dieser mit seiner Allmacht nicht ökonomisch umgehen muß; wohl aber gilt es für den Menschen, der mit Hilfe der natürlichen Vernunft Einblick in die zwar widerspruchsfreie, aber kontingente Wirklichkeit zu erhalten versucht. (Fs)

43a So gibt denn auch Ockham in Wirklichkeit dem Ökonomieprinzip zwei gänzlich anderslautende Formulierungen als die seit Jahrhunderten tradierte. Anstelle der Forderung, es seien die 'Dinge', die nicht vervielfältigt werden dürfen, heißt es bei ihm (A) "Umsonst geschieht durch Mehreres, was sich mit Wenigem tun läßt" ("frustra fit per plura quod fieri potest per pauciora"),2 und (B) "Eine Mehrheit darf nicht ohne Not zugrundegelegt werden" ("pluralitas non est ponenda sine necessitate").3 Beiden Formulierungen gemeinsam ist, daß in ihnen jeweils von einer 'Mehrheit' die Rede ist, welche umsonst angenommen wird bzw. gar nicht angenommen werden darf. Was damit gemeint ist, wird offenbar, wenn man sich die Verwendungsweise des 'Rasiermessers' ansieht. So ist es nach Ockham z.B. überflüssig bzw. unsinnig zu behaupten, jemand sei "aus Gerechtigkeit ein Gerechter" ("iustus iustitia") oder das Geeignete sei "infolge seines Geeignetseins geeignet" ("aptum est aptum aptitudine") oder die Chimäre sei "ein Nichts infolge ihrer Nichtigkeit" ("nihil nihilitate") (OP I, 169). Damit ist nicht gesagt, Termini wie 'Gerechtigkeit', 'Geeignetsein' oder 'Nichtigkeit' seien bedeutungslos. Was Ockham für überflüssig bzw. für nicht angezeigt hält, ist die Annahme, man könne jemanden gerecht, eine Sache geeignet und eine Chimäre ein Nichts nur dann nennen, wenn man die Existenz der Gerechtigkeit, des Geeignetseins und des Nichts voraussetzt. Nach Ockham sind das allesamt überflüssige Annahmen: Der Gerechte ist nicht deswegen gerecht, weil es die Gerechtigkeit gibt, das Geeignete nicht deswegen geeignet, weil es das Geeignetsein gibt, die Chimäre nicht deswegen nichts, weil es das Nichts gibt. Derartige Annahmen beruhen auf einer Verwechslung von Verursachungs- und Erklärungszusammenhängen: Es besteht keinerlei Notwendigkeit, für gerechtes Handeln, für Geeignetsein und für das Nichts die Existenz einer Ursache wie Gerechtigkeit, Geeignetheit und das Nichts anzunehmen; es genügt vielmehr, hierin Bedingungsverhältnisse zu sehen: Wenn jemand nach dem Prinzip x handelt, dann wird er gerecht genannt; wenn eine Sache die Voraussetzung y erfüllt, dann ist sie geeignet; wenn etwas nicht existiert, dann ist es ein Nichts, etc. Auch ist es, um ein weiteres Beispiel zu geben, nach Ockham nicht sinnvoll zu behaupten, jemand sei Vater infolge der Vaterschaft, weil man sich damit auf die Annahme der Existenz von so etwas wie 'Vaterschaft' verpflichten müßte, was völlig überflüssig ist. Man wird die Verpflichtung auf so etwas wie 'Vaterschaft' schnell los, wenn man diesen Terminus ersetzt durch die Beschreibung 'hat ein Kind gezeugt'. Es ist ja nicht die Vaterschaft Ursache für das Kind, sondern der Vater. Dasselbe gilt von 'Mutterschaft' (zu ersetzen durch: 'hat ein Kind geboren') und Mutter. Bei der Erklärung solcher Sachverhalte soll man nicht unnötige und vor allem keine irreführenden Annahmen machen. Eine erfolgreiche Methode, dies zu vermeiden, ist die der Ersetzung von Namen durch Beschreibungen ("utendo descriptione loco nominis"). Denn: "Wörter und Begriffe sind trügerisch" (OP I 169). Beschreibungen implizieren keine Existenzannahmen und können so vor unzutreffenden Ontologien erfolgreich bewahren. (Fs)

45a Hintergrund der These von der Notwendigkeit der Befolgung des Ökonomieprinzips ist Ockhams Bemühung, die Behauptung einer Art Parallelismus zwischen Dingen und Begriffen zu vermeiden. Die Annahme, es gäbe so viele Begriffe, wie es Dinge gibt ("tot notiones, tot res"), ist unsinnig, denn auf der Grundlage dieser Annahme läßt sich nicht mehr erklären, warum ein und dasselbe Ding ganz verschiedenen Begriffen zugeordnet werden kann. Modern formuliert: Nach Ockham ist es nicht sinnvoll bzw. gar nicht möglich, jeden Terminus als Namen für eine Sache zu konstruieren. Statt dessen muß man schauen, ob man nicht an die Stelle eines Namens eine Beschreibung setzen kann, etwa an die Stelle von 'Vaterschaft' die Beschreibung 'hat ein Kind gezeugt', um auf diesem Wege unnötige Existenzannahmen zu vermeiden. Was hier durch das 'Rasiermesser' wegrasiert wird, sind nicht Dinge, sondern Erklärungen, welche überflüssige, möglicherweise gar falsche Annahmen voraussetzen. Man soll, so die positive Formulierung des Ockhamschen Ökonomieprinzips, in der wissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen mit theoretischen Annahmen möglichst sparsam umgehen. Kurz: Der 'Razor' Ockhams ist kein gegenstandsbezogenes Prinzip, sondern eine erkenntnis- und wissenschaftsleitende Maxime, dies freilich nicht im Kantischen Sinne eines subjektiven Prinzips des Wollens, sondern im Sinne eines obersten Satzes ('maxima propositio'), einer Grundregel wissenschaftlichen Erklärens. (Fs)

45a Nicht um das Bestreiten oder Leugnen von Dingen geht es also, sondern um die ökonomische Reduktion der Hypothesen- und Theorienvielfalt, die man in der Erklärung der Phänomene annehmen kann, auf das Minimum dessen, was man annehmen muß. Dabei gibt es zwei verschiedene Arten von Fällen. Die einen sind dadurch gekennzeichnet, daß bei ihrer Behandlung die Reduzierung der Hypothesen- bzw. der Theorienvielfalt als ein Gebot der Zweckmäßigkeit und Praktikabilität erscheint, und die anderen dadurch, daß bei ihnen der Gebrauch nicht-notwendiger Annahmen schlechterdings zu vermeiden ist. Im ersten Fall spricht Ockham von fehlender Zweckdienlichkeit ("non oportet"), im zweiten Fall von fehlender Notwendigkeit ("nulla apparet necessitas". Vgl. OP I, 43 u. OT V, 404). Ockhams 'Rasiermesser' läßt sich mithin, je nach Bedarf, entweder als pragmatische Anleitung zu sparsamem Umgang mit Annahmen oder als eine streng zu beachtende Verfahrensvorschnft verwenden. (Fs)

46a Daß eine Theorie dem Ökonomiegedanken zufolge einfach aufgebaut ist, macht sie nicht notwendig wahr; daß sie kompliziert ist, macht sie nicht zwangsläufig (aber möglicherweise) falsch. So verstanden entspricht das Ökonomieprinzip bei Ockham demjenigen der Kontingenz: Da alles Seiende außerhalb Gottes ist, wie es ist, aber auch - sofern das Prinzip des Widerspruchs nicht verletzt wird - anders sein könnte als es ist, muß bei der Erklärung des Seienden mit Annahmen so sparsam wie möglich umgegangen werden. Positiv gewendet: Man muß dem Razor zufolge durchaus so viele Begriffe verwenden bzw. Annahmen machen, wie zur Erklärung der betreffenden Sache notwendig sind, und das können je nach Sachlage viele sein. Es dürfen nur nicht zu viele werden! Mit einem Wort: Die 'Ökonomie' des Ockhamschen 'Rasiermessers' ist keine solche der Einfachheit und Bequemlichkeit, sondern eine solche der Sparsamkeit und Sachangemessenheit. Nicht die Ökonomie bestimmt die wissenschaftliche Erklärung, sondern umgekehrt die wissenschaftliche Erklärung die Ökonomie. Ökonomie ist nur Mittel, nicht Zweck. Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis und Erklärung ist nicht Einfachheit, sondern Adäquatheit. Über das Vorliegen von Adäquatheit entscheiden nach Maßgabe der Art des Explanandum entweder Vernunft ('ratio') oder Erfahrung ('experientia') oder Autorität ('auctoritas'), letztere aber nur dann, wenn sie mit Sicherheit irrtumsfrei ist (eine Forderung, die nach Ockham nur die Hl. Schrift erfüllt). (Fs)

46b So wenig wie Ockhams Lehre von Gottes Allmacht und der radikalen Kontingenz der Welt zur Stützung der frühneuzeitlichen Theorie eines Willkürgottes reklamiert werden kann, so wenig läßt sich sein Ökonomieprinzip eo ipso als antimetaphysisch deuten. Allmachts- und Ökonomieprinzip müssen vielmehr in ihrem Zusammenhang - und d.h. in ihrem gemeinsamen Bezug zum Widerspruchsprinzip - gesehen werden: Die Welt und alles in ihr Seiende verdanken sich göttlicher Allmacht, welche vor dem Hintergrund der Unendlichkeit widerspruchsfreier Möglichkeiten schöpferisch tätig ist. Doch während der grenzenlosen Fülle göttlicher Ideen jede Reduktion auf Sparsamkeit wesensfremd ist, ist der Mensch in seinem Versuch, mit Hilfe der natürlichen Vernunft Einblick in die Welt und das in ihr Seiende zu erhalten, an das Prinzip des ökonomischen Umgangs mit der Vielheit möglicher Annahmen gebunden. Beides aber, das Prinzip göttlicher Allmacht und das Prinzip der Ökonomie menschlicher Erklärungsversuche, wird in seiner Rationalität durch das Prinzip des Widerspruchs garantiert. Obwohl die menschliche Vernunft in ihrer Endlichkeit die Welt und alles in ihr Seiende nicht aus Notwendigkeit heraus, sondern nur im Horizont der Kontingenz zu erkennen vermag, kann sie darauf vertrauen, daß die Welt, obwohl sie nur eine der möglichen Welten ist, widerspruchsfrei zu erklären ist. Dabei, so das Gebot der Ökonomie, erklärt der Mensch umsonst, wenn er zu mehr Annahmen Zuflucht nimmt, als zur Erklärung der Phänomene unbedingt nötig ist, und, so das Verbot der Ökonomie, er geht zu weit, wenn er in seiner Bemühung um Phänomenerklärungen zu Annahmen greift, die ihn auf die Existenz fragwürdiger Entitäten verpflichten. (Fs)

47a Die Einbindung von Allmachts- und Ökonomieprinzip in die Grenzen des Prinzips der Widerspruchsfreiheit und damit in eine gemeinsame Rationalität bedeutet freilich nicht, daß der menschlichen Vernunft ein ungehinderter Zugang zu Erkenntnis und Wissen zur Verfügung steht. Was Wissen ist und unter welchen Bedingungen es steht, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Erkenntnis 1: intuitiv, abstraktiv; Unterschied: Ockham - Duns Scotus; complexa - incomplexa; Beispiel (Sokrates);

Kurzinhalt:

Textausschnitt: 1. Intuitive und abstraktive Erkenntnis
49a Eine der wichtigsten Voraussetzungen von Erkenntnis bildet nach Ockham die Vertrautheit mit den dabei verwendeten Begriffen, welche in Aussagen als Subjekt- und Prädikattermini Verwendung finden. Die Verbindung von Begriffen in einem Satz heißt 'complexum'; vor ihrer Verbindung nennt man die Begriffe 'incomplexa'. Die Kenntnis noch nicht in einer Aussage verbundener Begriffe ist nach Ockham auf zweifache Weise möglich: zum einen aufgrund 'intuitiver', zum anderen aufgrund 'abstraktiver' Erkenntnis (vgl. OT I, 30ff). 'Intuitiv' ist hier nicht im heutigen Sinne als nicht-analytisch, sondern im ursprünglichen Sinne des Wortes als 'der Einsicht unmittelbar zugänglich' (von lat. 'intueri' = einsehen) zu verstehen. Ein Begriff vermittelt intuitive Erkenntnis dann, wenn mit seiner Hilfe entschieden werden kann, ob die begriffene Sache existiert oder zumindest existieren kann (vgl. OT I, 26/7). 'Abstraktiv' dagegen heißt diejenige Erkenntnis von Begriffen, welche von der Frage der realen oder möglichen Existenz oder gar Präsenz des von ihr Begriffenen absieht ('abstrahiert'). 'Notitia abstractiva' heißt darüber hinaus auch jene Kenntnis eines Begriffsinhalts, die sich der Abstraktion von einer Vielheit von Einzeldingen zu einem Allgemeinbegriff verdankt. Das Einzeldingliche ist in diesem Sinne sowohl intuitiv wie abstraktiv zugänglich, das Allgemeine, die Universalien, hingegen nur abstraktiv. Welche Bedeutung dies für den ontologischen Status des Allgemeinen hat, wird uns im V. Kapitel über Metaphysik beschäftigen. (Fs)

Kommentar (16.11.09): Schon die Formulierung zeigt die Wende von Einsicht - Begriff in Begriff - Einsicht: "... Ein Begriff vermittelt intuitive Erkenntnis dann, wenn mit seiner Hilfe entschieden werden kann, ob die begriffene Sache existiert oder zumindest existieren kann."

50a Im Blick auf den hier diskutierten erkenntnistheoretischen Zusammenhang entscheidend ist ein Zweifaches: zum einen, daß die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis nicht eine solche von Erkenntnisobjekten, sondern eine solche von Weisen des Zugangs zu Erkenntnisobjekten ist; und zum zweiten, und dies folgt aus dem ersten, daß ein und dasselbe Ding Gegenstand sowohl intuitiver wie abstraktiver Erkenntnis sein kann. Die erstgenannte Besonderheit unterscheidet Ockhams Theorie der intuitiven und abstraktiven Erkenntnis von derjenigen des Duns Scotus. Der 'Doctor Subtilis' hat diese Unterscheidung terminologisch vorgeprägt, sie aber als eine Unterscheidung nach Maßgabe der Objekte angesehen. Für Ockham ist sie dagegen - und das ist außerordentlich folgenreich - eine solche der Weisen des erkenntnismäßigen Zugangs zu Objekten mit Hilfe von Begriffen. (Fs) (notabene)
50b Sähe man die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis als eine solche zweier verschiedener Klassen von Objekten an, so würde man Ockhams Erkenntnistheorie bereits im Ansatz verfehlen. Erkenntnis setzt Kenntnis der verwendeten Begriffe voraus. Selbstverständlich stehen Begriffe für etwas, nämlich für das von ihnen Begriffene, nur impliziert dies nicht notwendig, daß Anzahl und Struktur der Begriffe derjenigen der Dinge entspricht. Dies wäre eine sehr weitgehende ontologische Theorie; Ockhams kritische Auseinandersetzung mit ihr wird uns im Metaphysik-Kapitel beschäftigen. (Fs)

50c Nehmen wir zur Illustration ein Beispiel Ockhams: Daß Sokrates von weißer Hautfarbe gewesen ist, ist uns intuitiv dann und nur dann evident, wenn wir mit dem Namen 'Sokrates' und dem Begriff 'von weißer Hautfarbe (sein)' unmittelbar, d.h. aufgrund intuitiver Einsicht vertraut sind. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß uns Sokrates unmittelbar vor Augen ist, wohl aber, daß es ihn ohne Zweifel gibt bzw. gegeben hat. Die Einsicht in die betreffende Aussage ergibt sich freilich noch nicht zwingend aus der intuitiven Vertrautheit mit dem Namen 'Sokrates' und dem Begriff 'von weißer Hautfarbe (sein)', sondern hängt von weiteren Bedingungen ab, z.B. derjenigen, daß sich mit Hilfe der beiden intuitiv bekannten Termini überhaupt ein Satz bilden läßt. Entscheidend ist, daß die intuitive Kenntnis inkomplexer Termini die Voraussetzung für die im Urteil bzw. in der Aussage zu treffende Entscheidung über Existenz oder Nichtexistenz darstellt ("et hoc sufficit ad notitiam intuitivam quod quantum est ex se sit sufficiens ad faciendum rectum iudicium de exsistentia rei vel non-exsistentia". OT I, 70). Eben hiervon, von der Schaffung der Voraussetzung für eine Entscheidung über die Existenz oder Nichtexistenz einer Sache, sieht die abstraktive Erkenntnis ab. Daß zum Beispiel die Gerechtigkeit eine Tugend ist, läßt sich nicht ohne die Kenntnis der Begriffe 'Gerechtigkeit' und 'Tugend', wohl aber unabhängig von der Frage, ob Gerechtigkeit und Tugend 'existieren', erkennen und entscheiden. Ockhams Betonung, daß im Falle von Begriffen, welche für extramentale Einzeldinge stehen, das von ihnen Begriffene im Augenblick seines intuitiven Bekanntseins nicht notwendig für den Erkennenden präsent sein muß, ist ein weiterer Hinweis darauf, daß Erkenntnisgegenstand, Erkenntnisakt und Erkenntnisinhalt unterschieden werden müssen. Die beiden Erstgenannten sind schon deswegen voneinander zu unterscheiden, weil ein und dieselbe Sache Gegenstand ganz unterschiedlicher Erkenntnisakte, intuitiver wie abstraktiver, sein kann. Erlaubt eine Erkenntnis, eine Entscheidung hinsichtlich der Frage der Existenz oder Nichtexistenz eines Gegenstandes zu treffen, so handelt es sich um eine intuitive Erkenntnis; ist eine solche Entscheidung über Existenz oder Nichtexistenz des Gegenstandes dagegen nicht möglich, liegt abstraktive Erkenntnis vor. Daraus erhellt, daß zwar ein und derselbe Gegenstand nacheinander intuitiv und abstraktiv erkennbar ist, nicht aber, daß er zur gleichen Zeit sowohl intuitiv wie abstraktiv erkannt werden kann. Der Grund hierfür liegt darin, daß intuitive Erkenntnis sich grundsätzlich auf kontingente Sachverhalte bezieht, und das sind naturgemäß solche, die in irgendeiner Weise mit der Erfahrung verbunden sind. (Fs)

52a Es ist die 'notitia intuitiva', von der nach Ockham alle 'experimentelle Kenntnis' ('experimentalis notitia') ihren Ausgang nimmt. Sie ist es, die den Menschen die Gewißheit gibt, daß ein bestimmter Gegenstand tatsächlich existiert, und daß Aussagen über ihn potentielle Gegenstände von Wissenschaft sind. Doch nicht nur die 'experimentelle', sondern auch die theoretische Wissenschaft nimmt von der intuitiven Erkenntnis ihren Ausgang; denn das 'intuitiv' zugängliche Einzelseiende bildet nicht nur als sinnlich wahrnehmbares, sondern auch als dem Denken zugängliches den Ausgangspunkt von Wissenschaft. Es ist diese Doppeltheit des Zugangs zum Einzelseienden, welche der 'intuitiven' Erkenntnis ihre besondere Bedeutung verleiht. Das Einzelseiende aber ist durch Singularität seiner Existenz charakterisiert. Von beidem vermag der menschliche Intellekt zu abstrahieren: von der Existenz oder gar Präsenz des Einzelseienden und von seiner Singularität. Die 'abstraktive' Erkenntnis hat damit zwar wie die 'intuitive' mit dem Einzelseienden zu tun, nur betrachtet sie dasselbe - unter Ausblendung seiner Existenz, Präsenz und Singularität - unter einem anderen Gesichtspunkt, und zwar unter dem seiner Wissenschaftsfähigkeit. Wissenschaftsfähig wird das Einzelne dadurch, daß es in Zusammenhänge gebracht werden kann, die verallgemeinerbar sind. Es ist diese Allgemeinheit der Dinge, die genau besehen eine Verallgemeinerbarkeit von Aussagen über sie darstellt, welche für Wissenschaft konstitutiv ist, deren ontologischer Status aber so umstritten ist. Wir werden darauf im Metaphysik-Kapitel näher eingehen. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Erkenntnis 2: intuitiv, abstraktiv; im Ggs. zu Aristoteles: keine species intelligibilis

Kurzinhalt: Vermittelst der intuitiven Erkenntnis ist der Mensch unmittelbar mit der Wirklichkeit der Dinge verbunden, es bedarf dazu keiner Zwischenwelt als vermittelnder Instanz.

Textausschnitt: 52b Festzuhalten ist hier die enge Verbindung, die Ockham zwischen der sinnlichen und der intellektiven Seite der 'intuitiven' Kenntnis knüpft. Das Einzelseiende ist raum-zeitlich identifizierbar und insofern zunächst der Sinneswahrnehmung intuitiv zugänglich. Ockham spricht von der 'intuitiven' Kenntnis vermittelst der Sinne ('notitia intuitiva sensitiva'), welche der 'intellektiven' ('notitia intuitiva intellectiva') vorausgehen muß. Er ist, wie übrigens Aristoteles auch, wegen dieser und ähnlicher Ansichten zu den Empiristen gezählt worden; zu Unrecht. Weder Ockham noch Aristoteles hat die These des Empirismus à la John Locke vertreten, Wissenschaft sei nur vom empirisch Gegebenen möglich. Dies schon deswegen nicht, weil es zunächst gar nicht um Wissenschaft, sondern um die Frage evidenter Erkenntnis des Einzelseienden geht, für welche sinnliche Wahrnehmbarkeit unabdinglich ist. Damit wird jedoch nicht behauptet, es gäbe nur letztere. Neben den sinnlich wahrnehmbaren gibt es die nur dem Denken zugänglichen Objekte, wie Gedanken, Affekte, Erwartungen etc. Dieselben sind, sofern präsent, d.h. bewußt, ebenfalls dem intuitiven Erkennen zugänglich, allerdings ausschließlich der 'intellektiven intuitiven Erkenntnis'. Dieselbe setzt, weil auf die kontingent existierenden Einzeldinge hin ausgerichtet, Sinneswahrnehmung voraus (vgl. OT I, 67). Ockham erweist sich insoweit als treuer Aristoteliker, für den "der Verstand nichts erkennt, es sei denn, es ist ihm zuvor durch die Sinne vermittelt worden" ("nihil intelligitur ab intellectu nisi quod praefuit sub sensu". OT I, 67). Das Gebundensein an die Vermittlung durch die Sinne schafft jedoch noch keine Wissenschaftsfähigkeit. Diese leistet erst die intellektive 'intuitive' Erkenntnis. Ockham: "Wissenschaftliche Erkenntnis beginnt generell mit der notitia intuitiva intellectiva" (OT I, 33). (Fs)

53a Wenn Ockham in Anlehnung an Aristoteles feststellt, jede intellektive intuitive Erkenntnis habe eine sensitive "zur Voraussetzung" ('praesupponit'), so ist dies nicht so zu verstehen, als vermöchte der Intellekt ganz und gar nichts zu erkennen, es sei denn, es habe sich zuvor in den Sinnen befunden, sondern so, daß der Intellekt "nichts ihm Äußerliches, sinnlich Wahrnehmbares zu erkennen vermag, es sei denn, daß es zuvor der Sinneswahrnehmung ausgesetzt gewesen ist" (OT I, 67/68). Was dem Intellekt hingegen nicht äußerlich ist, wie z.B. die eigenen Erkenntnisakte, Willensäußerungen, Affekte etc., kann naturgemäß auch nicht sinnlich wahrgenommen werden. Die Sinneswahrnehmung kann insoweit in diesen Fällen auch nicht zur Voraussetzung der intellektiven Erkenntnis gemacht werden. Ockham ist, so wenig wie Aristoteles, Empirist, wohl aber Empiriker, für den gilt: Was immer sinnlich wahrnehmbar ist, bedarf, um erkannt zu werden, der vorherigen Sinneswahrnehmung. Keineswegs folgt daraus, daß alles, was erkennbar ist, zuvor sinnlich wahrnehmbar gewesen sein muß. Dies hieße nicht nur Erkenntnis im empiristischen Sinne einschränken, es hieße auch und vor allem, die Art und Weise von Erkenntnis von der Art und Weise des Gegebenseins ihrer Gegenstände abhängig machen. (Fs)

54a Wenn, wie gezeigt, intuitive und abstraktive Erkenntnis nicht Weisen der Objektgegebenheit, sondern Weisen des Erkenntniszugangs zu Objekten sind, dann stellt sich als nächstes die Frage, woher der Anstoß zu Erkenntnis kommt. Ockhams Antwort hierauf lautet unmißverständlich: von Seiten der Singularia, der Einzeldinge. Es ist das Einzelding, welches die intuitive Erkenntnis unmittelbar verursacht (vgl. OT V, 284). Zwischen der 'res singulans' und dem 'actus cognoscendi', so Ockham, braucht es kein Medium von eigener Realität, wie dies etwa die thomistische Erkenntnistheorie unter Berufung auf Aristoteles in Form der vom Intellekt zwecks Erkenntnis der Einzeldinge eigens herzustellenden 'intelligiblen Spezies' behauptet. Hiergegen setzt Ockham sein hartes "das Einzelding selbst wird umittelbar, ohne jedes Medium zwischen ihm und dem Erkenntnisakt ... erkannt" ("ipsa res immediate, sine omni medio inter ipsam et actum, ... apprehenditur". OT V, 276). Die konsequente Ablehnung von 'species intelligibiles' stellt nicht etwa nur eine Besonderheit der Ockhamschen gegenüber der traditionellen thomistischen Erkenntnistheorie dar, sondern ist Zeichen für eine grundsätzlichere Differenz. Hintergrund der Annahme intelligibler Spezies ist die Vorstellung, daß es im Erkenntnisakt zu einer Assimilierung zwischen Intellekt und Dingen kommt - eine Beziehung, die nach Ockham schon deswegen unmöglich ist, weil es zwischen so heterogenen Beziehungsgliedern wie Dinglichem (den Singularia) und Geistigem (dem Erkenntnisakt) infolge ihrer ontologischen Differenz eine solche Verähnlichung gar nicht geben kann. Die Annahme einer zwischen Einzelding und Erkennen bestehenden 'species intelligibilis' ist mithin unbegründet. (Fs)

55a Ockham hält die Annahme, zwischen erkennendem Intellekt und den existierenden Einzeldingen bestehe eine wie auch immer geartete strukturelle Affinität, dergestalt, daß in der Erkenntnis etwas von der Welt repräsentiert, abgebildet oder wiedergegeben wird, für grundsätzlich verfehlt (vgl. OT V, 274 f). Nähme man eine solche Affinität an, würde man sich in einen unendlichen Regreß verwickeln: Die Affinität oder die Repräsentation selbst wäre ihrerseits ein neues Erkenntnisobjekt, welches wiederum einer Repräsentationsbeziehung bedürfte, etc. ad infinitum. Vermittelst der intuitiven Erkenntnis ist der Mensch unmittelbar mit der Wirklichkeit der Dinge verbunden, es bedarf dazu keiner Zwischenwelt als vermittelnder Instanz. Dies sowie Ockhams These, daß die Einzeldinge die Ursache für die Erkenntnis sind, könnte den Eindruck erwecken, als läge hier ein ziemlich kruder erkenntnistheoretischer Materialismus vor. Eine solche Deutung würde die von Ockham gemeinte Unmittelbarkeit und Kausalität jedoch mißverstehen. In Wahrheit ist die hier gemeinte Unmittelbarkeit gleichermaßen Ausdruck für ein fehlendes Medium wie für das Gegenüber von Erkenntnis und Gegenstand und damit der wesentlichen Differenz zwischen beiden. Und was die Kausalität der Einzeldinge angeht, so handelt es sich dabei nicht um eine Verursachung im physikalischen Sinne, welche nur möglich ist bei Ko-Präsenz von Ursache und Wirkung; vielmehr geht es um Kausalität im Sinne bedingender Vorgängigkeit der Einzeldinge vor ihrer Erkenntnis. Wenn, wie wir gesehen haben, intuitive Erkenntnis in den Stand versetzt, die Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer Sache mit Gewißheit zu entscheiden, dann ist die Ursache hierfür in der Existenz bzw. Nichtexistenz der betreffenden Sache zu suchen. Hierzu bedarf es nicht der Präsenz des Gegenstandes; genau dies aber wäre die Voraussetzung für Kausalität im physikalischen Sinne. (Fs) (notabene)

55b Daß es das Einzeldingliche ist, mit dem wir unmittelbar intuitiv bekannt sind, und daß das Einzelding die Ursache hierfür ist, besagt nicht notwendig, daß sich darin die erkenntnistheoretische Struktur erschöpfen würde. Dies kann schon deswegen nicht der Fall sein, weil bisher lediglich von der Bekanntschaft mit Begriffen die Rede gewesen ist. Erkenntnis im eigentlichen Sinne bedarf der Urteilsform; diese besteht aus Sätzen ('complexa'), d.h. aus der Verknüpfung von Subjekt-und Prädikattermini. Die Verknüpfung von Termini im Satz unterliegt bestimmten Regeln, auf die wir im Kapitel IV zu sprechen kommen werden; dort wird uns auch die Frage nach den Wahrheitsbedingungen von Sätzen beschäftigen. Im folgenden gilt es zunächst zu klären, was Ockham unter 'Wissen' und ,Wissenschaft' versteht. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; der Gegenstand der Wissenschaft; subjectum - Objekt (4-fach); Charakterisierung einer Wissenschaft nicht über Gegenstände, sonder die Art der Aussagen

Kurzinhalt: Unmittelbarer Gegenstand von Wissen und Wissenschaft ist nicht die Sache selbst, sondern die Geltung der über eine Sache ausgesagten Sätze ... Damit bricht Ockham mit der Tradition, den Wissenschaftscharakter über den Status der Gegenstände ...

Textausschnitt: 3. Der Gegenstand von Wissenschaft

59b Was den Gegenstand von Wissenschaft angeht, so gilt es zunächst wieder einige Unterscheidungen vorzunehmen. Im Lateinischen steht für 'Objekt von Wissenschaft' der Ausdruck 'subiectum scientiae'. Dieser Sprachgebrauch entspricht offensichtlich nicht dem heutigen; vielmehr meint 'subiectum' ganz im ursprünglichen Sinne das Zugrundegelegte (von lat. 'sub-icere' = darunterlegen). Wenn es heißt, etwas existiere 'subiective' im Intellekt, so ist damit nicht im neuzeitlichen Sinne eine an das einzelne Subjekt gebundene, "subjektive" Ansicht gemeint, sondern das dem Erkennen bzw. Denken Zugrundeliegende. Daß etwas 'subiective' dem Denken zugrundeliegt, ist gerade nicht an ein einzelnes Subjekt (und dessen mögliche Ideosynkrasien) gebunden, sondern meint ganz im Gegenteil die Weise gedanklicher Gegebenheit, die jedem, der sich damit beschäftigt, zugänglich ist. Die Rede vom 'subiectum scientiae' meint also genau das, was wir heute als Gegenstand, als Objekt von Wissenschaft bezeichnen. Doch gilt es hier nach Ockham erneut zu unterscheiden, und zwar zwischen einer weiteren und einer engeren Verbindung von 'subiectum'. Da er beide noch einmal aufteilt, ergeben sich insgesamt vier verschiedene Bedeutungen von subiectum: Im erweiterten Sinne ist damit (1) dasjenige gemeint, worüber oder wovon etwas gewußt wird ("illud de quo scitur aliquid"), also dasjenige, was wir heute den Gegenstand von Wissenschaft nennen, oder (2) dasjenige, was Wissenschaft in sich aufnimmt ("illud quod recipit scientiam et habet in se subiective". OP IV, 8/9), also der Intellekt des einzelnen Wissenschaftlers. Diesen beiden erweiterten Bedeutungen von 'subiectum' stehen zwei engere gegenüber. Danach meint 'subiectum' (3) das, was einer Sache zugrundeliegt ("illud quod substat rei"), die Substanz also, oder es meint (4) dasjenige, wovon bzw. worüber etwas ausgesagt wird ("illud de quo aliquid praedicatur". OP I, 92), das Satzsubjekt. (Fs)

60a Diese vierfache Unterscheidung von 'subiectum scientiae' mag auf den ersten Blick verwirren, wird aber bei näherem Zusehen einsichtig: Daß etwas Gegenstand von Wissenschaft ist, kann wissenschafts- oder erkenntnistheoretisch, es kann aber auch ontologisch oder logisch verstanden werden. Im wissenschaftstheoretischen Sinne ist 'subiectum scientiae' dasjenige, wovon etwas gewußt wird. Davon zu unterscheiden ist der erkenntnistheoretische Sinn von 'subiectum scientiae' im Sinne des Ortes, wo sich Wissen befindet, nämlich im wissenschafttreibenden Subjekt. Bei aller Deutlichkeit des Unterschieds zwischen beidem ist ihnen jedoch gemeinsam, daß die für alle Wissenschaft erforderlichen Bezüge zur Wirklichkeit resp. zur Prädikation noch nicht berücksichtigt sind. Dies geschieht erst in den beiden engeren Bedeutungen von 'subiectum scientiae', deren erste durch die Angabe der zugrundeliegenden Sache den Bezug zur Wirklichkeit ('ad exsistentiam') und deren zweite den Bezug zur Prädikation ('ad praedicationem') angibt. (Fs)

61a Von den genannten vier Bedeutungen von 'subiectum scientiae' ist für Ockham die zuletzt genannte, die logische, die entscheidende. Denn Wissenschaft hat, das ist bereits gesagt worden, mit Sätzen zu tun, und in Sätzen werden Aussagen über Satzsubjekte getroffen. Es sind diese Satzsubjekte, welche im technischen Sinne den Gegenstand von Wissenschaft bilden. Daraus folgt, daß eine gegebene Wissenschaft nicht einen Gegenstand haben kann (es sei denn, in ihr gelte nur ein einziger Satz), sondern viele Gegenstände besitzt, und zwar so viele, wie es in ihr verwendete Satzsubjekte gibt (vgl. OP I, 93). Zwar kann man in einer gegebenen Wissenschaft einen bestimmten Gegenstand auszeichnen, z.B. weil er von größter Allgemeinheit oder weil er von zentraler Bedeutung ist. So läßt sich beispielsweise sagen, daß in der Metaphysik "das Erstsubjekt unter allen Subjekten im Hinblick auf den Vorrang der Prädikation [der Begriff] 'seiend' ist". Doch läßt sich mit ebenso guten Gründen sagen, daß das herausragende Subjekt der Metaphysik "unter dem Aspekt der Vollkommenheit" Gott ist (OP IV, 10). Ähnlich läßt sich in der Naturphilosophie unter dem Gesichtspunkt der Prädikation als erstes Subjekt die physikalische Substanz, unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit hingegen der Mensch herausheben. Doch alles dies ändert nichts an der Tatsache, daß in der Metaphysik wie in der Naturphilosophie mehr als eine Aussage gemacht werden kann, und daß damit auch mehr als nur ein Subjekt in ihnen vorkommt. (Fs)

61b Eine der Konsequenzen aus dem Dargelegten ist die, daß sich die Einheit einer gegebenen Wissenschaft nicht derjenigen eines einzelnen Gegenstandes verdankt. Die Einheit einer Wissenschaft leitet sich generell nicht von Gegenständen ab, sondern bestimmt sich nach Maßgabe der Ordnung der Gegenstände bzw. der Ordnung der Aussagen über dieselben. Folge: Wissenschaft ist grundsätzlich als ein offenes System von Sätzen zu begreifen. (Fs)

62a Doch wovon handelt Wissenschaft? Nach dem bisher Dargelegten muß die Frage nunmehr lauten: Wovon gelten wissenschaftliche Sätze? Ockhams Antwort hierauf hat mancher seiner Zeitgenossen - dies belegen die bereits erwähnten Statute der Universität Paris aus den Jahren 1339 und 1340 - als eine Provokation empfunden: "Realwissenschaft handelt nicht von den Dingen, sondern von Begriffen, welche für die Dinge stehen" (OP IV, 12). Ockham bestreitet damit nicht, wie ihm Zeitgenossen unterstellt haben, die Realität von Wissenschaft. Er hat lediglich genauer als die meisten erkannt, daß es zu unterscheiden gilt zwischen dem, was gewußt wird ("id quod scitur"), und demjenigen, worüber oder wovon etwas gewußt wird ("id de quo scitur aliquid"). Man könnte diese Unterscheidung durch diejenige zwischen Geltung und Sache wiedergeben: Unmittelbarer Gegenstand von Wissen und Wissenschaft ist nicht die Sache selbst, sondern die Geltung der über eine Sache ausgesagten Sätze. Diese Unterscheidung ist deswegen wichtig, weil Dinge oder Sachen etwas vom Denken Unabhängiges sind oder sein können, während Sätze bzw. die Geltung der Verknüpfungen von Subjekt- und Prädikatterm Leistungen des Denkens sind. Wissenschaft vermag die Dinge nicht gleichsam zu assimilieren, sie vermag dieselben nur auf dem Umwege über Begriffe und deren Verknüpfung zu Sätzen sowie deren Verbindung zu Argumenten zu thematisieren. Genau dies ist der Grund für Ockhams oft mißverstandene obige Äußerung und nicht die ihm unterstellte Absicht, die Möglichkeit oder Realität der Wissenschaft von den Dingen zu leugnen. Gewußt werden nicht Dinge, sondern Sätze über die Dinge ("Solae propositiones sciuntur". OT II, 134). (Fs)

62b Damit bricht Ockham mit der Tradition, den Wissenschaftscharakter über den Status der Gegenstände zu bestimmen, und ersetzt sie durch den Ansatz, den Wissenschaftscharakter statt über Objekte nach Maßgabe der Art und Weise zu bestimmen, wie über Gegenstände Aussagen gemacht werd n. Mit dieser methodologischen Innovation leitet er eine wissenschaftstheoretische Entwicklung ein, deren Konsequenzen weit in das Denken der Neuzeit hineinwirken. Zu den unmittelbaren Konsequenzen gehört unter anderem - wir werden hierauf im Kapitel V näher eingehen - die Neubestimmung der Möglichkeit und Aufgabe der Metaphysik, welche sich nicht mehr über ihren Gegenstand als Sachwissenschaft, sondern über die besondere Weise der Rede über ihren Gegenstand als Satzwissenschaft etabliert. Zuvor gilt es, den Zusammenhang zwischen Sätzen und Zeichen näher zu betrachten. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: MIttelalter - Logik; 'logica vetus - nova;

Kurzinhalt: Vor diesem Hintergrund entstehen die meisten der spezifisch mittelalterlichen Innovationen auf dem Gebiet der Logik: die Untersuchung der Eigenschaften der Termini im Satz, die Theorie der Supposition, die Konsequenzenlehre und die Modallogik.

Textausschnitt: 64a Die Logik1 hat in der Philosophie des Mittelalters eine herausragende Rolle gespielt; Ockham ist einer ihrer wichtigsten Köpfe gewesen. Der beständige Umgang mit Texten und Autoritäten, die der rationalen Auslegung bedürfen, das gegenüber theologischen Ansprüchen sich artikulierende Selbstverständnis der natürlichen Vernunft und vor allem die Rationalität der Auseinandersetzung zwischen konfligierenden Positionen haben die Logik schon früh zu einem für alle Disziplinen indispensablen Instrument gemacht. Ihre Integration in den Wissenschaftsbetrieb hat sie freilich auch von der Entwicklung desselben in gewisser Weise abhängig gemacht. Um dies zu begreifen, empfiehlt es sich, zwischen der Funktion und der Sache der mittelalterlichen Logik zu unterscheiden. Im Hinblick auf ersteres meint Logik eine Weise des Könnens, und zwar diejenige des richtigen Umgangs mit Begriffen und ihre Verknüpfung zu Aussagen sowie deren Verbindung zu Argumenten und Schlüssen. Logik stellt insofern eine Fertigkeit, eine 'Kunst' ('ars') dar. Zugleich ist sie ein eigener Wissensbestand: Man lernt durch sie die formalen Beziehungen zwischen Begriffen, Aussagen, Argumenten und Schlüssen sowie die Regeln kennen, welche im Umgang hiermit zu beachten sind. Die Logik ist insofern nicht nur eine 'Kunst', sie ist auch Wissenschaft ('scientia'). Der stark disputative Charakter mittelalterlichen Philosophierens bringt es mit sich, daß sich die Logik intensiv auch mit den sprachlichen und semantischen Voraussetzungen und Weiterungen der in den Wissenschaften verwendeten Argumentationen beschäftigt. So verwundert es nicht, daß die Logik schon bald als "Wissenschaft der Wissenschaften" ("scientia scientiarum") bezeichnet wird; sie ist dies nicht im Sinne einer alle anderen Disziplinen umfassenden Superwissenschaft, sondern im Sinne einer für alle Wissenschaften erforderlichen Formaldisziplin. (Fs)

65a Anfänglich trägt die Logik den Namen 'dialectica'; als solche ist sie vom 8. Jahrhundert an Bestandteil der sieben ,freien Künste' ('artes liberales'). Beeinflußt durch stoische Traditionen, vor allem durch Ciceros Topik, wird sie im 9. Jahrhundert zu einer Theorie gelingenden Argumentierens weiterentwickelt, deren Zweck in der Herausbildung und Stärkung der Fähigkeit zur Klarheit und Folgerichtigkeit des Denkens und zur Entscheidung argumentativer Kontroversen liegt. Wichtigste Quelle ist von Anfang an die aristotelische Logik. Deren Rezeption beginnt mit der Beschäftigung mit der Kategorienschrift und der Hermeneutik, welche zusammen mit der 'Einleitungsschrift' (Isagoge) des Neuplatonikers Porphyrios und den Kommentaren sowie den eigenen logischen Schriften des Boethius das Textkorpus der sog. 'alten Logik' ('logica vetus') bilden. Im 12. Jahrhundert kommen die drei übrigen Schriften des aristotelischen Organons, die Analytica Priora und Posteriora, die Topik sowie die Sophistischen Widerlegungen hinzu und formen so den Textbestand der sog. 'neuen Logik' ('logica nova'). Diese Texte muß kennen und über die durch sie vermittelten Fähigkeiten muß verfügen, wer sich im Wissenschaftsbetrieb der Dom- und Klosterschulen des 8. bis 12. Jahrhunderts an der Auslegung der Texte (Bibel, Kirchenväter, ausgewählte Schriften antiker Autoren) kompetent beteiligen will. (Fs)

65b Mit der Gründung der Universitäten zu Beginn des 13. Jahrhunderts treten weitere Forderungen an die Logik heran. Zur reinen Textauslegung treten systematische Vorlesungen und öffentliche Disputationen hinzu, deren erfolgreiche Teilnahme nur dem logisch Versierten möglich ist. Immer stärker gesellt sich zur Logik die Theorie der Sprache, der Zeichen und ihrer Bedeutung, so daß sich ab etwa der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Sache Logik und Semantik kaum noch sinnvoll voneinander trennen lassen. Vor diesem Hintergrund entstehen die meisten der spezifisch mittelalterlichen Innovationen auf dem Gebiet der Logik: die Untersuchung der Eigenschaften der Termini im Satz, die Theorie der Supposition, die Konsequenzenlehre und die Modallogik. Diese und andere, der systematischen Verbindung von Logik und Sprachanalyse entspringenden Neuerungen führen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zur sog. 'modernen Logik' ('logica moderna'). Die Logik wird das, was ihr seit Beginn ihrer mittelalterlichen Tradition schon immer immanent war: sie wird zur Theorie der formalen Bedingungen und Regeln wissenschaftlicher Rede ('sermo') überhaupt, sie wird 'sermocinalis scientia'. (Fs)

66a In dieser Entwicklung spielt Ockham eine herausragende Rolle. Nicht nur hat er neben den .Einleitungen in die Logik' (Introductiones in logicam, 1230/40) des Wilhelm von Shyreswood und den 'Abhandlungen' (Tractatus, später Summulae logicales gen., ca. 1250) des Petrus Hispanus mit seiner 'Summe der Logik' {Summa logicae, um 1324) eines der wichtigsten Werke zur mittelalterlichen Logik verfaßt. Er hat damit zugleich eine systematische Grundlegung vorgenommen, welche dieser Disziplin trotz wichtiger Rückgriffe auf die aristotelische Logik neue Wege eröffnet hat. Ursprünglich als Handbuch für den praktischen Unterricht gedacht, bietet seine Summa logicae eine geschlossene und systematisch aufgebaute Theorie der Logik einschließlich der spezifisch mittelalterlichen Neuerungen derselben. Nach Ockham ist alles Denken ein Tun; wie jedes Tun bedarf auch das Denken eines Richtungsweisers ('directivum'), damit es nicht in die Irre geht. Diese Rolle der Direktive obliegt der Logik; ihre Aufgabe besteht darin, "wahre Argumente von falschen zu trennen, und zwar so, daß man mit Sicherheit zwischen Wahrheit und Falschheit unterscheiden kann" (OP II, 3). Die Beherrschung der Logik ist insoweit für alle Wissenschaften gleichermaßen unabdinglich. Ockham wird nicht müde, vor einer Vernachlässigung der Logik zu warnen: "Wer diese Kunst nicht beherrscht, fällt allen Arten von Irrtümern zum Opfer, verstrickt sich in Schwierigkeiten, aus denen es keinen Ausweg gibt, hält korrekte Beweise für Trugschlüsse oder umgekehrt Trugschlüsse für Beweise" (a.a.O. 6). (Fs)

67a Doch ähnlich dem Wegweiser, der nicht selbst Weg sein kann, ist die Logik nicht Wissenschaft im Sinne der Disziplinen, deren indispensables Instrument sie ist. Nicht daß die Logik außerhalb des Kreises der Wissenschaften stünde; nur ist sie nicht Wissenschaft in dem nämlichen Sinne, wie es Physik, Ethik oder Metaphysik sind. Bei diesen Disziplinen handelt es sich um "Realwissenschaften" ('scientiae reales'), bei der Logik hingegen um eine "Rationalwissenschaft" (,scientia rationalis'). Ihre Besonderheit besteht in ihrem formalen und instrumentalen Charakter: Sie ist nicht das Denken des Denkens, sie ist vielmehr die Wissenschaft von den formalen Bedingungen und Strukturen desjenigen, dessen sich alle Wissenschaften notwendig bedienen, der sprachlichen und argumentativen Kommunikation nämlich. Die Logik ist insoweit Hilfsmittel, und zwar "das für alle Wissenschaften am besten geeignete Instrument, ohne welches keine Disziplin zu Wissen im vollen Sinne zu gelangen imstande ist" (OP I, 6). Wer die Logik beherrscht, besitzt demzufolge kein inhaltliches Wissen im Sinne der o.g. "Realwissenschaften", sondern er verfügt über eine formale und instrumenteile Fähigkeit. Die Logik ist insoweit eine 'praktische' Disziplin; sie handelt nicht, wie die theoretischen Wissenschaften, von solchem, das von Natur aus gegeben ist, sondern von solchem, das vom Menschen hervorgebracht wird: Termini, Sätze und Schlüsse bzw. deren formale Strukturen. Diesen wollen wir uns im folgenden zuwenden. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Logik - Termini; Terminus - Begriff; terminus prolatus, scriptus, conceptus

Kurzinhalt: Termini sind, wie schon gesagt, Worte oder Wortgruppen mit selbständiger Bedeutung, die im Satz an Subjekt- oder Prädikatstelle auftreten (können). Begriffe ('conceptus') hingegen stellen nicht syntaktische, sondern mentale Phänomene dar.

Textausschnitt: 1. Termini

67b Am Anfang steht nach Ockham, anders als in der aristotelisch-boethianischen Logiktradition, nicht die Analyse des Satzes, sondern die des einzelnen Terminus in seiner nominalen, intentionalen und universalen Funktion, gefolgt von der Klassifikation der Termini sowie deren unterschiedlicher Supposition. Erst im Anschluß hieran folgt, was bei Aristoteles im Vordergrund steht: die Lehre von den Sätzen und den Wahrheitsbedingungen derselben und anschließend die Theorie der Schlüsse. Den Abschluß bildet die Lehre von den Konsequenzen und den Fehlschlüssen. Ockham beginnt mit den Termini deswegen, weil sie die kleinsten bedeutungstragenden Bestandteile wissenschaftlicher Argumentation bilden. 'Terminus' ist nicht einfach mit 'Wort' gleichzusetzen: Nicht jedes Wort kann als Terminus fungieren. So können synkategorematische Ausdrücke wie 'und', 'auch', 'ein', 'der' etc. weder als Subjekt- noch als Prädikatterm auftreten. Diese Funktion ist den kategorematischen Ausdrücken vorbehalten, Wörtern also mit selbständiger Bedeutung. Doch auch hier ist zu beachten, daß nicht jeder Terminus lediglich durch ein Wort repräsentiert wird; es können deren auch zwei oder mehrere sein, wie z.B. 'der musikalische Sokrates' in der Aussage "Der musikalische Sokrates ist Philosoph". Vor allem aber gilt: 'Terminus' ist ein syntaktischer Begriff; ein Wort oder eine Wortgruppe mit eigenständiger Bedeutung heißt nur dann 'Terminus', wenn es bzw. sie im Satz an Subjekt- oder Prädikatstelle auftritt bzw. auftreten kann. (Fs)

68a An dieser Stelle ist ein Blick auf den Zusammenhang zwischen Terminus und Begriff am Platz. Termini sind, wie schon gesagt, Worte oder Wortgruppen mit selbständiger Bedeutung, die im Satz an Subjekt- oder Prädikatstelle auftreten (können). Begriffe ('conceptus') hingegen stellen nicht syntaktische, sondern mentale Phänomene dar. Begriffe sind Produkte des Denkens ("per animam fabricata"), welches mit ihnen bestimmte Absichten zum Ausdruck bringt; daher der Status der Begriffe als 'gedankliche Zugriffe' ('intentiones animae'). Die Frage, welchen ontologischen Status die Begriffe besitzen, "ob sie real im Denken existieren oder nicht, gehört nicht in die Logik, sondern in die Metaphysik", so Ockham emphatisch (OP II, 7). Für den Logiker wichtig ist die Bestimmung, daß der Begriff etwas vom Verstande Begriffenes bezeichnet ("cognitum ab intellectu ... significat aliquid quod mens concipit". OT IV, 50). Der Zusammenhang zwischen Begriff und Terminus besteht darin, daß etwas vom Verstande Begriffenes im Satz als Subjekt- oder Prädikatterm auftreten kann. Einen solchen Terminus kann man aussprechen ('terminus prolatus'), man kann ihn niederschreiben ('terminus scriptus'), man kann ihn aber auch nur einfach denken ('terminus conceptus'). Während die geschriebenen und die ausgesprochenen Termini notwendig solche einer bestimmten Sprache sind, des Lateinischen, des Griechischen oder des Arabischen etwa, gehören die Begriffstermini keiner bestimmten Sprache an, sie sind "nullius linguae" (vgl. OP I, 11f), wie schon Augustinus betont hat.1 Die mentalen Termini sind gleichsam Bestandteile einer inneren, allen denkenden Wesen gemeinsamen Universalsprache. Aus dem Gesagten ist deutlich, daß jeder Begriff als Terminus fungieren kann und daß umgekehrt jeder Terminus ein begriffliches Korrelat besitzt. Doch darf dies nicht den Unterschied zwischen beiden verwischen. Denn der Begriff kann seiner Funktion nach als Terminus auftreten, hinsichtlich seines Inhalts aber ist er daran nicht gebunden. (Fs)

69a Zu Begriffen gelangt unser Denken mit Hilfe der Abstraktion, welche sowohl in einem Absehen von etwas als auch in einem Zusammensetzen von etwas besteht. Abstrahieren heißt nämlich zum einen, vom situativen, individuellen, raum-zeitlichen Gegebensein des Einzelfalls absehen, und es heißt zum anderen eine Mehrheit von Einzelfällen unter einem ihnen gemeinsamen Aspekt zusammenfassen. Dies hat nicht etwa zur Folge, daß in der Abstraktion der Einzelfall völlig ausgeblendet würde; vielmehr heißt abstrahieren einen bestimmten Aspekt einer Sache begreifen und einen anderen auslassen ("intelligendo unum, non intelligendo aliud") oder an einem Einzelfall dasjenige betrachten, was er mit einer Vielzahl anderer Einzelfälle gemeinsam hat ("intelligendo unum commune ad multa". OT I, 30/1). Die erstgenannte Seite der Abstraktion knüpft an die Tradition der 'aphairesis', des Aussonderns an, während die zweitgenannte Funktion der Abstraktion mit der Konstitution der Universahen zu tun hat. Diese entstehen nach Ockham freilich, wie wir sehen werden, nicht dadurch, daß man aus einer Reihe von Einzelfällen eine in diesen angeblich vorhandene gemeinsame Qualität heraushebt, sondern dadurch, daß festgestellt wird, daß einer bestimmten Klasse von Einzeldingen ein gemeinsames Prädikat zugesprochen werden kann. Daß Rosen oder Sonnenuntergänge 'rot' genannt werden können, verpflichtet nicht auf die Annahme des Vorhandenseins von 'Röte' in denselben, sondern besagt lediglich, daß von der Klasse dieser Dinge bzw. Erscheinungen in gleicher Weise der Ausdruck 'rot' ausgesagt werden kann. Die Identität der Bedeutung eines Begriffs ist nicht Ausfluß einer identischen, in den Dingen vorhandenen Qualität, sondern Produkt der abstraktiven Fähigkeit des Geistes. (Fs)

70a Sobald Begriffe im Satz Verwendung finden, spricht man von Termini. Diese treten im Satz an Subjekt- und Prädikatstelle auf. Unter 'Subjekt' versteht Ockham formal denjenigen Teil des Satzes, welcher Gegenstand einer Aussage ist (vgl. OP I, 92). Da Aussagen, sofern bestimmte Regeln beachtet werden, zu Beweisen verknüpft werden können, meint 'Subjekt' im speziellen Sinne den Aussagegegenstand einer Konklusion. Sofern die Aussagegegenstände der Schlußfolgerungen einer Wissenschaft in einer hierarchischen Ordnung stehen, kann es auch so etwas wie ein ausgezeichnetes Subjekt einer Wissenschaft geben. Wissenschaftstheoretisch meint 'subiectum', wie wir gesehen haben, dasjenige, worüber etwas gewußt wird, logisch hingegen dasjenige, wovon etwas prädiziert wird. Wie auch immer die Beziehung zwischen Wissensgegenstand ("illud quod scitur") und Aussagegegenstand ("illud de quo praedicatur") näherhin zu bestimmen ist, wichtig ist aus der Sicht der Logik, daß das eine formal vom anderen unterschieden wird. Ähnlich steht es mit dem Prädikatterminus: Er steht in einem wahren Satz für die über das Subjekt getroffene Aussage und ist insoweit formal nicht identisch mit dem ihm entsprechenden realen Sachverhalt. (Fs)

70b Ockham legt großen Wert darauf, daß zwischen logischer Aussagestruktur und ontologischem Sachverhalt prinzipiell unterschieden wird. Auch wenn dasjenige, worüber im Satz etwas ausgesagt wird, für einen Sachverhalt steht, von dem etwas gewußt wird, so ist doch das eine formal nicht identisch mit dem anderen. Ähnliches gilt für den Prädikatterminus und damit a fortiori für die Beziehung zwischen Subjekt- und Prädikatterm im Hinblick auf den realen Sachverhalt: das eine ist nicht das andere, auch wenn das eine (nämlich Subjekt- und Prädikatterm) für das andere (nämlich den Sachverhalt) stehen mag. Die formale Seite von Aussagen, ihre Eigentümlichkeiten und Eigengesetzlichkeiten, von den Dingen, ihrem Status und ihrer Struktur nicht zu unterscheiden hieße Logik und Ontologie vermischen. (Fs)

71a Das Subjekt-Prädikat-Schema der Logik ist nicht, zumindest nicht notwendig, dem Substanz-Akzidens-Verhältnis verwandt. So wird etwa in der Aussage "Der Mensch ist ein Seiendes" keineswegs dem Menschen die Eigenschaft 'seiend' zugesprochen. Daß letzteres von ersterem ausgesagt werden kann, impliziert nicht das Vorliegen eines Träger-Eigenschafts-Verhältnisses. Der Mensch ist nicht eine Substanz, der 'Sein' zukommt, innewohnt oder sonst wie zu eigen ist. Daß er existiert, ist keine Eigenschaft, die ihm zukommt oder auch abgehen könnte, sondern - im Rahmen der grundsätzlichen Kontingenz alles Geschaffenen - eine Eigentümlichkeit ('proprium'), welche mit ihm untrennbar verbunden ist. Mit Nachdruck wendet sich Ockham in diesem Zusammenhang gegen die sog. 'Inhärenz-Theorie' der Prädikation, welche das Verhältnis zwischen Subjekt- und Prädikatterm im Satz in Analogie zur Beziehung zwischen Substanz und Akzidens deutet: So wie die Akzidentien den Substanzen 'innewohnen', so soll nach der Inhärenztheorie der Prädikatterm im Subjekt -term 'enthalten' sein. Ockham hält diese Theorie, welche anfangs von Abälard vertreten, später aber von ihm verworfen worden ist,2 für grundfalsch und für die Ursache vieler Irrtümer, weil hier die ontologische Struktur der Dinge und ihrer Eigenschaften mit der logischen Struktur der Aussage und ihrer Bestandteile vermengt wird. Wie in der Aussage "Hund beißt Herrn" der Subjektterm dem Prädikatterm keineswegs ein Leid zufügt, so sind ihrer Natur nach die logischen Verhältnisse im Satz kein Spiegel der ontologischen in der Wirklichkeit. Ockham spricht daher statt von "P ist in S" lieber von "P kommt S zu" (vgl. OP I, 94/95); d.h. es liegt hier kein Enthaltensein, sondern eine bestimmte Weise der durch Prädikation erfolgenden Zuschreibung vor. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Logik - Sätze (kategorische - hypothetische); complexa; Supposition: suppositio personalis, materialis, simplex; Suppositionstheorie, Matesprache


Kurzinhalt: Sätze heißen nach Ockham wahrheitsfähige "Zusammenstellungen aus einem Subjekt- und einem Prädikatterminus, welche mit Hilfe einer Kopula verbunden sind" ... Sie heißen daher auch 'complexa'.

Textausschnitt: 2. Sätze

72a Sätze heißen nach Ockham wahrheitsfähige "Zusammenstellungen aus einem Subjekt- und einem Prädikatterminus, welche mit Hilfe einer Kopula verbunden sind" (OP II, 358). Sie heißen daher auch 'complexa'. Ockham unterscheidet zwischen einfachen und zusammengesetzten Sätzen. Erstere nennt er kategorisch, letztere hypothetisch, 'hypothetisch' freilich nicht im kantischen Sinne des hypothetischen Urteils (bei Ockham 'propositio condicionalis'), sondern ganz allgemein im Sinne der Verbindung zweier kategorischer Sätze vermittels eines Adverbs oder einer Konjunktion. Kants hypothetisches Urteil bildet insoweit eine Unterart der Ockhamschen 'propositio hypothetica', nämlich den konditionalen Satz ("Wenn Sokrates ein Lehrer ist, dann hat er auch Schüler"). Daneben gibt es andere Unterarten hypothetischer Sätze, wie z.B. die durch ein schlichtes 'und' verbundenen kategorischen Sätze ("Sokrates läuft herum und diskutiert") oder die disjunktiven Sätze ("Sokrates ist musikalisch oder er ist es nicht") und schließlich die Kausalsätze ("Sokrates lehrt, weil er die Menschen aufklären will"). Sätze dieser Art haben die Aufgabe, über die Wahrheit oder Falschheit von Sachverhalten entscheiden zu helfen. Voraussetzung hierfür ist die Feststellung der Art und Weise, wie die im Satz verwendeten Termini für die von ihnen bezeichneten Sachverhalte stehen ("supponieren"). (Fs)

72b Klassifikation und Analyse der Weisen, in denen im Satz Termini für etwas stehen können, sind Anlaß für die Entwicklung der sog. 'Suppositionstheorie', einer der wohl bedeutendsten Innovationen der mittelalterlichen Logiker. Ockham hat hierzu einen eigenen Beitrag geliefert. Nach ihm sind die in wissenschaftlichen Aussagen verwendeten Subjekt- und Prädikattermini Zeichen. Dieselben können im wesentlichen auf dreierlei Art und Weise für das von ihnen Bezeichnete stehen. Zum ersten kann ein Zeichen für denjenigen Gegenstand stehen, den es bezeichnet. So steht in der Aussage "Sokrates ist ein Mensch" der Terminus 'Mensch' exakt für dasjenige, was er bezeichnet: den konkreten Einzelmenschen Sokrates. Diese Weise der Supposition heißt bei Ockham und anderen 'suppositio personalis'. Dieselbe ist von zwei weiteren Suppositionsweisen zu unterscheiden. Zunächst von der sog. 'suppositio materialis', bei der ein Terminus nicht für das von ihm Bezeichnete, sondern für sich selbst steht, wie in der Aussage "'Mensch' ist ein Wort der deutschen Sprache". Hier bezeichnet der Ausdruck 'Mensch' nichts, er steht lediglich für sich selbst. Anders im Falle der sog. 'suppositio simplex'. Hier steht der Terminus weder für das von ihm Bezeichnete noch steht er für sich selbst; vielmehr supponiert er für einen vom Verstand hergestellten Allgemeinbegriff. So steht der Ausdruck 'Mensch' in der Aussage "'Mensch' ist eine Spezies der Gattung 'Lebewesen'" nicht für den konkreten Einzelmenschen (denn der ist keine Spezies) noch steht er für sich selbst; er referiert vielmehr auf einen Begriff. (Fs)

73a Sinn und Funktion der Suppositionstheorie - die angegebenen Beispiele zeigen dies deutlich - ist die Klärung einer semantischen Beziehung, und zwar derjenigen zwischen einem Ausdruck, über den etwas ausgesagt wird, und einem weiteren Ausdruck, der etwas aussagt. Supposition meint dabei die Art und Weise, wie ein sprachlicher Ausdruck im Satz zur Bezeichnung eines anderen sprachlichen Ausdrucks verwendet werden kann. (Fs)

73b Ockhams Suppositionstheorie dient vor allem dem Zweck, eine Schwierigkeit zu vermeiden, die dann entsteht, wenn man behauptet, zwischen dem Reich der Begriffe und dem Reich der Dinge bestünde eine Art Isomorphie, dergestalt, daß jedem Begriff eine Sache und jeder Sache ein Begriff zugeordnet werden könnte. Eine solche Isomorphie aber gibt es nicht, wie sich schon daran zeigt, daß es Begriffe gibt, die für viele Dinge stehen können, und andere, die nur für eine Sache stehen (im obigen Beispiel 'Mensch' in materialer Supposition). Darüber hinaus gibt es Begriffe, die für real existierende Individuen stehen und andererseits solche, die für etwas Allgemeines supponieren. Die Beziehung zwischen Begriffen und Dingen ist mithin sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in einer Weise verschieden, die es unmöglich macht, von struktureller Affinität zu sprechen. (Fs)

74a Entscheidend an dieser Theorie ist ein Zweifaches: zum einen, daß Supposition eine Eigenschaft von Termini darstellt, dies jedoch nur insofern, als sie im Satz als Subjekt- oder Prädikatterm auftreten. Die Fähigkeit zur Supposition besitzen Termini also nicht etwa infolge extramentaler Sachverhalte, sondern aufgrund der ihnen eigenen Funktion im Satz. Und noch ein Zweites ist von entscheidender Bedeutung an Ockhams Suppositionstheorie: Nur die personale Supposition ist signifikativer Art, d. h. nur hier steht ein Terminus im Satz für dasjenige, was er bezeichnet. Die beiden anderen Weisen der Supposition, die materiale ebenso wie die einfache, sind nichtsignifikativer Art, d. h. in ihnen steht ein Terminus im entsprechenden Satz nicht für dasjenige, was er bezeichnet, sondern entweder für das, was er ist (materiale S.), oder für einen vom Denken hergestellten Begriff (einfache S.). (Fs)

74a Im Unterschied zu seinem Zeitgenossen und Kontrahenten Walter Burleigh schränkt Ockham interessanterweise die personale Supposition nicht auf Termini ein, welche für extramental existierende Einzeldinge stehen; entscheidend für ihn ist nicht die Existenz der Supponate, sondern der signifikative Charakter der personalen Supposition. In gewisser Hinsicht soll die Suppositionstheorie dasjenige leisten, was heute mit der Differenzierung zwischen Objekt- und Metasprache erreicht werden soll: nämlich die verschiedenen Ebenen der Rede von und über Termini voneinander unterscheiden zu können. Im Unterschied zu heute jedoch behandelt die mittelalterliche Logik die signifikative und die suppositive Funktion von Termen als Eigenschaften derselben. Diese sind nicht identisch mit den Eigenschaften der von ihnen bezeichneten Dinge; es handelt sich nicht um ontische, sondern um semantische Eigenschaften, d.h. um solche, die mit der Art und Weise der Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu tun haben. Damit nun Sätze in Beweiszusammenhängen Verwendung finden können, genügt es nicht, ihre semantische Struktur zu kennen; man muß auch die Bedingungen kennen, unter denen sie wahr sind, denn nur wahre Sätze können als Prämissen Eingang in gültige Schlüsse finden. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Logik - Wahrheitsbedingungen; keine ontische, sondern prädikationslogische Identität; universale Termine = natürliche Zeichen


Kurzinhalt: Ort der Wahrheit ist ausschließlich der Satz ("nihil est verum nisi complexum". ... "Für die Wahrheit eines einzelnen Satzes ... ist es erforderlich, daß der Subjekt- und der Prädikatterm für ein und dasselbe stehen".

Textausschnitt: 3. Wahrheitsbedingungen

75a Ort der Wahrheit ist ausschließlich der Satz ("nihil est verum nisi complexum". OT IX, 236). "Für die Wahrheit eines einzelnen Satzes ... ist es erforderlich, daß der Subjekt- und der Prädikatterm für ein und dasselbe stehen" ("... requiritur quod subiectum et praedicatum supponant pro eodem". OP I, 250). Wir haben schon erwähnt, daß Ockham die Inhärenztheorie der Prädikation, wonach im Satz der Prädikatterm als im Subjektterm enthalten angesehen wird, verworfen hat. Hauptgrund hierfür ist der Umstand, daß die Inhärenztheorie zu unnötigen, wenn nicht falschen ontologischen Annahmen verleitet. Wenn in der Aussage "Sokrates ist ein Mensch" das Prädikat 'ist ein Mensch' im Subjekt Sokrates "enthalten" sein soll, dann ist man verpflichtet, so etwas wie Mensch-Sein als allgemeine Eigenschaft anzunehmen. Das Mensch-Sein des Sokrates muß dann vom Mensch-Sein Platons unterschieden werden, obwohl beide in gleicher Weise Mensch sind, mit der Folge, daß das, was in Sokrates "enthalten" ist, sich zugleich auch in Platon finden müßte. Diese und ähnliche Schwierigkeiten der Inhärenztheorie haben mit bestimmten Ungereimtheiten der Universalienlehre zu tun, welche uns im Kapitel V beschäftigen werden. Für Ockham reicht es, wenn in einem wahren Satz Subjekt- und Prädikatterm für ein und dasselbe stehen. Vertritt er damit etwa die Identitätstheorie der Prädikation? (Fs) (notabene)

75b Hier ist eine Unterscheidung notwendig, und zwar zwischen demjenigen, was supponiert, und demjenigen, wofür der Subjekt- bzw. der Prädikatterm supponiert (vgl. OP I, 258). Ersteres kann nicht identisch sein, sonst läge gar kein Satz vor; letzteres muß identisch sein, sonst kann ein Satz nicht wahr sein. Die hier genannte Identität ist keine ontische, sondern eine prädikationslogische. So wird mit dem Satz "Sokrates ist weise" nicht reale Identität zwischen Sokrates und Weisheit behauptet; es ist damit lediglich gesagt, daß der Subjektterm 'Sokrates' genau einer der Fälle ist, wofür der Prädikatterm 'ist weise' stehen kann. Damit ist freilich nur die notwendige Wahrheitsbedingung genannt; die hinreichende Wahrheitsbedingung empirischer Einzelsätze von der genannten Art gilt es durch die (in Kap. III erläuterte) intuitive Erkenntnis sicherzustellen. So genügt es für die Feststellung der Wahrheit eines Satzes von der Art "Sokrates macht Musik" naturgemäß nicht, daß Subjekt- und Prädikatterm für dasselbe (nämlich das Individuum Sokrates) supponieren. Es muß auch jemanden geben, der das Bestehen dieses Sachverhalts als ein raum-zeitliches Geschehen aufgrund eigener Anschauung feststellt. (Fs)

76a Wie aber liegen die Dinge im Falle von Allgemeinaussagen? Für dieselben gilt: Auch sie müssen die notwendige Wahrheitsbedingung erfüllen, d.h. auch bei ihnen muß der Subjekt-und Prädikatterm für ein und dasselbe supponieren. Anders sieht es mit der hinreichenden Bedingung aus: Universalurteile sind nur dann wahr, wenn der in ihnen verwendete Prädikatterm für dieselben Gegenstände verifizierbar ist wie der Subjektterm. Mit anderen Worten: Universalaussagen sind nur dann wahr, wenn jeder der unter sie zu subsumierenden Einzelfälle wahr ist. Der Grund hierfür ist tief in der Ockhamschen Ontologie verwurzelt, auf die wir noch näher eingehen werden. Hier sei nur soviel gesagt: In einer Universalaussage wird ein Allgemeinterm durch ein allgemeines Zeichen vertreten (vgl. OP I, 258 ff). Zu den Wahrheitsbedingungen für Allgemeinaussagen von der Art "(Jeder) Mensch ist ein Lebewesen" gehört nicht die Annahme, in jedem Menschen befände sich eine mit allen anderen Menschen gemeinsame allgemeine Realität genannt 'Lebewesen'; dies wäre nach Ockham eine ebenso unbegründete wie überflüssige Annahme. Vielmehr genügt es zur Sicherung der Wahrheit solcher Allgemeinaussagen festzustellen, ob und daß in jedem Einzelsatz von der Art "Der Mensch ist ein x" für x der Terminus 'Lebewesen' eingesetzt werden kann. Die Allgemeinheit der in Universalaussageri verwendeten Termini beruht also nicht auf der ontologischen Referenz auf etwas Universales, sondern auf der semantischen Universalität der verwendeten Zeichen 'jeder', 'alle', 'einige', etc. So steht das Universale 'Mensch' nicht für so etwas wie den Menschen an sich, sondern je nach vorangestelltem Quantor für einige, viele oder alle Einzelmenschen. Die Wahrheit solcher Allgemeinsätze besteht also darin, daß sie sich nach Maßgabe des Quantors bewahrheiten. Die in Universalaussagen auftretende Allgemeinheit ist keine solche der Dinge, sondern eine solche der Prädikation. (Fs)

77a Entscheidend an Ockhams Ansatz ist, daß universal verwendete Termini 'natürliche Zeichen' ("signa naturaliter significantia aliquid". OP I, 42) darstellen. Zwar ist ihr Platz im Intellekt und nicht in den Dingen. Gleichwohl vermag sie der Intellekt wissenschaftlich sinnvoll zu verwenden, weil er mit ihrer Hilfe Prädikatskiassen bilden kann. Zur Erklärung von Universalaussagen von der Art "Jeder Mensch ist ein Lebewesen" bedarf es nicht der Annahme, in jedem einzelnen Menschen existiere eine eigene Wirklichkeit mit Namen 'Lebewesen'; dies wäre ein Verstoß gegen das Prinzip der Ökonomie, wonach unnötige Annahmen bei der Erklärung der Dinge zu vermeiden sind. Es genügt der Hinweis, "daß dieser Mensch hier ein Lebewesen ist, und daß jener Mensch dort ebenfalls ein Lebewesen ist, und daß es sich in allen übrigen Einzelfällen ebenfalls so verhält" (OT II, 252f). Die Allgemeinheit ist also stets eine solche des Verstandes, welcher das Einzelne sortiert und klassifiziert, bzw. eine solche der Prädikation. (Fs)

77b Insofern kann es nicht verwundern, daß Ockham Wahrheit und Falschheit weder als Eigenschaften von Dingen noch als Qualitäten von Aussagen betrachtet. Es sind die Aussagen selbst, die wahr (bzw. falsch) sind. Darum auch gibt er keine Definition von Wahrheit an; entscheidend ist, ihre Bedingungen zu kennen (vgl. OP I, 249). Für sich genommen sind 'wahr' und 'falsch' keine absoluten, sondern konnotative Ausdrücke, d.h. solche, die etwas (nämlich Aussagen) bezeichnen und etwas anderes (die Behauptung nämlich, die Dinge verhielten sich in Wirklichkeit so bzw. nicht so) 'mitbezeichnen' (daher 'konnotieren', vgl. OT IX, 697 u. OP II, 201). Wenn Ockham feststellt, ein Satz sei dann wahr, "wenn es sich in Wirklichkeit so verhält, wie durch ihn behauptet wird" (OP II, 376), so könnte dies die Vermutung nahelegen, er verträte die Korrespondenztheorie, nach deren klassischer Formulierung Wahrheit in einer "Angleichung zwischen Intellekt und Sache" ("adaequatio intellectus et rei") besteht.1 Doch abgesehen davon, daß dies keine Definition von Wahrheit ist, sondern die Feststellung eines Kriteriums für Wahrheit, könnte Ockham mit einem derartigen Brückenschlag zwischen Denken und Wirklichkeit wenig anfangen. Wahrheit und Falschheit sind für ihn untrennbar verbunden mit dem wahren bzw. falschen Satz. Weder ein Begriff als solcher noch gar ein Ding kann wahr oder falsch sein. Die Begriffe 'wahr' bzw. 'falsch' referieren vielmehr auf Sätze und auf nichts anderes. Die Bedingungen, unter denen ein Satz wahr ist, regelt, wie wir gesehen haben, die Supposition der in ihm verwendeten Termini. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Logik - Argumente und Beweise; notwendigt (Aristoteles) - kontingent, Kontingenz; Beispiel Sokrates

Kurzinhalt: Hier liegt offenkundig ein neues, von Aristoteles abweichendes Verständnis von 'Notwendigkeit' vor ...

Textausschnitt: 4. Argumente und Beweise

78a Die Theorie der Argumente und Beweise nimmt den dritten und mit Abstand größten Teil von Ockhams Summa Logicae ein. Es geht dort zunächst um die Argumentation als solche, sodann um den Beweis und anschließend um die Lehre von den Konsequenzen; den Abschluß bildet die Theorie der Fehlschlüsse. Im Mittelpunkt steht die Theorie der Syllogismen. Unter einem Syllogismus versteht Ockham ein Verfahren, in welchem aus zwei gesicherten Prämissen eine mit Notwendigkeit aus ihnen resultierende Schlußfolgerung gezogen wird (vgl. OP I, 361). Ein Syllogismus besteht mithin formal aus drei Sätzen, welche in einer bestimmten Ordnung zueinander stehen ('praemissa maior', 'praemissa minor', 'conclusio'). Syllogismen werden je nach Stellung des Mittelbegriffs in verschiedene Figuren eingeteilt. Ockham folgt diesbezüglich der bekannten, auf Aristoteles zurückgehenden Tradition.1 Aus Raumgründen wollen wir uns auf die für die Wissenschaft wichtigste Form des Syllogismus, den Beweis ('Syllogismus demonstrativus') konzentrieren, zumal hier die besondere Leistung Ockhams deutlich wird. (Fs)

79a Zur Erinnerung: Nicht alle Argumente sind syllogistischer und nicht alle Syllogismen demonstrativer Natur; nur letzterer aber führt im strengen Sinne des Beweiswissens zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Ein 'Syllogismus demonstrativus' liegt vor, wenn die Schlußfolgerung eines Beweisverfahrens auf evident bekannten notwendigen Prämissen beruht (vgl. OP I, 259). Einzig diese Art des Syllogismus produziert Wissen im strengen Sinne ("scientia proprie dicta"). Als Prämissen können Sätze fungieren, welche Prinzipiencharakter haben, d.h. weder eines Beweises fähig noch bedürftig sind, oder Sätze, welche Ergebnisse eines vorhergegangenen Beweisverfahrens sind. Entscheidend ist, daß die Prämissen mit Notwendigkeit wahr sind. 'Notwendig' heißt hier nicht, daß es sich um so etwas wie "ewige und unvergängliche Wahrheiten" (OP I, 512) handelt, sondern daß es keinen vernünftigen Zweifel an der Wahrheit der Prämissen gibt. Ockham legt großen Wert auf die Unterscheidung zwischen einem 'notwendigen Sein' ('esse necessarium') und einem 'mit Notwendigkeit wahr und nicht falsch sein Können' ("necessario esse verum vel non posse esse falsum"). Notwendig-Sein gilt bedingungslos, notwendig Wahr-Sein dagegen bedingt. Eine Schlußfolgerung kann nur eine notwendige sein, wenn sie überhaupt formuliert wird. (Fs)

79b Hier liegt offenkundig ein neues, von Aristoteles abweichendes Verständnis von 'Notwendigkeit' vor. Wenn es beim Stagiriten heißt: "Der Mensch ist mit Notwendigkeit ein Lebewesen",1 so ist dies nach Ockham nicht so zu verstehen, als sei damit behauptet, die Beziehung zwischen 'Mensch' und 'Lebewesen' stelle eine ontische Notwendigkeit dar, sondern lediglich, daß, verbindet man die beiden Termini 'Mensch' und 'Lebewesen' in einer Aussage miteinander, diese Verknüpfung eine notwendige ist. Es kann sich dabei schon deswegen nicht um eine ontische Notwendigkeit handeln, weil der Mensch kein notwendiges, sondern ein kontingentes Wesen ist. Da nun die ontische Notwendigkeit, welche ihrer Natur nach eine bedingungslose ist, ausscheidet, bleibt nur die kontingente Notwendigkeit. Diese aber ist ihrer Natur nach eine bedingte: Wenn es zumindest einen Menschen gibt, dann ist das Urteil, der Mensch sei ein Lebewesen, mit Notwendigkeit wahr. Notwendig wahr ist eine Aussage dann, wenn sie nicht falsch sein kann. Dies muß jedoch der Bedingung der Kontingenz angepaßt werden. Soll unser Beispielsatz Bestandteil einer wissenschaftlichen Argumentation werden, so muß er lauten: In unserer kontingenten Welt, wie sie ist, ist der Zusammenhang zwischen den Begriffen 'Mensch' und 'vernunftbegabtes Lebewesen' insofern ein notwendiger, als die Verknüpfung beider Termini im Satz, sofern und sobald sie erfolgt, nicht falsch sein kann. (Fs)

80a Auch wenn es sich hierbei ontologisch gesehen nur um eine bedingte Notwendigkeit handelt, so ist doch unser Beispielsatz als ein wissenschaftlicher Satz zu betrachten, denn er ist mit logischer Notwendigkeit wahr. Auf diese Weise ist es möglich, notwendige Aussagen über Kontingentes zu formulieren, ohne das Kontingente seines Charakters der Nicht-Notwendigkeit zu berauben. Die konditionale Formulierung solcher Aussagen ändert nämlich nichts am ontologischen Status des Aussagegegenstandes, wohl aber verleiht sie der Aussageform den Charakter der Notwendigkeit. Daß der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen ist, stellt eine Aussage über einen kontingenten Sachverhalt dar: Die Welt hätte auch anders aussehen und der Mensch anders erschaffen sein können. Daß aber die beiden Termini 'Mensch' und 'vernunftbegabtes Lebewesen' in einer Aussage miteinander verbunden werden, thematisiert einen notwendigen Zusammenhang. Notwendig ist hier nicht das Seiende 'Mensch', wohl aber die Aussage über ihn. (Fs)

80b An dieser Stelle ist ein Blick auf die logische Bedeutung von 'Kontingenz' am Platz. 'Kontingenz' (von lat. contingere, als Verbum intransitivum = zutreffen, eintreten, sich fügen) meint wörtlich das Sich-Fügende. Wenn die mittelalterlichen Denker die Welt und alles in ihr als kontingent bezeichnen, so in dem Sinne, daß die Welt so beschaffen ist, wie Gott es gefügt hat. Da Gott aber gänzlich frei in seinem Tun und Lassen ist, unterliegt er in seinem Schöpfungsakt keinerlei Zwang. Diese Zwangslosigkeit ist in seine Schöpfung eingegangen: Die Welt ist nicht Ausdruck irgendwelcher Notwendigkeiten, sondern sie ist das von Gott aus Freiheit Gefügte. D.h., sie ist kontingent im Sinne desjenigen, was nicht notwendig ist. Nun ist aber auch das Nur-Mögliche etwas Nicht-Notwendiges. Das Kontingente und das Mögliche haben also denselben Gegenbegriff, den der Notwendigkeit. Gleichwohl unterscheiden sich Kontingentes und Mögliches in einem wichtigen Punkt voneinander: Das Kontingente kann möglich sein, es kann aber auch wirklich sein. Kontingent ist nämlich zum einen dasjenige, was noch nicht ist, aber widerspruchsfrei sein könnte, mithin möglich ist; zum anderen ist kontingent dasjenige, was wirklich ist, auch wenn es ohne Widerspruch anders sein könnte, als es ist. Man kann in diesem Sinne von einer Kontingenz des Möglichen und einer Kontingenz des Wirklichen sprechen. Beide Bereiche unterliegen der gleichen Forderung nach Widerspruchsfreiheit und stehen in Opposition zur Notwendigkeit. Die Welt, so könnte man sagen, ist insoweit im doppelten Sinne kontingent: einmal, weil sie der Inbegriff alles dessen ist, was ist, aber auch anders sein könnte, sofern kein Widerspruch entsteht; zum zweiten, weil sie eine mögliche Welt unter anderen möglichen Welten ist. (Fs) (notabene)

81a Der Hintergrund dieser Unterscheidung ist modallogischer Natur: 'kontingent' ist ein bestimmter logischer Modus im Unterschied zu anderen Modalitäten wie Möglichkeit und Notwendigkeit. Eine Aussage steht im Modus der Kontingenz, wenn sie möglich, aber nicht notwendig ist. Man kann aber auch wie folgt definieren: Eine Aussage ist kontingent dann, wenn weder sie selbst noch ihr Gegenteil notwendig ist. In beiden Fällen muß freilich Widerspruchsfreiheit gegeben sein. Von diesem modallogischen Gebrauch des Ausdrucks 'kontingent' zu unterscheiden ist der ontologische Gebrauch. Danach heißt 'kontingent' alles dasjenige, was zwar so ist, wie es ist, aber auch widerspruchsfrei anders sein könnte, als es ist. In diesem Sinne gibt es nur ein einziges Seiendes, das nicht kontingent, sondern notwendig ist: Gott, das unverursacht Seiende, das nicht anders sein kann, als es ist. Wenn die mittelalterlichen Denker die Welt kontingent genannt haben, so deswegen, weil die Welt und alles in ihr Seiende in sich keinen hinreichenden Existenzgrund hat, sondern sich von etwas anderem herleitet, nämlich von der Erstursache Gott. Hier meint Kontingenz ganz offensichtlich eine Sachqualität. Von dieser ontologischen Verwendung von Kontingenz ist die modallogische zu unterscheiden: Kontingent ist eine Aussage, die weder notwendig noch unmöglich ist und deren Gegenteil keinen Widerspruch einschließt. Eine Aussage p ist kontingent dann, wenn weder p noch nicht-p notwendig wahr ist, das eine oder das andere aber widerspruchsfrei möglich ist. In diesem Fall bezeichnet Kontingenz ersichtlich keine Sachqualität, sondern eine Satzmodalität. Ist eine kontingente Aussage, d.h. eine solche, die weder notwendig noch unmöglich ist, wahr, dann ist sie faktisch wahr. (Fs)

82a Wie konsequent Ockham die Verlegung der Notwendigkeit aus dem ontologischen in den logisch-semantischen Bereich betreibt, zeigt seine Behandlung der aristotelischen These, alles was ist, sei, sobald es existiert, notwendig, und zwar deswegen, weil es dann nicht mehr die Möglichkeit des Nicht-Seins noch die des Noch-nicht-Seins hat. Zwar ist es nicht notwendig, daß etwas existiert, doch wenn etwas erst einmal existent geworden ist, dann stellt seine Existenz eine Notwendigkeit dar.2 Ockham scheut sich nicht, dieses aristotelische Diktum, das ihm in der lateinischen Übersetzung "omne quod est, quando est, necesse est esse" vorliegt, "dem Wortlaut nach für schlechthin falsch" zu erklären. Der Wortlaut nämlich suggeriere eine temporale Verbindung zwischen Sein und Notwendigsein. Dies zu behaupten, liege jedoch nicht in der Absicht des Aristoteles. Vielmehr habe der Stagirite gemeint: Von allem, was ist, wird mit Notwendigkeit verifiziert, daß es ist, "sofern dabei die Zeitbestimmung mitberücksichtigt wird" (OP II, 420). Damit versteht Ockham die aristotelische Behauptung nicht als eine temporale, sondern als eine konditionale, die überdies nur im nachhinein unter Berücksichtigung des Zeitfaktors verifizierbar ist. Notwendig ist nicht das Seiende, auf das geschlossen wird, sondern die Schlußfolgerung selbst; es ist die Aussage notwendig, nicht das Ausgesagte. (Fs) (notabene)

83a Diese Verlagerung der Notwendigkeit aus dem Bereich der Dinge in den der Aussagen bzw. Sätze gibt Ockham die Möglichkeit, weiterhin an seiner These festzuhalten, daß auch in einer Welt von durchgehender Kontingenz wissenschaftliche Aussagen den Charakter der Notwendigkeit besitzen können. Mit anderen Worten: Man kann aus ontologisch Kontingenten durchaus logisch Notwendiges ableiten, ohne daß das Kontingente damit seinen Charakter verliert. Daß Wissenschaft von Notwendigem handelt bzw. handeln muß, impliziert nicht, zumindest nicht zwangsläufig, daß auch die von der Wissenschaft behandelten Gegenstände notwendig sind. So kann Ockham zusammenfassend sagen: "Eine allen Aussagen gemeinsame, für den Beweis erforderliche Eigenschaft ist die Notwendigkeit. Keine Aussage, die für einen Beweis erforderlich ist, ist nämlich kontingent, jede ist notwendig. Daß die Schlußfolgerung eine notwendige ist, geht aus der Definition des Beweises hervor: Ein Beweis ist ein Syllogismus, der bewirkt, daß man eine Aussage als eine notwendige begreift. Mithin ist auch die Schlußfolgerung notwendig. Gleichwohl ist das Notwendige, obwohl man es aus Kontingentem ... ableiten könnte, als solches nicht wissenschaftlich wißbar. Es müssen also die Prämissen, aufgrund deren man die Schlußfolgerung erhält, notwendig sein" (OP I, 511). Ontische Notwendigkeit wäre nicht von Zeitlosigkeit bzw. Ewigkeit unterscheidbar. Ontische Notwendigkeit kann mithin nur Gott zukommen. Dagegen ist die für Wissenschaft erforderliche ontologische Notwendigkeit eine solche, die unter der Bedingung der Kontingenz und damit unter der Bedingung der Zeitlichkeit steht. Für ein Sein, welches notwendig ist, gibt es in einer durchgängig kontingenten Welt keinen Platz, wohl aber für ein "mit Notwendigkeit Wahr-Sein und nicht Falsch-Sein-Können". Entsprechend gibt es in einer kontingenten Welt keine Aussagen über Notwendiges ('propositiones de necessario'), wohl aber notwendige Aussagen ('propositiones necessariae'). (Fs)

84a Ockhams Theorie notwendig wahrer Aussagen über kontingente Sachverhalte spielt eine entscheidende Rolle in der Metaphysik; wir werden hierauf in Kap. V zurückkommen. Hier bleibt nur festzuhalten, daß eine notwendige Aussage nicht mit einer Aussage über etwas Notwendiges verwechselt werden darf. Die für alles Beweiswissen erforderliche Notwendigkeit ist keine ontische Qualität von Dingen, sondern eine prädikative Modalität von Aussagen. Dies gilt nach Ockham nicht nur für die sog. 'demonstrationes quia', deren Prämissen nicht schlechthin früher bekannt sind als die Schlußfolgerung, sondern auch für die höchste Form des Beweises, die 'demonstratio propter quid', bei der die Prämissen in ihrer Notwendigkeit und Priorität im vorhinein bekannt sind (OP I, 536f). (Fs)

84b Logik und Sprache, so können wir festhalten, haben nicht mit Gegenständen, sondern mit Zeichen zu tun, und zwar mit Zeichen, die entweder für Gegenstände oder für andere Zeichen stehen. Da sprachliche Zeichen im Satz als Subjekt- und Prädikatterm auftreten, hat die Logik zum einen die Aufgabe, die Eigenschaften von Termini wie Signifikation und Supposition zu untersuchen und zu klären. Sodann obliegt es ihr, die Weisen der Verknüpfung von Termini in der Aussage darzulegen und die Bedingungen wahrer Aussagen festzulegen. Und schließlich: Da nicht nur Termini zu Aussagen, sondern auch Aussagen zu Argumenten verknüpft werden können, hat die Logik sich mit Argumenten, allen voran mit solchen syllogistischer Form, zu beschäftigen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, die zu wissenschaftlichen Beweisen führenden Schlußfolgerungen auf ihre formale Qualität hin zu bestimmen. (Fs)

84c Ockham erteilt allen Versuchen, die Logik zu einer Art 'Superdisziplin' zu stilisieren, eine Absage, desgleichen allen Versuchen, die Unterschiede zwischen Logik und Metaphysik zu verwischen (vgl. OP I, 542 ff). Die Logik ist im Unterschied zu den 'Realwissenschaften' ('scientiae reales'), die sich, wie z.B. die Physik, mit in der Natur vorkommenden Einzeldingen beschäftigen, 'Rationalwissenschaft' ('scientia rationalis'). Ihr Gegenstand sind Denkprodukte. Logik hat mit vernünftigern Denken und Sprechen zu tun, "sie lehrt und tradiert diejenigen Regeln, welchen in jeder Wissenschaft und Kunst alle Überlegungen, seien sie gedanklicher, gesprochener oder geschriebener Natur, genügen müssen" (OP VII, 3). Andererseits ist die Verbindung zwischen Logik und Realwissenschaften von entscheidender Bedeutung für beide. Denn in allen Disziplinen bedient man sich der Worte, welche für Begriffe stehen. Begriffe aber können im Satz nicht nur für andere Begriffe, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch für reale Einzeldinge stehen. Welchen ontologischen Status freilich die gedanklichen, sprachlichen und geschriebenen Zeichen, mit deren formalen Beziehungen sich die Logik beschäftigt, besitzen, und vor allem: wie die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Begriffen und Dingen aussieht, dies zu untersuchen ist nicht Aufgabe der Logik, sondern der Metaphysik. Ihr wollen wir uns im folgenden Kapitel zuwenden. (Fs)


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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Logik - Metaphysik; M. des Transzendenten - Transzendentalen (Avicenna, Averroes); Sein, seiend: Duns Scotus - Thomas (univok - Analogia entis)

Kurzinhalt: 'Sein' ist nicht mehr Seinsakt (Thomas von Aquin: "ens est cuius actus est esse"), sondern widerspruchsfreie Existenz-(-möglichkeit) (Duns Scotus: "ens est cui non repugnat esse")

Textausschnitt: 86a Ockham galt in der Vergangenheit vielen und gilt auch heute noch manchem als antimetaphysischer Denker, der wie mit einem Rasiermesser ("Ockhams razor") metaphysische Annahmen als gänzlich überflüssig "wegrasiert". Daß diese Einschätzung auf einem Irrtum beruht, haben bereits die eingangs dargelegten Zusammenhänge im Hinblick auf den rein methodologischen Charakter des 'rasorium' gezeigt. Danach ist es Ockham nicht darum zu tun, metaphysische Annahmen prinzipiell und ausnahmslos als überflüssig zu eliminieren, sondern die begründeten von den unbegründeten zu scheiden. Unbegründet ist eine metaphysische These immer dann, wenn sie zur Annahme der Existenz von Dingen verpflichtet, für die es in der Wirklichkeit keine Grundlage gibt. Wie aber sieht die Basis begründeter bzw. begründbarer metaphysischer Thesen aus? (Fs)

86b Zur Verdeutlichung der Besonderheit des Ansatzes und zugleich der Leistung der Ockhamschen Metaphysik ist ein Blick auf die Entwicklung dieser Disziplin im Mittelalter notwendig.1 Es lassen sich nämlich diesbezüglich die Charakteristika mittelalterlichen Philosophierens besonders deutlich erkennen: die Rezeption der Antike in Form der Metaphysik der Ideen (Platon) und der Metaphysik als Seinswissenschaft (Aristoteles); die Transformation antiken Gedankenguts in Form der Verlagerung der platonischen Ideen in das Denken Gottes (Augustinus), die Anbindung der Seinswissenschaft an die Theologie (Averroes) bzw. die Gegenthese hierzu (Avicenna); und schließlich die Konzeption einer Synthese in Form einer Onto-Theologie (Thomas von Aquin) und die Exposition von Metaphysik als Transzendentalwissenschaft (Johannes Duns Scotus). In dieser Rezeption, Transformation und Innovation kommt eine Spannung zum Ausdruck, welche die Metaphysikdiskussion des Mittelalters nahezu durchgängig prägt: die Spannung zwischen einer Metaphysik des Transzendenten, welche im Gefolge des Platonismus und Neuplatonismus durch die Absage an Sinneswahrnehmung und Einzeldinge und die Präferenz der Ideen als apriorischer Seins- und Erkenntnisgründe gekennzeichnet ist und insoweit eine unverkennbare Nähe zur Theologie besitzt, und einer Metaphysik des Transzendentalen, welche unter dem Einfluß des Aristotelismus die kritische Untersuchung der Bedingungen der Rede von Sein, Existenz und Wirklichkeit in den Vordergrund rückt und zugleich ihre relative Selbständigkeit gegenüber der Theologie zu behaupten sucht. Einen ersten Höhepunkt erreicht die Metaphysik in der arabischen Philosophie mit der Auseinandersetzung zwischen der These, Gegenstand dieser Disziplin sei das Seiende, insofern es ist (Avicenna), und der Gegenthese, ihr Gegenstand sei das erste, ausgezeichnet Seiende, nämlich Gott (Averroes). Unabhängig von einer Lösung dieses Streits baut die Metaphysik im Rahmen der Aristotelesrezeption ihre Position als eigenständige Disziplin gegenüber der Theologie weiter aus, wobei das von Averroes propagierte theologienahe Metaphysikverständnis zunehmend kritisiert wird, weil es den Unterschied zwischen Metaphysik und Theologie tendenziell auflöst. (Fs)

87a Nicht zuletzt um dies zu vermeiden, bestehen führende Denker der Hochscholastik wie Albert der Große, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus auf dem eigenständigen wissenschaftlichen Rang dieser Disziplin. Sie begreifen Metaphysik als Theorie des Seienden, insofern es ist, auch wenn eine solche Theorie unter gewissen Voraussetzungen auch das ausgezeichnet Seiende Gott zu ihrem Gegenstand hat. Doch entscheidend ist nicht dies, sondern der systematische Ansatz der Metaphysik bei der Untersuchung des Prädikates 'seiend' ('ens'), welches allen anderen Prädikaten vorausgeht und damit von Ko-Prädikaten wie Materialität und Prozessualität absehen läßt. So sieht Thomas von Aquin die Aufgabe der Metaphysik in der Untersuchung des fundamentalen Charakters des allgemeinsten Begriffes 'seiend' sowie der mit ihm konvertiblen Bestimmungen ('passiones entis convertibiles') des Guten, des Wahren, der Einheit etc. Zugleich liegt dem Aquinaten daran, deutlich zu machen, daß der Begriff 'seiend' sowohl die Weise der Existenz beschreibt, wie Gott ist, als auch - in Analogie dazu - die Existenzweise, welche alles Geschaffene besitzt, und zwar insoweit, als es am göttlichen Sein partizipiert. Mit diesem dem Neuplatonismus entstammenden Teilhabe-Gedanken rückt der Aquinate die Metaphysik wiederum in die Nähe der Theologie. Seine Metaphysik wird "Onto-Theologie".1

88a Eine solche Nähe zur Theologie sucht Ockhams Hauptdiskussionspartner in diesem Punkt, Johannes Duns Scotus, dadurch zu vermeiden, daß er den Begriff 'seiend' nicht wie Thomas aus der Perspektive von Tun und Leiden (Gott ist sein Sein, der Mensch hat sein Sein (empfangen), sondern unter dem Aspekt widerspruchsfreier Existenz(-möglichkeit) konzipiert. 'Sein' ist nicht mehr Seinsakt (Thomas von Aquin: "ens est cuius actus est esse"), sondern widerspruchsfreie Existenz-(-möglichkeit) (Duns Scotus: "ens est cui non repugnat esse").2 Weil an das Prinzip der Widerspruchsfreiheit gebunden, wird der Ausdruck 'seiend' zu einem die kategoriale Ordnung übersteigenden transkategorialen oder transzendentalen Grundbegriff und die Metaphysik die 'Wissenschaft von den transkategorialen bzw. transzendentalen Bestimmungen' ("scientia de transcendentibus", Duns Scotus).3 Die Metaphysik beschäftigt sich mit jener formalen Struktur, innerhalb deren endliches wie unendliches, kontingentes wie notwendiges Seiendes überhaupt erst zum Gegenstand von Wissenschaft gemacht werden kann. (Fs) (notabene)

1.Kommentar (16.12.09), zu oben: "Weil an das Prinzip der Widerspruchsfreiheit gebunden, wird der Ausdruck 'seiend' zu einem die kategoriale Ordnung übersteigenden transkategorialen oder transzendentalen Grundbegriff ..." Gerade die Widerspruchsfreiheit setzt das Sein im Sinne von Seinsakt voraus.

88b Genau hier setzt Ockham an, indem er aus der bisherigen Metaphysikdiskussion eine methodologische und eine inhaltliche Konsequenz zieht. Die methodologische lautet: Wenn man die Charakterisierung einer Wissenschaft nicht über ihre Inhalte oder gar ihren Hauptgegenstand vornehmen kann, dann muß man es über die Art und Weise versuchen, wie die betreffende Disziplin mit Fragen umgeht, für die sie sich zuständig sieht. Folge: Das Paradigma der Bestimmung der Metaphysik nach Maßgabe ihres Gegenstandes muß durch ein neues Paradigma, nämlich das ihrer Bestimmung durch die Art und Weise des Umgangs mit ihren Gegenständen, ersetzt werden. Die inhaltliche Konsequenz, die Ockham aus der bisherigen Diskussion zieht, lautet: Metaphysik hat es unmittelbar überhaupt nicht mit Gegenständen - welcher Art auch immer - zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie begründete Aussagen über den ontologischen Status desjenigen gemacht werden können, was in einer noch näher zu bestimmenden Weise Realität beansprucht. Beide Konsequenzen, die methodologische wie die inhaltliche, gehören erkennbar zusammen, der Wechsel von der Gegenstands- zur Methodenbestimmung ist nicht ohne die Ersetzung der Dinge durch die Weisen ihrer Existenzprädikation möglich. (Fs)

89a Dieser Methodenwechsel liegt ganz in der Linie der Ockhamschen Wissenschaftskonzeption (vgl. Kap. III), wonach eine gegebene Disziplin nicht einen, sondern viele Gegenstände hat, und zwar so viele, wie in ihr einschlägige Sätze mit begründetem wissenschaftlichen Anspruch auftreten. Wissenschaftliche Disziplinen sind ständig erweiterbar und insoweit offene Systeme. Es ist daher müßig, sie über ihre Gegenstände definieren zu wollen; entscheidend ist die Ordnung, in der die Sätze einer gegebenen Disziplin zueinander stehen. Hinsichtlich der Metaphysik bedeutet dies: Sie hat nicht einen Gegenstand, weder das Seiende, insofern es ist, noch Gott als das erste ausgezeichnet Seiende, sondern viele Gegenstände, und zwar so viele, wie es in ihr begründete Sätze über den ontologischen Status von etwas gibt. Damit kann Metaphysik nicht mehr, wie noch bei Thomas von Aquin, Onto-Theologie sein: Das geschaffene Seiende "partizipiert" nicht am ungeschaffenen Seienden, es ist vielmehr dessen kontingentes Produkt. (Fs)

89b Damit ergibt sich für Ockham auch gar nicht erst das Problem, welches der Aquinate mit der sog. "Analogia entis", der analogen Prädikation des Ausdrucks 'seiend', in bezug auf das geschaffene Seiende (welches Sein hat) im Unterschied zum ungeschaffenen Seienden Gott (welcher sein Sein ist) zu lösen sucht. 'Seiend' - darin folgt Ockham Duns Scotus - ist das allgemeinste Prädikat; es ist völlig frei von jedweder inhaltlichen Bestimmtheit und meint lediglich widerspruchsfreie Existenz-(-möglichkeit). Daraus folgt, daß die Verwendung dieses Prädikats nur eine univoke sein kann: Es ist gleichermaßen von Gott und Kreatur aussagbar. Der Unterschied zwischen ungeschaffenem und geschaffenem Seienden ist der, daß im Falle des ersteren Existenzmöglichkeit und Existenzwirklichkeit zusammenfallen und daß Gottes Sein ein absolut notwendiges ist, während im Falle des geschaffenen Seienden widerspruchsfreie Existenzmöglichkeit keineswegs notwendig Existenzwirklichkeit einschließt. Es darf dem Einzelseienden lediglich nicht widersprechen, zu sein, doch folgt daraus nicht, daß es mit Notwendigkeit existiert, sobald es existiert. Für Gott wäre nicht zu sein ein Widerspruch, für die Kreatur ist die Möglichkeit ihres Nicht-Seins hingegen kein Widerspruch. (Fs)

90a Daß der Ausdruck 'seiend' in ein und derselben Bedeutung von Gott und Kreatur ausgesagt werden kann, ist deswegen völlig problemlos, weil mit ihm nicht eine Eigenschaft prädiziert wird. Besäße Gott die 'Eigenschaft' zu sein, dann stellte sich in der Tat die gravierende Frage, wie man dann Mensch, Tier, Stein etc. ebenfalls die 'Eigenschaft' zu sein zusprechen könnte. Anders liegen die Dinge, wenn 'seiend' keine Eigenschaft, sondern lediglich eine bestimmte Weise der Prädikation ist. Univozität kann daher auch nicht zum Wesen irgendeines Seienden gehören; es ist der Begriff bzw. seine Verwendung, welche univok sind, nicht die Sache (vgl. OT II, 310f). Die Aussage "Sokrates ist ein Seiendes" z.B. ist nicht so zu verstehen, als gäbe es die Realität 'Sokrates' und eine weitere Realität, nämlich 'Seiendes', und beide Realitäten würden durch die Aussage miteinander verbunden. Eine solche Sicht der Dinge würde zur Annahme überflüssiger Entitäten verleiten. Viel naheliegender und frei von überflüssigen bis gewagten ontologischen Annahmen ist die prädikationslogische Deutung dieses Satzes: Wann immer dieser Satz zwischen 469 und 399 v. Chr. formuliert worden ist: es ist ein wahrer Satz gewesen, und zwar deswegen, weil in diesem Zeitraum der Subjektterminus 'Sokrates' für dasselbe supponiert hat wie der Prädikatterminus 'ist seiend' (unnötig darauf hinzuweisen, daß das Umgekehrte natürlich nicht notwendig gilt). Ähnlich sieht die Analyse des Satzes "Sokrates ist ein Seiendes gewesen" aus: Hier wird nicht ein Gewesen-Sein dem Sokrates zugesprochen, sondern es wird gesagt: Wann immer diese Aussage seit dem Jahre 399 v. Chr. getätigt wird: Sie ist wahr, weil Subjekt- und Prädikatterm für ein und dasselbe supponieren. (Fs)

91a Die Analyse zeigt, daß der Ausdruck 'seiend' nicht auf aktuell Existierendes eingeschränkt ist; er läßt sich ebenso auf Vergangenes und Zukünftiges anwenden. Entscheidend ist nicht die tatsächliche Existenz, sondern die Tatsache, daß Identität der 'supposita' gegeben ist. Weil 'seiend' auf alles anwendbar ist, was widerspruchsfrei existiert oder existiert hat oder existieren wird bzw. kann, geht es sowohl der Unterscheidung in Realseiendes und Gedachtseiendes ('entia realia'/'entia rationalia') als auch der kategorialen Einteilung der Aussageweisen voraus. 'Seiend' ist ein überkategorialer oder - in der Terminologie des Duns Scotus - ein transzendentaler Ausdruck. 'Transzendental' nicht im kantischen Sinne der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung, sondern im Sinne des die kategoriale Ordnung Überschreitens. Man könnte auch, das lateinische 'transcendens' übernehmend, von einem 'transzendierenden' Ausdruck sprechen, nur könnte dann das Mißverständnis auftreten, es würde sich dabei um eine den Bereich des immanenten Seienden übersteigende Seinsweise handeln. Eine solche Deutung liegt Ockham nicht nur fern, sie wäre das Gegenteil dessen, was er meint. Transzendenz ist für ihn nicht ein Ausdruck für etwas Ontisches, sondern ein prädikationslogischer Terminus. (Fs)

91b Ockham hat, anders als mancher seiner Zeitgenossen und Vorgänger, keinen Kommentar zur (aristotelischen) Metaphysik geschrieben. Zwar hatte er solches nach eigenem Bekunden vor (vgl. OP II, 325/26), doch scheint er nicht dazu gekommen zu sein, möglicherweise infolge seiner Zitierung nach Avignon und der damit verbundenen Unruhe, welche in gewissem Sinne eine Art Zäsur in seinem Leben und Schaffen bedeutet. Jedenfalls kann das Fehlen eines solchen Kommentars nicht als Beleg für seine angebliche Metaphysikfeindlichkeit herhalten. Ockham hat der Metaphysik nicht ablehnend, wohl aber der traditionellen Metaphysik seiner Vorgänger und Zeitgenossen äußerst kritisch gegenübergestanden. Eine solche Position ist, wie sollte es anders sein, ohne ein eigenes Konzept von Metaphysik nicht möglich. Im folgenden sollen zunächst einige der wichtigsten Brennpunkte seiner Metaphysik(-kritischen)-Dis-kussion erörtert werden. Im Anschluß daran soll die Frage exponiert werden, wie nach Ockham Metaphysik als wissenschaftliche Unternehmung überhaupt möglich ist. Als Brennpunkte bieten sich das Kategorienproblem und das Universalienproblem an. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Metaphysik - Kategorien; Sein als verschieden sein; lingua interior; Erstintention - Zweitintention

Kurzinhalt: Ockham nimmt damit den augustinischen Gedanken von der Sprache des Inneren auf, deutet ihn aber in einer neuen Weise, nämlich als System von Zeichen.

Textausschnitt: 92a Seit der aristotelischen Exposition der Kategorien in der gleichnamigen Schrift ist darüber gestritten worden, ob es sich hierbei um eine Gliederung in Seins- oder in Aussageweisen handelt.1 Diese Frage zu entscheiden ist nicht Aufgabe der vorliegenden Schrift. Wohl aber müssen wir uns kurz des aristotelischen Ansatzes vergewissern, um die Besonderheit der Ockhamschen Stellungnahme hierzu zu begreifen. Aristoteles hat bekanntlich den Ausdruck 'kategoria' dem gerichtssprachlichen Bereich der Agora entnommen und in die philosophische Fachterminologie in der Bedeutung von 'Aussage' bzw. 'Aussageform' eingeführt. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen solchen Ausdrücken, die als Träger anderer Ausdrücke fungieren, und solchen, die selbst keine Träger sind, wohl aber anderem zukommen können. Was weder von etwas anderem ausgesagt wird noch etwas anderem zukommt, dafür aber die Funktion des Trägers übernehmen kann, nennt Aristoteles 'Substanz', während umgekehrt dasjenige, was zwar nicht als Träger fungieren, wohl aber von anderem ausgesagt werden kann, 'Akzidens' heißt. Hier liegt die Doppelfunktion der aristotelischen Kategorienauffassung deutlich zutage: Die Kategorien sind einerseits Prädikationsformen, sie thematisieren aber auch andererseits mit der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Substanz als dem Selbständigen und den Akzidentien als dem Unselbständigen Seinsweisen. Dies und die daraus resultierende Frage, ob zwischen der Struktur der Wirklichkeit und der Klassifikation der Aussagemöglichkeiten eine unmittelbare Affinität besteht, hat die Kategorienlehre in der Nachfolge des Aristoteles zu einem zentralen Thema ontologischer Untersuchungen gemacht. (Fs)

93a Ockham läßt von Anfang an keinen Zweifel daran, daß für ihn die Kategorien nicht Klassen von Dingen sind. Interessant ist seine Begründung hierfür: Sie können es nicht sein, weil in der Wirklichkeit der Einzeldinge Bestimmungen wie Quantitäten, Relationen etc. in selbständiger Form nicht auftreten können. Konkret: Im Bereich der realen Einzeldinge gibt es nicht so etwas wie 'fünf-Meter-hoch', sondern nur fünf-Meter-hohe Bäume, noch stellt das Größersein des einen Baumes im Vergleich zu einem anderen eine Realität eigener Art dar. Beides, Quantität wie Relation, ist von der Substanz der Dinge realiter nicht verschieden. Der Baum ist seine fünf Meter hoch, er ist sein Größersein. Das bedeutet nicht, daß man nicht sinnvoll zwischen seiner Größe oder seiner Relation zu anderen Bäumen unterscheiden könnte. Nur sind solche Unterscheidungen Aktivitäten des Verstandes, keine Wiedergaben real existierender und damit real verschiedener Sachverhalte. (Fs)

93b Wir stoßen hier auf ein Grundprinzip der Ockhamschen Metaphysik: Sein heißt verschieden sein. Nur was von anderem verschieden ist, kann ein eigenes Sein besitzen. Wenn, so Ockhams Argument, die Kategorien der Quantität, der Relation etc. Seinsklassen sein sollen, dann müßten die unter diese Klassen fallenden einzelnen Quantitäten, Relationen etc. selbständige Realitäten darstellen. Eben das ist offensichtlich nicht der Fall. Die Vielheit der Kategorien basiert nicht auf einer Verschiedenheit der Dinge, sondern auf der Unterscheidbarkeit des begrifflichen Zugangs zu ihnen. Es sind die Begriffe von Quantitäten, Relationen etc., nicht die quantifizierten und aufeinander bezogenen Dinge, welche die Basis für derartige kategoriale Unterscheidungen liefern. Von der Unterscheidbarkeit der Begriffe auf eine reale Verschiedenheit der Dinge zu schließen, ist eine der Fallen, in die der der Logik Unkundige und der Grammatik der Terme Unsichere unweigerlich hineintappt. (Fs) (notabene)

94a Ein weiterer, mit dem bisher genannten verwandter Grund für die Nichtaffinität zwischen kategorialer Unterschiedenheit und Dingstruktur ist der, daß ein und dasselbe reale Einzelding - wenn auch in je anderer Hinsicht - unter verschiedene Kategorien fallen kann, ohne dadurch seine Identität in irgendeiner Form einzubüßen. Daß, um bei unserem Beispiel zu bleiben, der Baum fünf Meter mißt, daß er größer ist als ein neben ihm stehender Baum, daß er in Rom steht, daß er 50 Jahre alt ist etc., macht aus ihm nicht ein Ding plus fünf Meter plus einem Größer-Sein plus einem in Rom-Sein. Es ist vielmehr ein und derselbe individuelle Baum, der in Rom steht und die genannten Ausmaße und vergleichbaren Größenordnungen besitzt. (Fs)

94b Für Ockham scheint daher die Kontroverse, ob die aristotelischen Kategorien Seins- oder Aussageweisen sind, von allenfalls untergeordneter Bedeutung zu sein. Jedenfalls beginnt er mit einer ganz anders gearteten Unterscheidung, nämlich derjenigen zwischen 'Kategorie' ('praedicamentum') (a) als Ausdruck für die Gesamtheit der durch Über- und Unterordnung eingeteilten Begriffe und (b) als Bezeichnung des ersten und allgemeinsten Begriffs eines solchen Ordnungsschemas (OP I, 111). In beiden Fällen handelt es sich nicht um die Klassifikation bloßer Worte, sondern um eine solche signifikativer Ausdrücke. Darin liege die Hauptabsicht des Aristoteles, in der Kategorienschrift die die Dinge bezeichnenden Ausdrücke näherhin zu bestimmen ("de vocibus res significantibus determinare", OP II, 136). In gewissem Sinne, so Ockham, behandelt Aristoteles mit den signifikativen Ausdrücken zugleich auch die Dinge, indem er in der Kategorienschrift manches sagt, was "nebenher" auch die Dinge betrifft. Doch ist die Behandlung der Dinge nur eine sekundäre. Mancher seiner Zeitgenossen ('moderni'), so Ockham mit Blick auf Walter Burleigh, hat das übersehen und erblickt in der aristotelischen Kategorienschrift von vornherein einen ontologischen Traktat. In Wirklichkeit hat es die Kategorienlehre in erster Linie mit signifikativen sprachlichen Ausdrücken und deren Klassifikation zu tun; ihre Verbindung mit den Dingen und deren Einteilung ist nur eine mittelbare. Darin besteht ja gerade der Nutzen dieser Schrift, zu wissen, "welche Namen welche Dinge bezeichnen" (I.e.). (Fs)

95a Ockham bestreitet damit nicht einen Zusammenhang zwischen kategonaler und ontologischer Struktur; was er bestreitet ist die Berechtigung des Versuches, zwischen kategorialer und ontologischer Struktur eine unmittelbare Affinität zu erblicken oder gar eine Abhängigkeit der ersteren von der letzteren zu konstruieren. In der Sache freilich ist die Nähe zum Bereich der Dinge und damit zur Frage nach dem ontologischen Fundament der Kategorien durchaus gegeben; denn die signifikativen Ausdrücke werden als Termini im Satz verwendet und treten damit, wie dargelegt, in ein bestimmtes Suppositionsverhältnis ein, wobei sie unter anderem - siehe die personale Supposition - auch für Dinge stehen können. Dennoch bleiben die Kategorien Klassifikationen möglicher Prädikate bzw. Begriffe, welche im Satz als Prädikate Verwendung finden. Die Kategorien können daher nicht als Klassifikationen der Dinge und damit auch nicht als deren ontologische Struktur angesehen werden. (Fs)

95b Angesichts dieses Resultats ist zu fragen, ob das Lehrstück von den Kategorien zur Metaphysik gerechnet werden kann. Ockham hält das bisherige Kernstück der ontologischen Diskussion der Kategorienfrage, nämlich die aristotelische Parallelisierung von Aussage- und Seinsstruktur, wie gezeigt, für unbegründet. Dafür tritt aber für Ockham in ganz anderer Form eine neue ontologische Problematik auf, wenn man die Klassifikation der signifikativen Worte mit der Ordnung der Begriffe bzw. der Denkintentionen parallelisiert und damit die Frage nach dem ontologischen Status des Mentalen aufwirft (vgl. OP II, 148). Begriffe sind Bestandteile einer Sprache, deren Sprecher sie mit Zugriffen auf die Wirklichkeiten verbinden. Der ontologische Status solcher Begriffe ist daher nicht einfach nur der des Sich-im-Denken-Befindens, des Mentalen, sondern darüber hinaus und vor allem der des Intentionalen. Mit Hilfe der Begriffe deutet der Mensch die Wirklichkeit auf seine Weise. Damit stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status der Begriffe als 'Intentionen des menschlichen Geistes' ('intentiones animae'), eine Frage, der Ockham größte Bedeutung beimißt und von der er ausdrücklich feststellt, daß sie in die Metaphysik gehört. An einer 'intentio' ist grundsätzlich ein Zweifaches bedeutsam: Sie ist stets eine Angelegenheit des Intellekts, welcher etwas 'intendiert', und sie ist ihrer Natur nach darauf angelegt, etwas von ihr Verschiedenes zu bezeichnen (vgl. OP I, 41). Nun könnte man behaupten, zu einer Bezeichnung käme es doch erst, wenn eine 'intentio animae' als Begriff in einer Aussage Verwendung findet, also ausgesprochen und/oder niedergeschrieben wird. Ersteres ist nach Ockham in der Tat erforderlich, letzteres hingegen nicht. Eine 'Aussage' ('propositio') muß nämlich nicht gesprochen oder niedergeschrieben werden, sie kann sich auch ausschließlich im Denken befinden, ja dies ist sogar ihr ursprünglicher Ort und ihre ursprüngliche Seinsweise. Ockham spricht von der "inneren Sprache" ("lingua interior"), deren sich der Intellekt bedient und die mit keiner der lebenden Sprachen identisch ist. Aus der Sicht der lebenden Sprachen sind die Denkintentionen rein 'mentale Worte' ('verba mentalia'), die keinem konkreten Idiom angehören ("sunt nullius idiomatis"). (Fs)

96a Ockham nimmt damit den augustinischen Gedanken von der Sprache des Inneren auf,2 deutet ihn aber in einer neuen Weise, nämlich als System von Zeichen. Bezieht sich ein mentales Zeichen auf ein selbständig existierendes Einzelding, spricht man von einer 'Erstintention' ('intentio prima'), bezieht es sich auf ein anderes Zeichen, liegt eine 'Zweitintention' ('intentio secunda') vor. Daß Erstintentionen als Zeichen für Gegenstände und Zweitintentionen als Zeichen für Zeichen fungieren, ändert nichts an der Gemeinsamkeit beider, Denkinhalte zu sein. Der Primat der Erst- vor den Zweitintentionen ist bei Ockham anders als in der Tradition vor ihm (etwa bei Thomas von Aquin) nicht ein ontologischer, sondern ein semantischer: Zeichen stehen natürlicherweise für etwas von ihnen Verschiedenes. So gilt das Zeichen 'Mensch' primär für die existierenden Einzelmenschen; erst sekundär kommt es zur Verwendung dieses Zeichens für ein anderes Zeichen (z.B. in der Aussage "'Mensch' ist eine Spezies"). 'Natürlich' heißen die Zeichen deswegen, weil sie als von den Einzeldingen unmittelbar verursacht gelten; so ist z.B. der vom Feuer verursachte Rauch ein 'natürliches' Zeichen für Feuer. Im Unterschied hierzu sind Zeichen, welche für andere Zeichen stehen, Resultate der Konvention der Zeichenverwender. Daß man heute einen Radweg mit einem entsprechenden Piktogramm kennzeichnet, ist nicht, wie der Rauch vom Feuer, von Fahrrädern 'verursacht', sondern beruht auf einer Übereinkunft und damit ursprünglich auf einer freien Entscheidung, welche dann freilich verbindlich geworden ist. (Fs)

97a Zwei wichtige Fragen sind hier zu klären. Erstens: Wenn sich nach Ockham die natürlichen Zeichen der Verursachung durch die Einzeldinge verdanken, ist dann ihre signifikative Funktion von der aktuellen Präsenz der Einzeldinge abhängig? Zweitens: Wie steht es mit den Allgemeinbegriffen: Können dieselben signifikative Funktion ausüben und wenn ja, wie? Die erste Frage beantwortet sich durch einen Blick auf die Grammatik des Ausdrucks 'bezeichnen' ('significare', vgl. OP I, 95ff). Hier lassen sich vier verschiedene Verwendungsweisen voneinander unterscheiden: (1) Ein Zeichen übt dann seine Funktion aus, wenn es für dasjenige steht, von dem es im Satz ausgesagt wird. Beispiel: In der Aussage "Der Mensch ist vernunftbegabt" steht 'vernunftbegabt' für jeden einzelnen Menschen. Die Bezeichnung besitzt hier 'demonstrative' Funktion, d.h. man kann auf einen einzelnen Menschen zeigen und sagen: "Dieser hier ist vernunftbegabt". Hierzu bedarf es naturgemäß der Präsenz des Bezeichneten. Fällt das Bezeichnete weg, entfällt auch die Bezeichnung. (2) Anders sieht es im Fall der Noch-nicht- oder der Nicht(-mehr)-Anwesenheit des Signifikats aus. So bezeichnet 'vernunftbegabt' ja nicht nur gegenwärtige, sondern auch abwesende und gleichermaßen auch vergangene wie zukünftige Menschen. Hier ist die Funktion des Zeichens im Unterschied zu (1) nicht an die Existenz oder gar Präsenz des Bezeichneten gebunden, sondern sie ist frei von 'demonstrativer' Bestätigung. (3) Wiederum anders wird der Terminus 'bezeichnen' verwandt, wenn man damit nicht den Gegenstand - sei er nun 'demonstrativ' präsent wie in (1), sei er davon unabhängig, wie in (2) -, sondern die entsprechende Qualität meint. So bezeichnet 'vernunftbegabt' ja nicht nur den (existierenden, gewesenen, zukünftigen) Einzelmenschen, sondern es weist auf das Haben von Vernunft hin. Schließlich gibt es noch eine vierte, freilich sehr weite Bedeutung von 'bezeichnen'; man kann sie die indirekte nennen. Sie findet sich im Satz, und zwar dort, wo etwas mitbenannt wird, das vordergründig gar nicht zum Gegenstand der Bezeichnung zu gehören scheint. So bezeichnet der Terminus 'blind' zwar prima facie den Mangel an Sehfähigkeit. Gleichwohl kann man nach Ockham sagen, dieser Ausdruck bezeichne die Sehfähigkeit im Modus ihrer Defizienz. (Fs)

98a Wie aber steht es mit den allgemeinen Zeichen? Damit sind wir bei der zweiten der beiden obigen Fragen. Für Ockham sind auch die Allgemeinbegriffe Zeichen. Sie sind jedoch keine natürlichen Zeichen, weil sie nicht durch die Einzeldinge verursacht sind. Die Allgemeinbegriffe verdanken sich ausschließlich der Tätigkeit des Verstandes. Es sind die Begriffe in Form von Denkintentionen, mit deren Hilfe der Intellekt sich der Wirklichkeit zu vergewissern sucht. Daß er den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschen, die sich um eine ähnliche Vergewisserung bemühen, mit Hilfe einer bestimmten Sprache und/oder der schriftlichen Fixierung seiner Aussagen sucht, ändert nichts daran, daß die Dimension, in der solches stattfindet, eine rein mentale ist. Diesen Bereich als eine Realität sui generis zu exponieren, ist eine der Hauptaufgaben Ockhamscher Metaphysik. Eine weitere ist die Klärung des ontologischen Status der Universalien. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien, das Universalienproblem; universalia sunt: ante res - in rebus - post res; Boethius, Abälard; Kommentar eg: Lonergan, sausage machine; Gegenstand; Partizipation: allgemeine Prädikation (Ockham=




Kurzinhalt: ... Frage nämlich, ob nach Ockham das Allgemeine eine verstandesunabhängige Realität darstellt, "welche demjenigen innewohnt und wesentlich ist, dem sie gemeinsam zukommt" ... 'Gegenstand' im Sinne des unmittelbar Gewußten sind die Begriffe ...

Textausschnitt: 98b Das sog. Universalienproblem stellt genaubesehen ein Bündel von Problemen dar, in welchem ontologische, erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische und semantische Fragen miteinander eng verknüpft sind. Von der Ontologie her stellt sich die Frage nach dem Seinsstatus des Nicht-Individuellen; aus der Sicht der Erkenntnistheorie ist zu fragen, wieweit Allgemeinbegriffe reine Denkprodukte oder Gegenstandskonstitutiva sind, während von der Wissenschaftstheorie her der Status von Allgemeinaussagen (Regeln, Gesetze etc.) zu prüfen ist. Aus der Perspektive der Semantik schließlich ist zu fragen, wie sich, wenn man allgemeine Namen bzw. allgemeine Zeichen zuläßt, die Allgemeinheit der Bezeichnung zur Einheit der Bedeutung verhält. Auch wenn diese verschiedenen Zugänge eines gemeinsam haben, nämlich die Problematisierung des Nicht-Individuellen, tut man gut daran, die genannten Ebenen auseinanderzuhalten. Dies gilt insbesondere für die mittelalterliche Universaliendiskussion in ihrer platonistischen, gemäßigt realistischen wie nominalistischen Ausformung. (Fs)

99a Für die Tradition des Platonismus, der in neuplatonischer und augustinischer Färbung das ganze Mittelalter hindurch von großer Bedeutung gewesen ist, steht die ontologische These von der eigenen und vorrangigen Realität des Allgemeinen als Idee und als Gedanke Gottes im Vordergrund. Die Universalien sind den Einzeldingen vorgeordnete selbständige Wirklichkeiten ("universalia sunt ante res"). (Fs)

99b Deutlich realistisch orientiert ist auch die von Boethius skizzierte Fragestellung, welche den Anlaß zum eigentlichen Universalienstreit des Mittelalters gegeben hat: ob nämlich die Gattungen und Arten ('genera et species') (a) substantiell für sich existieren oder lediglich Begriffe sind, ob sie (b) etwas Körperliches oder etwas Unkörperliches darstellen und ob sie (c) von den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen getrennt oder mit ihnen verbunden sind.1 Die von Boethius favorisierte Mischthese, die Universalien gehörten zur Wirklichkeit der Einzeldinge, ohne doch deren Selbständigkeitsstatus zu besitzen ("universalia sunt in rebus"), wird als gemäßigter Realismus bezeichnet. (Fs)
99c Aus der Sicht des Platonismus und des gemäßigten Realismus nimmt sich die These des Nominalismus, die Universahen seien den Dingen nachgeordnet ("universalia sunt post res"), rein negativ aus, so als ginge es lediglich um die Bestreitung der Denkunabhängigkeit der Realität des Allgemeinen. Mag dies noch von den ersten, extremen Reaktionen auf den Universalienrealismus eines Wilhelm von Champeaux seitens Roscelins von Compiegne (ca. 1050-1120/25) gelten, der in trotziger Opposition gegen den Realismus in jeder Form im Allgemeinen nichts anderes als einen 'Stimmhauch' ('flatus vocis') sieht, so ist diese Form des Nominalismus bereits bei Roscelins Schüler Abälard obsolet. Abälard hat als erster und für lange Zeit einziger auf die wissenschaftstheoretischen und semantischen Implikationen des Universalienproblems aufmerksam gemacht. Die Universalien haben ihren Ort im Denken; gleichwohl besitzen sie infolge ihrer Funktion als bedeutungstragende Termini einen besonderen Status, der nicht über den schlichten Leisten 'entweder real, dann nur extramental, oder aber rein mental, dann ohne Realität' zu schlagen ist. Es gibt, so Abälard, zwischen Dingwelt und Denken ein Drittes: den Bereich der Bedeutungen. Natürlich ist die Welt der Bedeutungen die Welt des Verstandes, doch arbeitet dieser mit einem festen Bezug zur Wirklichkeit: Die von ihm geschaffenen Universalien beruhen letztlich auf Ähnlichkeitsbeziehungen der Dinge. Die Realität der Universalien ist nach Abälard die Realität ihrer Referenz. Es ist "die Vielheit der Dinge selbst der Grund für die Allgemeinheit eines Namens".2 (Fs) (notabene)

Kommentar (23.12.09) Cf. zum Bereich der Bedeutung oben.

Lonergan, Being: "30/7 By your insight into the image you are able to formulate the conditions, the elements in the image, necessary to having the insight. If you see in this circle that the curve must be perfectly round if all of the radii are equal, if that is what insight grasps in the image, then you can proceed to the definition of a circle, which is something like a definition of man. But you can proceed in more abstract fashion. You can select simply what is grasped by insight, namely, necessity and the conditions for that necessity, and then you have an abstract essence. Implicit definitions are of this sort. You select the determining relations, the postulational elements in the definition, with respect to whatever common matter you may need, and you have an abstract essence. It is not inevitable that every time this act occurs there results a universal, because what is operative is not a sausage machine from which one can get only sausages, but an intelligent and rational consciousness. When you have the insight, you can express it from the viewpoint of abstraction, picking out the abstract essence. You can also express the intelligibility grasped in this particular image with all of its determinations, and you have a particularized essence. (165f; Fs)

Liddy, Light: "6/6 This misunderstanding of the human process of knowing as some kind of 'metaphysical mechanics' is a recurrent theme in Lonergan's writings. We already noted his statement in the Blandyke Papers where he opposes any 'mechanical' theory of reasoning on the analogy of a slot machine: 'Put in a penny, pull the trigger, and the transition to a box of matches is spontaneous, immediate and necessary.' Elsewhere he will say our process of coming to know is not a kind of 'metaphysical sausage machine, at one end slicing species off phantasm, and at the other popping out concepts.' And again, still later, our mind is not a 'black box' in which there is sensitive 'input' at one end and words emerge as 'output' at the other end. On the contrary, as Lonergan was increasingly to formulate it, our understanding is a conscious process of 'grasping the intelligible in the sensible.' And this fact about our human knowing can be grasped by concretely attending to our own human understanding in act. (93; Fs)

100a Dieser wissenschaftstheoretische und semantische Angang an das Universalienproblem kommt bei Ockham endgültig zum Durchbruch. Wissenschaft ist ohne die Verwendung universaler Prädikate nicht möglich. Die Universalien sind Zeichen; diese können für existierende Einzeldinge, aber auch für andere Zeichen verwendet werden. Da in Aussagen über die Wirklichkeit Termini Verwendung finden, die in identischer ("univoker") Bedeutung von einer Mehrheit von Einzeldingen prädiziert werden können, stellt sich mit Nachdruck die Frage nach dem ontologischen Status einer derartigen "gemeinsamen univoken Prädikationsmöglichkeit" ("commune univocum praedicabile". OP II, 99). Die Klärung dieser Frage gliedert Ockham in die folgenden fünf Schritte: (1) Gehört das Allgemeine zum Bereich der vom Denken unabhängigen Wirklichkeit? (2) Ist das Allgemeine vom Individuellen real verschieden? (3) Existiert das Allgemeine unabhängig vom Denken, ohne real vom Individuellen verschieden zu sein? (4) Gehört das Allgemeine in irgendeiner Weise zum Individuellen? (5) Besitzt das Allgemeine eine Realität eigener Art, und wenn ja, welche?

101a Die Diskussion dieser Fragen nimmt im Sentenzenkommentar nahezu 200 Druckseiten ein (OT II, 99-292) und kann hier nicht im einzelnen behandelt werden. Wir wollen uns statt dessen auf das Kernproblem konzentrieren, die Frage nämlich, ob nach Ockham das Allgemeine eine verstandesunabhängige Realität darstellt, "welche demjenigen innewohnt und wesentlich ist, dem sie gemeinsam zukommt". Zur Diskussion steht die klassische These des Universalienrealismus, das Allgemeine inhäriere den Einzeldingen. Danach ist z.B. die Gerechtigkeit in den einzelnen gerechten Handlungen "verwirklicht", d.h., das Universale 'Gerechtigkeit' gehört als Realität eigener Art zu den in der Wirklichkeit auftretenden gerechten Einzelhandlungen. (Fs)

101b Man mache es sich mit dieser These der Realisten nicht zu einfach. Selbstverständlich ist ihnen der Unterschied zwischen Begriff und Sache geläufig. Kein Realist von Rang hat behauptet, die Begriffe existierten außerhalb des Denkens wie Einzeldinge. Was der Realist behauptet, ist dies: Der Allgemeinbegriff, etwa derjenige der Gerechtigkeit, steht für etwas, das in den gerechten Dingen oder Handlungen real vorhanden ist. Das gemeinsame Prädikat bringt demnach eine gemeinsame reale Sacheigenschaft zur Sprache, die, weil eine Realität eigener Art, auch real von der ihr zugrundeliegenden Sache unterschieden werden kann. (Fs)

101c Was spricht zugunsten eines solchen Universalienrealismus? Da ist zum einen das Argument der Wesensdefinition. Bleiben wir bei unserem Beispiel der Gerechtigkeit. Man kann sie definieren als die Tugend, jedem das Seine zukommen zu lassen. Damit ist nicht, so das Argument der Realisten, diese oder jene gerechte Einzelhandlung definiert, sondern das allen gerechten Handlungen gemeinsame Wesen der Gerechtigkeit. Hat obige Definition einen wirklichen Gehalt, so muß es das in ihr Enthaltene auch geben, so das Argument der Realisten. Ockham entgegnet hierauf: Mit Definitionen wie der obigen wird nicht das Wesen des Definiendum, sondern die Art und Weise eines Tuns angegeben. Es wird nämlich nicht gesagt, was Gerechtigkeit an sich ist, sondern es wird festgestellt, was wir tun (müssen), damit von Gerechtigkeit gesprochen werden kann (vgl. OT II, 132). (Fs)

102a Ein weiteres Argument zugunsten des Realismus geht dahin, zu behaupten, das Allgemeine sei schon deswegen etwas Reales, weil es Gegenstand von Wissenschaft ist, und Wissenschaft handle nun mal von der Wirklichkeit. Ockhams Entgegnung hierauf kann nach demjenigen, was in Kap. III über sein Wissenschaftsverständnis gesagt worden ist, nicht überraschen: Unmittelbarer Gegenstand von Wissenschaft sind nicht die Dinge, sondern Aussagen über die Dinge. Über den Realbezug einer Wissenschaft entscheidet nicht die Realität ihres Gegenstandes, sondern die Art und Weise der Referenz der in der betreffenden Wissenschaft verwendeten Termini, welche Begriffe sind und als Zeichen fungieren. Wollte man die Realität des Allgemeinen aus dem Realbezug von Wissenschaft ableiten, würde man die 'significata' - die realen Einzeldinge - mit den 'significantia', den universalen Prädikaten, verwechseln. Kurz: Um den Realbezug von Wissenschaft sicherzustellen, ist es keineswegs erforderlich, den Universalien, d.h. den in wissenschaftlichen Aussagen verwendeten Allgemeinzeichen, eine mit den Einzeldingen verbundene Realität zuzuschreiben. Dies hieße eine semantische Konfusion begehen, nämlich Zeichen und Bezeichnetes konfundieren. "Es hat mit Realwissenschaft überhaupt nichts zu tun, ob die Terme einer Aussage denkunabhängig oder denkabhängig sind, solange sie für selbständige, real existierende Einzeldinge supponieren" (OT II, 137). Gewußt werden nicht Dinge, sondern Sätze. Die Realität des Gewußten ist mithin nicht von der Art der Dinge, sondern von der Art der Sätze. Der ontologische Status der Einzeldinge ist nicht die Basis des ontologischen Status des Allgemeinen, so wenig wie das Bezeichnete das Bezeichnende in seinem Status festlegt. (Fs)
Kommentar (14.01.10): Wiederum: Nach Ockham kann die Realität als solche nicht Gegenstand der Wissenschaft sein, weil es Wissenschaft nur in Allgemeinbegriffen gibt und Allgemeinbegriffen keine Realität zukommt. Ohne zu erklären, wie es zu einer Erkenntnis eines Dinges überhaupt kommen kann, nimmt er die Erkenntnis eines Dinges an; auf ähnliche Dinge verweist er dann mit einem Begriff, einem Allgemeinbegriff seinem Verständnis nach, wiederum ohne Erklärung, wie das möglich sei. So finden sich bei ihm zwei Erkenntnislücken: einmal, wie die Erkenntnis eines Dinges möglich, und dann, wie der Hinweis eines Terminus auf ein Ding möglich sein kann. Daraus ergbit sich auch die Unterscheidung (s. unten) zwischen Gegenstand als unmittelbar Gewusstem, die Begriffe, Sätze, und Gegenstand im Sinne eines Realbezugs, eben die Einzeldinge.

103a Ockhams These, Realwissenschaft handle von den Einzeldingen und nicht vom Allgemeinen, "denn für dieses gibt es keine Supposition" (OT II, 138), ist vielfach als Absage an die Möglichkeit von Wissenschaft verstanden worden. Dies ist jedoch ein Mißverständnis, das sich sogleich auflöst, wenn man sich die (oben im Kap. IV genannte) Unterscheidung zwischen dem Suppositionsterm ("quod supponit") und dem Suppositionsbezug ("pro quo supponit") in Erinnerung ruft. Ohne Zweifel werden Realwissenschaften um der realen Einzeldinge willen betrieben. Die Physik etwa soll die Phänomene erklären, wie sie sind. Doch artikulieren kann sich Wissenschaft nur im Medium von Begriffen und mit Hilfe von Sätzen, d.h. in grammatisch korrekten und logisch zulässigen Verknüpfungen von Begriffen. Begriffe funktionieren als Suppositionsterme, sie sind das, was supponiert. Wissenschaft geht also insofern nicht mit Dingen, sondern mit Begriffen um. Doch die Begriffe stehen für etwas, und das sind im Falle der Realwissenschaft die Einzeldinge. So sind die beiden Feststellungen Ockhams "Realwissenschaft handelt von den Einzeldingen, denn es sind die Einzeldinge, für die die Begriffe stehen" (OT II, 138) und "Realwissenschaft handelt nicht notwendig von den Dingen als dem unmittelbar Gewußten, sondern von etwas davon Verschiedenem, das für die Einzeldinge supponiert" (a.a.O. 134) gleichermaßen gültig, so sehr sie auf den ersten Blick einander im Wege zu stehen scheinen. Ihre Kompatibilität zeigt sich dann, wenn man Klarheit in den Begriff des 'Gegenstandes' von Wissenschaft bringt: 'Gegenstand' im Sinne des unmittelbar Gewußten sind die Begriffe bzw. die aus ihnen gebildeten Sätze; 'Gegenstand' im Sinne des Realbezugs von Wissenschaft hingegen sind die Einzeldinge. (Fs) (notabene)

103b Ockhams Unterscheidung zwischen Gegenstand im Sinne von Gewußtem und Gegenstand im Sinne von Existierendem läßt sich leicht plausibilisieren. So wird kein Physiker behaupten, unmittelbarer Gegenstand der Physik seien die beobachtbaren physikalischen Einzelphänomene; nicht sie, sondern die für sie geltenden mathematisch beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten sind das unmittelbar in der Physik Gewußte. Und doch ist es der Physik um die real existierenden physikalischen Erscheinungen zu tun. (Fs)

104a Ockham sucht mit seiner Unterscheidung zwischen dem unmittelbar Gewußten und dem, wofür das Gewußte steht, den scheinbaren Widerspruch zur Lehre des Aristoteles aufzulösen, der bekanntlich festgestellt hat, Gegenstand von Wissenschaft sei das Allgemeine. Ockham deutet dies so: Wissenschaft handelt im Medium der Allgemeinbegriffe von den Einzeldingen. Zu behaupten, die Allgemeinbegriffe müßten deshalb Teil der Realität sein, hieße, Suppositionstermini und Supponate bzw. semantisch gesprochen: Zeichen und Bezeichnetes in eins zu setzen. Genau hier liegt der Fehler des entsprechenden Argumentes der Realisten. Ockham ist nicht entgangen, daß er sich hiermit in einen Gegensatz zu Aristoteles setzt. Der Stagirite hat nämlich seine Überzeugung, Wissenschaft handle vom Allgemeinen, damit begründet, das Allgemeine sei Bestandteil der Einzeldinge, in der Überzeugung, so den Realbezug von Wissenschaft sicherstellen zu können. Aus der Sicht Ockhams ist eine solche Annahme nicht nur überflüssig, sie ist auch irreführend, weil sie die Ebene der Prädikation und die der Wirklichkeit nicht konsequent auseinanderhält. (Fs)

104b Ein weiteres Argument der Realisten lautet: Man verwendet in den Wissenschaften häufig Allgemeinbegriffe, ohne damit ein bestimmtes konkretes Einzelding zu meinen. So kann man vom Menschen sprechen, ohne sich speziell auf Paul, Maria oder Johannes zu beziehen. Also können solche Allgemeinbegriffe auch für etwas Allgemeines stehen und dieses Allgemeine muß eine Realität eigener Art darstellen. Ockham hält dies für einen Fehlschluß infolge der Verkennung der Grammatik von Ausdrücken wie 'Mensch'. Natürlich kann man sagen "Der Mensch ist des Lachens fähig", ohne dabei speziell an Paul, Maria oder Johannes zu denken. Dennoch steht auch dann der Terminus 'Mensch' nicht für eine universelle Realität gleichen Namens, sondern für seine eigene allgemeine Prädizierbarkeit in dem Sinne, daß wo immer der Terminus 'Mensch' mit dem Prädikatterm ,ist des Lachens fähig' verknüpft wird, diese Verknüpfung für einen Einzelmenschen gilt. Nehmen wir zur Illustration ein weiteres Beispiel Ockhams: Daß Farbe generell etwas Sichtbares ist, heißt nicht, daß es so etwas wie 'Farbe an sich' gibt. Vielmehr besagt die entsprechende Feststellung: Wo immer Farbigkeit etwas Sichtbares ist, liegt dies an einzelnen farbigen Gegenständen. (Fs)

105a Zur Verifikation solcher Sachverhalte bedarf es nicht der Annahme eigenständiger Realitäten wie 'Mensch an sich', 'Farbe an sich' o.a.; es genügt vielmehr zu zeigen, daß Allaussagen von der Art "Der Mensch ist des Lachens fähig" oder "Farbe ist etwas Sichtbares" eine notwendige Verknüpfung zweier Termini im Satz darstellen, die in jedem einschlägigen Einzelfall Geltung besitzt; "allgemeine Realitäten (res universales) werden hier gänzlich ohne Grund angenommen" (OT II, 143). Mehr noch: Derartige Annahmen wären ein suppositionslogischer Fehler. Termini wie 'Mensch' und 'Farbe' stehen in personaler Supposition für einzelne Menschen bzw. farbige Einzeldinge. Stehen solche Ausdrücke hingegen für sich, also in einfacher Supposition, so bezeichnen sie keine Sache, sondern lediglich einen grammatisch verwendbaren Ausdruck, wie es in Aussagen von der Form "Farbe ist stets sichtbar" der Fall ist. (Fs)

Kommentar (15.01.10): Wiederum: Ockhams naiver Realismsu lässt ihn das Wesen des Allgemeinbegriffes nicht verstehen.

105b Wenn des weiteren die Argumentation zugunsten des Universalien-Platonismus dahin geht, zu behaupten, die Universalität der Referenz setze die Existenz des Universalen voraus, so ist dies nach Ockham nicht schlüssig: Universalität der Referenz ist eine Eigenschaft von Prädikaten, nicht von Dingen. Daß die Universalien als allgemeine Zeichen eine Vielheit von Dingen bezeichnen, macht aus ihnen keine Realität sui generis. Auch die Kernthese des gemäßigten Realismus, wonach das Allgemeine zwar keine selbständige Realität besitzt, wohl aber in den Dingen verwirklicht ist, stößt insoweit auf Ockhams Kritik: Daß eine Vielheit von Einzeldingen mit einem Allgemeinbegriff erfaßt werden kann, zwingt nicht zu der Annahme, der Allgemeinbegriff bezeichne eine der Vielheit dieser Einzeldinge gemeinsame und in ihnen verwirklichte Realität; es genügt festzustellen, daß die Gemeinsamkeit eine solche der Prädikation ist. (Fs) (notabene)

106a Ein weiteres, von den Realisten häufig angeführtes Argument zugunsten der Realität des Allgemeinen bedient sich eines Zitats aus Porphyrs Einleitungsschrift zu den aristotelischen Kategorien. Es heißt dort: "Aufgrund der Teilhabe an der Spezies 'Mensch' sind die vielen (Einzel-) Menschen Mensch".3 Hier ist offensichtlich der (neu-)platonische Gedanke der Partizipation im Spiel. Danach hat alles Singuläre (An-)Teil am Allgemeinen. Dieser vermeintlich ontologische Zusammenhang erweist sich jedoch nach Ockham bei näherem Hinsehen als ein prädikationslogischer: Partizipation heißt hier soviel wie 'allgemeine Prädikation': Von der Vielheit der Menschen läßt sich gemeinsam (nicht: etwas Gemeinsames) aussagen, daß ein jeder von ihnen Mensch ist. (Fs) (notabene)

106b Diese und weitere - Ockham diskutiert und widerlegt insgesamt 13 Argumente zugunsten des Universalienrealismus -laufen allesamt auf die Kernkritik hinaus, daß der Unterschied zwischen Zeichen und Bezeichnetem ontologisch keine Rückschlüsse vom Status des letzteren auf den Status des ersteren zuläßt. Die Einheit des Begriffs zwingt keineswegs zur Annahme einer dem Begriff entsprechenden eigenen Realität, die Allgemeinheit der Referenz impliziert keine Referenz auf Allgemeinheit. Ein weiterer Fehler der Vertreter des Universalienrealismus besteht darin, das Verhältnis von Gattung und Art als dasjenige zwischen einem Ganzen und seinen Teilen mißzuverstehen. Die verschiedenen Spezies befinden sich nicht "in" der ihnen übergeordneten Art, wie die Teile in einem Ganzen. Wenn es z.B. heißt, die Spezies 'Mensch' befände sich "in" der Gattung 'Lebewesen', so kann damit doch nicht gesagt sein, die Menschen befänden sich "in" den Lebewesen. Gemeint ist vielmehr, daß das allgemeine Prädikat 'ist Mensch' einer Teilgruppe der Prädikate 'ist ein Lebewesen' zugeordnet werden kann. (Fs) (notabene)

106c Die Position des Universalienrealismus ist nach Ockham nicht nur in sich fehlerhaft, sie führt darüber hinaus in Aporien, die ebenso hinderlich wie unnötig sind. Eine dieser Aporien besteht darin, daß der Versuch einer ontologischen Verortung des Allgemeinen in oder gar vor den Einzeldingen genau das verunmöglicht, was die Universalien leisten sollen, nämlich als Prädikate für eine Vielheit von Einzelfällen zu dienen. Denn wenn, wie die Realisten behaupten, das Allgemeine eine eigene extramentale Realität besitzt, dann beziehen sich die Allgemeinbegriffe sowohl auf Singuläres wie auf Universales, so daß Unklarheit entsteht, was im Einzelfall vorliegt. Versucht man, Klarheit zu schaffen, entsteht ein unendlicher Regreß. Denn das als real angesehene Allgemeine 'Mensch' und die realen Einzeldinge müßten durch einen neuen gemeinsamen Begriff 'Mensch III' erfaßt werden, etc. Der Unterschied zwischen Singularität und Universalität aber läßt eine solche Verortung der letzteren in ersterer grundsätzlich nicht zu. Eine weitere, nicht minder gewichtige Aporie besteht darin, daß der Universalienrealismus das Allgemeine zu einer Substanz hypostasiert. Schon Aristoteles hat mit Nachdruck daran festgehalten, daß das Allgemeine keine 'usia' ist.4 Das Gegenteil zu behaupten wäre ein Kategorienfehler. Nennt man das Allgemeine dennoch eine Substanz, dann verliert es seinen prädikativen Charakter. Soll es denselben behalten, kann es keine Substanz sein. (Fs) (notabene)
107a Selbst wenn der Universalienrealismus frei von den genannten Fehlern wäre, er ließe sich angesichts solcher Aporien nicht aufrechterhalten. Ockham resümiert daher: "Die Universalien sind keine Substanzen noch gehören sie zur Substanz des Einzeldinges; sie deklarieren vielmehr lediglich die Substanz der Dinge wie Zeichen" (OT II, 254). Gehörte das Allgemeine zur Substanz der Dinge, würde es in dem Maße vervielfältigt, wie es Einzeldinge gibt, auf die es anwendbar ist. Würde man, um dies zu verhindern, auf der Einheit des Allgemeinen bestehen, dann verlöre es seine allgemeine Prädizierbarkeit. (Fs)

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien, das Universalienproblem; Ockham - Duns Scotus (haecceitas, natura communis) differentia - diversitas;

Kurzinhalt: Sokrates und Platon sind von sich selbst her verschiedene Menschen; daß sie im Mensch-Sein übereinkommen, bedeutet nicht, daß 'in' ihnen eine Realität eigener Art namens 'Mensch' existiert, sondern daß von ihnen ein und derselbe Allgemeinbegriff ...

Textausschnitt: 107b Bleibt zu prüfen, ob man nicht den Standpunkt vertreten kann, das Universale sei vom Einzelding zwar nicht real verschieden, doch aber irgendwie von ihm unterscheidbar? Ockham schreibt diese Position Duns Scotus zu, "der die übrigen an Subtilität des Urteils weit übertroffen hat" (a.a.O. 161). Gemeint ist die berühmte Lehre des 'Doctor subtilis' von der die Allgemeinnatur ('natura communis') im Einzelnen kontrahierenden 'Diesheit' ('haecceitas'), welche zwar zur Wirklichkeit des Einzelnen gehört, von dieser aber nicht real, sondern nur formal verschieden ist.1 Die scotischen Lehrstücke von der Allgemeinnatur, von der Haecceitas und von der Formaldistinktion hier im einzelnen darzulegen, fehlt der Raum. Die Position des Duns Scotus sieht kurzgefaßt wie folgt aus: Die Allgemeinnatur 'Mensch' stellt nicht schon für sich genommen eine Realität dar, sondern erst dann, wenn sie im Einzelfall als 'Diesheit' (dieser Mensch da, jener Mensch dort) "kontrahiert" wird. D.h.: Ein Universale wie 'Mensch' ist keine für sich bestehende platonische Idee; es ist als solches seinsindifferent. In dem Augenblick aber, in dem es in einem Einzelmenschen realisiert ist, stellt es eine eigene Sachhaltigkeit dar, welche vom Einzelmenschen zwar nicht real, wohl aber formal verschieden ist. Der formale Unterschied zwischen Sokrates und 'Mensch' bedarf zu seiner Feststellung eines erkennenden Verstandes; die von diesem erkannte Formalität ('formalitas') stellt aber nach Duns Scotus kein Produkt des Denkens dar, sondern gehört zur Realität des betreffenden Einzelwesens. (Fs) (notabene)

108a In der Auseinandersetzung mit der Lehre des Duns Scotus vom Formalunterschied bzw. vom formalen Sein2 entwickelt Ockham einen weiteren Grundsatz seiner Ontologie, nämlich den der Verschiedenheit: Unterschieden kann so manches sein, verschieden aber nur das eine reale Einzelding vom anderen realen Einzelding. Unterschiedenheit ist eine Angelegenheit des Verstandes, Verschiedenheit eine solche der Wirklichkeit. Daß von jedem einzelnen Menschen, der von jedem anderen von Natur aus verschieden ist, dasselbe Universale 'Mensch' aussagbar ist, ist nicht Ursache für die Verschiedenheit der Menschen, sondern diese ist Voraussetzung jener Prädikationsmöglichkeit. Nicht ihre Unterscheidbarkeit macht die Menschen verschieden, sondern ihre Verschiedenheit macht sie voneinander unterscheidbar. Der Mensch Sokrates ist nach Ockham von sich aus von allen anderen Menschen verschieden, nicht erst dann, wenn ein denkender Intellekt ihn von den anderen Menschen unterscheidet. Das Mensch-Sein in Sokrates ist nicht 'Teil' eines allgemeinen Mensch-Seins, denn dann würde beim Tode des Sokrates ja ein 'Teil' des allgemeinen Mensch-Seins verschwinden. Auch das Argument, Sokrates und Platon stimmten in etwas überein, worin Sokrates und ein Esel nicht übereinstimmen, nämlich 'im' Mensch-Sein, kann nicht verfangen, denn die Übereinstimmung 'im' Mensch-Sein ist nicht ein Übereinkommen in etwas Drittem, außerhalb beider Befindlichen, sondern es ist lediglich ein Bezugspunkt, den der erkennende Verstand für seine diesbezüglichen Feststellungen verwendet. Sokrates und Platon sind von sich selbst her verschiedene Menschen; daß sie im Mensch-Sein übereinkommen, bedeutet nicht, daß 'in' ihnen eine Realität eigener Art namens 'Mensch' existiert, sondern daß von ihnen ein und derselbe Allgemeinbegriff prädizierbar ist. In Formulierungen wie "Sokrates und Platon kommen im Mensch-Sein überein" breitet die Sprache Fallstricke aus, indem sie suggeriert, das Mensch-Sein stelle eine eigene Realität 'in' beiden dar, wo doch in Wirklichkeit lediglich gesagt wird, daß von beiden ein allgemeiner Begriff ausgesagt werden kann. In Ockhams Worten: "... non conveniunt in aliquo nec in aliquibus, sed ... aliquibus" - Sie kommen nicht in etwas überein, sondern sie gleichen einander (OT II, 212). (Fs) (notabene)

Kommentar (20.01.10): Wiederum zu oben: "Sokrates und Platon sind von sich selbst her verschiedene Menschen; daß sie im Mensch-Sein übereinkommen, bedeutet nicht, daß 'in' ihnen eine Realität eigener Art namens 'Mensch' existiert, ..." Solche Aussagen sind nur denkbar im Rahmen eines navien Realismus.

109a 'Unterschied' ('differentia'), so läßt sich der zuletzt genannte Gedankengang auf den Punkt bringen, ist nicht dasselbe wie 'Verschiedenheit' ('diversitas'): Letzteres erfordert einen Realbezug, ersteres dagegen nicht. Verschieden sind Sokrates und Platon von sich her und ohne daß es dazu der Feststellung eines denkenden Wesens bedürfte; unterschieden jedoch sind sie hinsichtlich bestimmter Aspekte; hierzu bedarf es der Feststellung durch ein erkennendes Wesen.3 Der Grund dafür, daß die Einzeldinge von sich aus verschieden sind, hegt nach Ockham in ihrer Singularität. Alles denkunabhängig Reale ist als solches und von sich her ein Einzelnes. Es bedarf dazu weder eines Denkens, welches es als ein Einzelnes erkennt, noch stellt dieses Einzelsein eine eigene zusätzliche Realität dar (vgl. OT II, 196f). Darum auch stellt sich für Ockham das Problem der Individuation, welches Thomas durch die Theorie von der "materia quantitate signata" und Duns Scotus durch die genannte These von der 'haecceitas' zu lösen suchten, gar nicht erst. Realität und Singularität sind notwendig und untrennbar miteinander verbunden. (Fs) (notabene)

Kommentar (20.01.10): Zu oben differentia, diversitas: "Verschieden sind Sokrates und Platon von sich her und ohne daß es dazu der Feststellung eines denkenden Wesens bedürfte; unterschieden jedoch sind sie hinsichtlich bestimmter Aspekte; hierzu bedarf es der Feststellung durch ein erkennendes Wesen" Ein schönes Beispiel für einne naiven Realismus.

110a Ockham resümiert daher: Was ist, was Realität außerhalb des Denkens besitzt, ist ausschließlich singulär. Wir sehen um uns herum nicht Bäume, sondern diese Fichte hier und jene Tanne dort. Auf der Straße treffen wir nicht den Menschen, sondern ausschließlich Einzelmenschen wie Paul, Maria und Johannes. Alle diese 'singularia' existieren, auch wenn keinerlei Denken und Erkennen sie wahrnimmt. In dieser Welt der Einzeldinge und des vom Denken Unabhängigen ist kein Platz für Nicht-Einzelnes, Allgemeines, Universales. Gegen die meisten seiner Vorgänger und viele seiner Zeitgenossen, welche, wie Thomas von Aquin und Duns Scotus, dem Allgemeinen ein Fundament in den Einzeldingen einräumen, bleibt Ockham strikt bei seiner These, daß dies ein sprachlich induzierter Irrtum, genauer: ein Verstoß gegen die Grammatik des Existenzprädikators 'ist seiend' ("est ens") ist. In Aussagen von der Art "Sokrates ist seiend" ("Socrates est ens") stehen der Subjektterm und der Prädikatterm für ein und dasselbe, nämlich für ein individuelles, vom Denken unabhängiges Phänomen der Außenwelt. Dagegen steht in Aussagen von der Art "Sokrates gehört zur Spezies homo sapiens" der Subjektterm nicht für dasselbe wie der Prädikatterm; der Subjektterm steht für ein vom Denken unabhängiges Einzelwesen, während der Prädikatterm für ein vom Denken abhängiges Universale supponiert. (Fs) (notabene)

110b So strikt Ockham an seiner Konzeption der Wirklichkeit der Dinge als einer ausschließlich einzeldinglichen Wirklichkeit festhält, so deutlich ist ihm andererseits, daß dies nur einen Teil der denkerischen und sprachlichen Möglichkeiten des Menschen berücksichtigt. Denn wir sprechen nicht nur von Einzeldinglichem wie dieser Tanne hier und jener Fichte dort und nicht nur von Einzelmenschen wie Paul, Maria und Johannes, sondern auch und noch viel häufiger von Bäumen und von Menschen, ohne dabei konkrete Einzelphänomene in den Blick zu nehmen. Ockham ist sich durchaus des Umstandes bewußt, daß menschliche Kommunikation enorm eingeschränkt, wenn nicht gar unmöglich wäre, gäbe es die Allgemeinbegriffe nicht. Nur: Mit ihnen verlassen wir den Bereich des Realen und Einzelnen und gehen über in den Bereich gedanklicher Übereinkünfte. (Fs)

111a Nun würden auch Thomas und Duns Scotus nicht behaupten wollen, die Rede von 'Bäumen' und 'Menschen' unterscheide sich nicht von der Rede über 'die Tanne hier' und 'der Mensch dort'. Doch wenn sie behaupten, 'Baum' oder 'Mensch' bezeichneten etwas in den Einzelphänomenen Vorhandenes, so machen sie aus sprachlichen Gegebenheiten Realitäten. Dies aber ist nicht nur unnötig, sondern auch in höchstem Maße fragwürdig. Allgemeinbegriffe sind alleinige Sache des Verstandes; dessen Überlegung ist "dem einzelnen Ding gegenüber etwas total Äußerliches" ("... est aliquid totaliter extrinsecum ipsi rei ..." OT II, 249). Der Verstand macht nicht das Einzelding zu etwas Allgemeinem, sondern er subsumiert das Einzelding unter seine Kategorien. Er verwendet diese Kategorien als Zeichen für die Einzeldinge, ohne daß diese Zeichen etwas in den Einzeldingen Vorhandenes und ihnen Gemeinsames bezeichnen würden. Anders als die natürlichen Zeichen, die - wie der Rauch vom Feuer - von den Einzeldingen verursacht sind, sind die vom Verstande verwendeten Zeichen ausschließlich vom Denken verursacht. Und wenn der Verstand Definitionen von der Art "Die Tanne ist ein Nadelbaum" oder "Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen" verwendet, so geben diese Definitionen nicht ein in den einzelnen realen Tannen bzw. in den einzelnen Menschen vorhandenes allgemeines Wesen an, sondern sie sagen lediglich etwas über die Verwendung solcher Zeichen (vgl. OT II, 252ff). Wir verwenden das Zeichen 'Baum' korrekt, wenn wir uns an die Übereinkunft halten, aufgrund derer es für diese Tanne hier und jene Fichte dort Verwendung findet. Und wir kennen die Grammatik der Termini 'Spezies' und 'vernunftbegabt', wenn wir wissen, daß dies nur von 'singularia', nämlich den einzelnen Menschen, prädizierbar ist. Daß die Spezies 'Mensch' zur Gattung 'Lebewesen' gehört, ist eine Metaaussage über die Spezies, keine Direktaussage von etwas 'Spezieshaftem' ("genus praedicatur de specie, non pro specie". OT II, 259). Freilich: Daß alles, was Mensch ist, zugleich auch Lebewesen ist, sagt doch etwas über die Wirklichkeit aus. Ist nicht das Allgemeine doch "irgendwie" ("aliquo modo") auf Seiten des einzeldinglich Realen zu verorten?

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien, das Universalienproblem; Ockham - Aristoteles; universalia als Zeichen - und doch mit Realitätsbezug

Kurzinhalt: Die These von der Dissoziierung bzw. zumindest von der Verfremdung zwischen Denken und Wirklichkeit übersieht jedoch, daß Ockham bei aller Insistenz auf seiner These, daß im Bereich der Realität des Einzeldinglichen kein Platz für das Allgemeine ist,

Textausschnitt: 112a Eben weil sich Ockham, wie wir gesehen haben, strikt gegen eine Verortung des Allgemeinen im Bereich des Einzeldinglichen wendet, macht er sich soviel Mühe mit der Widerlegung der gegenteiligen These. Nun könnte man ihm zugestehen, daß das Allgemeine weder als solches eine Realität eigener Art ist noch daß es als allgemeines Zeichen eine solche bezeichnet. Doch wenn es schon nicht selbständig ist, so könnte doch das Allgemeine mit dem Einzelnen real verbunden sein. Dies ist die These des gemäßigten Realismus, wie sie Aristoteles und in Anlehnung an ihn viele Denker des Mittelalters von Albert dem Großen über Thomas von Aquin bis hin zu Johannes Duns Scotus vertreten haben. Für sie alle ist das Allgemeine selbstverständlich kein 'Ding', sondern ein Begriff, genauso übrigens wie der Begriff des 'Einzeldings'. Alle diese Begriffe aber bezeichnen Aspekte der Realität. Das Allgemeine, so läßt sich diese Position zusammenfassen, stellt einen Realaspekt der Dinge dar ("universalia sunt in rebus"). (Fs)

112b Ockham sieht hier wieder logische Fehler und sprachliche Verwirrungen am Werk. Wenn das Allgemeine einen Realaspekt des Einzelnen darstellt, dann ist es Bestandteil desselben. Das Einzelne hat demnach Teile, welche nicht-singulärer Natur sind. Was in Wirklichkeit ein prädikationslogisches Verhältnis zwischen zwei Arten von Termini ist, wird hier irrigerweise als ein ontologisches Verhältnis von Teil und Ganzem interpretiert. Unbestreitbar gehört das Mensch-Sein zum Lebewesen-Sein; dennoch ist ersteres damit nicht "Teil" des letzteren. Schon Platon hat diese Schwierigkeit gesehen,1 doch er ist dabei geblieben, den ontologischen Status des Einzelnen von dem des Allgemeinen, der Idee her, zu bestimmen. Zu Recht hat Aristoteles dem entgegengehalten, daß damit das Einzelne als das eigentlich Reale zu einem nur abgeleiteten Seienden wird. Doch wenn daraufhin Aristoteles den ontologischen Status des Allgemeinen vom Singulären her zu bestimmen sucht, so setzt er damit in den Augen Ockhams an die Stelle des einen Fehlers nur den entgegengesetzten anderen Fehler: Denn den Status des Allgemeinen vom Einzelnen her oder den Status des Einzelnen vom Allgemeinen her zu deuten, ist gleichermaßen verfehlt. In beiden Fällen wird nämlich, wenn auch mit je anderen Vorzeichen, die Möglichkeit einer realen Bezüglichkeit zwischen Einzelnem und Allgemeinem unterstellt. Eine solche Bezüglichkeit aber ist nur auf der Ebene der Begriffe und nicht auf der Ebene der Wirklichkeit überhaupt möglich. Die notwendige Verhältnisbestimmung zwischen Einzelnem und Allgemeinem auf die Ebene der Wirklichkeit zu ziehen, führt unweigerlich zu logischen Grotesken und sprachlichen Verwirrungen. Man kann Singuläres und Allgemeines schon deswegen nicht auf ein und dieselbe ontologische Ebene stellen, weil Singuläres entweder existiert oder nicht existiert, während Allgemeines entweder prädiziert wird oder nicht prädiziert wird. Existenz und Prädikation aber stellen grundsätzlich verschiedene Ebenen dar. (Fs)

113a Führt der extreme Universalienrealismus (Platonismus) zum Problem der Weltverdopplung, so führt der gemäßigte Universalienrealismus (Aristotelismus) zur Zerstörung der Einheit des individuell Seienden. Versucht man diese Konsequenzen zu vermeiden, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als mit Ockham darauf zu beharren, daß "das von sich her Singuläre auf keine Weise und unter keiner begrifflichen Hinsicht etwas Universales ist" ("res de se singularis nullo modo nec sub aliquo conceptu est universalis". OT II, 244). Das reale Einzelding ist weder von sich selbst her noch durch irgendeinen anderen Umstand zu etwas Allgemeinem zu machen. Ockham wird nicht müde, immer wieder zu betonen, daß die Einzeldinge von sich aus keine Universalität besitzen noch auch durch irgendeinen Denkakt universal gemacht werden können. (Fs)

Kommentar (20.01.10): Zu oben "dann bleibt einem nichts anderes übrig, als mit Ockham darauf zu beharren, daß "das von sich her Singuläre auf keine Weise und unter keiner begrifflichen Hinsicht etwas Universales ist" ... Ein weiteres Beispiel seines naiven Erkenntnisansatzes.

114a Andererseits ist ihm klar, daß wir uns in der alltäglichen Kommunikation, insbesondere in wissenschaftlichen Aussagen, ständig allgemeiner Begriffe bedienen. Reden wir damit über etwas Nicht-Reales? Sind Denken und Wirklichkeit bei Ockham vollständig voneinander dissoziiert? Zu diesem Resultat sind namhafte Ockham-Interpreten gelangt.2 Die These von der Dissoziierung bzw. zumindest von der Verfremdung zwischen Denken und Wirklichkeit übersieht jedoch, daß Ockham bei aller Insistenz auf seiner These, daß im Bereich der Realität des Einzeldinglichen kein Platz für das Allgemeine ist, letzteres durchaus nicht in den Bereich des Nicht-Seins verwiesen hat. Zwar gehören die Universalien nicht zum Bereich des substantiellen Seins, doch, so Ockham, "sie deklarieren die Substanz der Dinge wie es Zeichen tun" ("universalia non sunt substantiae, nec de substantia alieuius rei, sed tantum declarant substantias rerum sicut signa". OT II, 254). Die Universalien fungieren als Zeichen, und sie tun dies, wie wir gesehen haben, auf eine 'natürliche' Weise. Zwar ist die Zuordnung eines Zeichens zu einem Wort einer bestimmten Sprache eine Frage der Übereinkunft der Sprachbenutzer, nicht aber die Verwendung des Zeichens selbst. Mit seiner Hilfe 'deklarieren' - in heutiger Terminologie würde man sagen: 'identifizieren'3 - wir das, was gegeben ist. Gleichwohl benennen wir damit nichts Allgemeines; wir verbleiben vielmehr vollständig im Bereich unserer intellektuellen Operationen und Kommunikation. Sprechen wir damit etwa von Fiktivem?

114b Mit dieser Frage verlegt Ockham das Problem des Status der Universalien auf eine neue Diskussionsebene, indem er dasselbe nicht mehr vom ontologischen Status des Einzeldinglichen her, sondern von der Funktion der Universalien her angeht. Was heißt, die Universalien befinden sich im Denken?

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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien, das Universalienproblem; Aristoteles: passiones animae (pathemata en te psyche) - Ockham (umgekehrte Reihenfolge);

Kurzinhalt: Ockham deutet die aristotelischen 'pathemata' mithin zu mentalen möglichen Prädikaten ('praedicabilia mentalia', ... um. Diese potentiellen Prädikate nennt er zuweilen 'Denkintentionen' ('intentiones animae'), zuweilen auch 'Begriffe' ('conceptus') ...

Textausschnitt: 118a Bevor wir hierauf eingehen, ist ein kurzer Blick auf den Hintergrund der ganzen Angelegenheit vonnöten, ohne den Ockhams Diskussion vom 'objektiven' und 'subjektiven' Sein der Universalien unverständlich bleiben muß. Hintergrund ist die aristotelische Theorie der innerseelischen Vorgänge, der "pathemata en te psyche", der 'passiones animae'.1 Nach Aristoteles muß man den Zusammenhang beachten, der zwischen den vom Menschen zur Bezeichnung der Dinge verwendeten Schrift- und Lautzeichen einerseits und den entsprechenden innerseelischen Vorgängen andererseits besteht. Die Schriftzeichen beziehen sich zum Zwecke der Bezeichnung extramentaler Dinge auf Lautzeichen und diese auf mentale Vorgänge. Daß sich der Mensch bestimmter Lautzeichen bedient, sie ausspricht und niederschreibt, um die Dinge um ihn herum zu bezeichnen, geht nach Aristoteles auf innerseelische Vorgänge zurück. (Fs) (notabene)

118b Aus Raumgründen müssen wir auf die Untersuchung der Tatsache verzichten, daß Ockham die Reihenfolge des Aristoteles, wonach Schriftzeichen sich auf Lautzeichen und diese sich auf innerseelische Vorgänge beziehen, dahingehend ändert, daß sowohl die Schriftzeichen als auch die Lautzeichen unmittelbar für die Dinge stehen können, und wenden uns der Frage zu, was es mit diesen innerseelischen Vorgängen auf sich hat. Handelt es sich dabei um psychologische Prozesse oder um (prädikations-)logische Zusammenhänge? Nach Ockham ist von der Wortbedeutung her beides möglich; entscheidend ist für ihn gleichwohl der (prädikations-)logische Zusammenhang. Danach befinden sich in der 'Seele' als dem Sitz der erkennenden und denkenden Fähigkeiten des Menschen intentionale Begriffe, die als mögliche Prädikate in Aussagen über die Welt der Dinge Verwendung finden. Mit ihrer Hilfe bemächtigt sich der erkennende Verstand der extramentalen Wirklichkeit, wobei diese intentionalen Vorgänge niemals in die Realität hinausreichen, sondern bleiben, was sie sind: innerseelische Phänomene. Ockham deutet die aristotelischen 'pathemata' mithin zu mentalen möglichen Prädikaten ('praedicabilia mentalia', vgl. OP 1,105) um. Diese potentiellen Prädikate nennt er zuweilen 'Denkintentionen' ('intentiones animae'), zuweilen auch 'Begriffe' ('conceptus', OP II, 351 ff). (Fs)

Kommentar (21.01.10): zu oben: als fast eine Umkehrung der converiso-Theorie Aristoteles', dann doch wieder ein Rückzug ...

119a Den ontologischen Status dieser Denkintentionen als intramentaler Phänomene im einzelnen zu bestimmen, gehört nach ihm ausdrücklich zur Aufgabe der Metaphysik. Reicht es, so hat er sich gefragt, wenn man ihnen lediglich den Status reinen aktualen Vorgestelltseins einräumt, wie es die Fictum-Theorie tut? Das würde bedeuten, daß diese Denkintentionen nur dann 'vorhanden' sind, wenn jemand sie aktual bildet. Dies erscheint mißlich angesichts der Tatsache, daß wir uns mit Hilfe von Denkintentionen im Alltag und insbesondere in den Wissenschaften in einer Weise verständigen können, die zwar an Subjekte mit solchen intramentalen Phänomenen gebunden ist, nicht aber auf tatsächlich in einem bestimmten denkenden Subjekt ablaufende Vorgänge angewiesen ist. Kurz: Stellen die Denkintentionen bzw. Begriffe als mögliche Prädikate nicht doch noch etwas anderes dar als aktuale Denkgegenstände? Ockham ist diese Frage so wichtig gewesen, daß er die entsprechenden Darlegungen im ersten Buch seines Sentenzenkommentars, der sog. Ordinatio, mit einer wichtigen Erweiterung versehen hat. Danach ist den Allgemeinbegriffen über ihr reines Vorgestelltsein ('esse obiectivum') hinaus eine eigene, intramentale Existenzweise ('esse subiectivum') zuzusprechen, und zwar in Form intramentaler Qualitäten. Das Sein der Universalien besteht mithin nicht nur in ihrem Erkanntsein, sondern darüber hinaus in ihrer Qualität als mögliche Prädikate, welche als Zeichen für extramentale Einzeldinge verwendet werden können ("... universale est aliqua qualitas exsistens subiective in mente, quae ex natura sua ... est signum rei extra ...". OT II, 289). (Fs) (notabene)

119b In der Forschung hat man den Umstand, daß Ockham in der Überarbeitung des I. Buches seines Sentenzenkommentars ausführlich die Theorie vom 'esse subiectivum' des Allgemeinen diskutiert, als eine Abwendung von der Fictum-Theorie gedeutet und ihm diesbezüglich eine 'Entwicklung' unterstellt.2 Dem steht zunächst Ockhams Feststellung im Wege, daß beide Universalienansätze, sowohl der des reinen Gegenstand-Seins wie der des sich im Denken Befindens, gleichermaßen 'rechtfertigbar' ('probabilis') sind (vgl. OT II, 291). Die Entscheidung zwischen beiden überläßt er ausdrücklich dem Urteil anderer. Entscheidend ist für ihn, daß die Universalien nicht, wie es der Platonismus in seiner extremen wie auch in seiner gemäßigten Form tut, als etwas außerhalb des Denkens Existierendes angesehen werden ("... nullum universale ... est aliquid exsistens quocumque modo extra animam", I.e.). Die Universalien verdanken sich in jedem Falle einer Handlung des Denkens, sei es, daß dasselbe die von einer Vielheit von Einzeldingen prädizierbaren Termini lediglich als Denkgegenstände betrachtet ('esse obiectivum'), sei es, daß der Intellekt dieselben als zu seiner Ausstattung gehörig ansieht ('esse subiectivum'). Damit soll nicht der Unterschied zwischen beiden Theorien des Allgemeinen verwischt, wohl aber gesagt werden, daß die beiden Ansätze nicht miteinander im Widerstreit liegen. Sie verhalten sich zueinander wie ein ontologisch sparsamerer zu einem ontologisch weniger sparsamen Ansatz. Konkret: Die Fictum-Theorie minimalisiert das Sein des Allgemeinen, während die Theorie vom 'esse subiectivum' dem Allgemeinen das Maximum dessen zuschreibt, was ein Denkinhalt an ontologischem Status besitzen kann. Da aber die Universalien so oder so betrachtet ausschließlich eine Sache des Denkens sind, gilt es nunmehr zu klären, wie es um Ockhams vieldiskutierten 'Nominalismus' steht. (Fs) (notabene)

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