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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Alternative: Glück - Verpflichtung; Thomas - Kant

Kurzinhalt: Seit dem 14. Jahrhundert hat sich die Situation grundlegend verändert. Die Frage des Glücks wird vernachlässigt und die Sittenlehre konzentriert sich mehr und mehr auf Verpflichtungen ...

Textausschnitt: Glück und sittliche Verpflichtung als alternative Prinzipien der Moral

57b Problematisch wird die Sache erst, wenn wir versuchen, über den freien Willen und das Gesetz hinaus einen dritten Pfeiler der Sittenlehre einzuführen: das Streben nach Glückseligkeit. Über die Rolle der Glückseligkeit herrscht Uneinigkeit. Dabei handelt es sich aber um eine Grundfrage von beträchtlicher Reichweite. (Fs)
57c Die Geschichte der Ethik - sowohl aus philosophischer als auch aus theologischer Perspektive - lässt sich in zwei große Zeitabschnitte einteilen. Der erste reicht von der Antike bis ins Mittelalter; die Ethik wurde als Antwort auf die Frage nach dem Glück verstanden. Aufgrund der Erfahrung des Bösen und des Leids wurde diese Frage in aller Schärfe gestellt. Über diesen Ausgangspunkt war man sich im Allgemeinen einig; die Unterschiede bezogen sich lediglich auf die Antworten, unter anderem in Bezug auf die Rolle der Lust. Was das Gesetz betrifft, so wurde dieses nicht als äußerer Zwang, sondern als Ausdruck der Weisheit aufgefasst. (Fs)

57d Seit dem 14. Jahrhundert hat sich die Situation grundlegend verändert. Die Frage des Glücks wird vernachlässigt und die Sittenlehre konzentriert sich mehr und mehr auf Verpflichtungen, die dem Menschen vom Sittengesetz auferlegt werden. Das Sittengesetz wird als Ausdruck des freien Willens Gottes verstanden. Die Handbücher der Moraltheologie betrachten zwar Thomas von Aquin als die wichtigste Autorität, doch im Unterschied zu Thomas' Summa theologiae enthalten sie keinen Traktat über das Glück mehr. In der Auffassung der Autoren der Handbücher kann man also eine Ethik entwickeln und moralisch leben, ohne auf die Frage des Glücks einzugehen. Immanuel Kant wird den >Eudämonismus< (vgl. griechisch eudaimonia - Glück) kritisieren, das heißt jede Form der Ethik, die die Erwägung des Glücks in die moralische Intention einfließen lässt und für die das Glück Ziel des Handelns ist. Kant sagt: »Alle Eudämonisten sind daher praktische Egoisten« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe Bd. VII, Berlin 1907/17, S. 130). Weiter sagt er, wenn man die sittliche Ordnung auf die Grundlage der Eudämonie stellt, sei die Folge davon die Euthanasie der Moral (Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. VI, Berlin 1907/14, S. 378). Kant reagierte damit ablehnend auf die Anfänge des englischen Utilitarismus, demzufolge das Ziel der moralischen Handlung das Glück ist, wobei das Verständnis des Glücks auf den Wohlstand der größten Anzahl von Personen reduziert wurde. Demgegenüber wollte Kant die Bedeutung der moralischen Intention bewahren, die er durch den strengen Gehorsam gegenüber dem kategorischen Imperativ gewährleistet sah. (Fs)
58a Ist dieses Problem Kants nicht eine Frage, die wir uns alle stellen? Stellen wir nicht selbst häufig fest, dass das Sittengesetz von uns den Verzicht auf Glück fordert, das heißt den Verzicht auf Lust, Nützlichkeit und Bequemlichkeit? Haben wir nicht auch das Gefühl, dass das Streben nach Glück zu einem Egoismus führt, der unsere besten Absichten verunreinigt?

Die Trennung von Glück und Moral

58b Dies hat zu einer Trennung von Glück und Moral geführt. Kann man moralisch leben ohne auf das Glück zu verzichten? Kann man glücklich sein ohne sich Freiheiten gegenüber der Moral herauszunehmen? Die Trennung von Glück und Moral lässt sich sowohl geschichtlich, als auch in der konkreten Erfahrung der Mensehen feststellen. Das ist ein gewichtiges Problem, denn in Wirklichkeit können wir weder auf Glück noch auf Moral verzichten. (Fs)

59a Das Problem erfasst darüber hinaus auch die Liebe, die wir unmittelbar mit Glück in Verbindung bringen. Muss nicht auch die Liebe vom Gesetz geregelt werden, wenn sie nicht zu einer gefährlichen Leidenschaft degenerieren soll? In seiner Interpretation des ersten Gebotes gibt Kant der Pflicht den Vorrang auch gegenüber der Liebe: das Liebesgebot befiehlt kein Gefühl, sondern eine Pflicht. Im selben Geist reduzieren auch die Handbücher der Moral den Traktat über die Liebe auf die Darlegung der Pflichten, die sich an die Tugend der Liebe anschließen. Es ergibt sich daraus eine kritische Frage: Kann man jemanden aus Pflicht lieben, um ein Soll zu erfüllen? Und weiter: Kann man moralisch sein, ohne den Elan der Liebe zu bändigen? Erstickt dann aber nicht das moralische Gesetz die Liebe?

59b Diese Debatte hat wichtige Folgen für das Verhältnis zwischen der Moral und dem Evangelium. Beginnt nicht die Bergpredigt mit den Seligpreisungen, die in der Auslegung der Kirchenväter Christi Antwort auf die Frage nach dem Glück sind? Verspricht das Evangelium nicht an verschiedenen Stellen Belohnungen? In der Tat ist verschiedenen Aussagen des Evangeliums vorgeworfen worden, dass sie eigennützige Gefühle fördern und den Eudämo-nismus begünstigen. (Fs)
59c Unser Problem weitet sich also aus. Die Trennung von Moral und Glück wirkt sich auf das Verhältnis der Moral zum Evangelium aus. Daher lautet unsere Frage: Wie können wir die Moral mit dem Glück und der Liebe in Übereinstimmung bringen und die Trennung der Moral vom Evangelium überwinden?

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Freiheit für das Gute - Freiheit der Willkür (libertas indifferentiae); Wilhelm von Ockham - Thomas von Aquin; Petrus Lombardus; Entscheidungsfreiheit: Vernunft und Wille (liberum arbitrium); sequi naturam - dominari naturam; liberum arbitrium

Kurzinhalt: Der Begriff der 'Freiheit der Willkür' (libertas indifferentiae) steht am Ursprung der verschiedenen Formen der Pflichtethik und das Verständnis der 'Freiheit für das Gute' liegt der Tugendethik und der Strebensethik zugrunde ...

Textausschnitt: Die Wurzel des Problems: 'Freiheit für das Gute' und 'Freiheit der Willkür'

59d Unseres Erachtens liegen die Wurzeln des eben besprochenen Problems in zwei verschiedenen Auffassungen von Freiheit begründet, die zwei verschiedene Sittenlehren zur Folge haben. Der Begriff der 'Freiheit der Willkür' (libertas indifferentiae) steht am Ursprung der verschiedenen Formen der Pflichtethik und das Verständnis der 'Freiheit für das Gute' liegt der Tugendethik und der Strebensethik zugrunde. Ein Exkurs zu diesem Thema ist für das Verständnis der erwähnten Problematik sehr hilfreich. (Fs; tblStw: Freiheit) (notabene)

60a Die Theorie der 'Freiheit der Willkür' wurde gegen Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts entwickelt. Sie entstand unter anderem in der Franziskanerschule in kritischer Auseinandersetzung mit der Lehre des Thomas von Aquin. Besonders bedeutend war für diese Lehre Wilhelm von Ockham (+ 1349), der als Begründer des Nominalismus bekannt ist. (Fs)

60b Der gemeinsame Bezugspunkt der Diskussionen ist die klassische Definition der Entscheidungsfreiheit bei Petrus Lombardus in den Sentenzen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts:

Die Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium) ist die Fähigkeit des Verstandes und des Willens, vermöge dessen man das Gute wählt unter Beistand der Gnade, oder das Böse, wenn die Gnade fehlt (Sentenzen, Buch II, 24. Distinktion, 3. Kapitel). (Fs)

60c Thomas von Aquin hatte erklärt, dass die Entscheidungsfreiheit aus der Vernunft und dem Willen hervorgeht. Die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, ergibt sich also aus unseren beiden geistigen Vermögen, Vernunft und Willen, und sie ist von dem natürlichen Streben nach Wahrheit, nach dem Guten und nach Glückseligkeit angeregt. Man kann also die Entscheidungsfreiheit eine 'Freiheit zum Guten oder zur Vollkommenheit nennen, sofern sie ein Vermögen zu Handlungen ist, die die Wahrheit und das Gute beinhalten, selbst wenn sie gelegentlich versagt und etwas Schlechtes tut. (Fs) (notabene)

60d Wilhelm von Ockham verkehrt diese Verhältnisse ins Gegenteil: Die Entscheidungsfreiheit geht nicht aus der Vernunft und dem Willen hervor, sondern sie geht ihren Handlungen voraus. Wir haben die Wahl, ob wir denken wollen oder nicht und ob wir zu wollen wünschen oder nicht. Die Entscheidungsfreiheit ist daher das grundlegende Vermögen des Menschen, dessen Tätigkeit ursprünglich nur von seiner eigenen Entscheidung abhängt. Man definiert nun die Entscheidungsfreiheit als die Fähigkeit, ganz beliebig zwischen entgegengesetzten Möglichkeiten zu entscheiden: zwischen Ja und Nein, zwischen Gut und Böse. Daher der Name 'Freiheit der Willkür' (libertas indifferentiae). (Fs) (notabene)

60e Hier vollzieht sich eine regelrechte Revolution in der Auffassung vom Menschen und von seinem Handeln. Sie beginnt mit der Loslösung der Moral von der geistigen Natur des Menschen und seinen verschiedenen inneren Neigungen, besonders von seinem Streben nach Glück. Ockham behauptete, man könne beliebig auswählen, ob man nach Glück strebe oder nicht und ob man am Leben bleiben wolle oder nicht. Die Natur des Menschen bildet nun nicht mehr die Grundlage für die Freiheit. Die Freiheit ist damit der Willkür untergeordnet. Die berühmte Empfehlung der Alten: sequi naturam (der Natur folgen) verliert ihren Sinn. Ein neues Ideal tritt an ihre Stelle: dominari naturam (Herr über die Natur sein). (Fs)

61a Wir wollen nun aufzeigen, wie aus diesen beiden Definitionen der Freiheit zwei grundverschiedene Auffassungen und Gliederungen der Sittenlehre entstehen. Wir beginnen mit der 'Freiheit für das Gute', die in der Antike - für christliche und nicht christliche Denker gleichermaßen - grundlegend war. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Freiheit für das Gute -> Strebensethik; semina virtutum

Kurzinhalt: Man kann die 'Freiheit für das Gute' mit dem Erlernen eines Handwerks oder eines Berufs vergleichen ... Aus der 'Freiheit für das Gute' entwickelt sich eine Strebensethik ...

Textausschnitt: Wie die 'Freiheit für das Gute' die Strebensethik begründet

61b Man kann die 'Freiheit für das Gute' mit dem Erlernen eines Handwerks oder eines Berufs vergleichen. Sie ist die Fähigkeit, unsere Handlungen frei zu gestalten, so wie man Werke hoher Qualität herstellt. Von Geburt an haben wir die moralische Freiheit erhalten, gleich einem Talent, das entwickelt werden muss, oder wie ein Keim, der die Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis und die Neigung zum Guten und zur Glückseligkeit enthält. Das Vermögen, die Wahrheit zu erkennen und das Gute zu tun, entfaltet sich durch das, was die Autoren der Antike semina virtutum (Samen der Tugenden) nannten. Am Anfang des Lebens ist diese Fähigkeit noch schwach, wie bei einem Kind oder einem Lehrling. Wir müssen unsere Freiheit genauso wie unseren Charakter bilden. Dies geschieht durch eine angemessene Erziehung, in der man drei wichtige Stufen unterscheiden kann, die den verschiedenen Lebensaltern entsprechen. Der Kindheit entspricht das Erlernen der Regeln und Gesetze des Handelns, das Erlernen einer Disziplin im Leben mit Hilfe der Eltern und der Lehrer. Danach kommt die Jugendzeit des sittlichen Lebens, das sich durch eine zunehmende Selbstständigkeit und eine wachsende Eigeninitiative auszeichnet, getragen vom Hang zur Wahrheit und zum Guten, der sich in der persönlichen Erfahrung ausdrückt. Hier setzt bereits anfänglich die Tugend ein, die Charaktereigenschaft und Fähigkeit zur persönlichen Handlung. Im reifen Alter entfaltet sich schließlich die Tugend wie das Talent in der Musik und den bildenden Künsten. Die Tugend ist eine unternehmerische, verständige und großzügige Kraft, die Fähigkeit zugunsten vieler Menschen aufwändige Werke zum Guten zu führen. Sie bereitet Freude und verleiht Leichtigkeit des Handelns. (Fs)

62a Aus der 'Freiheit für das Gute' entwickelt sich eine Strebensethik, das heißt eine Form der Ethik, die unmittelbar das Streben nach dem vollkommenen Guten und der Glückseligkeit zum Inhalt hat. Es geht also um die Ausrichtung des Lebens als Ganzes und um die Ausformung bestimmter moralischer Eigenschaften. Diese Ethik entsteht auf der Grundlage der wichtigsten Tugenden, die die Freiheit stärken und das Handeln vervollkommnen. Dabei werden die den Tugenden entgegengesetzten Laster und Sünden mitberücksichtigt. Die Behandlung des Gesetzes und dessen erzieherischer Funktion bringt diese Art der Ethik zum Abschluss. Weisheit und Liebe sind hier eng miteinander verbunden; der Kampf gegen das Böse fordert gelegentlich aber auch, dass diese Ethik einen gewissen Zwang ausübt. (Fs)

62b Dieses Verständnis der Freiheit steht für die Begegnung mit der christlichen Offenbarung ganz und gar offen. Die natürliche Neigung zur Wahrheit und zum Guten ist Werk Gottes, der den Menschen als Ebenbild seiner Weisheit und Güte schafft. Gleich einem inneren Lehrmeister beruft er den Menschen, tiefer an seiner schöpferischen Freiheit teilzuhaben. Von Geburt an ist der Mensch innig mit Gott verbunden. Die Verbindung mit Gott gehört substanziell zu unserer Persönlichkeit und drückt sich im Verlangen nach Glück und Liebe aus. Diese Bindung ist der menschlichen Freiheit keineswegs schädlich, sondern begründet sie vielmehr. Je mehr sich der Mensch dem Wirken Gottes mit aufrichtigem Herzen öffnet, desto mehr entfaltet sich seine Freiheit, wie der heilige Paulus lehrt. Auf diese Weise lässt sich ohne weiteres verstehen, wie die Heilige Schrift die Erlösung des Volkes Gottes beschreibt, nämlich als Wirken des Heiligen Geistes im Herzen der Gläubigen. Gottes Gnade und die Freiheit des Menschen stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern arbeiten eng miteinander zusammen. (Fs)

63a Das Ereignis der Offenbarung hatte in der Tat eine beträchtliche Umformung der Tugendlehre zur Folge. Nicht mehr der Mensch ist die wichtigste Quelle moralischer Eigenschaften, sondern Gott ist es, der durch Christus wirkt. Die christliche Theologie unterscheidet daher die vom Heiligen Geist 'eingegossenen' Tugenden von den 'erworbenen' Tugenden, die sich der Mensch durch eigene Anstrengung aneignet. Obwohl die eingegossenen Tugenden göttlichen Ursprungs sind, sind sie dennoch persönlicher Natur, wie das beispielsweise bei den 'göttlichen Tugenden' Glaube, Hoffnung und Liebe deutlich ist. Außerdem entfalten diese Tugenden eine wahre Wirksamkeit, da sie von innen her die so genannten 'menschlichen Tugenden' umformen, die den vier Kardinaltugenden zugeordnet werden (Klugheit oder praktische Weisheit, Gerechtigkeit, Stärke oder Mut, Maß oder Selbstbeherrschung). Eine beständige Erziehung im Lichte des Evangeliums ermöglicht so die Entfaltung einer aktiven Zusammenarbeit mit Gott, deren Grundlage Glaube und Liebe bilden und wo der Heilige Geist mit seinen Gaben federführend tätig ist. (Fs)

63b Die Lehre von den Tugenden, die die 'Freiheit für das Gute' vervollkommnen, steht also in Harmonie zum Evangelium und erscheint für die Auslegung seiner Botschaft über die richtige Lebensweise unentbehrlich. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Freiheit der Willkür;Wilhelm von Ockham; potentia absoluta (ordinata); Sollensethik

Kurzinhalt: Die menschlichen Handlungen, die der Wahl zwischen zwei Alternativen entspringen, sind als solche moralisch wertneutral (indifferent). Moralisch, das heißt sittlich gut oder schlecht, werden sie erst ...

Textausschnitt: Wie die 'Freiheit der Willkür' die Sollensethik impliziert

63c Wenn wir zur 'Freiheit der Willkür' übergehen, sehen wir, wie eine ganz neue moralische Lehre entsteht. Nun stehen sich zwei Freiheiten gegenüber: die Freiheit des Menschen und die Freiheit Gottes. Kein natürliches Band verbindet diese beiden Freiheiten, da die Natur in dieser neuen Sichtweise nun der Freiheit unterworfen ist. Die Freiheit Gottes und des Menschen stehen nur noch in einer äußerlichen Beziehung zueinander, die von der Verschiedenheit der beiden Freiheiten charakterisiert ist: Gottes Allmacht verleiht ihm absolute Macht über den Menschen, die er besonders vermöge des Sittengesetzes ausübt. Das Sittengesetz ist Ausdruck des göttlichen Willens, der völlig frei und souverän die Freiheit des Menschen einschränken kann, indem er ihm bestimmte Handlungen verpflichtend vorschreibt oder sofern er sie verbietet. (Fs; tblStw: Freiheit)

64a Das Gesetz ist nun Ursprung der Sittlichkeit. Die menschlichen Handlungen, die der Wahl zwischen zwei Alternativen entspringen, sind als solche moralisch wertneutral (indifferent). Moralisch, das heißt sittlich gut oder schlecht, werden sie erst durch ihren Bezug der Übereinstimmung mit der im Gesetz ausgedrückten Verpflichtung oder durch den Bezug des Gegensatzes dazu. Das Gesetz selbst ist ganz und gar von Gott abhängig, der prinzipiell jedes Gebot des Gesetzes nach Belieben verändern könnte. Wilhelm von Ockham entwickelt diese Auffassung bis in alle Konsequenzen. Er scheut nicht vor folgender Behauptung zurück: Würde Gott einem Mensch befehlen, ihn zu hassen, so wäre in diesem Fall der Hass gut, da er im Gehorsam zum Willen des Schöpfers erfolgt. Deutlicher lässt sich der Vorrang des Gesetzesgehorsams gegenüber der Liebe nicht ausdrücken. (Fs)

64b Im Nominalismus entwickelt sich zum ersten Mal eine Ethik, die durch die sittlichen Verpflichtungen charakterisiert ist. Das Streben nach Glückseligkeit wird nun systematisch aus der Ethik ausgeklammert. (Fs)

64c Wie ist in dieser Ethik das moralische Gesetz konkret formuliert? Wir finden es vor allem in der von Gott inspirierten Heiligen Schrift, besonders in den Zehn Geboten und den Bestimmungen, die man daraus ableiten kann. Der Dekalog wird nun als ein Kodex der sittlichen Verpflichtungen verstanden. Die moralischen Vorschriften sind im Prinzip der Willkür Gottes anheimgestellt, das heißt seiner 'absoluten Macht' (potentia absoluta). Ihre Gültigkeit und Beständigkeit haben sie jedoch in dem, was Ockham den 'gewöhnlichen Ablauf der Dinge' nennt, der von Gottes geordneter Macht' (potentia ordinata) festgelegt ist. Dies erlaubt Ockham, den traditionellen Begriff des natürlichen Sittengesetzes (lex naturalis) aufrechtzuerhalten. (Fs)

64d Darüber hinaus offenbart sich uns der göttliche Wille und somit das moralische Gesetz in der richtigen Vernunft (recta ratio) in Form der moralischen Imperative. Jeder Mensch weiß nämlich aus eigener Erfahrung, dass die Vernunft ihm bestimmte Handlungen befiehlt oder verbietet. Genauer gesagt zeigt uns die Vernunft die Existenz solcher Imperative auf, aber sie gibt nicht die Gründe dafür an, denn es gibt letztendlich keinen anderen Grund für sie als den bloßen Willen Gottes. Zudem muss man diesen Vorschriften allein deshalb gehorchen, weil sie befohlen sind. Andere Motive, etwa dass sie Nutzen oder Freude bewirken, sind belanglos. Diese Lehre ist ein Vorbote von Kants kategorischem Imperativ. Da nun der Akzent auf den sittlichen Verpflichtungen und Imperativen liegt, entwickelt sich von hier außerdem der Gedanke, dass die Gebote und Verbote selbst dann ihre Gültigkeit behielten, wenn Gott nicht existierte. Während die Ethik zunächst in der Willkür Gottes grundgelegt ist, löst sie sich nun von einer Bindung an Gott los. (Fs)

Tabelle (ausgelassen): Zwei Typen von Freiheit, zwei Arten der Ethik



66a Die Reichweite der Ethik ist mithin grundlegend eingeschränkt. Im Vordergrund stehen nun einzelne, zusammenhangslose Handlungen, die Ausdruck einer Freiheit sind, die sich in jedem Moment von einem Extrem zum anderen bewegen kann. Es gibt keine allgemeine Zielrichtung mehr, die alle Handlungen unter derselben Absicht vereint, nämlich das Gemeinwohl zu fördern oder die Glückseligkeit zu erlangen. Die vereinzelten Handlungen und die Konfliktsituationen stehen im Mittelpunkt. Es ist kaum noch von einer Erziehung zur Ethik oder von einem Fortschritt in der persönlichen Sittlichkeit die Rede, denn die Freiheit, die in dieser Ethik grundlegend ist, kennt keine Abstufungen, sondern ist mit dem Erwachen des Gewissens im Kindesalter bereits vollständig gegeben. Die einzige Einschränkung der Freiheit geschieht von außen. Die Tugend verliert ihre erzieherische Bedeutung und wird zur bloßen Gewohnheit degradiert. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Moral; geistige Natur des Menschen; Natur

Kurzinhalt: Wenn wir das Verlangen nach Glück als untrennbar von dem Guten verstehen, können wir dem Streben nach Glück wieder genuine moralische Bedeutung zuteil werden lassen und ihm so seine ursprüngliche Würde zurückerstatten.

Textausschnitt: Die Wiederentdeckung der geistigen Natur

67c Der entscheidende Punkt besteht darin, unsere geistige Natur mit ihrem spontanen Verlangen nach Wahrheit, dem Guten und dem Glück wieder zu entdecken. Dieses Streben entspringt einem ursprünglichen Impetus, den wir 'Natur' nennen (lateinisch natura, von nasci - geboren werden). Es handelt sich um eine geistige Natur, die ein Ebenbild von Gottes eigenem Leben ist. Sie ist der wesentliche Bestandteil unserer Persönlichkeit; dank unserer geistigen Natur können wir uns der gesamten Wirklichkeit und insbesondere allem Guten zuwenden. Die Wiederentdeckung der eigentlichen Natur der Freiheit erfordert mehr, als mit Ideen zu jonglieren. Nur in der Erfahrung der persönlichen Handlung, die aufrichtig und gut ist, können wir ihrer gewahr werden, durch einfache und zugleich geduldige Reflexion, die den Verlauf der Handlung nachvollzieht. Im Licht dieser Reflexion betrachtet und auch dank eines besonderen Lichts, das wir uns von Gott sehenken lassen, leuchtet für uns das Gute deutlich auf und zeigt sich uns das Streben nach Glückseligkeit von seiner besten Seite. Jene, die das Verlangen nach Glück aus der Ethik verbannt haben, haben es in der Tat entstellt und verleumdet, obwohl es doch ein mächtiger Strahl der Ebenbildlichkeit Gottes in uns ist. Wenn wir das Verlangen nach Glück als untrennbar von dem Guten verstehen, können wir dem Streben nach Glück wieder genuine moralische Bedeutung zuteil werden lassen und ihm so seine ursprüngliche Würde zurückerstatten. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Glück: Lust - Freude (zwei Konzeptionen; Definition); Augustinus; Seligpreisungen; Lust - Schmerz - Freude

Kurzinhalt: Die Lust ist ein angenehmes sinnliches Gefühl, ein Affekt, der durch Kontakt mit einem äußerlichen Guten zustande kommt. Die Freude entsteht hingegen von innen her, genau wie die Tätigkeit, die sie verursacht:

Textausschnitt: Die Lust und die Freude: zwei verschiedene Konzeptionen des Glücks

68a Wir schlagen eine Lösung vor, die jedermann unmittelbar einsichtig sein sollte. Die negative Beurteilung des Verlangens nach Glück kommt in folgenden Missdeutungen zum Ausdruck: Es handle sich um ein eigennütziges Streben, das individualistisch sei und zum Egoismus tendiere; es sei der Selbstlosigkeit, der Selbstvergessenheit und der Großzügigkeit entgegengesetzt, denen allein moralischer Wert zukomme und die ein Pflichtbewusstsein voraussetzten. Wenn das Verlangen nach Glück in der Ethik zu stark berücksichtigt wird, werde in ihr das Streben nach Annehmlichkeit und Eigennutz vorherrschen. Die universale Reichweite der moralischen Prinzipien werde zugunsten des individuellen Vorteils vernachlässigt. - Dementsprechend hat man jene ethischen Theorien, die die Glückseligkeit als Kriterium für das moralische Urteil ansetzen, als utilitaristisch oder sogar hedonistisch bezeichnet. Was zu solchen Vorstellungen führt, ist die Definition des Glücks auf der Grundlage der sinnlichen Erfahrung. (Fs)

68b Wenn man indes aufmerksam die Autoren - vor allem die christlichen Autoren - liest, die die Ethik als Streben nach Glückseligkeit verstanden haben, stellt man zunächst fest, dass sie sich der Problematik vollständig bewusst waren. Ihr erstes Anliegen war, das Problem der Lust als grundlegende menschliche Erfahrung zu verstehen und die Lust moralisch zu bewerten. Im Gegensatz zu diesen Bemühungen vernachlässigen viele moderne Ethiker das Thema der Lust. (Fs)

69a Der entscheidende Punkt besteht jedoch darin, dass die besten Definitionen des Glücks bei den erwähnten Autoren über die Lust hinausgehen und das Glück auf die Erfahrung der Freude gründen, die sich von der Lust grundlegend unterscheidet. Ein Zeuge dafür ist der heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen. Der Bischof von Hippo formuliert zunächst das Glück anhand des Begriffs der Freude:

So sind alle darin einig, daß sie glücklich sein wollen, wie sie sich auf Befragen alle einig wären, daß sie sich freuen wollen, und sie nennen die Freude auch das selige Leben. (Bekenntnisse X, 21, 31, übers, von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989, S. 275.)

69b Im Anschluss daran legt er seine berühmte Definition des Glücks vor, die klassische Bedeutung erhalten hat: »Also besteht das selige Leben in der Freude über die Wahrheit (gaudium de veritate)« (X, 23, 33, S. 276). Der tiefere Sinn dieser Definition geht aus einer Passage hervor, in der Augustinus Gott direkt anspricht:

Gibt es doch eine Freude, die den Gottlosen nicht gegeben wird, sondern nur denen, die dich selbstlos verehren, deren Freude du selbst bist. Und das ist das selige Leben - sich freuen zu dir hin, über dich, deinetwegen. Dies ist es und kein anderes (X, 22, 32, S. 276). (Fs)

69c Dieselbe Dynamik kommt in den Seligpreisungen der Bergpredigt zum Ausdruck: Sie bewirken zunächst eine Reinigung und haben dann ihren Höhepunkt in der Verheißung der Freude, die den um Christi willen Verfolgten zuteil wird. Bei niemandem würde hier der Gedanke aufkommen, dass es sich um einen Ansporn zur Lust handeln könnte. (Fs)

69d Die Lust und die Freude sind in der Tat zwei grundverschiedene Erfahrungen, die zwei Konzeptionen des Glücks begründen: Die eine bleibt der sinnlichen Ebene verhaftet und die andere gehört unmittelbar zur moralischen und spirituellen Ebene. Die wichtigsten Unterscheidungen können wir in folgenden Punkten zusammenfassen. Die Lust ist ein angenehmes sinnliches Gefühl, ein Affekt, der durch Kontakt mit einem äußerlichen Guten zustande kommt. Die Freude entsteht hingegen von innen her, genau wie die Tätigkeit, die sie verursacht: Sie ist die direkte Wirkung einer vortrefflichen Tätigkeit, so wie der Genuss eine längere Anstrengung erfolgreich vollendet zu haben. Darüber hinaus empfinden wir Freude, wenn wir die Wahrheit erkennen oder das Gute lieben, gleichsam als Überströmen der Wahrheitserkenntnis und der Liebe in unseren seelischen Empfindungen. Dementsprechend ist die Freude unmittelbar mit der Tugend verbunden, als Zeichen der Echtheit der Tugend. (Fs) (notabene)

70a Die Lust ist dem Schmerz entgegengesetzt: Lust und Schmerz sind miteinander unvereinbar. Die Freude kann hingegen aus einer Prüfung hervorgehen, aus einem Schmerz und einem Leid, das ertragen und mit Mut und Liebe angenommen wird. Die Lust ist von kurzer Dauer und schwankend, genau wie die Ursache, aus der sie hervorgeht. Demgegenüber ist die Freude beständig, so wie es die Tugenden sind, die sie verursachen. Die sinnliche Lust ist zudem so wie das sinnliche Gefühl eine individuelle Erfahrung. Sie vermindert sich, wenn man den Gegenstand der Lust teilt, und verschwindet vollständig, wenn dieser Gegenstand nicht mehr da ist. Dagegen ist die Freude kommunikativ, das heißt sie wächst damit, dass man sie mit anderen teilt und belohnt für das Opfer, das man willig auf sich nimmt. Die Freude ist von der Reinheit und vom Großmut der Liebe untrennbar. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Das neue Gesetz: formales - materiales Element; Gnade d. Hl. Geistes (aus dem Glauben an Christus)

Kurzinhalt: Zunächst der wichtigste, formale Aspekt und der Ursprung seiner Wirkkraft: Es handelt sich um ein inneres bzw. eingegossenes Gesetz. Es besteht in der Gnade des Heiligen Geistes, die aufgrund des Glaubens an Christus zuteil wird ...

Textausschnitt: Das Neue Gesetz oder das Gesetz des Evangeliums

74a Wir wollen nun darlegen, wie der Heilige Geist im Leben des Christen wirkt. Dafür wenden wir uns der Erörterung des 'Neuen Gesetzes' oder des 'Gesetzes des Evangeliums' von Thomas von Aquin zu, am Ende seines Traktats von den Gesetzen in der Summa theologiae (I-II, q. 106-108). Dort finden wir eine bemerkenswerte theologische Ausformulierung der geistlichen Erneuerung des 13. Jahrhunderts, die vom heiligen Franz von Assisi und vom heiligen Dominikus ausging und die zu allen Zeiten im authentischen Christentum zu finden ist. Diese Lehre nährt sich vom Matthäusevangelium, den Briefen des Apostels Paulus sowie von den großartigsten Passagen der Propheten. Leider ist dieser Traktat im Laufe der Jahrhunderte beinahe der Vergessenheit anheimgefallen; erst in der gegenwärtigen Zeit findet er bei den Moraltheologen wieder Beachtung. (Fs)

74b Folgende Elemente gehören zur Definition des Neuen Gesetzes. Zunächst der wichtigste, formale Aspekt und der Ursprung seiner Wirkkraft: Es handelt sich um ein inneres bzw. eingegossenes Gesetz. Es besteht in der Gnade des Heiligen Geistes, die aufgrund des Glaubens an Christus zuteil wird und die durch die Liebe wirksam ist. Darüber hinaus gehören zum Neuen Gesetz sekundäre, materiale Elemente: Sein spezifischer Gesetzestext ist die Bergpredigt und die Sakramente sind seine Instrumente. (Fs) (notabene)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Das Neue Gesetz: ein inneres Gesetz, Werk des Geistes

Kurzinhalt: ... Werk des Heiligen Geistes. Er durchdringt uns und berührt unser Herz in seinen beiden tiefsten Dimensionen: dem Streben nach Wahrheit und dem Bedürfnis nach dem Guten, nach Glück.

Textausschnitt: Die geistigen Elemente des Neuen Gesetzes

74c Wir wollen nun die Bestandteile der Definition des Neuen Gesetzes der Reihe nach besprechen. Dass das Gesetz des Evangeliums ein inneres Gesetz ist, ist eine originelle Auffassung, zur Zeit des Thomas von Aquin nicht weniger als heute. Ist das Evangelium nicht ein geschriebener Text, der gepredigt wird und daher von außen an uns herangetragen wird? Wie können wir das Gesetz als etwas Innerliches begreifen, da doch Gesetze gewöhnlich äußerlich sind?

Ein inneres Gesetz

75a Genau darin besteht das Werk des Heiligen Geistes. Er durchdringt uns und berührt unser Herz in seinen beiden tiefsten Dimensionen: dem Streben nach Wahrheit und dem Bedürfnis nach dem Guten, nach Glück. Der Heilige Geist wirkt durch ein zartes Licht und eine sanfte Bewegung, die in unserer Seele die Weisheit und die Liebe hervorbringen. In diesem Antrieb besteht der Kern des Neuen Gesetzes. Dies hatte lange zuvor der Prophet angekündigt: »Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz« (Jer 31, 33). Die christliche Erfahrung bestätigt es, wenn sie den Heiligen Geist den inneren Lehrmeister nennt: Er erklärt uns die Bedeutung des Wortes Gottes und bewegt uns zu dessen Erfüllung. (Fs)

75b Das Wort 'Gesetz' bekommt hier einen neuen Sinn, der gar nicht mehr juridisch ist: Es handelt sich um eine geistige Vertiefung und Bereicherung. Das Neue Gesetz ähnelt darin dem natürlichen Sittengesetz, sofern beider Wurzel innerlich ist; es übersteigt dieses aber, da es die Regel der vom Heiligen Geist eingegossenen Liebe ist. Worte wie 'Gesetz' oder 'Regel' erhalten ihren tiefen Sinn in der persönlichen Erfahrung und bewähren sich dadurch als Beschreibung eines realen Phänomens. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Das Neue Gesetz: der Glaube an Christus als Wurzel

Kurzinhalt: Der Glaube ist die Quelle schlechthin für die Morallehre, die dem Evangelium folgt; er verdankt sich dem Heiligen Geist, der ihn in den Gläubigen hervorruft und der von innen her die Weisheit und Gerechtigkeit Gottes lehrt.

Textausschnitt: Die Wurzel: der Glaube an Christus

75c Das Neue Gesetz hat in uns als Ursprung den Glauben an Christus. Wir vergessen leicht, dass der Glaube die Mutter der christlichen Ethik ist; wir haben ihn auf die Pflicht reduziert, bestimmte Wahrheiten zu glauben, deren Leugnen eine Sünde ist, und wir haben die Verbindung des Glaubens mit den Werken aufgeweicht. Wenn sich der heilige Paulus im Römerbrief über die jüdische Moral äußert, die sich auf die Gerechtigkeit als reinen Gesetzesgehorsam versteift und die griechische Moral mit ihrem vermessenen Streben nach Weisheit kritisiert, stellt er ihnen provokativ den Glauben an den gekreuzigten Christus gegenüber, der Gerechtigkeit und Weisheit Gottes für uns geworden ist. Der Glaube ist die Quelle schlechthin für die Morallehre, die dem Evangelium folgt; er verdankt sich dem Heiligen Geist, der ihn in den Gläubigen hervorruft und der von innen her die Weisheit und Gerechtigkeit Gottes lehrt. (Fs)

Tabelle: Ist das Neue Gesetz ein geschriebenes Gesetz? (hier ausgelassen)

76a Der Glaube bewirkt eine substanzielle und einzigartige Transformation des moralischen Lebens, in dessen Zentrum nun eine bestimmte Person steht: Jesus Christus. Dieser wird in seiner historischen Einmaligkeit, in dem Leib, der gelitten hat und auferstanden ist, der Quell und die Ursache der Gerechtigkeit und der Weisheit, mit einem Wort, der Moralität der Gläubigen. Jesus ist nicht lediglich ein Weiser oder ein Vorbild; durch die persönliche Verbindung mit ihm, die der Glaube und die Liebe bewirken, entsteht zwischen seinen Nachfolgern und ihm eine so enge geistige Gemeinschaft, dass der heilige Paulus das christliche Leben als ein 'Leben in Christus' beschreibt. »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«, sagt er im Galaterbrief (2, 20). Diese Sichtweise ist im ethischen und religiösen Denken einmalig: Die Person Jesu ist für die Christen zum Zentrum des moralischen Lebens geworden, so wie er es im Übrigen auch im Gebet und in der Liturgie ist, die dieses moralische Leben nähren. (Fs)

77a Hier zeigt der Glaube seine ganze Stärke. Der Glaube darf nicht, wie es heutzutage oft geschieht, auf eine gewisse Lebenseinstellung oder auf eine Bejahung des Credos mit dem Kopf allein reduziert werden. Der Glaube ist ein lebendiger Akt; er bindet die Person für immer an eine andere Person. Genauso wurzelt die Ehe in einem Glaubensakt der Eheleute, der aus ihrer Liebe entspringt und der eine bestimmte Auffassung von der gemeinsamen Zukunft mit sich bringt, die gewissermaßen prophetischer Natur ist. Ebenso geht jede fruchtbare Entscheidung auf individueller, politischer und sogar künstlerischer Ebene aus einem Akt des Glaubens an eine bestimmte 'Idee' hervor, die die Handlung oder das Werk inspiriert und zu seiner Vollendung führt. Keine Wissenschaft, die lediglich das festhält, was ist, kann die Intuition des Glaubens hervorbringen; der Glaube ist eine Erkenntnisweise ganz anderer Natur. Der Glaube wird zur inneren Regel dessen, was man tut, der konstruktiven, kreativen Handlung und zeugt so Lebendigkeit und Liebe. Er erweckt die Hoffnung, die dem Leben seinen Elan verleiht. Auf diese Weise steht der Glaube an Christus als ein inneres Gesetz beim Wachsen des sittlichen Lebens des Christen an erster Stelle. (Fs)

Der Lebenssaft: die Liebe

77b Der Glaube ist »in der Liebe wirksam« (Gal 5,6). Während der Glaube die Wurzel ist, ist die Liebe mit dem Lebenssaft vergleichbar, der dem Stamm Nahrung gibt und in die Äste - das heißt die vielfältigen Tugenden - aufsteigt, um die moralischen Handlungen als köstliche Früchte hervorzubringen. In der Tat wirkt der Heilige Geist durch die neue Liebe, die in Christus offenbar wurde und sich uns mitgeteilt hat. Der Primat der Liebe gegenüber den Gaben des Geistes und den anderen Tugenden wurde deutlich vom heiligen Paulus in seinem ersten Korintherbrief (Kap. 12-13) sowie im Johannesevangelium gelehrt, wo Christus die Liebe zu einem neuen Gebot macht (Joh 13,34). Diese Lehre ist sehr wertvoll; man kann sie spezifisch christlich in ihrer Wirkkraft und Universalität nennen, sofern sie sich sogar bis hin zu den Feinden erstreckt. Sie entfaltet sich weiter in der Moraltheologie, wo sichtbar wird, wie die Liebe alle Tugenden beseelt. (Fs)

Liebe und Tugenden

78a Die Liebe wird gewöhnlich als die Mutter und Form aller Tugenden charakterisiert. In der Tat ist sie Urheberin und Inspiration der Tugenden, deren organische Einheit gemäß der Moraltheologie in den göttlichen Tugenden und den Kardinaltugenden wurzelt. Die Tugenden sind miteinander so verbunden, dass sie nur gemeinsam wachsen und tätig sind, so wie die Glieder eines lebendigen Leibes. (Fs)

78b Die christlichen Autoren haben die Tugendlehre der antiken Philosophen grundsätzlich übernommen; sie haben diese Lehre jedoch in wichtiger Hinsicht umgeformt, sofern sie der göttlichen Tugend der Liebe eine zentrale Bedeutung beigemessen haben. Obwohl die Tugend der Philosophen so edel ist und nach außen ausstrahlt, bleibt man doch in der Ausübung der Tugend allein, gleichsam in seiner eigenen Vortrefflichkeit eingeschlossen. Sofern aber gemäß der christlichen Tugendlehre die Liebe an der Wurzel aller Tugenden steht, verändert sich das Verständnis der Tugenden tiefgreifend. Die Liebe stiftet Gemeinschaft mit Christus und macht uns dadurch für das Wirken des Heiligen Geistes empfänglich. Wir können unsere Tugenden nun nicht mehr als unser Eigentum auffassen. Obwohl sie in uns persönlich wirken, gehören sie dem, der sie inspiriert. Daraus ergibt sich eine innere Einstellung, die für die Liebe charakteristisch ist: eine aktive Empfänglichkeit, eine dynamische Aufnahme, ein freimütiger Gehorsam gegenüber dem Heiligen Geist, der der Handlung umso mehr Stärke verleiht, als man bei ihrer Ausübung nicht mehr auf sich allein gestellt ist. Durch die Liebe überträgt sich die Haltung, in der sich Folgsamkeit und Initiative vereinen, auf die anderen Tugenden, was diesen ihren besonderen Charakter verleiht. (Fs)
Liebe und die Gaben des Heiligen Geistes

79a Um dieser besonderen Erfahrung in angemessener Weise Rechnung zu tragen hat Thomas von Aquin im Gefolge des heiligen Augustinus seine Lehre von den Gaben des Heiligen Geistes entwickelt. Verbunden mit den Tugenden machen uns die Geistesgaben gegenüber den Anregungen des Geistes Christi fügsam. Die Liste der sieben Geistesgaben ist vom Propheten Jesaja übernommen (11, 1-8, nach dem Text der Septuaginta). Es sind die Weisheit, die Einsicht, der Rat, die Stärke, die Erkenntnis, die Frömmigkeit und die Ehrfurcht. Wie bereits erläutert, ordnet Thomas jeder Tugend eine Geistesgabe zu. Die Tugenden und die Gaben bilden so die beiden Seiten desselben Organismus der Liebe, die am Ursprung der Werke des Heiligen Geistes im Leben der Gläubigen stehen. (Fs)

79b Die Beteiligung des Heiligen Geistes am Wachstum der Tugenden macht deutlich, dass er in uns mehr im Rahmen unserer ständigen Bemühungen des Alltags wirkt, als dass er sich in außergewöhnlichen Geschehnissen, plötzlichen Bewegungen oder besonderen Charismen zeigt. Er bewegt uns wie der Lebenssaft, dessen Wirken man weder sieht noch spürt, da er so diskret in den Anregungen und Vorhaben wirksam ist. Wenn wir ihm vertrauen, bereitet uns der sanfte Anstoß des Geistes jedoch auf die Blüte des Frühlings und die Reife des Herbstes vor. Dann kann der Heilige Geist in uns Werke hervorbringen, die überraschend sein können; die Gaben lassen uns nämlich wie tiefe Inspirationen das Maß der einfachen Vernunft im Umgang mit den Dingen, in der Großzügigkeit, in der Tapferkeit oder in der Loslösung übertreffen. So hat zum Beispiel Franz von Assisi für sich mit Liebe die Armut ausgewählt. Vinzenz von Paul und Mutter Teresa haben sich jeglichen Elends angenommen. Weitere Beispiele dafür sind die Märtyrer im Gefolge Stephans in der Apostelgeschichte, Cyprian in Karthago oder die schlichte Blandine, Patronin der Stadt Lyon, die inmitten von Folterungen und bis hin zum Anblick des Todes eine friedvolle und sogar freudige Zuversicht behalten hat. So führen die Geistesgaben die Tugenden zu ihrer Vollendung. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Das Neue Gesetz; materielle Elemente: Bergpredigt -> "Gesetz der Freiheit" aus drei Gründen (Thomas)

Kurzinhalt: Thomas von Aquin zögert nicht, die Bergpredigt als den spezifischen Text des Neuen Gesetzes zu charakterisieren, der dem Dekalog als spezifischen Text des Alten Gesetzes entspricht.

Textausschnitt: Die materiellen Elemente des Neuen Gesetzes

80a In einem grandiosen Text, der vom Prolog des Johannesevangeliums inspiriert ist, vollendet Thomas von Aquin seine Lehre vom Neuen Gesetz, indem er aufzeigt, wie die Gnade des Heiligen Geistes für uns aus der Person Jesu fließt, des Mensch gewordenen Gottes. Demzufolge muss das Neue Gesetz, wie Thomas deutlich macht, außer den erwähnten geistigen Elementen auch sinnliche Elemente aufweisen, die diese Gnade gewissermaßen in Fleisch einkleiden, um sie uns mitzuteilen. Zudem muss es konkrete Taten beinhalten, die uns seines Werkes teilhaftig werden lassen. Obwohl wir geistige Geschöpfe sind, sind wir doch keine reinen Geister; wir benötigen greifbare Zeichen, um das Wort Gottes annehmen zu können. Wir vernehmen es mit den Ohren und den Augen, durch die Predigt sowie das geschriebene Wort, und wir müssen es mit unserem Leib in die Tat umsetzen. Der Sohn Gottes selbst ist diesen Weg in ganz unerwarteter Weise gegangen, indem er Mensch wurde und am Kreuz gestorben ist. Die Gnade des Heiligen Geistes erreicht uns ebenso durch materielle Dinge: durch Bücher, besonders die Bibel, deren Lehre der Moral in der Bergpredigt gipfelt; durch geweihte Gegenstände und bestimmte Gesten, nämlich die Sakramente und die Liturgie, in der sie gespendet werden (Summa theologiae I-II, q. 108, a. 1). (Fs)

Die Bergpredigt als Text des Neuen Gesetzes

80b Der Bergpredigt verleiht der Herr selbst Autorität; daher wurde sie in der Tradition der Kirchenväter als die wichtigste Quelle der Moralkatechese aufgefasst und die meisten geistigen Erneuerungsbewegungen waren und sind direkt von ihr inspiriert. Thomas von Aquin zögert nicht, die Bergpredigt als den spezifischen Text des Neuen Gesetzes zu charakterisieren, der dem Dekalog als spezifischen Text des Alten Gesetzes entspricht. (Fs)
81a Die Bergpredigt darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss vielmehr als Brennpunkt und Gipfel der Morallehre der Heiligen Schrift und besonders des Neuen Testaments angesehen werden. Man muss sie daher im Zusammenhang mit dem ganzen Evangelium, dessen Teil sie ist, interpretieren. (Fs)

81b Es gilt darüber hinaus zu beachten, dass die Bergpredigt nicht allein für das private moralische Leben bestimmt ist. Wie die Evangelien richtet sich die Bergpredigt an die kirchliche Gemeinschaft, zu deren Aufbau sie beiträgt. Man kann auch sagen, dass die Bergpredigt der Kirche ihre grundlegende Verfassung gibt: Sie ist eine erste Grundlage für die kirchliche Gesetzgebung und ebenso für die Ordensregeln oder Konstitutionen der religiösen Gemeinschaften, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben. (Fs)

81c Allerdings ist sie kein Gesetzestext wie jeder andere, eben deshalb, weil sie das Werkzeug des Heiligen Geistes in seinem Werk der Rechtfertigung und Heiligung ist. Von seiner materiellen Seite her kann der Text der Bergpredigt den Menschen nicht mehr rechtfertigen und heiligen als der Dekalog; in gewisser Sicht ist er dafür sogar weniger geeignet, da seine Forderungen so groß sind, dass sie als nicht ausführbar erscheinen. Wenn aber die Gnade des Heiligen Geistes durch den Glauben und die Liebe wirkt, zeigt sich die Bergpredigt als privilegiertes Instrument für dieses Wirken. Sie beschreibt in der christlichen Erfahrung die Wege der geistigen Befreiung und wird zu Recht 'Gesetz der Freiheit' genannt. (Fs)

81d Diese bemerkenswerte Bezeichnung, die Thomas von Aquin für das Gesetz des Evangeliums verwendet, ist aus drei Gründen berechtigt:

1. Die Bergpredigt fügt den Geboten des Dekalogs keine neuen Vorschriften hinzu. Vielmehr befreit sie uns von vielen äußerlichen Weisen, das jüdische Gesetz zu befolgen, und behält nur die wesentlichen Weisungen bei, um unsere Bemühung und Aufmerksamkeit auf die Ebene des Herzens zu lenken, wo sich mit Hilfe des Glaubens und der Liebe die Tugenden entfalten. Wegen dieser Konzentration auf das Wesentliche, zu der auch Flexibilität hinzukommt, bereitet die Bergpredigt der spirituellen Reife den Weg und fördert diese. (Fs)
2. Durch die Bergpredigt gelangen wir zu einer neuen Dimension der Moralität. Die Beziehungen, die sich im Normalfall auf der Grundlage des Gesetzes entwickeln, gleichen jener zwischen Herr und Knecht, für die der Gebrauch des Imperativs typisch ist und die bestimmte Strafen für den Fall vorsehen, dass der Untergebene den Befehlen nicht nachkommt. Demgegenüber stiftet das Neue Gesetz eine Beziehung der Freundschaft mit dem Herrn, gemäß seinen Worten:

Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe (Joh 15,15).

82a In einer Freundschaft sind Imperative und Befehle nicht mehr angebracht. Die Freunde gehen miteinander auf persönlichere Weise um und anstelle von Anordnungen verwenden sie eher Ratschläge oder Ermahnungen (wie zum Beispiel die 'Paraklese' der Apostel). Genau darin unterscheidet sich das Neue Gesetz von anderen Gesetzen: Außer Geboten enthält es auch Evangelische Räte, die sich an die persönliche Initiative des Einzelnen richten und deren Befolgen uns durch die Tugenden und die Geistesgaben erleichtert wird. Das Ziel der Bergpredigt ist daher, uns zum Gebrauch unserer geistigen Freiheit zu erziehen. Diese Freiheit entwickeln wir in den Freundschaftsbeziehungen mit dem Herrn und mit unseren Brüdern und Schwestern, die uns durch die Liebe möglich werden. Der heilige Paulus spricht von der Freiheit der Kinder Gottes im Haus seines Vaters im Unterschied zu den Sklaven und den Minderjährigen (Röm 8, 14-17; Gal 4, 1-7). (Fs)

82b Die Evangelischen Räte richten sich an alle Christen, an jeden gemäß seiner Lebensumstände und seiner Berufung. Später hat man sie auf die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams konzentriert, die das Leben der Gottgeweihten tragen, dessen Bestimmung die Vollendung der Liebe und das Zeugnis für das Evangelium und für die ganze Kirche ist. (Fs)

3. Man kann die Bergpredigt unmöglich aus Zwang oder aus Pflicht erfüllen. Sie wird nur auf dem Wege der Liebe praktizierbar, die im Mittelpunkt der Lehre der Bergpredigt steht und die die erste Gabe des Heiligen Geistes ist. In dieser Liebe werden wir frei, denn sie lässt uns aus eigenem Antrieb handeln, aus einem spirituellen Hang, in Nachahmung Christi und entsprechend den Anregungen des Geistes. Eine solche Freiheit können wir allerdings nur erfahren, wenn wir die Loslösungen und Reinigungen annehmen, die für die Befreiung von unseren egoistischen Instinkten notwendig sind und durch die wir lernen, wahrhaft zu lieben. Dies vollbringen unter anderem die Seligpreisungen, die uns von der Armut und Demut zur Reinheit und zum Frieden führen und durch die wir ein Herz bekommen, das ganz und gar gegenüber dem Geist fügsam ist. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Sittengesetz - 5 Neigungen (allgemein) -> Transzendentalien

Kurzinhalt: Wir können fünf grundlegende Neigungen unterscheiden. Sie entspringen den wesentlichen Komponenten unseres Menschseins und weisen gewisse Verbindungen mit jenen allgemeinsten Begriffen auf, ... Transzendentalien

Textausschnitt: Die fünf Neigungen, die das natürliche Sittengesetz fundieren

88a Nachfolgend beschreiben wir die natürlichen Neigungen, die unsere Freiheit beleben, indem wir der Darstellung des Thomas von Aquin bei seiner Erörterung der Gebote des natürlichen Gesetzes folgen (Summa theologiae I-II, q. 94, a. 2). Die Lehre von den natürlichen Neigungen findet sich dem Inhalt nach bereits bei Cicero in einem Text, den Thomas wahrscheinlich nicht direkt kannte (De officiis I, 1). (Fs)

88b Wir können fünf grundlegende Neigungen unterscheiden. Sie entspringen den wesentlichen Komponenten unseres Menschseins und weisen gewisse Verbindungen mit jenen allgemeinsten Begriffen auf, die die Philosophen 'Transzendentalien' nennen (Einheit, Wahrheit, Gutsein usw.). (Fs)

1. Die grundlegendste Neigung, die am Ursprung jeglicher menschlichen Handlung steht, ist das Streben nach dem Guten, das sich nicht von dem Verlangen nach Glück trennen lässt. Auf theoretischer Ebene drückt sich diese Neigung durch die Idee des Guten aus, als Vollendung und Vorzug. Sie entspricht der Erfahrung eines Wertes. Die Neigung zum Guten liegt allen übrigen Neigungen zugrunde. (Fs)

2. Die erste Konkretisierung der Neigung zum Guten ist die Neigung zum Erhalt des eigenen Daseins. Diese Neigung ist gleichermaßen fundamental wie die Existenz. Sie zeigt sich in der Idee und der Erfahrung des Seins, in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Diese Neigung ist uns mit allen Dingen, die existieren, gemeinsam. (Fs)

3. Der Mensch ist ein Lebewesen und er hat das Vermögen, das Leben durch den Gebrauch der Sexualität weiterzugeben. Das menschliche Geschlecht unterteilt sich in Männer und Frauen im Hinblick auf die Zeugung und Erziehung der Nachkommen. Dies ist nicht nur Teil unseres Bewusstseins, sondern auch unseres Sprachgebrauchs. Alle Lebewesen teilen mit dem Menschen die Neigung zum Erhalt der eigenen Spezies. (Fs)

4. Die vierte Neigung ist von Grund auf geistiger Natur: das Streben nach Wahrheit, das im Begriff und in der Erkenntnis der Wahrheit zum Ausdruck kommt. Die Wahrheit ist das Objekt, auf Das natürliche Sittengesetz und die Freiheit das die Vernunft hingeordnet ist, und sie ist das Licht des theoretischen und praktischen Intellekts. Jedes geistige Geschöpf hat diese Neigung zur Wahrheit. (Fs)

5. Schließlich hat der Mensch eine natürliche Neigung zum Leben in Gemeinschaft. Diese Neigung geht aus dem Bewusstsein für den anderen hervor, das zum Wesen unseres personalen Seins gehört und untrennbar mit dem Bewusstsein für das Gute verbunden ist. Aus dieser Neigung entspringt das Bedürfnis für Kommunikation und Gemeinschaft, wie es im Gebrauch der Sprache zum Vorschein kommt. (Fs)

89a Wir wollen nun kurz auf jede der fünf Neigungen eingehen, um zu zeigen, wie sie das natürliche Sittengesetz und dessen verschiedene Gebote begründen. Auf der Grundlage dieser Neigungen ist uns nämlich das Sittengesetz ins Herz unserer freien Persönlichkeit geschrieben. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Die Neigung zum Guten; 1. Prinzip der Sittlichkeit; Gebote 1,2

Kurzinhalt: Die Eigenschaft des Guten, erstrebenswert zu sein, findet einen universalen Ausdruck im ersten Prinzip der Sittlichkeit: Man muss das Gute tun und das Böse meiden.

Textausschnitt: 1. Die Neigung zum Guten

89b Die Neigung zum Guten ist ein ursprünglicher geistiger Instinkt, der als solcher nicht definiert werden kann. Man kann ihn durch das charakterisieren, was er in uns bewirkt: ein spontanes Angezogensein vom Guten und ein Gefallen am Guten sowie eine Abneigung gegenüber dem Bösen oder genauer gesagt gegenüber dem, was sich in unserer Wahrnehmung, im Verstand oder im Gewissen als schlecht darstellt. (Fs)

89c Das Gute ist mehr als nur die Pflicht. Es bezeichnet eine Qualität, eine Vollendung, die anziehend ist und Liebe erweckt. Wenn das Gute abwesend ist, bewirkt es als Ziel des Strebens eine Hinbewegung zum Guten. Ist das Gute erreicht, verursacht es Freude und Glück. Das Gute ist das, was erstrebenswert ist und was verdient, geliebt zu werden. (Fs)

89d Die Wahl zwischen dem Guten und dem Bösen ergibt sich aus diesem Anreiz des Guten. Da nämlich unser Geist und unser Herz begrenzt sind, können wir das als etwas Gutes auswählen, was in Wirklichkeit etwas Schlechtes ist, oder umgekehrt etwas wahrhaft Gutes für etwas Schlechtes halten, wie wenn jemand ein unehrlich erworbenes Vermögen den Forderungen der Gerechtigkeit vorzieht. Und weil der geliebte Gegenstand uns ihm selbst gleich macht, kann unsere moralische Bewertung falsch werden und unsere Urteilsfähigkeit verderben. Der Sinn für das Gute und das Böse bleibt jedoch auch beim Fehlgehen und in moralischer Verderbnis bestehen, so wie auch jemand in der Krankheit weiterhin nach Gesundheit verlangt. (Fs)

90a Die Eigenschaft des Guten, erstrebenswert zu sein, findet einen universalen Ausdruck im ersten Prinzip der Sittlichkeit: Man muss das Gute tun und das Böse meiden. Das bedeutet nicht in erster Linie eine sittliche Verpflichtung, das Gute zu tun, sondern betont die Anziehungskraft des Guten. Aus diesem ersten Prinzip folgt auch die Weisung, über den Anschein der Illusionen hinauszugehen und nach dem wahrhaft Guten zu streben und das reale Übel zu vermeiden. Der Nachdruck, im Guten mit seinem ganzen Anreiz auf die Wahrheit zu schauen, steht am Ursprung des richtig verstandenen Prinzips der Pflicht und des Sollens, ohne dass sich die Wahrheit allerdings auf Pflicht und Sollen reduzieren ließe; sie übersteigt diese nämlich und führt zur Vollendung des Guten. (Fs)

90b Das Gute ist untrennbar mit der Liebe verbunden, deren unmittelbare Ursache es ist. Dementsprechend könnte man die Arten des Guten entsprechend den verschiedenen Arten von Liebe und Freundschaft unterscheiden. Es gibt zunächst das angenehme Gute, das um des sinnlichen Genusses willen angestrebt wird. Weiterhin gibt es das nützliche Gute, das als Mittel für einen bestimmten Zweck beabsichtigt wird. Diese beiden Arten des Guten entsprechen der 'begehrlichen Liebe', durch die das erstrebte Gut ganz der eigenen Person untergeordnet wird. Nach Aristoteles ist das der Fall bei Freundschaft zwischen jungen Leuten, die auf der Lust und dem Gefühl gründet, und unter Geschäftsfreunden, deren Freundschaft auf dem gemeinsamen Nutzen basiert. (Fs)

90c Das Gute im vollen Sinn des Wortes ist anderer Natur: Es ist wert, um seiner selbst willen und in sich selbst geliebt zu werden, als Zweck und nicht als Mittel. Ebenso besteht die Liebe im eigentlichen Sinne darin, jemanden um seiner selbst willen und in sich selbst zu lieben. Dies ist die so genannte Freundschaftsliebe oder die wohlwollende Liebe. Der Gegenstand dieser Liebe ist eine Person oder eine bestimmte Eigenschaft der Person, beispielsweise ihre Wahrhaftigkeit oder ihre Güte, ihre Rechtschaffenheit sowie jede andere authentische Tugend. Das Gute und die Freundschaft dieser Art gehören im eigentlichen Sinn zur Ethik. (Fs)

91a Die Neigung zum Guten ist im Dekalog durch die beiden Gebote der Liebe zu Gott und dem Nächsten ausgedrückt, die das gesamte Gesetz enthalten. Sie ist die Grundlage für die Rechte und Pflichten, die die anderen Neigungen näher bestimmen. Kurz, sie gibt jedem Menschen das Recht und legt ihm die Pflicht auf, nach dem Guten zu streben und dem Bösen zu entsagen und es zu bekämpfen. Diese Neigung entwickelt sich durch die Tugenden auf der Grundlage eines allgemeinen Wunsches nach Gerechtigkeit und nach Freundschaft, der sich in jeder einzelnen Handlung konkretisiert. Die Liebe für das Gute, die zugleich allgemein und konkret ist, bietet die natürliche Grundlage der göttlichen Tugend der Liebe (Caritas). Die Caritas bringt die Liebe zum Guten zur Vollendung, indem sie sie umgestaltet und reinigt. (Fs) (notabene)

91b So wie wir die Gesundheit am meisten schätzen, wenn wir krank sind, so zeigt sich uns die Neigung zum Guten am spürbarsten, wenn wir mit dem Bösen und mit dem Leid konfrontiert sind, besonders im Bewusstsein unserer Sünde, sofern diese uns nicht blind macht. Aber nicht nur der Schmerz, sondern auch die Freude offenbart uns unsere Neigung zum Guten. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Die Neigung zum Erhalt des Lebens; 5. Gebot; Tugenden: Tapferkeit, Hoffung

Kurzinhalt: Die Neigung zum Erhalt des eigenen Lebens ist fundamental - sie betrifft unsere Substanz, unser Sein. Daher bildet sie die Grundlage für jegliche Aktivität.

Textausschnitt: 2. Die Neigung zum Erhalt des Lebens

91c Die Neigung zum Erhalt des eigenen Lebens ist fundamental - sie betrifft unsere Substanz, unser Sein. Daher bildet sie die Grundlage für jegliche Aktivität. Aus ihr entspringt der Wunsch zur Existenz und die Sorge um die Gesundheit. Sie vermittelt uns den Sinn für die Wirklichkeit. Darüber hinaus begründet sie das Recht zur legitimen Selbstverteidigung. (Fs)

91d Diese Neigung ist nicht nur ein passiver Lebenserhaltungsdrang, sondern sie spornt uns dazu an, sich aktiv um das zu bemühen, was für unseren Lebensunterhalt notwendig ist: Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. Unsere persönliche Entwicklung im Leben entspringt aus dieser Neigung. (Fs)

91e Die Neigung zum Erhalt des eigenen Seins beschränkt sich nicht auf unser physisches Leben, sondern wirkt sich auch auf dem geistigen Niveau aus, wo sie die Selbstliebe erweckt, die am Ursprung aller unserer Tätigkeiten steht und die als solche keineswegs egoistische Selbstbezogenheit bedeutet. Vielmehr gibt sie das Maß für die Nächstenliebe an, entsprechend dem zweiten Gebot: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Zudem bildet sie die Grundlage für die Goldene Regel. So kann es sogar vorkommen, dass jemand um eines moralischen Wertes willen, wie zum Beispiel aus Liebe zu Gott, für das Vaterland oder für Gerechtigkeit, zum Opfer des eigenen physischen Lebens bereit ist. (Fs)

92a Diese Neigung drückt sich im fünften Gebot aus: »Du sollst nicht töten«, das die Ehrfurcht vor dem Leben des anderen gebietet und das im weiteren Sinne auch beinhaltet, die Güter des anderen zu respektieren. Sie begründet das Recht darauf, sein Leben zu schützen und das Lebensnotwendige zu erhalten. Sie erlegt zudem jedem die gleichsam natürliche Pflicht auf, die Gesundheit zu pflegen - sowohl im physischen wie auch im moralischen Sinn. (Fs)

92b Die Tugend, durch die die Neigung zum Erhalt des Seins ihre Vollendung findet, ist die Tapferkeit. Diese besteht in erster Linie im Mut zum Dasein und zum Leben. Sie stärkt in uns die Hoffnung, indem sie uns befähigt, den Schwierigkeiten und Prüfungen im Leben im richtigen Geist zu begegnen. (Fs)

92c Die christliche Tugend der Hoffnung krönt diese lebensnotwendige Neigung in weit höherem Maß, als das jede rein menschliche Hoffnung vermöchte. Man gelangt allerdings zu dieser 'Hoffnung gegen jede Hoffnung' nicht ohne eine tiefe Prüfung, deren exemplarisches Beispiel Abraham und das Isaakopfer bietet. (Fs)

92d Das Problem des Selbstmordes (der Reiz des Nichts ist gleichsam die Perversion der Anziehungskraft des Seins) betrifft diese Neigung zum Erhalt des Seins, und ebenso die Abtreibung, Euthanasie, Folter und Verstümmelung, die den Respekt vor dem Leben verletzen. Diese Neigung fundiert zudem den Fortschritt der Medizin sowie die Gesundheitsfürsorge, der in unserer Gesellschaft ein so wichtiger Raum zukommt. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Die Neigung zur Sexualität; Gebote 4, 6, 9;

Kurzinhalt: Damit sich die sexuelle Neigung angemessen entwickeln kann, muss sie beherrscht werden. Drei Gebote des Dekalogs haben mit ihr zu tun:

Textausschnitt: 3. Die Neigung zur Sexualität

92e Die sexuelle Neigung hat der Mensch mit den anderen Lebewesen gemeinsam; sie verwirklicht sich bei ihm allerdings auf vollkommenere Weise. Ihre Erfüllung findet sie in der Ehe zwischen Mann und Frau im Hinblick auf das Leben. Sie ist nicht lediglich biologischer Natur, obwohl der biologische Aspekt eine charakteristische Komponente dieser Neigung ist. Vielmehr umfasst sie die gesamte Persönlichkeit mit allen ihren affektiven Bindungen. Man unterscheidet gewöhnlich einen doppelten Zweck der Ehe: zunächst die Zeugung von Nachkommen und die Erziehung der Kinder, durch die den Fortbestand und das Wachsen des Menschengeschlechts sowie dessen kulturelles Erbe gewährleistet werden; außerdem die gegenseitige Liebe und Unterstützung der Eheleute. Diese beiden Zwecke sind aufeinander ausgerichtet und können sich nicht unabhängig voneinander voll entfalten, denn das Gesetz der Liebe ist die Hingabe und die Fruchtbarkeit. (Fs)

93a Man kann auch zeigen, wie sich die anderen Neigungen im Rahmen der Familie entwickeln, wo der Mensch die ersten Lebenserfahrungen macht. Hier macht er die Erfahrung der Liebe, des Glücks, der konkreten Bewertung des Guten und Bösen sowie der sittlichen Erziehung. Er lernt hier das Lebensgefühl und die Gewissheit im Leben, grundlegende Erkenntnisse und die Muttersprache, den Unterschied der Geschlechter, die Verschiedenheit der Persönlichkeiten mit den mannigfaltigen Beziehungen, die aus der Familie die Urzelle der Gesellschaft machen. (Fs)

93b Damit sich die sexuelle Neigung angemessen entwickeln kann, muss sie beherrscht werden. Drei Gebote des Dekalogs haben mit ihr zu tun: das vierte, das Ehrfurcht gegenüber den Eltern fordert, das sechste, das den Geschlechtsakt an die Ehe bindet, und das neunte, das unreines sexuelles Begehren verbietet. Diese Gebote stehen im Dienst der Keuschheit, die eine Form der Selbstbeherrschung oder Kontrolle der Instinkte und Gefühle ist. Mag die Keuschheit auch durch den Aspekt der Bekämpfung von Abschweifungen und Exzessen der Sexualität ein negatives Image bekommen, so ist sie doch in Wirklichkeit etwas zutiefst Positives. Sie ermöglicht nämlich die wahre Liebe, deren Reinheit, Geradlinigkeit und Fortdauer sie garantiert. (Fs)

93c Diese Neigung verleiht jedem Menschen ein natürliches Recht auf Ehe, dem die Pflicht entspricht, gegenüber dem Ehepartner und den Kindern Verantwortung wahrzunehmen. Gemäß dem christlichen Glauben erfolgen die Heiligung der Ehe sowie die Berufung zur Jungfräulichkeit auf der Grundlage dieser Neigung. Die Jungfräulichkeit versteht sich nicht als Ablehnung oder Geringschätzung der Sexualität. Jedem Christen kommt es gemäß seiner Berufung zu, ein Zeugnis für den Glauben abzulegen und Christus zu lieben; dies findet in der Jungfräulichkeit einen besonderen Ausdruck. Die christliche Keuschheit ist ein spezielles Werk des Heiligen Geistes, der das Herz der Gläubigen zu einer neuen Form der Liebe inspiriert. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Die Neigung zur Erkenntnis der Wahrheit; Gebot 8; Tugend: Klugheit

Kurzinhalt: Alle vernunftbegabten Wesen kommen in dieser Neigung überein. Sie zeigt sich in der unmittelbaren Klarheit der ersten Denkprinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft, insbesondere im ersten Prinzip der Sittlichkeit:

Textausschnitt: 4. Die Neigung zur Erkenntnis der Wahrheit

94a Die Neigung zur Wahrheit ist der geistigen Natur eigentümlich. Alle vernunftbegabten Wesen kommen in dieser Neigung überein. Sie zeigt sich in der unmittelbaren Klarheit der ersten Denkprinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft, insbesondere im ersten Prinzip der Sittlichkeit: 'Das Gute ist zu tun und das Böse zu meiden.' Aus ihr entspringt die Liebe zur Wahrheit, die eine Analogie hat im Streben aller Lebewesen nach dem Licht. (Fs)

94b Auf diesen ersten Einsichten der Vernunft gründen die verschiedenen Wissenschaften durch die Verstandesleistung und den Kontakt mit der Wirklichkeit. Die Ethik ist eine dieser Wissenschaften; sie betrachtet die Dinge unter dem Gesichtspunkt ihres Gutseins und hat als Regeln die Gebote des natürlichen Sittengesetzes. Ihre Aufgabe besteht darin, in verständiger und wirksamer Weise diese Gebote auf die konkreten Handlungen anzuwenden, um deren Vortrefflichkeit und Vollkommenheit zu gewährleisten. (Fs)

94c Verschiedene Tugenden vervollkommnen die Vernunft bei der Entwicklung der Wissenschaften, bei der auch die Erfahrung eine große Rolle spielt. Zu diesen so genannten Verstandestugenden gehören die wissenschaftliche Erkenntnis als Fähigkeit, die Handlung wissenschaftlich zu untersuchen und anzuleiten, und die Weisheit, die die Erkenntnisse und Erfahrungen in einer Gesamtschau über das Leben und Handeln vereinigt. Besonders wichtig ist die Klugheit (oder praktische Weisheit), durch die man erkennt, was für die einzelne Tat das Gute ist. Die Klugheit ist die Tugend des Verstandes, die die Handlung durchdringt, um sie gut zu gestalten. In der Tugendethik kommt der Klugheit eine zentrale Rolle zu, die der Rolle des Gewissens in der Sollensethik entspricht. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Klugheit in der konkreten Situation nach dem Besten strebt und nicht einzig und allein danach fragt, was erlaubt und was verboten ist. Die Klugheit ist auf zwei Weisen wirksam: erstens durch das praktische Urteil selbst und zweitens durch die Anweisung, nach diesem Urteil auch zu handeln, woraufhin sich der Kluge tatsächlich zur Handlung bewegt. Man kann nicht wahrhaft klug sein ohne das praktische Urteil der Klugheit in die Tat umzusetzen. (Fs)

95a Die natürliche Neigung zur Wahrheit ist von universeller Bedeutung; ihr kommt jedoch ein besonderes Gewicht für die Ethik zu, wenn sie sich mit der aktiven Erfahrung vereinigt. In der menschlichen Erfahrung spiegelt sich nämlich gleichsam wie in einem Mikrokosmos die gesamte Wirklichkeit wider, insbesondere durch die existenzielle Beziehung zu den Mitmenschen und zu Gott. (Fs)

95b Das achte Gebot betrifft die Neigung zur Wahrheit, es untersagt die Lüge und das falsche Zeugnis. Diese Verbote dienen einem dynamischen Bestreben, das verschiedene Rechten und Pflichten begründet: zum Beispiel das Recht auf Schulerziehung entsprechend den Ressourcen der jeweiligen Gesellschaft und den persönlichen Begabungen des Einzelnen; zugleich die Pflicht seinen Verstand zu entwickeln, besonders im Bereich der Sittlichkeit, wo es um die Ausrichtung des eigenen Lebens und um konkrete Probleme geht. Der Vernunft kommt also im sittlichen Leben eine erstrangige Aufgabe zu. Besonders ihre kontemplative Dimension gilt es wiederzuentdecken. (Fs)

95c Das Verlangen nach Wahrheit bildet die natürliche Grundlage für den christlichen Glauben. Der Glaube ist nämlich mehr als ein bloßer willentlicher Gehorsam: Er antwortet auf das Licht des geoffenbarten Wortes durch eine Zustimmung der Vernunft, so wie der Schüler dem Meister zustimmt. Der Glaube entwickelt die Liebe zur Wahrheit durch die Geistesgaben der Einsicht und der Erkenntnis. Auf Grund der Liebe, die mit ihm einhergeht, verhilft uns der Glaube zu einer gewissen Konnaturalität mit der göttlichen Wirklichkeit. Er erhellt und nährt die geistliche Erfahrung. (Fs) (notabene)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Die Neigung zum Leben in Gemeinschaft; Sprache, Struktur der Grammatik

Kurzinhalt: Die Freundschaft zwischen Menschen ist natürlicher als der Kampf und die Rivalität ... Hobbes; Gemäß der 'Freiheit für das Gute' hingegen gehört die soziale Dimension zur Natur des Menschen vermöge der Neigung, die ihn zu den anderen Menschen zieht.


Textausschnitt: 5. Die Neigung zum Leben in Gemeinschaft

95d Der Mensch wird gewöhnlich als gesellschaftliches Lebewesen« oder als 'politisches Lebewesen' aufgefasst, sofern er die Tendenz hat sich mit anderen Menschen zu vereinen. In diesem Sinne ist von der Neigung zum Leben in Gemeinschaft die Rede. Diese Neigung basiert zweifellos auf dem Bedürfnis der Menschen miteinander für die Notwendigkeiten des Lebens aufzukommen. Sie hat jedoch eine Grundlage, die tiefer liegt: den Sinn für den anderen, der sich in der Liebe, Zuneigung und Freundschaft entfaltet und der durch die entgegengesetzten Gefühle zugrunde geht. Die Freundschaft zwischen Menschen ist natürlicher als der Kampf und die Rivalität. Der Mensch ist nicht »des Menschen Wolf« (wie ein durch Thomas Hobbes berühmt gewordenes lateinisches Sprichwort sagt), er kann es jedoch werden. (Fs)

96a Das Zeichen dieser natürlichen Veranlagung, Gemeinschaft zu bilden, ist die Sprache. Im Gegensatz zu den Tieren, die bloß Schreie austauschen, hat der Mensch die Sprache entwickelt, durch die er Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse mitteilt und Regungen des Geistes und des Herzens äußert. Durch die Sprache kann er zum Ausdruck bringen, was gut oder böse, gerecht oder ungerecht ist. Das ganze Leben des Menschen kann in Sprache ausgedrückt werden. Die natürlichen Neigungen spiegeln sich sogar in der Struktur der Grammatik wider: Die Wahrnehmung des Guten drückt sich in wertenden Wörtern aus, infolge des Bewusstseins des Seins bildet man Substantive; die Wahrheit zeigt sich im Verb, das eine Aussage über Wahrheit oder Falschheit des Satzes macht; das Leben in Gemeinschaft bestimmt die erste, zweite oder dritte Person des Verbs und die Pronomina ich, du, er, sie, es, sowie Singular oder Plural. Man kann sogar eine Beziehung zwischen diesen Neigungen und den Sinnesorganen herstellen, sofern man dort eine gewisse Übereinstimmung feststellt. Man kann den Geschmackssinn auf das Gute beziehen: In der lateinischen Sprache ist Weisheit (sapientia) von Geschmack (sapor) abgeleitet. Der Gesichtssinn als das vortreffliche Organ der Erkenntnis steht mit der Wahrheit in Zusammenhang. Die Sprache ist auf das Gehör bezogen und der Tastsinn sowie der Geruchssinn bringen einen in Kontakt mit dem, was ist. Sie betätigen sich auch in der Sexualität. Man darf diesen Zusammenhang freilich nicht zu strikt auffassen; es kommt darin jedoch zum Ausdruck, wie sehr die Neigungen dem Menschen natürlich sind. (Fs)

96b Die Feststellung, dass dem Menschen die Neigung zum Leben in Gemeinschaft ganz ursprünglich zu Eigen ist, ist von großer Tragweite. Gemäß der Theorie der 'Freiheit der Willkür' hat das Individuum Priorität und zwar als jemand, der in sich isoliert ist und auf seine eigene Freiheit Anspruch erhebt. Die Erfüllung der Bedürfnisse stellt die Menschen in einen Gegensatz untereinander und bewirkt eine Rivalität, die die Existenz des Einzelnen gefährdet. Der Kampf steht hier an erster Stelle. Die ist dann ein künstliches Gebilde, das darin gründet, dass die Individuen einen Teil ihrer Macht an eine höchste Autorität delegieren. Diese Autorität - sie kann ein Monarch oder ein Staat sein - soll daraufhin den für alle unabkömmlichen Frieden erzwingen und garantieren. (Fs) (notabene)

97a Gemäß der 'Freiheit für das Gute' hingegen gehört die soziale Dimension zur Natur des Menschen vermöge der Neigung, die ihn zu den anderen Menschen zieht. Diese Neigung drückt sich in einer spontanen Liebe oder in einer Freundschaft aus, die verschiedene Formen annehmen kann, je nachdem, um welche Art von Gemeinschaft es sich handelt: Zuneigung innerhalb der Familie, persönliche Freundschaft, patriotische Einstellung, soziale Solidarität oder Zusammengehörigkeitsgefühl unter Kollegen und so weiter. Die Unterstützung durch die Gesellschaft, angefangen mit der Schulausbildung, ist für das Reifen der Freiheit unentbehrlich. Auch der unvermeidliche Streit zwischen den Menschen entspringt letztlich - obwohl er hart sein kann - aus dem natürlichen Verlangen nach Freundschaft, so wie im Körper Fieber entsteht, um Gesundheit zu bewirken. (Fs)

97b Die Neigung zum Leben in der Gesellschaft entfaltet sich durch die Tugend der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit kann man wie folgt definieren: ein fester Wille, jedem das Seine zu geben. Der Gegenstand der Gerechtigkeit ist das Recht (im objektiven Sinn), das durch das Gesetz ausgedrückt wird. Die Gerechtigkeit erstreckt sich auf den Austausch von Dingen auf familiärer, sozialer und nationaler Ebene. Zur Tugend der Gerechtigkeit gehört auch die Beziehung mit Gott, das heißt die Religion. Der Gerechtigkeit kommt also allgemeine Bedeutung zu. Die Regel oder der Maßstab für die Gerechtigkeit ist das Erreichen einer gewissen Gleichheit (im absoluten oder im relativen Sinn) in den verschiedenen Formen von Austausch. Als Ziel hat die Gerechtigkeit Harmonie und Frieden. (Fs)

97c Die Gerechtigkeit wird von der Freundschaft übertroffen. In der Freundschaft finden die menschlichen Beziehungen ihre volle Entfaltung; sie werden viel persönlicher, sofern sie in ihr durch gegenseitiges Wohlwollen, Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet sind. (Fs)

98a In theologischer Hinsicht ist die Liebe (caritas) die Tugend, die die Beziehungen in jener Gesellschaft beseelt, die zugleich geistlicher und institutioneller Natur ist: in der Kirche. Auch hier kann man deutlich zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen unterscheiden: Die 'Freiheit der Willkür' leistet der Machtkonkurrenz Vorschub sowie der Entgegensetzung von individueller Freiheit und Institutionen. Die 'Freiheit für das Gute' strebt hingegen vor allem nach Koordination und Zusammenarbeit und nach der Entfaltung der Kirche als harmonischer Leib. (Fs)

98b Soweit dies möglich ist, haben wir zu zeigen versucht, wie das natürliche Sittengesetz nicht im Namen eines fremden Willens dem Menschen von außen auferlegt ist. Es ist vielmehr ein inneres Gesetz, das wir von Geburt erhalten haben. Gott hat es dem Menschen bei seiner Gott ebenbildlichen Erschaffung ins Herz geschrieben. Die Gebote des natürlichen Gesetzes können natürlich in einen Stein graviert oder in Büchern aufgeschrieben werden. Das Wesentliche ist aber, dass das Naturgesetz den Bestrebungen unserer Seelenvermögen entspricht. Es handelt sich auch keineswegs um ein statisches Gesetz, selbst wenn es in seinen Vorschriften einschränkende Formulierungen verwendet. Es ist wesenhaft dynamisch, wie die Tugenden, die es in uns erweckt. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Sittengesetz - Erziehung; Stufen sittlicher Erziehung

Kurzinhalt: Abschließend wollen wir die je verschiedene Rolle des Gesetzes gemäß den Etappen der sittlichen Erziehung betrachten, die das Wachstum der Freiheit fördert.

Textausschnitt: Das natürliche Sittengesetz und die Stufen der sittlichen Erziehung

98c Abschließend wollen wir die je verschiedene Rolle des Gesetzes gemäß den Etappen der sittlichen Erziehung betrachten, die das Wachstum der Freiheit fördert. Als Erstes gilt es, bestimmte Regeln und eine Disziplin im Leben zu erlernen. Auf dieser Stufe ist das Gesetz eher etwas Äußerliches. Konkret wird es von den Personen verkörpert, denen die Erziehung aufgetragen ist. Die Hauptfunktion des Gesetzes ist hier, unseren Fehlern und Sünden sowie den verhängnisvollen Ausuferungen unserer Gefühle und unseres Wollens entgegenzuwirken. Insofern sind ein gewisser Zwang und Verpflichtung vonnöten; diese sind in den negativen Geboten des Dekalogs ausgedrückt. Es ist der Geschicklichkeit des Erziehers aufgetragen, die Entsprechung zwischen diesen Pflichten und dem Verlangen nach dem Guten und der Wahrheit aufzuzeigen. (Fs)

99a Auf dieser Ebene haben die verschiedenen Arten der Sollensethik ihren Wert. Historisch betrachtet haben sie jahrhundertelang die Rolle der ersten Erziehung der Christen erfüllt. Man kann ihnen gleichwohl den Vorwurf machen, dass sie die Moral auf die Ebene der Verpflichtung und der Bekämpfung der Sünde beschränkt haben. Sie haben nicht hinreichend gezeigt, dass das grundlegende Gesetz des sittlichen Lebens (und überhaupt jeglichen Lebens), das am Ursprung der Verpflichtungen steht, die Neigung und das Streben nach einem Fortschritt auf das Gute hin ist. Dementsprechend haben diese Typen der Ethik auch nicht auf die nächsten Stufen des moralischen Wachstums vorbereiten können. (Fs)

99b Diese Kritik betrifft jedoch nicht die Rolle der Verpflichtung als solche, die für diese Etappe der moralischen Erziehung unentbehrlich ist. Es wäre nämlich sehr illusorisch, eine Ethik ohne Verpflichtung konzipieren zu wollen. Die Aufgabe der Ethiker besteht darin, die genaue Rolle der Verpflichtung zu bestimmen und sie in den Dienst der Tugenden zu stellen, die für die moralische Entwicklung die größte Bedeutung haben. Die Verpflichtung ist nötig, um das Mindestmaß an ethischem Verhalten zu bestimmen, da sich sonst keine Tugend entwickeln kann. Mord zum Beispiel zerstört die Tugenden der Gerechtigkeit und Liebe. (Fs)

99c Die zweite Stufe des moralischen Fortschritts ist durch einen zunehmenden persönlichen Einsatz charakterisiert. In dem Maß, wie man sich der Entsprechung zwischen den Geboten des Gesetzes und den innersten und wertvollsten eigenen Bestrebungen bewusst wird, verinnerlicht man nun das Gesetz. Dies ist die Frucht der Erfahrung eines aufrichtigen Handelns. Man ist nun geneigt, dem Gesetz nicht mehr aus Zwang zu gehorchen, sondern aus innerem Antrieb, weil man es für erstrebenswert hält. Dabei können in uns bestimmte Schwächen und Reaktionen gegen das Gesetz durchaus fortbestehen. Man entdeckt, dass die Tugend nicht so sehr Anstrengung erfordert, sondern Freude bereitet. (Fs)

99d Die dritte Etappe des sittlichen Lebens ist jene der Reife und Selbstbeherrschung. Das Gesetz wird nun zum Instrument des erfinderischen und schöpferischen Geistes, durch den unsere Handlungen ihre vollständige moralische und spirituelle Dimension bekommen. In dieser Perspektive wird verständlich, warum Thomas von Aquin das Wort 'Gesetz' für die Gnade des Heiligen Geistes verwendet hat: Diese Gnade inspiriert den moralischen Fortschritt des Gläubigen und führt zu einer immer wieder neuen Vollkommenheit. Das Gesetz ist insofern mit der inneren Entfaltung der Weisheit und Güte identisch und bestimmt dessen Rhythmus. (Fs)

100a Das natürliche Sittengesetz ist dem Menschen unauslöschlich ins Herz geschrieben. Dies bedeutet nicht, dass man ihm nicht zuwider handeln könnte oder es nicht in Theorie oder Praxis leugnen könnte. Vielmehr ist damit gemeint, dass sich das natürliche Gesetz ständig im Streben nach der Wahrheit und dem Guten sowie im Bedürfnis für Gemeinschaft kundtut. Diese Bedürfnisse bilden verschiedene Stränge eines einzigen Bündels, nämlich des Strebens nach sittlichem Wert. Keine Lüge, kein Verbrechen und kein Versagen kann dieses ursprüngliche Lebensgesetz vernichten. So lang die Umwege auch sein mögen, das natürliche Sittengesetz setzt sich immer wieder auf die eine oder andere Weise durch. (Fs) (notabene)

100b Dieses Gesetz ist außerdem allgemeingültig wie der Verstand, dessen Tätigkeit es im Verborgenen erleuchtet und leitet. So unterliegt es beständig verschiedenen Kulturen und Gedankensystemen, in deren Vielfalt sowie in deren Entwicklungen. Es bietet allen Menschen eine gemeinsame Grundlage und fundamentale Kriterien moralischer Bewertung. Es kann daher die Lehre von den Menschenrechten auf eine solide Grundlage stellen, jenseits der Unterscheidungen zwischen Nationen, Rassen, Zeiten und Kulturen. Es ist hinreichend flexibel, um sich den unausweichlichen Unterschieden anzupassen und stark genug, um Einigungsprozesse und Erneuerungsbewegungen zu inspirieren. In der Tat muss die Ethik den Fortschritt fördern, wenn sie wirklich eine Wissenschaft vom Leben und Handeln sein soll. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Bergpredigt: Struktur

Kurzinhalt: Die Seligpreisungen der Bergpredig (Mt 5, 3-12) greifen die Versprechen auf, die seit Abraham an das auserwählte Volk ergangen sind und die sich zahlreich in der ganzen Heiligen Schrift verstreut finden, ...

Textausschnitt: Die Bergpredigt

4b Wir wollen nun die wichtigsten Abschnitte des Neuen Testaments untersuchen, die eine Moralkatechese enthalten. Zwei charakteristische Texte verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. (Fs)

4c Die Bergpredigt bildet die erste von fünf Reden des Matthäusevangeliums. Sie wurde als Zusammenfassung der Lehre Jesu über die Gerechtigkeit verfasst und sie enthält die Regeln, die Jesus seinen Jüngern aufgab. Sie ist die Erklärung des Aufrufs zur Bekehrung: »Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe« (Mt 3,2; 4,17)

4d Organisch vereint die Bergpredigt Worte, die wahrscheinlich bei verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen worden sind, und wird so zu einem Grundtext der ursprünglichen Sittenlehre. Man hat sie die Magna Charta des christlichen Lebens genannt (vgl. Augustinus, De Sermone Domini in Monte I, 1, 1). Die Bergpredigt ist durch die Autorität des Herrn ausgezeichnet, die sich in kategorischen Formulierungen ausdrückt wie etwa: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen« (Mt 5, 20); »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist ... Ich aber sage euch ...« (Mt 5, 21-44). Der Text hat eine Redaktionsarbeit erfahren, die bisher nicht genügend gewürdigt worden ist. Er setzt sich aus kurzen Sätzen zusammen, häufig so zusammengefügt, dass sie kleine Einheiten bilden, wie zum Beispiel die Seligpreisungen. Es handelt sich um Zusammenfassungen, die der mündlichen Weitergabe sowie der persönlichen Betrachtung dienen und die - von einem weisheitlichen Gedanken inspiriert - zur Bildung einer homogenen Lehre vereinigt wurden. Die Bergpredigt ist kein Mosaik von zusammenhangslosen Worten. Sie folgt freilich auch keiner abstrakt verstandenen Logik, sondern gleicht sich vielmehr den oft gegensätzlichen Bewegungen der tiefen Einsicht des Herzens an, die aus einer Erfahrung hervorgeht. Wie Johannes Chrysostomus und Augustinus bemerkt haben, richtet sich die Bergpredigt an alle Menschen, angefangen mit den Armen und Betrübten. Sie beschränkt sich also nicht auf eine religiöse Elite, wie man später gesagt hat. (Fs)

5a Die Gliederung der Bergpredigt ist in ihren groben Zügen recht einfach. (Fs)

1. Die Seligpreisungen der Bergpredig (Mt 5, 3-12) greifen die Versprechen auf, die seit Abraham an das auserwählte Volk ergangen sind und die sich zahlreich in der ganzen Heiligen Schrift verstreut finden, zum Beispiel in der Seligpreisung der ersten Verse des Psalters. Sie richten die Hoffnung der Jünger auf das Himmelreich, das paradoxerweise den Armen und den um Jesu willen Verfolgten vorbehalten ist, entsprechend der Erfahrung der ersten christlichen Generationen. Die Kirchenväter haben darin die Antwort Christi auf die Frage nach dem Glück gesehen, die so sehr von den Philosophen diskutiert wurde, und sahen so Jesus als wahrhaft Weisen. (Fs)

2. Nach der Charakterisierung der Jünger als »Salz der Erde« und »Licht der Welt« (Mt 5, 13-16) kommt die Beschreibung der Gerechtigkeit, des Sittengesetzes nach der Lehre Christi (Mt 5, 20-48). Sie entwickelt antithetisch fünf Gebote des Dekalogs: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist... Ich aber sage euch ...«. Die Gerechtigkeit betrifft nun die Ebene des menschlichen Herzens und des Ursprungs seiner Taten, wo sich die Gottes- und Nächstenliebe entwickelt, die ihren Höhepunkt in der Vergebung gegenüber den Feinden erreicht, in der Nachahmung der Barmherzigkeit, der Vollkommenheit des himmlischen Vaters. (Fs)

3. Daraufhin werden die drei wichtigsten Aktivitäten des religiösen Lebens in die richtige Perspektive gerückt (Mt 6, 1-6. 16-18): Almosen (die typische Form gegenseitiger Hilfe), Gebet und Fasten (die wichtigste Form der Askese). Man muss sie aus Liebe zum Vater ausüben, der im Verborgenen sieht, nicht aber, um von den Menschen gesehen zu werden. Wiederum geht es um die Intention des Herzens, die durch den Glauben und die Liebe die Beziehung mit dem himmlischen Vater gewährleistet. Matthäus hat an dieser zentralen Stelle der Bergpredigt das Vater Unser eingefügt (Mt 6, 9-13). (Fs)

4. Der letzte Teil (Mt 6, 19-7, 11) ist besonders heterogen und stellt Worte zusammen, die dazu einladen, im Himmel den wahren Schatz zu suchen und sich vor der Anziehungskraft des Geldes in Acht zu nehmen, Wohlwollen im Urteil zu wahren und Vertrauen ins Gebet zu hegen. (Fs)

5. Der Abschluss (Mt 7, 12-27) fasst die Lehre vom Gesetz zusammen und erwähnt die Goldene Regel als Kriterium für die moralische Praxis, ruft zur Wahl des schmalen Wegs des Lebens und zur Vermeidung des breiten Wegs des Verderbens auf, warnt vor falschen Propheten und kennzeichnet die wahren Jünger als jene, die die Lehre befolgen und dadurch Standhaftigkeit beweisen. (Fs)

6a Schließlich erwähnt der Evangelist das Staunen der Menge gegenüber der Autorität Jesu (Mt 7, 28-29), die sich daraufhin in einer Reihe von Krankenheilungen kundtut. (Fs)
6b Die moderne Interpretation der Bergpredigt hat sich besonders an dem Problem gerieben, ob sie sich praktizieren lässt. Die Schwierigkeit war umso größer, als man die Bergpredigt durch die Brille der eigenen Vorstellung vom Gesetz gelesen hat, nämlich als einen Pflichtenkatalog. In Wirklichkeit beschreibt sie aber die Wege des Himmelreiches, auf denen der Heilige Geist die Jünger durch den Glauben an Jesus, der durch die Liebe wirksam wird, führen möchte. Sie fügt sich damit in ein Evangelium ein, das die Verkündigung Jesu Christi ist, des Sohnes Gottes, und das zum Glauben an ihn aufruft. Die Bergpredigt kann unmöglich gelebt werden, wenn man auf seine eigenen Kräfte zählt; für die Demütigen, die bereit sind, die Gnade der Liebe zu empfangen, zeigt sie sich jedoch zugänglich. In dieser Weise wurde sie von den Kirchenvätern interpretiert. (Fs)

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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Gewissen: zwei Seiten; Newman

Kurzinhalt: Das Gewissen hat in der Tat zwei Gesichter: Durchaus schaut es auf das Gesetz und auf Gott, aber es vertritt auch die Person selbst, das Ich, zu dem es gehört. Als Reaktion ...

Textausschnitt: Veränderungen im Verständnis des Gewissens

46c Hinsichlich der Rolle und der Bedeutung des Gewissens lässt sich ein beachtlicher Wandel in der Mentalität feststellen. Die Handbücher der Moral haben dem Gewissen zentrale Bedeutung eingeräumt: Es vermittelt zwischen Gesetz und Freiheit, es wendet das Gesetz auf die konkreten Handlungen an und bildet ein eigenständiges moralisches Urteil. Moraltheologen müssen in dieser Sichtweise vor allem die Konfliktfälle lösen. Dadurch wurde das Gewissen zum Kernbegriff des sittlichen Lebens. Der Schwerpunkt der Ethik blieb jedoch das Gesetz. Die Moraltheologen und das Gewissen des Einzelnen waren nur Interpreten dieses Gesetzes. (Fs)

47a Das Gewissen kann jedoch mannigfaltigere Funktionen ausüben als lediglich moralische Pflichten aufzubürden. In der christlichen Tradition, die zum Beispiel Kardinal John Henry Newman (1801-1890) schildert, bezeichnet das Gewissen die Stimme Gottes, die im inneren Herzen des Menschen gleichsam unter vier Augen spricht. Das Gewissen befiehlt und beurteilt auf souveräne Weise. Es ruft auch zur Bekehrung auf und entwirft die oft überraschenden Wege einer Berufung. Das Gewissen ist sehr persönlich und doch kann es tiefe Bande der kirchlichen Gemeinschaft stiften. (Fs)

47b Kardinal Newman nannte das Gewissen den >ersten Stellvertreter Christi<. Er bemerkte jedoch bereits im 19. Jahrhundert, dass das ursprüngliche Verständnis des Gewissens verloren gegangen war: Für viele Leute, so schrieb er, stelle die Berufung auf das Gewissen nicht mehr eine Beziehung zu einem inneren Richter dar, sondern bedeute nur die Forderung des »Rechtes eines Engländers in allen Angelegenheiten Herr über sich selbst zu sein«, ohne Bezug auf Gott oder eine kirchliche Autorität (A Letter Addressed to His Grace the Duke of Norfolk on Occasion of Mr. Gladstone's Recent Expostulation, New York 1875, S. 73 und S. 75). (Fs) (notabene)

47c Das Gewissen hat in der Tat zwei Gesichter: Durchaus schaut es auf das Gesetz und auf Gott, aber es vertritt auch die Person selbst, das Ich, zu dem es gehört. Als Reaktion gegen den Legalismus hat sich in katholischen Milieus in der Zeit nach dem Konzil eine Abneigung gegenüber dem Gesetz herausgebildet, wodurch sich der Schwerpunkt der Ethik zur Freiheit, zur Person und zum Gewissen verlagert hat. Tendenziell wird das subjektive Gewissen zum höchsten Richter der Moral. Dabei beachtet man nicht genügend das mögliche Missverständnis, das entsteht, wenn man das Gewissen in etwa mit der eigenen Meinung identifiziert, die im Übrigen häufig Ausdruck von Selbst-Rechtfertigungen ist. (Fs)

47d Wir gleiten zu diesem Verständnis des Gewissens auch deshalb so leicht ab, weil wir in demokratischen Gesellschaften leben, wo man gewohnt ist Entscheidungen auf der Grundlage von Mehrheitsmeinungen zu fällen. In diesem Rahmen sind auch die Ethiker versucht, die Probleme des Gewissens in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Mentalität zu behandeln. Gelegentlich stützen sie ihre Entscheidungen auch auf Meinungsforscher und schreiben den Umfragen moralische Autorität zu. (Fs) (notabene)

48a Sie errichten so die Sittenlehre auf der Grundlage von schwankenden Meinungen und Debatten zwischen den Mehrheiten und den Autoritäten (wie übrigens schon zur Zeit des Probabilismus-streites), anstatt auf einer kompetenten und intensiven Erforschung der grundlegenden Elemente der ethischen Probleme aufzubauen. Damit sind sie weit vom Gewissensbegriff Newmans entfernt, demzufolge das Gewissen in der Gegenwart Gottes urteilt, indem es auf seine erhabene Stimme hört. Mit anderen Worten, nach Newman lässt sich das Gewissen von Gott beurteilen und von seinem Gesetz leiten, in intelligentem, offenem und fruchtbarem Gehorsam. Zur Unterscheidung zwischen einem wahren und irrenden Gewissen dient als Zeichen, dass das wahre Gewissen immer anspruchsvoll ist, gleich dem engen und steinigen Weg im Gegensatz zum einfachen und breiten Weg, gemäß der Beschreibung des Evangeliums. Des Weiteren verleiht das wahre Gewissen jenen, die ihm gehorchen, einen Frieden und eine Freude, die nicht von außen gestört werden können, während das irrende Gewissen unweigerlich Zweifel und Zerrissenheit, Zugeständnis und Verwirrung hervorruft. (Fs) (notabene)

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