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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Signatur der Zeit: Gott ist tot; Jean Paul, Dostojewskij (Großinquisitor, Aljoscha); Nietzsche; Weber: Jaspers: die Entgötterung als das eigentliche Ereignis der Revolution

Kurzinhalt: Er kann den Teufel zu Iwan Karamasoff sagen lassen: "Es ist reaktionär, in dieser Zeit an Gott zu glauben. Aber ich bin ja der Teufel, an mich darf man glauben"

Textausschnitt: 1. "Daß Gott tot ist"

385c Es wird darüber gestritten, ob die tragenden Ideen der Französischen Revolution aus den christlichen Glaubensgehalten herausspringen und die Säkularisierung des individuellen und gesellschaftlichen Daseins eine Weltwerdung dieses Glaubens ist, ermöglicht dadurch, daß die Welt aus ihrer vorrevolutionären archaisch-sakralen Fesselung befreit wurde - oder ob die Säkularisierung die Erscheinung der Tatsache ist, "daß Gott tot ist", daß der Mensch ohne Gott leben muß (es "zum Glück" zu wollen ist der Leichtsinn einiger der "Philosophes" der Aufklärung und der vom noch naiven Optimismus betrunkenen Naturwissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts) - daß also die Gesellschaft mit ihren eigenen, je nach Theorie ausgewählten Sanktionen auszukommen hat, daß die Dinge nicht mehr als die Schöpfung Gottes angeschaut werden können, sondern vom Menschen in ihrer "eigentlichen" "Wirklichkeit" erst hervorgebracht werden müssen, daß der Einzelne die Frage nach dem Tod sich selbst beantworten oder sie als unbeantwortbar auf sich beruhen lassen muß - ob also die Revolution, verstanden als ein universaler Vorgang, die Antwort ist auf die Tatsache, "daß Gott tot ist". (Fs)

386a Diese Alternative in der Deutung der Revolution wird in diesem Zusammenhang aufgegriffen, weil eine jede Erscheinung in der Geschichte des Welt- und Selbstverständnisses seit der Revolution je nach der Deutung der "Säkularisierung" einen anderen Stellenwert hat. Der Satz, Religion sei "Privatsache", gehört zwar angesichts der politischen Realitäten des 20. Jahrhunderts zu den Lächerlichkeiten des vorigen; aber viele Sozial- und Geisteswissenschaftler der nicht offiziell atheistischen Welt tun noch immer so, als ob sie in jeder Dimension ihrer Untersuchungen nach diesem Schlagwort verfahren könnten. Sie können aber - völlig unabhängig davon, was sie persönlich denken - nicht wissenschaftlich handeln, wenn sie aus ihren Gegenständen deren positiven oder negativen Bezug zur Religion und Religiosität ausklammern oder gerade noch am Rande behandeln; denn dieser Bezug ist immer keine "private", sondern eine öffentliche Sache. "Daß Gott tot ist", ist jedenfalls noch nicht eine so alte Geschichte, daß man sie auf sich beruhen lassen könnte. (Fs)

386b "Religion" ist in der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert zunächst noch in der Regel der christliche Glaube mitsamt seinen Ausdeutungen, die bis in die Preisgabe der fundamentalen Symbole verlaufen. Aber was im revolutionären Europa geschieht, wirkt in steigender Intensität auf alle Kulturen der Menschheit ein, wobei sich christliche Missionsschulen als ein wirksames Transportmittel erwiesen. Die freilich in sehr verschiedenem Tempo vollzogene Technisierung mit ihren universalen Folgen spielt in dieser Einwirkung eine zunehmend stärkere Rolle, die jedoch nicht ohne die aus Europa mitgebrachten ; transtechnischen Implikationen verstanden werden kann. Die von der Einwirkung des Dichters, diese Traumgeschichte würde ihn heilen, wenn ihm alle aus verschiedenen Gründen, zu denen auch ihre überlieferten Religionen gehören, sehr verschieden; aber auch in diesen Reaktionen stellt sich, insbesondere bei den Intellektuellen, das Problem der "Säkularisierung" in ihrem positiven oder negativen Bezug zur Religion (welcher auch immer) zunehmend deutlicher, wobei die der europäischen Geistesgeschichte entsprungenem und übertragene Problemstellung sich vermischt mit den aus den jeweilige Überlieferungen sich ergebenden Problemstellungen. (Fs)
386c Ob die "Säkularisierung" also die Erscheinung der Tatsache ist, "daß Gott tot ist" - oder ob sie eine Befreiung der Welt zu ihrer "Weltlichkeit" und ineins damit eine Befreiung der Religion zu ihrer "Gläubigkeit" ist, dies erscheint als eine menschheitliche Frage, in deren Horizont alle Erscheinungen des modernen Welt- und Selbstverständnisses anzuschauen sind. (Fs) (notabene)

387a Man hat gesagt, in Frankreich sei, im Unterschied zur Entstehung der USA, ein "Zusatz von Atheismus" (O. Westphal) in der Revolution notwendig gewesen, um den Feudalismus in der Wurzel zu zerstören. Dies klingt so, als sei da irgendwo in absoluter Geschichtsüberlegenheit eine Mischung zubereitet worden, zu deren Wirksamkeit eine Prise Atheismus gehörte, die man dann vielleicht auch wieder weglassen konnte, wenn sie ihre Wirkung getan hatte. Es ist schwer abzuschätzen, welche nachhaltige Effizienz der fade Atheismus eines Diderot oder Holbach gehabt hat; gewiß aber kann man bei Newton (Band VI, Seite 530) mehr davon erfahren, um was es sich bei der Säkularisierung des Weltbildes im Hinblick auf die Gottesfrage handelt. Nimmt man die philosophische und naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Theologie im 17. und 18. Jahrhundert so ernst, wie sie zur Zeit ihres Vollzuges ernst genommen wurde, dann gewinnt man die angemessene Dimension, in die vielleicht auch die Diskussion der Frage gehört, ob es "nicht die christlichen Gehalte sind, sondern offenbar die Säkularisierung selbst, welche am Ursprung der Revolution liegt" (Hannah Arendt). (Fs)

387b Ursprünglich wollte der Pfarrersohn und Theologiestudent Jean Paul (J. P. F. Richter, 1763-1825) den toten Shakespeare die Nachricht verkünden lassen, "daß kein Gott sei". Die letzte Fassung der "Traumdichtung" aus dem Jahre 1795 ist die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab", die Rede also nicht eines vermittelnden Dichters, sondern des Mittlers selbst, der auf die Frage der um den Altar der Weltkirche versammelten Toten nach Gott die Anwort gibt: "Es ist keiner." Denn er, der Sohn, ist durch die Welten gestiegen, den Vater zu suchen. "Und als ich [Christus] aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an." Dies ist die Botschaft nicht irgend jemands, es ist die Botschaft dessen selbst, auf dessen Verheißung die ganze Glaubensgeschichte des Abendlandes ruht. Die Lebenden können Gott anbeten, auf die Heilung ihrer Wunden hoffen; aber wer dem Morgen der Wahrheit und Freude entgegenschlummert, erwacht "im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht". Dies erzählt Jean Paul als einen Traum, und er läßt den Träumenden in den "vollen purpurnen Kornähren" erwachen. Die wirkliche Überraschung für den Leser aber steckt in der Anmerkung des Dichters, diese Traumgeschichte würde ihn heilen, wenn ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstört wären. Heil und Heilung liegen hier also hinter der Erfahrung, "daß kein Gott sei". (Fs) (notabene)

387c Die Spur dieser Erfahrung, mehrfach im Bild des "Prometheus Unbound" ausgedrückt (Seite 376), zieht sich durch das Jahrhundert und wird in seinem letzten Drittel zweimal in einer solch exemplarischen Abgründigkeit ausgesprochen, daß alle spätere Rede davon nur noch als eine blasse Wiederholung erscheint. Was Jean Paul den "toten Christus" sagen läßt, sagt bei Dostojewski), der soviel unerbittlicher ist als der "Gottsucher" Tolstoi (Seite 380), der Großinquisitor zu Christus, dem Einzigen, dem es gesagt werden kann und der dazu schweigt, und dessen Kuß im Herzen des Großinquisitors brennt. Das Schweigen als die allein noch mögliche Antwort - dies ist eine immer wiederkehrende Signatur des Zeitalters, im Nicht-mehr-Malen, Nicht-mehr-Dichten, Nicht-mehr-Philosophieren, und man geht eben doch an der Grundbestimmung vorbei, wenn man den Rückzug ins Schweigen als unmännliche Ausflucht versteht (vgl. Seite 429). Dostojewskij sagt nicht, was der brennende Kuß bedeutet, für den Küssenden, der vom Großinquisitor entlassen wird, und für den Geküßten, der dabei bleibt, daß den Menschen, den "schwächlichen Rebellen", zu ihrem Glück die Freiheit abgenommen und die Meinung, sie mitsamt dem Glauben zu haben, gelassen wird. Der gute Aljoscha bezieht die ganze Geschichte auf die römische Kirche, und die Figur des Großinquisitors gehört natürlich in den Zusammenhang der slawophilen Europakritik Dostojewskijs. Aber dahinter tun sich menschheitsgeschichtliche Perspektiven auf, wenn gesagt wird, es werde die Wissenschaft verkünden, "daß es keine Verbrechen, folglich auch keine Sünde, sondern nur Hungrige gibt". Die Herrschenden, die darum wissen, "daß Gott tot ist", werden die Menschen zwar zur Arbeit zwingen, aber "ihnen in den arbeitsfreien Stunden das Leben wie ein Kinderspiel gestalten". Das verlängerte Wochenende, in dem sich der Sonntag von den anderen freien Tagen nicht mehr unterscheidet, der Ersatz eines Zeitrhythmus durch den bloßen Wechsel von Arbeitszeit und Freizeit, wurde von Dostojewskij in aller Präzision vorausgesagt. Er kann den Teufel zu Iwan Karamasoff sagen lassen: "Es ist reaktionär, in dieser Zeit an Gott zu glauben. Aber ich bin ja der Teufel, an mich darf man glauben" - sein Nachweis ist ja bis auf weiteres das Böse. (Fs) (notabene)

388a "Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, daß Gott tot ist." Ungefähr hundert Jahre nach Jean Paul sagt es F. Nietzsche (Seite 385) im "Zarathustra". Aber die Geschichte dieses Tot-Seins ist inzwischen weitergegangen. Sie ist ebenso vulgär geworden wie die Versuche, die "bodenlose Augenhöhle" zuzustopfen. F. Nietzsche führt diese Versuche in der "Anbetung des Esels" vor und verhöhnt den "Gewissenhaften", d. h. den Mann der Wissenschaft: "Vielleicht daß ich an Gott nicht glauben darf: Gewiß aber ist, daß Gott mir in dieser Gestalt noch am glaubwürdigsten dünkt." Daß der "Papst außer Diensten" "in Dingen Gottes aufgeklärter" ist als Zarathustra, hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr bewahrheitet als in der von Nietzsche attackierten Theologie eines David Friedrich Strauß (1808-1874). (Fs)

388b Eines der Beispiele dafür, wie die zynische Reflexion des Zynismus der Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert diesen Sachverhalt zu schildern weiß, gibt Guy de Maupassant (1850-1893, seit 1891 umnachtet). Gott wird vorgestellt "als eine gewaltige schöpferische Kraft, die in den Weltraum Millionen von Lebewesen sät, wie ein gewaltiger Fisch im Meere laicht". Aber ein solcher selbstgenießerischer Fatalismus hat nur eine beschränkte Lebensdauer, und die Härte geschichtlicher Tatsachen kürzt sie ab. André Gide (1869-1951; vgl. Seite 413) kam sein Leben lang nicht vom Evangelium los, und dies nicht nur in seiner christlich-religiösen Phase (um 1914). Es ist hierzu kein Widerspruch, sondern eine Bestätigung dieses Sachverhaltes, wenn J.-P. Sartre schreibt: "II a vécu ses idées; l'une surtout: la mort de Dieu." Denn "daß Gott tot ist", das ist bei Jean Paul, bei Dostojewskij, bei Nietzsche und allen ihnen verwandten Geistern eine religiöse Erfahrung, die wesentlich anderer Art ist als naturwissenschaftliche, soziologische, philosophische oder auch theologische Schlußfolgerungen des Atheismus, wie immer in diesen solche Erfahrungen oder Nach-Erfahrungen mitspielen können. (Fs)

389a Es scheint wichtig, dieses religiöse Moment des entschiedenen oder oft auch apokryphen Atheismus zu beachten, wenn man das intellektuelle und künstlerische Aufgebot inden Werken des 19. und 20. Jahrhunderts angemessen würdigen will, und man setzt sich nicht dem Mißverständnis aus, als wolle man wie so manche Theologen taufen, was gar nicht getauft werden will, wenn man die religiöse Dimension dieses Aufgebotes in das Verständnis einbezieht. Das überlieferte Bild Gottes ist das erste aller Bilder, die abhanden gekommen sind. Goethe konnte noch sagen, der Mensch wisse gar nicht, wie "anthropomorph" er sei, d. h., wie sehr er von sich selbst als dem "Ebenbild" in gleicher Weise sprechen muß wie vom Bilde Gottes selbst. Aber die Grunderfahrung, "daß Gott tot ist", war nicht aufzuhalten, und indem man sie durchstand, kam ein Bild um das andere abhanden. Man mußte sich anstrengen, neue zu schaffen, und es konnten keine humanistischen mehr sein, keine "anthropomorphen". Kaum irgendwo wird dies so deutlich wie in der großen französischen Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Valéry; vgl. Seite 427-432). (Fs)

389b Gewiß ist der christliche Glaube Baudelaires ein "ruinöses Christentum" (H. Friedrich). Aber das "Unauslöschliche Siegel" (Titel eines Romanes von Elisabeth Langgässer [gest. 1950] aus der Zeit nach ihrer Abwendung von der Naturdämonie) ist noch lange eingebrannt in alle Markierungen des Weges, der zu gehen war. Daß es eingebrannt ist gerade in die Erfahrung, "daß Gott tot ist", macht das Gewicht dieser Erfahrung aus, jedenfalls dort, wo sie wirklich eingebracht und nicht nur kopiert wird. Dann aber fällt in der Tat die Frage dahin, ob die "christlichen Gehalte" oder die "Säkularisierung" am Anfang dieses Weges stehen. Es ist dies ein einziger Vorgang, angebahnt im 17. und 18. Jahrhundert in der Umkehrung der abendländischen Frage "Cur Deus homo" (Band VI, Seite 569f), und es gehört zu ihm, daß die Säkularisierung als "Weltwerdung" des Glaubens die andere Seite seiner "Verweltlichung" ist. (Fs)

389c Wir können nach allem, was seither in der Folge der Revolution geschehen ist, nicht mehr in der gleichen Weise wie A. de Tocqueville (Seite 376) von der Kontinuität der Revolution zum Ancien régime sprechen. Denn wie problematisch die Kontinuität der abendländisch-europäischen Geschichte geworden ist, läßt sich daran ablesen, daß die "Säkularisierung" der Welt selbst in Frage gestellt wurde: Wer ist der Mensch? Wer sind die Menschen in ihren Gesellschaften? Was ist die Welt? Solche Fragen sind in kritischen Momenten immer wieder der Anlaß gewesen, davon zu sprechen, es gehe "ein religiöser Zug durch die Zeit". Es scheint, daß solche Züge immer wieder ins Unbestimmte abgefahren sind (über die Erneuerungsbewegungen im Christentum und in den anderen Weltreligionen vgl. Seite 220ff). Ist es daran, daß die Erfahrung, "daß Gott tot ist", und die Erfahrung mit der "Säkularisierung", die beide den gleichen Erfahrungsgrund haben, auch dann in eine menschheitsgeschichtliche Krise führen, wenn sich die politischen Weltmächte im Patt immer wieder verständigen? Denn die immer häufiger werdende Rede, es stünde das "Überleben" der Menschheit auf dem Spiel, ist deshalb letztlich banal, weil der Mensch seit eh und je einen Grund zum Überleben braucht. Nietzsche hat eindeutig gesagt, worum es sich handelt: "Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht mehr - er muß es leugnen oder schaffen." Und Karl Marx betrachtete es als die Aufgabe der Geschichte, die Wahrheit, deren "Jenseits" verschwunden ist, als die "Wahrheit des Diesseits zu etablieren" (vgl. S. 495). (Fs)

390a Max Weber ließ (1920) die Frage "noch" offen, wer künftig in den Gehäusen des alten Glaubens wohnen werde, ob am Ende der "ungeheueren Entwicklung" neue Prophet en oder eine Wiedergeburt alter Ideale stehen werden oder ob nur eine "mechanisierte Versteinerung" übrigbleibe. Ein Jahrzehnt später bezeichnete Karl Jaspers die Entgötterung als das eigentliche Ereignis der Revolution, denn den Umsturz der Gesellschaft und die Unverläßlichkeit aller Verhältnisse habe es schon früher und in allen Hochkulturen gegeben, auch den Unglauben Einzelner, aber nicht diese "nie gewesene Öde des Daseins", in welcher nach der Tilgung des Schöpfergottes die "in den Naturwissenschaften erkennbare Weltmaschinerie" das Sein ausmacht. Der Atheismus ist eine Tatsache, die nicht nach den gesellschaftlichen Systemen zu orten ist; sie ist in verschiedener Weise überall fundamental. (Fs)

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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Moderne Lyrik (Bauelaire, Rimbaud); Goethe (Einheit: Welt - Wort); Hugo Friedrich: Exodus der Wirklichkeit (L'art pour l'art)

Kurzinhalt: In dieser Lyrik ist "die Wirklichkeit aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgeholt und den Unterscheidungen entzogen, wie sie einer normalen Weltorientierung notwendig sind: ...

Textausschnitt: 426a "Das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen" - dies ist eine der Maximen und Reflexionen J. W. von Goethes. Man muß die ganze Reihe der aufgezählten Weisen, in denen der Mensch die Welt erfahren kann, präzis durchdenken, um zu begreifen, was da mit dem erfaßten Wort "unmittelbar zusammentreffen" soll. Es wird hier ein Bekenntnis abgelegt zur Einheit von Welt und Wort, die im Ich des Menschen geschieht, weil er schaut, erfährt, denkt und vorstellt. Das Bekenntnis gründet im Vertrauen auf die prästabilierte Harmonie in der Trias Welt-Wort-Ich, die das Vorausgesetzte dafür ist, daß sie in geistiger Aktivität zutage kommt. Goethe ist "vorgedrungen bis in die Sphäre, wo die ganze Wahrheit der Sprache erst im Vieldeutigen, Unergründlichen, im Geheimnis sich erschöpft, wo die Sprache so tief ist wie die Welt und jedes Wort mit dem Ganzen der Welt verbunden..." (W. Schadewaldt, 1932). Die Wahrheit der Sprache ist zu leisten, sie ist dem alltäglichen Verfall der Sprache abzuringen und aus der vorrevolutionären Nomenklatur herauszuholen. Was aber noch immer nicht erst hervorzubringen ist, das ist "das Ganze der Welt". Es ist gewiß kritisch zu untersuchen, ob "der antike Geist auf antiken Geist in Goethe stieß", ob Goethe wirklich "sein ganzes Leben im deutschen Wortlaut 'griechisch' gesprochen" hat, wie der Gräzist meint. Aber so bedeutsam es auch ist, das klassizistische Mißverständnis aufzudecken, wichtiger ist das Bewußtsein Goethes, in der Tiefe - trotz aller Worte gegen den historischen Ballast, den Napoleon und Amerika abgeworfen haben - doch der geschichtlichen Kontinuität verbunden zu sein. Was dieses Bewußtsein bedeutet, ist rund 50 Jahre nach seinem Tod zu ermitteln, als dieses Bewußtsein verbraucht war. Auch Goethes Suche nach dem idealen Bauplan der Pflanzenwelt, nach der "Urpflanze", ist - von rückwärts her betrachtet - deshalb zu bedenken, weil die "Urpflanze" Goethes nicht der "entlegene, schöpfungsursprüngliche Punkt" ist, sondern eine vielleicht auffindbare konkrete Realität. (Fs)

427a Die modernen Lyriker seit Baudelaire sind nicht mehr jene romantischen "Neueren", die sich ins Unendliche warfen, um im Glücksfall auf einen beschränkten Punkt zurückzukehren, und gegen die Goethe einen abgründigen Verdacht hegte, gegen die er die "Alten" aufbot, die "ohne weiteren Umweg sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt fühlten" (auch hier kann es auf sich beruhen bleiben, wie behaglich und für wen es die antike Polis war). Freilich hat die moderne Lyrik des späten 19. Jahrhunderts ihre Vorgeschichte, die bis auf Rousseaus Phantasierung der vorhandenen Wirklichkeit zurückreicht, ein Prozeß, der sich in der Romantik intensiviert, in des Novalis Auffassung von der Welt als einer Ansammlung von Materialien, aus denen erst die Poesie die wirkliche Welt macht. Aber immer noch ist diese romantische Lyrik Ich-Dichtung, Ausdruck einer individuellen Gestimmtheit, deren Dunkel freilich das Ich versinken zu lassen beginnt. Und auch für die Passivität gegenüber der Sprache, die selbst die Wahrheit spricht - Niederschlag auch der philosophierenden Sprachforschung des 18. und mehr noch des frühen 19. Jahrhunderts -, ist der Bezug auf den göttlichen Logos als die Ursprache eine Barriere gegen die Sprachmagie, eine Barriere freilich, die in der Erfahrung, "daß Gott tot ist", wenig und nicht lange Halt bietet. Vollends hat jene Absonderung der poetischen Sprache von der gesellschaftlichen Sprache, die in ihrer Radikalität kategorial anderer Art ist als die dichterische Unterscheidung zu jeder Zeit, eine Isolierung der Lyrik bewirkt, die nicht nur bedeutsam ist für die Stellung der Dichtung in der Gesellschaft, sondern für die Dichtung selbst. Die dichterische Wirklichkeit ist eine in toto von der industriegesellschaftlichen geschiedene Wirklichkeit (vgl. dazu unten). (Fs)

427a Hugo Friedrich hat die "Struktur der modernen Lyrik" in einer sowohl formalen wie inhaltlichen Analyse bloßgelegt, den nicht nur aus historischen Gründen berechtigten Akzent auf die französischen Dichter Charles Baudelaire "(1821-1867), Arthur Rimbaud (1854-1891), Stéphane Mallarmé (1842-1898) und Paul Valéry (1871-1945) gesetzt und in einer verstehenden Distanz den Sachverhalt deutlicher gemacht, als es der nur hinnehmenden Anempfindung möglich ist. In dieser Lyrik ist "die Wirklichkeit aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgeholt und den Unterscheidungen entzogen, wie sie einer normalen Weltorientierung notwendig sind: zwischen schön und häßlich, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Licht und Schatten, zwischen Freude und Schmerz, zwischen Erde und Himmel". Es ist in einem Versuch, die Geschichte des Selbst- und Weltverständnisses seit der Revolution zu skizzieren, nachdrücklich zu bedenken, wie es zu dieser Emanzipation von den Notwendigkeiten der normalen Weltorientierung kommt, was da geschehen ist in der zeitgenössischen Normalität, welche Momente in ihr die dichterische Deutung hinaustreiben und was in der Dichtung geschieht, wenn sie diesen Exodus antritt. Kaum irgendwo hat das mißverstandene "L'Art pour l'Art"-Prinzip zu so oberflächlichen Meinungen geführt wie angesichts der modernen Lyrik; dieses Prinzip wurde vom "gesunden Menschenverstand" entwendet, der natürlich mit Recht argumentieren konnte, dies alles sei für ihn unverständlich, der sich aber zu Unrecht damit beruhigte, dies sei nun eben die Geheimsprache der modernen Dichter, ohne danach zu fragen, was denn die der normalen Weltorientierung und der aus ihr ausgebrochenen poetischen Weltdeutung gemeinsamen Momente dieser alarmierenden gegenseitigen Entfremdung sind. Daß eine Abstimmung eine dikatorische Mehrheit für den gesunden Menschenverstand ergebe, rechtfertigt dann auch noch die Theorie vom "Sozialistischen Realismus". (Fs) (notabene)

428a Kann man sagen, die "kommunikative Wohnlichkeit", die noch in der romantischen Innerlichkeit aufzufinden war, weil es eine Gemeinsamkeit des Gemütes gab, sei in der modernen Lyrik "vermieden" worden? Es muß wohl etwas geschehen sein, wenn einer in diese Wohnlichkeit gar nicht mehr einkehren kann, nicht irgendein Anormaler (die psychiatrische Interpretation ist auch eine Ausflucht). Gewiß, es sind "Randexistenzen" - aber warum existieren sie, die nicht von modischen Literatencliquen gemacht wurden (dies ist dann das Glück der Epigonen), sondern die dennoch die legitimen Sprecher sind, am Rande? (Fs) (notabene)

428b Das moderne Gedicht "sieht ab von der Humanität im herkömmlichen Sinne, vom 'Erlebnis', vom Sentiment, ja vielfach sogar vom persönlichen Ich des Dichters. Dieser ist an seinem Gebilde nicht als private Person beteiligt, sondern als dichtende Intelligenz, als Operateur der Sprache, als Künstler, der die Verwandlungsakte seiner gebieterischen Phantasie oder seiner irrealen Sehweise an einem beliebigen, in sich selbst bedeutungsarmen Stoff erprobt" (H. Friedrich). Die Problematik spitzt sich zu: Primat der Phantasie gegenüber dem Stoff, gegenüber den in ihrer Erscheinung bedeutungsarm gewordenen Dingen - Entpersonalisierung des Dichters, der zur anonymen Intelligenz, zum Medium eines Es geworden ist (das mit dem "Zeitgeist" der Gesellschaft scheinbar nichts gemein hat) - Operateur der Sprache, der das Wort nicht im Sinne Goethes "erfaßt", das Wort, das mit dem Geschauten, dem Gedachten, dem Erfahrenen "möglichst unmittelbar" zusammentrifft, sondern sich von ihm erfassen läßt. (Fs)


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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Moderne Lyrik; Baudelaire, Mysterium iniquitatis; Rimbaud, Mallarmé; T.S. Eliot; Ontologie des nichts, des Nu; Heidegger

Kurzinhalt: "Die Phantasie zerlegt die ganze Schöpfung; nach Gesetzen, die im tiefsten Seeleninnern entspringen, sammelt und gliedert sie die Teile und erzeugt daraus eine neue Welt."

Textausschnitt: 428c Charles Baudelaire läßt noch einmal den Weg erkennen, den man hergekommen ist, auch in der Nomenklatur seiner Bilder. Alle Irrtümer der Zeit seien "nur die Folge der einen großen modernen Häresie: der Ausmerzung der Idee der Erbsünde", schrieb der Dichter der "Fleurs du mal", die ursprünglich den Titel "Limbes" (Limbus = "Vorhölle") tragen sollten. Es wurde Baudelaire der Prozeß wegen der Gedichte "Lesbos" und "Femmes damnées" gemacht; aber die Justiz kann eine "ausgemerzte Idee" nicht wieder beleben. "O Mort, vieux capitaine, il est temps! Levons l'ancre": Das Todesverlangen ist die Antwort auf die einsame, nur noch am Rande des christlichen Glaubens gemachte Entdeckung des "Mysterium iniquitatis" inmitten der produzierenden Gesellschaft. Baudelaire hat auch theoretisch die Voraussetzung der Sprachmagie von einen Punkt aus beschrieben, der gerade eben noch einmal einen Rückblick erlaubt: "Die Phantasie zerlegt die ganze Schöpfung; nach Gesetzen, die im tiefsten Seeleninnern entspringen, sammelt und gliedert sie die Teile und erzeugt daraus eine neue Welt." Die "Schöpfung" wird zerlegt, die ursprüngliche, ihm vorgegebene Heimat des Menschen und seines Miteinanderseins. Dies tun auch die Naturwissenschaften, aber nicht mit der Phantasie, sondern mit der auf Empirie ausgehenden Analyse des ganzheitlichen Dinges, das sie auf den Objektträger legen. Wie aber kommt der Dichter dazu, das scheinbar gleiche zu tun, nämlich auch zu zerlegen, aber nicht um die wirkenden Gesetze zu entdecken, sondern um nach den Gesetzen seines "Seeleninnern" aus den Teilen eine neue Welt zu "erzeugen"? Es ist wider die "Vernunft" des traditionellen, des "schauenden" und "deutenden" Dichters, seine geheimnisvolle Behausung zu zerstören. Es muß eine Katastrophe geschehen sein, die ihn dazu zwingt, diese Tradition zu verlassen. Er ist schon nicht mehr in der Schöpfung, in der Welt der Dinge, behaust, wenn er daran geht, sie zu zerlegen, sie, die ihm bereits fremd geworden ist. Das Zerlegen ist nur das Mittel, die neue Welt zu erzeugen, die er erzeugen muß, weil die alte abhanden gekommen ist. Die Naturwissenschaften machen in ihren technischen Konsequenzen die alte Welt brauchbar und erzeugen freilich damit auf ihre Weise eine neue Welt. Aber dies ist nicht die "neue Welt" der Dichter, die nicht nur unbrauchbar ist, sondern es sein will und muß. Er sei an den Herkulessäulen der literarischen Welt angekommen, sagte man von Arthur Rimbaud, dem Dichter von "Une saison en enfer", dieser leidenschaftlichen Absage an Europa und seine ganze geistige und formale Tradition. Im Jahre 1874 begab sich Rimbaud ins Schweigen, nach dem Bruch der Freundschaft mit Paul Verlaine (1844-1896) in einer Eifersuchtstragödie; seit 1880 ist er Handelsvertreter in Afrika, auch im Waffengeschäft - der Dichter, von dem gesagt wurde, der "Aufenthalt im Irdischen wird unmöglich gemacht" (J. Rivière). Aber die "Freiheit der Dinge", die keinem Nutzen mehr dienen, muß "furchtbar" genannt werden. Es ist der gleiche Vorgang wie bei der Zeit: ihre Verinnerlichung, ihre anthropomorphe Wendung, führt in die Enthumanisierung der Zeit. Die Welt der Dinge, die in der Phantasie erzeugt wird, führt in die Enthumanisierung der Dinge, in die Vor-Geschichte (nicht als Prähistorie). Eine erschreckende Dialektik: die Technik macht die Dinge immer brauchbarer, bis sie keine Dinge mehr sind - die Wiederherstellung der Dinge in der Phantasie befreit sie aus dem Dienst, der ihnen im Schöpfungsakt aufgetragen ist. Im "Nutzen" der Dinge, innerhalb dessen die technische Brauchbarkeit nur ein Teil ist, ist das Verhältnis zwischen Mensch und Ding grundgelegt. Dieser Nutzen ist verdorben, in zwiefacher Weise. (Fs)

429a Die "Sprachmagie" der modernen Lyrik ist durchaus ambivalent. Wer ist der Magier, der Dichter oder die Sprache? Rimbaud hatte "Form und Bewegung jedes Konsonanten" berechnet und das "dichterische Urwort" finden wollen, das einmal allen Sinnen zugänglich sein könnte. Aber die magisch beschworene Sprache wird selbst zum Subjekt, das Impulse ausstrahlt, führt auf einen Weg, an dessen Ende erst sich Gehalte einfinden (können). "Das "Wort als Ton und Suggestion ist getrennt vom Wort als Diener eines mitteilbaren Sinngefüges" (H. Friedrich). Als Ton und Suggestion verweist es nicht auf den Logos. "Den Anstoß dem Wort überlassen", mit dieser Maxime suchte Mallarmé, einer der bedeutendsten Repräsentanten des Symbolismus, der nicht nur in Frankreich gefeierte "prince des poètes", der mit seinen "mardi"-Empfängen in Paris einen berühmten literarischen Mittelpunkt ausmachte, nach der wahren Wirklichkeit, die der Naturalismus nur vorgelogen habe; es war eine kunstvolle Wirklichkeit, die sich aus der assoziativen Kraft der Sprache enthüllen sollte, und es war eine Suche, die sich als permanente literarische Revolution verstand. (Fs) (notabene)

430a Es muß das Mißverständnis vermieden werden, als sei die Arationalität dieser Dichtung so etwas wie der Irrationalismus, als dessen Gefangenen Hermann Broch (Seite 414) den Menschen gesehen hat; am nächsten steht die vielleicht einer Gott-losen Mystik, die wie alle Mystik nicht irrational ist, sondern die Rationalität übersteigt. Die Richtung des Uberstiegs ist freilich verschieden. Dies wird deutlich bei Dichtern wie Mallarmé und bei dem aus seinem Bereich kommenden Valéry, der zusammen mit Thomas Stearns Eliot (Seite 434) die verstärkte Intellektualität der Lyrik des 20. Jahrhunderts repräsentiert. Es wird hier nichts von dem zurückgenommen, was seit Baudelaire geschehen ist; aber die gedanklichen Momente werden stärker. Man hat von einer Ontologie dieser Dichtung gesprochen, einer dichterischen Ontologie. Bei Mallarmé und Valéry ist es die Ontologie des Nichts und des Niemals, bei T. S. Eliot des "Nu" im Anfang und Ende. Wenn Valéry, der seit 1936 am Collège de France Vorlesungen über Poetik hielt, sagen kann, das Wort sei "das Mittel des Geistes, sich im Nichts zu vervielfachen", dann ist das Wort wieder Diener, wenn auch der Negation des Sinngefüges : das Gedicht ist für ihn "ein vollendet durchgeformtes Bruchstück eines nicht existierenden Baues". Aber man muß sehr wohl bedenken, wie Valéry die "pensée" und den "sommeil" einander gegenübergestellt hat: "Toute l'histoire de la pensée n'est que le jeu d'une infinité de petits cauchemars, à grandes conséquences, tandis que dans les sommeils s'observe de grands cauchemars à très courte et très faible conséquence." Es ist bemerkenswert, welche Bedeutung in diesen Jahrzehnten der Philosophie H. Bergsons zukommt, der es entscheidend um den "Kontakt mit der Wirklichkeit" geht, die zwar nicht voll in den Begriff gebracht werden, aber in der "Intuition" und im "agir et se savoir agir" ergriffen werden kann, dies freilich in der Voraussetzung einer Mitmenschlichkeit, die in der modernen Lyrik verstummt ist. Im Jahre 1923 erschien Martin Bubers "Ich und Du", Begründung des Dialogs im "ewigen Du" aus einer Überlieferung her, die diesen Dichtern unzugänglich geworden war. (Fs)

430b Die bohrende Frage nach der Wirklichkeit des Wirklichen wird inmitten einer Realität gestellt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt, sich jedenfalls bis jetzt diesen Anschein gegeben hat: der Technik (vgl. Seite 459-470). Es ist nun keineswegs so, daß man meint, sie aussparen, neben ihr eine souveräne Welt erzeugen zu können. Für die Lyrik Baudelaires und Rimbauds liefert sie Bild um Bild, verändert sie die Landschaft des traditionellen Gedichtes radikal. Aber es sind die dunklen Bilder des Ekels und der Fäulnis. Der irische Lyriker William B. Yeats (1865-1939), der in den zwanziger Jahren seine Gedichte dem Schicksal der Weltkulturen im Zeitalter der Technik widmete, im Alter die Upanishaden übersetzte, prognostizierte eine "ständig wachsende Distanzierung der kultivierten Gesellschaftsschicht von der Gesellschaft als Ganzem". Bei Federico Garcia Lorca (1898-1936) wird die Weltstadt zum Gegenstand inbrünstigen Hasses, und John Dos Passos (geb. 1896) hat in die Wohnungen New Yorks hineingeschaut, wo die Gegenstände die Menschen mit dem "Staub des Gestern, des Vorgestern, des Vorvorgestern" umdrängen, während draußen das "ohrenbetäubende Rasseln der Blitzzüge" tobt. In der Seinsgeschichte M. Heideggers ist die Technik der vollendete Ausdruck der Seinsvergessenheit. Es ist eine der wichtigsten Signaturen unseres Zeitalters, daß der Ingenieur unentwegt an der technischen Welt weiterbaut, sie alle benutzen und bis gestern jeden Preis dafür zu zahlen bereit waren, sie aber keiner preist, nur etwa der Flieger Antoine de Saint-Exupéry (1944 abgestürzt) im "Vol de nuit". Von der Architektur, die sich auf sie einlassen muß, ist noch zu handeln (S. 459 ff.). (Fs)

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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Moderne Lyrik; Rilke: Unfähigkeit zur Liebe u. Transzendenz

Kurzinhalt: ... diese Zeilen aus den "Elegien" bezeichnen nicht die Unfähigkeit zur "Transzendenz", sondern die trotz aller "Zuwendung" geradezu bestürzende Unfähigkeit zur Welt,

Textausschnitt: 431a Es ist offenkundig nicht leicht, nach dem Zweiten Weltkrieg den Gedichten Rainer Maria Rilkes (1875-1926) gerecht zu werden, nicht den frühen, deren Schwächen offenkundig genug sind, sondern den "Duineser Elegien" und den "Sonetten an Orpheus", die nach mehr als zehnjähriger "Unproduktivität" des Dichters 1923 erschienen sind (die "Elegien" wurden 1912 auf Schloß Duino begonnen). Die "Lebenskrisen" (A. Rimbaud, H. von Hofmannsthal, P. Valéry), die ins übernommene Schweigen oder ins Verstummen führen, sind nicht bloß biographische Unfälle, sondern gründen jenseits aller individuellen Schicksale in dem, was an der Zeit ist. Das Feminine in Rilkes Natur liegt zutage; aber um was es geht, ist nicht etwa der Mangel des Maskulinen, sondern die innere Unfähigkeit zur Liebe, sosehr die "Liebenden" dichterisch gepriesen werden. Daß Gott "nur eine Richtung der Liebe, kein Liebesgegenstand" sein kann, sagen viele; für Rilke bezeichnend aber ist die Zufügung, daß von Gott "keine Gegenliebe zu fürchten" sei. "Und wir: Zuschauer, immer, überall, / Dem allen zugewandt und nie hinaus!" - diese Zeilen aus den "Elegien" bezeichnen nicht die Unfähigkeit zur "Transzendenz", sondern die trotz aller "Zuwendung" geradezu bestürzende Unfähigkeit zur Welt, zur Welt des Menschen zumal (die "Elegien" könnten ebensogut vor dem Weltkrieg geschrieben sein, nichts ist passiert), aber auch die Unfähigkeit zur Welt der Dinge. Den Verlust der Dinge teilt Rilke mit den anderen; aber man meint, diesen Verlust seiner Ich-Verschlossenheit anlasten zu müssen, nicht der offenen Erfahrung, daß sich die Dinge entziehen. Aber so artistisch auch die Sprache Rilkes vom Anfang bis zum Ende bleibt (immer hat er sich "in das dünne Sprachgehäuse seiner Jugend zurückgezogen, wenn er vor lebendiger Sprache erschrak"; W. Vernetz), eine "Sprachmagie" gibt es bei ihm nicht, der sich selbst unter den "Enterbten" in der "dumpfen Umkehr der Welt" befindet, "denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört", und der "die Bewahrung der noch erkannten Gestalt" dem Interimsdasein als Aufgabe zuschreibt. Rilke hat im Schrecken vor dem "Erzengel", dem "Gefährlichen", keine Magie geübt. Freilich, die Götter Hölderlins sind weit, und man wird auch beim Rilke der "Elegien" nie den Verdacht los, es mangele an einer letzten Aufrichtigkeit (die moderne Lyrik ist durchaus eine Sache der Moral). (Fs)

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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: L'art pour l'art; Oscar Wilde

Kurzinhalt: Die moderne Kunst und Literatur ist für sich selbst, weil sie es mit der Artistik zu tun hat, eine Welt bezeugen zu müssen, die "es nicht gibt", diese Welt schöpfen zu müssen in einer "Welt"-los gewordenen Weltgesellschaft.

Textausschnitt: 6. L'artificiel

432a Das 1836 von dem französischen Philosophen Victor Cousin (1792-1867) formulierte Prinzip des "L'art pour l'art" wurde zu einem Leitsatz des Jahrhunderts. Er bezeichnet etwas anderes als die Souveränität einer jeden Kunst zu allen Zeiten, die auch dann ihren Sinn in sich selbst hat und nicht in einem aufgetragenen Zweck, wenn dieser Sinn im Einvernehmen steht mit der Gesellschaft der Auftraggeber, Betrachter und Benutzer. Die moderne Kunst und Literatur ist für sich selbst, weil sie es mit der Artistik zu tun hat, eine Welt bezeugen zu müssen, die "es nicht gibt", diese Welt schöpfen zu müssen in einer "Welt"-los gewordenen Weltgesellschaft. Aber dieser Bezeugungswille, der im Grunde "aufs Ganze" geht, ist zu unterscheiden (wenn auch nirgendwo völlig zu trennen) von einem künstlerischen Isolationismus, dem es nicht um die Wirklichkeit des Wirklichen geht, sondern primär um die Künstlichkeit der Kunst, und dies deshalb, weil die Kunst vom vulgären Leben als die einzig lebenswürdige Sphäre abgesondert werden soll. Die Geste des Aristokratismus gehört ebenso dazu wie ein ausgesprochener Technizismus, eine aufs höchste gesteigerte Könnerschaft. (Fs) (notabene)

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