Autor: Erni, Raymund Buch: Die Theologische Summe I Titel: Die Theologische Summe Stichwort: Thomas v. Aquin; philosophische Prinzipien; Axiome: Akt - Potenz; oberstes Grundprinzip; actus purus
Kurzinhalt: Es lautet: Das Erste in allem Sein und Wirken ist Gott als reine Wirklichkeit, als »actus purus«... actus simpliciter prius quam potentia
Textausschnitt: Die philosophischen Prinzipien
30a In seiner Summe geht Thomas von Aquin - wie es dem Wesen der Summen entspricht - von allgemeinen Prinzipien aus und leitet von ihnen bei den einzelnen Fragen die Lösung ab. Dadurch gewinnt die Summe, und die des hl. Thomas im besonderen, ihre spekulative Tiefe. Die Kenntnis dieser Prinzipien ist für ein fruchtbares Studium der Summe unerläßlich. Darum sollen die obersten und wichtigsten hier zusammengestellt und kurz dargelegt werden1. (Fs)
30b Betrachtet man diese Prinzipien allgemein, so muß man feststellen, daß sie 1. der Grundanschauung der Offenbarung, wie sie besonders in den Weisheitsbüchern ausgesprochen ist, 2. der platonisch-aristotelischen Philosophie, wie sie in Verbindung mit der patristischen Weisheit (besonders eines Augustinus und Pseudo-Dionysius) als »Philosophia perennis« in den christlichen Schulen weiterlebt, entnommen sind2. (Fs)
30c Vergleicht man die einzelnen Prinzipien miteinander, so beobachtet man, daß ein oberstes Grundprinzip alle andern beherrscht und verbindet. Es lautet: Das Erste in allem Sein und Wirken ist Gott als reine Wirklichkeit, als »actus purus«. Der Gottesgedanke ist das beherrschende Prinzip des mittelalterlichen theologischen Denkens im allgemeinen und des thomistischen im besondern. Gott als »actus purus«, als das reine, absolute Sein, das schlechthin vollkommene Wesen, ist in allem das Erste: in der Erschaffung und Leitung der Welt, wie im Werk der Erlösung, Heiligung und Vollendung. Aus dieser Wahrheit läßt sich sogleich der weitere Gedanke ableiten, daß überhaupt das Vollkommene in irgendeiner Richtung, das Aktuelle, auch das an und für sich Frühere, das unter ihm Stehende Beherrschende ist. (Fs)
31a Die verschiedenen Prinzipien lassen sich auf vier Gruppen, die untereinander im Zusammenhang stehen, zurückführen: auf die Axiome über Akt und Potenz, Form und Materie, vorbildliche Ursache sowie Zweckursache. Es entspricht dies den vier aristotelischen Ursachen: Formal-, Material-, Zweck- und Wirk-Ursache. (Fs)
1. Die Axiome über Akt und Potenz
31b Der oberste Leitsatz des thomistischen Denkens lautet: Der Akt ist schlechthin früher als die Potenz (actus simpliciter prius quam potentia); m. a. W.: das Aktuelle, das Wirkliche oder Vollkommene, ist schlechthin früher als das bloß Mögliche oder zu Verwirklichende. Mag auch in den Mittelursachen das zu Verwirklichende zeitlich dem Verwirklichten vorgehen, so ist doch in den ersten Ursachen, also logisch schlechthin, das Wirkliche und Vollkommene das Frühere, die Pflanze z. B. früher als der Same. Das schlechthin Erste ist demnach der »actus purus«, die reine Wirklichkeit, das reine Sein, die absolute Vollkommenheit, Gott. Der actus purus ist als Erstes das durch sich Seiende, das »Ens a se«, und als solches das absolute, notwendige, unendliche Sein. (Fs)
31b Ist nun das Aktuelle das schlechthin Frühere, so ist es auch die Ursache der Verwirklichung des Potentiellen. Daraus folgt: Es kann etwas nur durch ein Aktuelles von der Potenz (Mögestand) in den Akt (Wirklichkeit) überführt werden (»de potentia non potest aliquid reduci in actum, nisi per aliquod ens in actu«; I q. 2 a. 3). (Fs)
32a Mit diesem Satz ist der andere verwandt: Was nur mehr oder weniger, d. h. unvollkommen, Gut, Wahr, Sein ist, setzt etwas, das ganz Sein und Gut und die Ursache der andern ist, voraus (magis vel minus bonum, verum, ens postulant maxime ens et bonum quod est causa eorum). - Damit ist das Prinzip gegeben: Das Vollkommenste einer Gattung ist Ursache von allem andern, was dieser Gattung zugehört (»quod dicitur maxime tale in aliquo genere est causa omnium, quae sunt illius generis«; a. a. O.).Weiter folgt daraus, daß jedes Wirkende in Kraft der ersten Ursache wirkt (omne agens agit in virtute primi agentis). (Fs)
32b Auf Grund dieser Wahrheit muß in jeder Bewegung oder Verwirklichung, die immer ein Übergang vom Möglichen zum Wirklichen ist (also aus Akt und Potenz zusammengesetzt ist), das Bewegende und Anstoßende das Aktuelle sein. Daher gilt der Satz: Jedes Bewegte wird von einem andern bewegt (omne quod movetur, ab alio movetur), und anderseits: Es ist etwas bewegend, insofern es in Akt ist (»movet autem aliquid secundum quod est actu«; a. a. O.). Mit andern Worten: Das vom Potentiellen verschiedene Aktuelle ist das Bewegende und Aktualisierende des Potentiellen. An dieses Axiom schließt sich das andere: Das bloß Potentielle kann an sich Wirklichkeit erhalten oder nicht; seine Verwirklichung hängt von einem andern ab, das in sich notwendig ist (possibile vel contingens praesupponit necessarium). Darum die Folgerung: Es muß etwas geben, das in sich notwendig, reiner Akt ist (a. a. O.). (Fs)
32c So folgen aus dem Satz: Der Akt ist schlechthin früher als die Potenz, eine Anzahl von Prinzipien, und aus ihnen fließen als wichtigste Folgerungen:
1. die Notwendigkeit eines ersten nicht bewegten Bewegers, der reine Wirklichkeit, »actus purus« ist, d. h. die Notwendigkeit der Existenz Gottes;
2. die Schöpfung, denn jedes Sein, welches nicht das Sein an sich ist, muß vom Sein an sich stammen (vgl. I q. 44 a. 1);
3. die göttliche Allwirksamkeit im geschöpflichen Handeln (concursus universalis), im Reich der Natur wie der Gnade. Jedes Tätige ist ja nur in Kraft der ersten Ursache tätig (vgl. I q. 105 a. 5). Aus dieser Tatsache folgert das thomistische Denken
4. die Lehre von der »praemotio physica«, d. h. vom »Vorbewegen« aller Zweitursachen durch die Erstursache, nicht als ein Vorher der Zeit, sondern der Ordnung3. (Fs)
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