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Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Scham, Schamgefühl

Kurzinhalt: Die Scham weist schon von sich aus auf das Geheimnis des menschlichen Körpers hin, der mit einer Seele vereint ist; sie zeigt, daß es in unserem Körper etwas gibt, das über ihn hinausgeht, ihn transzendiert. Das erklärt, warum wir dazu neigen ...

Textausschnitt: 296a Ein heute wichtiger Aspekt dieser Berufung zur Reinheit ist - besonders für die Jugendlichen - das Schamgefühl. Die Scham weist schon von sich aus auf das Geheimnis des menschlichen Körpers hin, der mit einer Seele vereint ist; sie zeigt, daß es in unserem Körper etwas gibt, das über ihn hinausgeht, ihn transzendiert. Das erklärt, warum wir dazu neigen, diejenigen Teile unseres Körpers zu bedecken, die stärker die Triebe ansprechen, und statt dessen dem Blick des anderen spontan das Gesicht und die Augen präsentieren, die unmittelbarer unser inneres geistiges Wesen durchscheinen lassen. Die Schamhaftigkeit ist Achtung vor sich selbst und vor den anderen. Wo das Schamgefühl verlorengeht, wird die menschliche Sexualität in verhängnisvoller Weise banalisiert, jeden geistigen Abglanzes beraubt und leicht zu einem Konsumgut degradiert. Die Welt von heute belächelt die Scham und wetteifert darin, ihre Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Indem sie auf die fugendlichen regelrecht Gewalt ausübt, bringt sie sie so weit, sich ausgerechnet dessen zu schämen, worauf sie eigentlich stolz sein und was sie eifersüchtig hüten müßten. Dem muß ein Ende gesetzt werden.

Der hl. Petrus empfahl den Frauen der ersten christlichen Gemeinde:

»Was im Herzen verborgen ist, das sei euer unvergänglicher Schmuck: ein sanftes und ruhiges Wesen. Das ist wertvoll in Gottes Augen. So haben sich einst auch die heiligen Frauen geschmückt, die ihre Hoffnung auf Gott setzten« (1 Petr 3,41). (Fs)

297a Es geht nicht darum, jeden äußeren Schmuck des Körpers und jedes Bemühen, die eigene Erscheinung bestmöglich darzustellen und zu verschönern, zu verurteilen, sondern es geht darum, das mit reinen Herzensabsichten zu tun, mehr für die anderen - besonders für den eigenen Verlobten oder für den Ehemann und die Kinder - als für sich selbst; um Freude zu bereiten, nicht um zu verführen. (Fs)

297b Die Scham ist der schönste Schmuck der Reinheit. »Die Welt«, hat jemand geschrieben, »wird durch die Schönheit gerettet werden«. Aber sogleich hat er hinzugefügt: »Es gibt auf der Welt nur ein einziges absolut schönes Wesen, dessen Erscheinung ein Wunder an Schönheit ist: Christus.«1 Die Reinheit ist das, was es der göttlichen Schönheit Christi ermöglicht, sich zu offenbaren und im Gesicht eines christlichen jungen Mannes oder Mädchens aufzuleuchten. Die Schamhamhaftigkeit ist ein glänzendes Zeugnis für die Welt. Über eine der ersten christlichen Märtyrinnen, die junge Perpetua, wird in den Märtyrerakten berichtet, sie sei an eine wilde Kuh gefesselt und von ihr in die Luft geschleudert worden. Als sie blutend zu Boden fiel, »zog sie ihr Kleid zurecht, weil sie die Scham stärker empfand als den Schmerz«.2 Zeugnisse wie dieses trugen dazu bei, die heidnische Welt zu verändern und in ihr die Wertschätzung der Reinheit aufkommen zu lassen. (Fs)

297c Es genügt heute nicht mehr eine Reinheit, die aus Ängsten, Tabus und Verboten besteht, aus gegenseitiger Flucht von Mann und Frau voreinander, so als sei die eine immer und notwendigerweise eine Falle für den anderen, ein möglicher Feind und weniger eine »Hilfe«. In der Vergangenheit war die Reinheit manchmal - zumindest in der Praxis - genau auf diesen Komplex von Tabus, Verboten und Ängsten verengt worden, als sei es die Tugend, die sich vor dem Laster verbergen müsse, und nicht umgekehrt das Laster, das sich vor der Tugend schämen muß. Wir müssen dank der Gegenwart des Heiligen Geistes in uns nach einer Reinheit streben, die stärker ist als ihr entgegengesetztes Laster; nach einer positiven, nicht nur negativen Reinheit, die imstande ist, uns die Wahrheit jenes Wortes erfahren zu lassen: »Für die Reinen ist alles rein!« (Tit 1, 15), und jenes anderen Wortes der Schrift:
»Er, der in euch ist, ist größer als jener, der in der Welt ist« (1 Joh4,4). (Fs)

298a Wir müssen den Anfang machen, indem wir die Wurzel heilen, nämlich das »Herz«, denn von dort kommt alles, was das Leben eines Menschen wirklich vergiftet (vgl. Mt 15, 18f). Jesus sagt:
»Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen« (Mt 5,8). (Fs)

298b Sie werden wirklich schauen, d. h. sie werden neue Augen haben, um die Welt und Gott zu sehen, klare Augen, die wahrzunehmen vermögen, was schön und was häßlich, was Wahrheit und was Lüge, was Leben und was Tod ist. Kurz: Augen wie Jesus. Mit welcher Freiheit konnte Jesus über alles sprechen: über die Kinder, über die Frau, über die Schwangerschaft, über die Geburt... Augen wie Maria. Wir müssen uns in die Schönheit verlieben, aber in die wahre Schönheit, in jene Schönheit, die die Geschöpfe von Gott empfangen haben und die sich dem Blick derer offenbart, die ein reines Herz haben. Dann besteht die Reinheit nicht mehr darin, »Nein« zu sagen zu den Geschöpfen, sondern »Ja«; sie zu bejahen als Geschöpfe Gottes, die »sehr gut« waren und bleiben. Um dieses »Ja« sagen zu können, muß man jedoch zuerst den Weg des Kreuzes gehen, denn seit dem Sündenfall ist unser Blick auf die Schöpfung getrübt. In uns ist die Begierde losgebrochen; die Sexualität ist nicht mehr ruhig und gewaltlos, sie ist zu einer zweideutigen und bedrohlichen Kraft geworden, die uns unserem eigenen Willen zum Trotz mitreißt, gegen das Gesetz Gottes zu handeln. (Fs)



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Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Abtötung und Gebet; Reinheit der Augen

Kurzinhalt: »Wenn ihr durch den Geist die (sündigen) Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben« (Rom 8,13)

Textausschnitt: 5. Die Mittel: Abtötung und Gebet

299a Mit diesen Worten habe ich bereits begonnen, über die Mittel zur Erlangung und Bewahrung der Reinheit zu sprechen. Das erste dieser Mittel ist nämlich gerade die Abtötung. Die wahre innere Freiheit, die es erlaubt, jeder Kreatur im Licht zu begegnen, jedes Elend anzuhören und aufzunehmen, ohne selbst davon verdorben zu werden, ist nicht das Ergebnis einer schlichten Gewöhnung an das Böse. Das heißt, man erlangt sie nicht, indem man alles auskostet und versucht, sich dadurch zu immunisieren, daß man sich den Bazillus eben des Bösen, das man bekämpfen will, in kleinen Dosen einimpft, sondern man erlangt sie, indem man in sich den Infektionsherd erstickt. Kurz, man erlangt sie durch die Abtötung:

»Wenn ihr durch den Geist die (sündigen) Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben« (Rom 8,13). (Fs)

299b Wir müssen unser Möglichstes tun, um das Wort »Abtötung« von dem Argwohn zu befreien, der seit langem auf ihm lastet. Der Mensch von heute hat sich eine besondere Philosophie geschaffen, um die unterschiedslose Befriedigung der eigenen Triebe oder - wie man gern sagt - der eigenen natürlichen Impulse zu rechtfertigen, ja sogar anzupreisen, weil er darin den Weg zur Selbstverwirklichung der Person sieht. Als sei es nötig, den Menschen auf diesem Gebiet mit einer entsprechenden Philosophie noch zu ermutigen, und als reichten nicht seine gebrochene Natur und der menschliche Egoismus allein schon aus! Die Abtötung - das ist wahr - ist vergeblich und selbst ein Werk des Fleisches, wenn sie Selbstzweck wird, ohne Freiheit geschieht oder - was noch schlimmer ist - wenn sie geübt wird, um Rechte vor Gott anzumelden oder sich damit vor den Menschen zu brüsten. So haben viele Christen sie erfahren, und jetzt fürchten sie sich, dahin zurückzufallen, weil sie vielleicht die Freiheit des Geistes kennengelernt haben. Aber es gibt noch eine andere Weise, die Abtötung zu betrachten, die das Wort Gottes uns aufzeigt, eine ganz und gar geistliche Weise, denn sie kommt vom Heiligen Geist: »Wenn ihr durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, werdet ihr leben.« Diese Abtötung ist Frucht des Geistes und dient dem Leben. (Fs)

300a Wenn von Reinheit die Rede ist, muß - wie ich glaube - vor allem ein Typ der Abtötung ins Gedächtnis gerufen werde: die der Augen. Das Auge, sagt man, ist das Fenster der Seele. Wenn draußen der Sturm Blätter und Staub aufwirbelt, läßt niemand die Fenster seines Hauses weit offenstehen, denn der Staub würde alles bedecken. Der das Auge geschaffen hat, schuf auch das Augenlid, um es zu schützen ... Im Zusammenhang mit der Abtötung der Augen können wir die große neue Gefahr unserer Zeit nicht schweigend übergehen: das Fernsehen und - noch schlimmer - das Internet. Jesus hat gesagt: »Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg!« (Mt 5, 29), und er hat das gerade im Hinblick auf die Reinheit des Blickes gesagt. Das Fernsehen ist für uns sicher nicht nötiger als das Auge; man muß also auch von ihm sagen: »Wenn dein Fernseher dich zum Bösen verführt, dann wirf ihn weg!« Es ist viel besser, als einer dazustehen, der schlecht informiert ist über die letzten Ereignisse und Schauspiele der Welt, als bestens über alles informiert zu sein und darüber die Freundschaft Jesu zu verlieren und das eigene Herz zu verderben. Wenn jemand eingesehen hat, daß es ihm trotz aller Vorsätze und Anstrengungen nicht gelingt, sich auf das zu beschränken, was wirklich nützlich und einem Christen angemessen ist, dann ist es seine Pflicht, die Ursache zu beseitigen. Viele christliche Familien haben sich entschieden, den Fernseher aus ihrem Haus zu verbannen, weil sie der Meinung sind, daß der Nutzen letztlich nicht den Schaden aufwiegt, den er auf christlicher wie auch auf rein menschlicher Ebene anrichtet, und sie sind dann wahrlich bestürzt, wenn sie aus manchen Anzeichen im Gespräch entnehmen müssen, daß ein Priester oder eine Ordensfrau gewisse Sendungen verfolgt hat, deren Tendenz wohlbekannt ist. Wie kann denn ein Priester oder ein Ordensmann am Abend seine Augen und seinen Geist stundenlang mit Bildern anfüllen, die allesamt eine Verspottung der Seligpreisungen des Evangeliums, im besonderen der Reinheit, darstellen, und dann am nächsten Morgen zu früher Stunde ohne weiteres der Meinung sein, er könne den Lobpreis des Herrn feiern, sein Wort verkünden, das eucharistische Brot brechen oder den Leib Christi in der Kommunion empfangen?

301a Greifen wir also auf die Abtötung zurück und nehmen wir auch wieder Zuflucht zum Gebet. Die Reinheit ist nämlich weit mehr eine »Frucht des Geistes«, d. h. Geschenk Gottes, als das Ergebnis unserer Anstrengung, auch wenn diese unverzichtbar ist. Der hl. Augustinus beschreibt uns im anfangs erwähnten Zusammenhang seine persönliche Erfahrung in dieser Hinsicht:
»In meiner Unerfahrenheit glaubte ich, die Enthaltsamkeit hinge von meinen eigenen Kräften ab, und ich war mir bewußt, daß ich sie nicht besaß. Ich war so dumm, daß ich nicht wußte, was in der Schrift steht, daß nämlich niemand enthaltsam sein kann, wenn du es ihm nicht gewährst (vgl. Weish 8, 21). Und du hättest es mir zweifellos gewährt, wenn ich mit dem Seufzer meines Herzens an deine Ohren geklopft und mit sicherem Glauben meine Sorgen auf dich geworfen hätte ... Tu gebietest mir die Keuschheit: Nun gut, gewähre mir, was du mir gebietest, und dann verlange von mir, was du willst!« 1
Und wir wissen schon, daß er auf diese Weise die Reinheit erlangte. (Fs)

302a Ich habe zu Anfang gesagt, daß eine äußerst enge Verbindung besteht zwischen Reinheit und Heiligem Geist: Der Heilige Geist schenkt uns nämlich die Reinheit, und die Reinheit schenkt uns den Heiligen Geist! Die Reinheit in uns zieht den Heiligen Geist an, wie sie ihn in Maria angezogen hat. Zur Zeit Jesu wimmelte die Welt von »unreinen« Geistern, die unter den Menschen ungestört ihr Unwesen trieben. Als Jesus nach seiner Taufe im Jordan erfüllt vom Heiligen Geist die Synagoge von Kafarnaum betrat, begann ein von einem unreinen Geist Besessener zu schreien:

»Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret? Du bist gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen! Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!« (Mk 1, 24). (Fs)

302b Wer weiß, seit wie langer Zeit jener Mann schon ungestört in die Synagoge ging, ohne daß irgend jemand etwas bemerkte! Doch als Jesus, der das Licht und den Wohlgeruch des Geistes ausstrahlte, seinen Fuß an jenen Ort setzte, wurde der unreine Geist entlarvt und geriet in Aufregung; er konnte seine Anwesenheit nicht ertragen und verließ den Mann. Das ist der große, lautlose Exorzismus, der auch heute dringend nötig ist; das ist der Exorzismus, den wir auf Jesu Geheiß in unserer Umgebung praktizieren sollen: die unreinen Geister und den Geist der Unreinheit aus uns und unserer Umgebung austreiben, indem wir unseren Mitmenschen, und besonders den Jugendlichen, wieder die Freude vermitteln, für die Reinheit zu kämpfen. (Fs)

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Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Römerbrief; Werke des Fleisches: koite und aselgeia

Kurzinhalt: Der hl. Paulus stellt eine äußerst enge Verbindung zwischen Reinheit und Heiligkeit und zwischen Reinheit und Heiligem Geist her:

Textausschnitt: 281c Was der Apostel in dem oben zitierten Abschnitt »Werke der Finsternis« nennt, ist dasselbe, was er anderswo als »Begierden« oder »Werke des Fleisches« bezeichnet (vgl. Röm 8,13; Gal 5,19) und was er »Waffen des Lichts« nennt, ist dasselbe, was er an anderer Stelle als »Werke des Geistes« oder »Früchte des Geistes« bezeichnet (vgl. Gal 5, 22). Unter diesen Werken des Fleisches wird mit zwei Begriffen (koite und aselgeia) die sexuelle Ausschweifung besonders hervorgehoben, der die Waffe des Lichts, die Reinheit, gegenübergestellt wird. Der Apostel läßt sich im vorliegenden Textzusammenhang nicht lang und breit über diesen Aspekt des christlichen Lebens aus; aber aus der Aufzählung der Laster, die an den Anfang des Briefes gestellt ist (vgl. Röm 1,26 ff), erfahren wir, welche Bedeutung ihm in seinen Augen zukam. Auch wenn er das Thema der Reinheit an dieser Stelle nicht ausdrücklich behandelt, so ist doch zumindest gesagt, daß es hier seinen Ort hat. Nachdem die Beziehung zu Gott und die Beziehung zum Nächsten durch den Gehorsam bzw. die Liebe geheilt wurden, handelt es sich nun um eine dritte fundamentale Beziehung, die der Geist von Grund auf heilen will: die Beziehung zu sich selbst. Der hl. Paulus stellt eine äußerst enge Verbindung zwischen Reinheit und Heiligkeit und zwischen Reinheit und Heiligem Geist her:

»Das ist es, was Gott will: eure Heiligung. Das bedeutet, daß ihr die Unzucht meidet, daß jeder von euch versteht, seinen Leib in Heiligkeit und Achtung zu bewahren, nicht als Objekt von Leidenschaften und Begierden wie die Heiden, die Gott nicht kennen; daß keiner in dieser Sache seinen Bruder verletzt und betrügt, denn all das rächt der Herr ... Gott hat uns nicht dazu berufen, unrein zu leben, sondern heilig zu sein. Wer das verwirft, der verwirft also nicht Menschen, sondern Gott, der euch seinen Heiligen Geist schenkt« (1 Thess, 4,3-8). (Fs)

282a Versuchen wir also, diese letzte »Ermahnung« des Wortes Gottes anzunehmen, indem wir unser Verständnis dieser Frucht des Geistes, nämlich der Reinheit, vertiefen. (Fs)

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Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Selbstbeherrschung (Bibel - Stoa, Stoiker); enkrateia - porneia; apatheia; Selbstbeherrschung - Nicht-Selbstbeherrschung; christologische und pneumatologische Begründung

Kurzinhalt: Die Grundvorstellung, die der Begriff porneia beinhaltet, ist jedoch die, »sich zu verkaufen«, ... Indem die Bibel diesen Begriff verwendet, ... Grund, weil wir nicht mehr uns selbst gehören, sondern Christus

Textausschnitt: 1. Die christliche Motivation für die Reinheit

282b Im Brief an die Galater schreibt der hl. Paulus:

»Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung« (Gal 5,22). (Fs)

282c Der originale griechische Terminus, den wir mit »Selbstbeherrschung« übersetzen, ist enkrateia. Er hat eine sehr weit gespannte Bedeutungspalette: Man kann nämlich Selbstbeherrschung üben im Essen, im Sprechen, indem man seinen Zorn zügelt und in anderem mehr. Hier jedoch - wie übrigens fast immer im Neuen Testament - steht der Begriff für die Selbstbeherrschung in einem ganz bestimmten Bereich des Menschen, nämlich auf dem Gebiet der Sexualität. Das entnehmen wir der Tatsache, daß der Apostel etwas weiter oben, als er die »Werke des Fleisches« aufzählt, das Gegenteil der Selbstbeherrschung mit porneia, also mit Unreinheit, bezeichnet. (Es ist derselbe Begriff, von dem unser Wort »Pornographie« abgeleitet ist!)

283a Wir haben damit also zwei Schlüsselbegriffe, um die Realität zu verstehen, über die wir sprechen wollen: einen positiven (enkrateia) und einen negativen (porneia). Der eine beschreibt uns die Sache selbst und der andere ihr Fehlen oder ihr Gegenteil. Nun, ich sagte, daß der Begriff enkrateia wörtlich Selbstbeherrschung bedeutet, die Beherrschung des eigenen Körpers und speziell der eigenen sexuellen Triebe. Was aber bedeutet porneia? In den modernen Bibel-Übersetzungen wird dieser Begriff mit Prostitution, mit Schamlosigkeit, mit Unzucht, mit Ehebruch oder mit anderen Wörtern wiedergegeben. Die Grundvorstellung, die der Begriff porneia beinhaltet, ist jedoch die, »sich zu verkaufen«, den eigenen Körper zu veräußern, also sich der Prostitution hinzugeben (pernemi bedeutet »ich verkaufe mich«). Indem die Bibel diesen Begriff verwendet, um nahezu alle Manifestationen sexueller Unordnung zu bezeichnen, gibt sie zu verstehen, daß jede Sünde der Unreinheit in gewissem Sinne eine Prostitution, ein Sich-Verkaufen ist. (Fs) (notabene)

283b Die von Paulus verwendeten Begriffe sagen uns also, daß gegenüber dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen möglich sind, die eine ist Frucht des Geistes, die andere Werk des Fleisches, die eine Tugend, die andere Laster. Die erste besteht darin, die Selbstbeherrschung und die Beherrschung des eigenen Körpers zu wahren; die andere hingegen bedeutet, den eigenen Körper zu verkaufen oder zu veräußern, d. h. über die Sexualität nach eigenem Gutdünken zu verfügen, unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit und zu anderen Zwecken als denen, für die sie geschaffen ist; aus dem Sexualakt ein Geschäft zu machen, auch wenn der »Gewinn« nicht immer in barer Münze besteht wie im Fall der Prostitution im eigentlichen Sinne, sondern auch im egoistischen Lustgewinn als Selbstzweck. (Fs)

284a Wenn von der Reinheit und der Unreinheit in einfachen Tugend- oder Lasterkatalogen die Rede ist, ohne daß die Materie weiter vertieft wird, unterscheidet sich der Sprachgebrauch des Neuen Testaments nicht wesentlich von dem der heidnischen Moralisten, z. B. der Stoiker. Auch bei ihnen waren die beiden Begriffe, die wir bisher betrachtet haben - nämlich enkrateia und porneia, Selbstbeherrschung und Unreinheit - allgemein gebräuchlich. Wer einzig bei diesen Begriffen stehenbliebe, würde deshalb nichts spezifisch Biblisches und Christliches wahrnehmen. Auch die heidnischen Moralisten priesen die Selbstbeherrschung, aber nur als Mittel zur Erlangung der inneren Ruhe und Gelassenheit, des Gleichmuts (apatheia) und der Unabhängigkeit von allem Äußeren. Die Reinheit war bei ihnen dem Prinzip der »rechten Vernunft« untergeordnet. In Wirklichkeit liegt in diesen alten heidnischen Wörtern jedoch bereits ein völlig neuer Gehalt, der -wie immer - aus dem Kerygma hervorgeht. Das wird schon in unserem Text sichtbar, wo der sexuellen Ausschweifung als deren Gegensatz bezeichnenderweise das »Sich-Bekleiden mit dem Herrn Jesus Christus« gegenübergestellt wird. Die ersten Christen waren imstande, diesen neuen Gehalt zu erfassen, denn er war Thema besonderer Katechesen in anderen Zusammenhängen. (Fs)

284b Untersuchen wir nun eine dieser Sonderkatechesen über die Reinheit, um den wahren Gehalt und die wahren christlichen Motive dieser Tugend zu entdecken, die sich aus dem Pascha-Geschehen Christi herleiten. Es handelt sich um den Text in 1 Korinther 6,12-20. Anscheinend hatten die Korinther - möglicherweise indem sie einen Satz des Apostels verdrehten - das Prinzip: »Alles ist mir erlaubt« angeführt, um sogar die Sünden der Unreinheit zu rechtfertigen. In der Antwort des Apostels ist eine völlig neue Begründung der Reinheit enthalten, die aus dem Mysterium Christi hervorgeht. Es ist nicht erlaubt - sagt er -, sich der Unzucht hinzugeben, es ist nicht erlaubt, sich zu verkaufen oder zum eigenen Vergnügen über sich zu verfügen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir nicht mehr uns selbst gehören, sondern Christus. Man kann nicht über etwas verfugen, das einem nicht gehört:

»Wißt ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind? ... Ihr gehört nicht euch selbst!« (1 Kor 6,15.19). (Fs)

285a Die heidnische Begründung ist in gewissem Sinne auf den Kopf gestellt: Der höchste zu hütende Wert ist nicht mehr die Selbstbeherrschung, sondern die »Nicht-Selbst-Beherrschung«. »Der Leib ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn!« (1 Kor 6,13). Die letzte Begründung für die Reinheit ist also: »Jesus ist der Herr!« Mit anderen Worten, die christliche Reinheit besteht weniger darin, die Herrschaft der Vernunft über die Triebe herzustellen, als vielmehr die Herrschaft Christi über den gesamten Menschen - Vernunft und Triebe - zu festigen. Das Wichtigste ist nicht, daß ich die Herrschaft über mich selbst habe, sondern daß Jesus die Herrschaft über mich hat. Zwischen diesen beiden Perspektiven liegt ein nahezu unendlicher Qualitätssprung. Im ersten Fall ist die Reinheit in ihrer Funktion auf mich ausgerichtet, der Endzweck bin ich; im zweiten Fall ist sie auf Jesus ausgerichtet, Jesus ist das Ziel. Es ist zwar nötig, die Selbstbeherrschung zu erringen, aber nur, um sie dann an Christus abzutreten. Diese christologische Begründung der Reinheit wird noch zwingender durch das, was Paulus in demselben Text hinzufügt: Wir »gehören« Christus nicht nur ganz generell, als sein Eigentum, als etwas, das er besitzt, sondern wir sind der Leib Christi selbst, sind seine Glieder! Das macht alles noch ungeheuer viel heikler, denn es besagt, daß ich, wenn ich eine unreine Handlung begehe, den Leib Christi prostituiere, eine Art abscheuliches Sakrileg begehe; ich »vergewaltige« den Leib des Sohnes Gottes. Der Apostel sagt:
»Darf ich nun die Glieder Christi nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen?« (1 Kor 6,15). (Fs)

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Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Reinheit und Erneuerung; Kerygma und Martyra; Familie - Heiden; Ehebruch, Glaubensabfall, Mord

Kurzinhalt: Im Besonderen machte die Wiederherstellung und Heilung der familiären Beziehungen einen außerordentlichen Eindruck auf die heidnische Gesellschaft, deren damalige Autoritäten zwar die Familie reformieren wollten, sich jedoch als ohnmächtig ...

Textausschnitt: 3. Reinheit und Erneuerung

292b Wenn man die Geschichte der Anfänge des Christentums studiert, sieht man ganz deutlich, daß es hauptsächlich zwei Mittel waren, durch die es der Kirche gelang, die damalige heidnische Welt zu verwandeln: Das erste war die Verkündigung des Wortes, das Kerygma, und das zweite war das Lebenszeugnis der Christen, die Martyra. Und man sieht, wie es im Bereich des Lebenszeugnisses wiederum zwei Dinge waren, die die Heiden am meisten beeindruckten und bekehrten: die Nächstenliebe und die Reinheit der Sitten. Bereits der erste Petrusbrief erwähnt das Erstaunen der heidnischen Welt angesichts der so anderen Lebensweise der Christen:

»Sie sind überrascht, daß ihr euch von ihnen nicht mehr in diesen Strudel der Leidenschaften hineinreißen laßt« (1 Petr 4,4). (Fs)

292c Die Apologeten - d. h. die christlichen Autoren, die in den ersten Jahrhunderten der Kirche Schriften zur Verteidigung des Glaubens verfaßten - bezeugen, daß die reine und keusche Lebensweise der Christen für die Heiden etwas »Außergewöhnliches und Unglaubliches« darstellte. In einem solchen Text heißt es:

»Sie heiraten wie alle anderen und haben Kinder, aber sie setzen ihre Neugeborenen nicht aus. Sie haben Tischgemeinschaft, teilen aber nicht das Bett; sie leben im Fleisch, aber nicht nach dem Fleisch; sie wohnen auf der Erde, sind aber in Wirklichkeit Bürger des Himmels.«1

293a Im Besonderen machte die Wiederherstellung und Heilung der familiären Beziehungen einen außerordentlichen Eindruck auf die heidnische Gesellschaft, deren damalige Autoritäten zwar die Familie reformieren wollten, sich jedoch als ohnmächtig erwiesen und ihren Verfall nicht aufhalten konnten. Eines der Argumente, auf die der hl. Märtyrer Justin seine an Kaiser Antoninus Pius gerichtete Apologie gründete, ist folgendes: Die römischen Kaiser sorgen sich um die Gesundung der Sitten und der Familie und bemühen sich, zu diesem Zweck geeignete Gesetze zu erlassen, die sich jedoch als ungenügend erweisen. Nun, warum sollte man das, was die christlichen Gesetze bei denen, die sie angenommen haben, zu erreichen vermochten, und die Hilfe, die sie auch der bürgerlichen Gesellschaft geben können, nicht anerkennen? (Fs)

293b Man muß nicht glauben, die christliche Gesellschaft sei gänzlich frei gewesen von Unordnung und Sünden auf sexuellem Gebiet. Der hl. Paulus hatte in der Gemeinde von Korinth sogar einen Fall von Inzest anprangern müssen. Doch diese Sünden wurden klar als solche erkannt, angeprangert und korrigiert. Man erhob (wie in allen anderen Bereichen, so auch auf diesem Gebiet) nicht den Anspruch, ohne Sünde zu sein, aber man wußte, daß man sie zu bekämpfen hatte. Der Ehebruch wurde neben dem Mord und dem Glaubensabfall als eine der drei größten Sünden betrachtet, so daß eine gewisse Zeit lang und in gewissen Kreisen darüber diskutiert wurde, ob er durch das Bußsakrament überhaupt vergeben werden könne oder nicht. (Fs)

294a Machen wir jetzt einen Sprung von den Anfangen des Christentums in unsere Zeit. Welches ist die Situation der Welt von heute hinsichtlich der Reinheit? Es ist dieselbe wie damals, wenn nicht noch schlimmer! Wir leben in einer Gesellschaft, die in bezug auf die Sitten ins tiefste Heidentum zurückgefallen ist und in eine geradezu uneingeschränkte Vergötterung des Sexuellen. Die furchtbare Anklage, die der hl. Paulus am Anfang des Römerbriefes gegen die heidnische Welt erhebt, ist Punkt für Punkt auf die Welt von heute, insbesondere auf die sogenannten Wohlstandsgesellschaften zu übertragen:

»Gott lieferte sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht ... Sie erkennen, daß Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. Trotzdem tun sie es nicht nur selbst, sondern stimmen auch bereitwillig denen zu, die so handeln« (Röm 1, 26-32). (Fs)

294c Auch heute wird nicht nur solches und noch Schlimmeres getrieben, sondern man versucht sogar, es zu rechtfertigen, jede moralische Zügellosigkeit und sexuelle Perversion zu rechtfertigen, wenn sie nur - wie man sagt - den anderen keine Gewalt antut und die Freiheit der anderen nicht verletzt. Als ob Gott damit überhaupt nichts mehr zu tun hätte! Ganze Familien werden zerstört, und man sagt: Was ist schon Schlimmes daran? Es besteht kein Zweifel daran, daß gewisse Urteile der traditionellen Sexualmoral revidiert werden mußten und daß die modernen Humanwissenschaften dazu beigetragen haben, manche Mechanismen und Konditionierungen der menschlichen Psyche zu klären, die die moralische Verantwortlichkeit für gewisse Verhaltensweisen, die seinerzeit als sündhaft betrachtet wurden, aufheben oder herabsetzen. Doch dieser Fortschritt hat nichts zu tun mit dem Pansexualismus gewisser pseudowissenschaftlicher und permissivistischer Theorien, die darauf ausgerichtet sind, jegliche objektive Norm auf dem Gebiet der Sexualmoral zu bestreiten, indem sie alles auf ein Faktum spontaner Evolution der Sitten, d. h. auf eine kulturelle Gegebenheit zurückführen. Wenn wir das, was als die sexuelle Revolution unserer Zeit bezeichnet wird, eingehender untersuchen, stellen wir mit Schrecken fest, daß es nicht bloß eine Revolution gegen die Vergangenheit, sondern oft auch eine Revolution gegen Gott ist. Die Kämpfe zugunsten der Scheidung, der Abtreibung und ähnlicher Dinge werden gewöhnlich mit der Parole geführt: »Ich gehöre mir selbst! Mein Leib - bzw. mein Bauch - gehört mir!«, was die genaue Antithese zu der Wahrheit ist, die sich aus dem Wort Gottes ergibt, daß wir nämlich nicht uns selbst gehören, weil wir eben »Christus gehören«. Es ist dies also die Stimme der Revolte gegen Gott, der Anspruch auf absolute Autonomie. (Fs)

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