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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Unrecht; öffentliches Bewusstsein

Kurzinhalt: Die Erkenntnis dessen, was Unrecht ist und der Überwindung bedarf, ist im Laufe der Geschichte Schritt für Schritt ins öffentliche Bewusstsein getreten und wurde zum Motor des rechtlichen Fortschritts.

Textausschnitt: 312b Die Erkenntnis dessen, was Unrecht ist und der Überwindung bedarf, ist im Laufe der Geschichte Schritt für Schritt ins öffentliche Bewusstsein getreten und wurde zum Motor des rechtlichen Fortschritts. In der Antike waren z.B. Eroberungs- und Vernichtungskriege, Rachefeldzüge, Sklaverei und die Volksbelustigung durch mörderische Gladiatorenkämpfe noch nicht als Unrecht erkannt, im Mittelalter nicht Kreuzzüge und Ketzerausrottung, in der frühen Neuzeit noch nicht Inquisition, Hexenprozesse und primitive Prozessmethoden, im 19. Jahrhundert noch nicht Kolonialismus, Ausbeutung und Frauendiskriminierung. Nach dem Rückfall des 20. Jahrhunderts in Totalitarismen und Weltkriege knüpfte man doch lieber wieder an die Fortschrittsgeschichte des Rechts an. (Fs)

312c Der Gedanke der Menschenwürde erhält immer von neuem politischen Auftrieb, wenn Terror, Folter, Massaker und Hungerkatastrophen bekannt werden. Der Gedanke der Menschenwürde ist in der gesamten Menschheit verankert und hat zunehmend auch in Rechtsinstitutionen Niederschlag gefunden. Die drei religiösen Fundamentalismen, die im Nahostkonflikt aufeinanderprallen, sind in zeitversetzten archaischen Vorstellungen begründet. Diese bilden einen Fremdkörper in der heutigen Welt, in der sich ein geläutertes moralisches, aber auch religiöses Wissen unaufhaltsam verbreitet. (Fs)

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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Hitler; Faschismustheorie; Mangel und Absicht der Faschismustheorien

Kurzinhalt: Der Nationalsozialismus sei die deutsche Variante des europäischen Faschismus, und Faschismus sei eine Ausgeburt des Kapitalismus ... Alle nichtsozialistischen Staaten sollten erstens unter dem Sammelbegriff des Faschismus zusammengefasst ...

Textausschnitt: 289a Hitler verdankte seine Macht nicht nur überzeugten Parteigängern. Er verdankte sie Menschen, die uns versichern, sie hätten nicht vorhergesehen, was aus Hitler's Machtergreifung werden könne und hätten das nicht gewollt. Diese Versicherung ist zumindest bei der großen Mehrzahl glaubwürdig. Man hat es nicht gewollt und hat es doch herbeigeführt als Wähler, als Koalitionspartner oder sonst Mitwirkender bei Hitler's Regierungsübernahme und vor allem bei der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933, das die unbeschränkte Diktatur erst eigentlich begründete. Protestantisch-konservative, katholische und liberale Parteien, die Hitler während der Weimarer Republik zum Teil nachdrücklich bekämpft haben und aus deren Reihen später ein beträchtlicher Teil des Widerstandes hervorging, haben mitgewirkt, eine Diktatur zu errichten, ohne vorherzusehen, was andere aber vorhergesagt haben, z. B. der Fraktionsvorsitzende der SPD, Otto Wels.1 Warum haben die Deutschen auf Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und andere Probleme nicht, wie andere, mit der Wahl anderer demokratischer Parteien innerhalb des demokratischen Systems reagiert, sondern mit der Wahl von totalitären Parteien und schließlich mit der Abschaffung der Demokratie durch eine Diktatur? (Fs)

290a Die so genannten »Faschismustheorien«2 haben dafür eine einfache Erklärung. Der Nationalsozialismus sei die deutsche Variante des europäischen Faschismus, und Faschismus sei eine Ausgeburt des Kapitalismus, nämlich einer radikal gewordenen Reaktion auf den Fortschritt des Sozialismus.3 (Fs)

[...]
Es gibt aber eine Reihe ebenso offenkundiger Tatsachen, die die
Faschismustheorien nicht befriedigend erklären können.1 (Fs)

290c Erstens fällt auf, dass die am stärksten kapitalistisch geprägten Länder, wie z. B. die Schweiz, England, die Niederlande, die USA gegen nationalsozialistische oder vergleichbare Ideen völlig unanfällig waren. Diese Tatsache erklärt sich zwanglos aus der ideenpolitischen Verwandtschaft zwischen Verfassungsliberalismus und Wirtschaftsliberalismus und deren gemeinsamer soziologischer Grundlage im aufgeklärten Bürgertum. Zwar kann sich der Wirtschaftsliberalismus auch mit rechtsgerichteten Diktaturen verbünden, dann aber in der Regel als vorübergehende Notlösung, nicht als prinzipielle und irreversible Abschaffung der freiheitlichen Demokratie (vgl. oben § 45). (Fs)

290d Zweitens bestehen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus trotz mancher Verwandtschaft doch so wesentliche Unterschiede, dass es zumindest als grobe Vereinfachung gelten muss, den Nationalsozialismus als die deutsche Variante des Faschismus darzustellen. Rassenideologie, Konzentrationslager, Vernichtungslager fanden sich z.B. im italienischen Faschismus nicht, sind aber kennzeichnende Elemente des Nationalsozialismus. (Fs)

290e Drittens beruhen sowohl der Faschismus als auch der Nationalsozialismus auf Ideen, die keineswegs typisch kapitalistisch sind, ja die mit der Interessen- und Ideenlage des Kapitalismus nicht zusammenstimmen und die ihre soziologische Massenbasis überwiegend in antikapitalistisch orientierten sozialen Schichten gefunden haben. Der antibürgerliche Affekt gegen »Plutokratie«, »Zinsknechtschaft«, »Wallstreet«, das »kapitalistische Weltjudentum« usw. kann unmöglich eine ideologische Ausgeburt des Kapitalismus sein. (Fs)

290f Die zeitweilige Konjunktur der Faschismustheorien entsprang einer offenkundigen Absicht: Alle nichtsozialistischen Staaten sollten erstens unter dem Sammelbegriff des Faschismus zusammengefasst und zweitens durch die Ungeheuerlichkeiten des Nationalsozialismus diskreditiert werden.1 In den westlichen Demokratien herrsche, so hieß es, ein »latenter Faschismus«. Das war die Sprachregelung, die Kollaborateure des Sowjetimperialismus durchzusetzen versuchten, die jedoch in ihrer faktischen Substanzlosigkeit durchschaut wurde. (Fs) (notabene)

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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Ursache: Mangel an bürgerlichem Rechtsbewusstsein

Kurzinhalt: Man unterschied einen autoritären und einen totalitären Staat

Textausschnitt: 291b Die Antwort lautet in ihrer allgemeinsten vorläufigen Form: im Mangel an bürgerlichem Rechtsbewusstsein, genauer in der Unterschätzung der fundamentalen Bedeutung rechtsstaatlicher Institutionen der Gewaltenteilung, der Bürgerrechte und der parlamentarischen Demokratie und in der Annahme, sie seien durch Moral und gute Gesinnung ersetzbar. In den westlichen Demokratien wäre die Preisgabe der staatsrechtlichen Grundlagen der Verfassung zugunsten einer Diktatur als Katastrophe erschienen. In Deutschland nahm man an, es komme nur auf die Art und Weise der Ausübung der Diktatur an. Man könne normalerweise damit rechnen, dass eine Diktatur maßvoll und vernünftig ausgeübt werde. Es sei damals nicht vorhersehbar gewesen, dass sie zu Verbrechen, zu Massenvernichtungslagern und Angriffskriegen missbraucht werde. In einem Kulturstaat wie Deutschland sei ein solcher Missbrauch der Macht ausgeschlossen. (Fs)

Kommentar (18.02.07): Diese Begründung scheint mir nicht hinrieichend zu sein.

291c Man unterschied einen autoritären und einen totalitären Staat und wollte mit Hitler's Diktatur »bloß« einen autoritären Staat schaffen. Aber der Unterschied zwischen autoritärer und totalitärer Diktatur ist kein Unterschied des Staatstypus, sondern eben nur der Art und Weise der Machtausübung. Der Staatstypus ist in beiden Fällen dadurch gekennzeichnet, dass die Staatsgewalt über dem Recht steht und also rechtlich nicht gebunden ist. Dann aber ist die verbrecherische Ausübung der Staatsgewalt zumindest eine Möglichkeit; und die Annahme, moralische Appelle könnten Vernunft und Mäßigung bewirken, ist nichts als eine Hoffnung. Die rechtlich-institutionelle Staatsphilosophie setzt ihr Vertrauen deshalb nicht nur in moralische Appelle, sondern in erster Linie in rechtliche Institutionen der Gewaltenteilung, der Bürgerrechte und der parlamentarischen Demokratie. Diese Institutionen sind durch moralische Appelle an den Machthaber nicht ersetzbar: Das war die Quintessenz des englischen Abwehrkonzeptes gegen den Absolutismus im 17. Jahrhundert (vgl. oben § 28) und der politischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (oben §§31 ff.). (Fs)

291c Man unterschied einen autoritären und einen totalitären Staat und wollte mit Hitler's Diktatur »bloß« einen autoritären Staat schaffen. Aber der Unterschied zwischen autoritärer und totalitärer Diktatur ist kein Unterschied des Staatstypus, sondern eben nur der Art und Weise der Machtausübung. Der Staatstypus ist in beiden Fällen dadurch gekennzeichnet, dass die Staatsgewalt über dem Recht steht und also rechtlich nicht gebunden ist. Dann aber ist die verbrecherische Ausübung der Staatsgewalt zumindest eine Möglichkeit; und die Annahme, moralische Appelle könnten Vernunft und Mäßigung bewirken, ist nichts als eine Hoffnung. Die rechtlich-institutionelle Staatsphilosophie setzt ihr Vertrauen deshalb nicht nur in moralische Appelle, sondern in erster Linie in rechtliche Institutionen der Gewaltenteilung, der Bürgerrechte und der parlamentarischen Demokratie. Diese Institutionen sind durch moralische Appelle an den Machthaber nicht ersetzbar: Das war die Quintessenz des englischen Abwehrkonzeptes gegen den Absolutismus im 17. Jahrhundert (vgl. oben § 28) und der politischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (oben §§31 ff.). (Fs)
291d Wie wenig das Problem der Staatsform in Deutschland verstanden und ernst genommen wurde, ergibt ein Vergleich der Wahlergebnisse der Reichstagswahlen vom 20. 5. 1928 mit denen vom 31. 7. 1932. [...]

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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Hitler; katholische Parteien; Ermächtigungsgesetz: Zustimmung der katholischen Fraktion; drei Gründe

Kurzinhalt: Hitler ist ganz überwiegend nicht in den katholischen, sondern in den protestantischen Regionen Deutschlands gewählt worden. Gründe: Bolschewismus, Konkordat, Neutralität

Textausschnitt: 292a Was zunächst die katholischen Parteien, Zentrum und Bayerische Volkspartei betrifft, so hatten sie in der Weimarer Zeit, ja selbst noch Anfang März 1933 -also nach Hitler's »Machtergreifung« vom 30. Januar - die Nationalsozialisten als ganz prinzipielle Gegner bekämpft und so gut wie keine Wähler an sie verloren. (Fs)

292b Hitler ist ganz überwiegend nicht in den katholischen, sondern in den protestantischen Regionen Deutschlands gewählt worden. Vergleicht man die Karte des Deutschen Reiches, die die konfessionelle Bevölkerungsverteilung kennzeichnet (je dunkler die Schraffierung, desto größer der Katholikenanteil), mit der Karte, die die regionale Verteilung der Wählerstimmen für Hitler sichtbar macht (je heller die Schraffierung, desto größer der Prozentsatz der Hitler Wähler), so zeigen sich zwei fast identische Bilder.1 (Fs) (notabene)

292c Dass die katholische Fraktion gleichwohl dem Ermächtigungsgesetz vom 26. März 1933 zustimmte, geschah gegen erhebliche innere Widerstände, nachdem ihr Vorsitzender, Prälat Kaas, von einer Romreise zurückgekehrt, mitteilte, die Zustimmung sei der Wunsch des Vatikan. Dafür waren drei Gründe ausschlaggebend: Der erste war die Information über den Bolschewismus. Dieser hatte Russland erobert und war in Deutschland ja nicht schwach vertreten. Seine These war: Wer Deutschland hat, hat Europa; wer Europa hat, hat die Welt. Man fürchtete, die Weimarer Republik sei der Gefahr nicht gewachsen, man müsse mit autoritären Mitteln gegen sie vorgehen. Man dachte nicht faschistisch oder gar nationalsozialistisch, sondern setzte auf einen antikommunistischen Autoritarismus. (Fs)

292d Der zweite Grund war wohl die Inaussichtstellung des Konkordats durch Hitler. Es ging um die völkerrechtlich verbindliche Festlegung einer Reihe von Ordnungsprinzipien, betreffend das freie Kultus- und Glaubensleben, Priesterausbildung, Priesterstand, Zeugnisverweigerungsrecht, Beichtgeheimnis, Schutz des Sonntages und der christlichen Feiertage, Elternrecht und die Anerkennung der katholischen Schulen. Aus der Kulturkampfstimmung des 19. Jahrhunderts heraus war vieles immer wieder verweigert oder mit hinhaltendem Widerstand verzögert worden. In Preußen hat man es 1928 zu einem Konkordat gebracht, weil dort das Zentrum zusammen mit den Sozialdemokraten die Regierung stellte. Nun hatte man die Aussicht, ein Konkordat auf Reichsebene zu bekommen, und es konnte im Juli 1933 tatsächlich abgeschlossen werden: Hitler schien also so schlimm nicht zu sein. (Fs)

292e Der dritte Grund lag in der traditionellen katholischen Neutralität gegenüber den verschiedenen Staatsformen. Die Kirche als internationale Institution musste mit Monarchien, Republiken, Demokratien gleichermaßen gute Beziehungen pflegen, sofern sie die Mindestforderungen der Kirche anerkannten. Engagement für die rechtlich-institutionellen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates erschien mit den Neutralitätsinteressen der Kirche nicht vereinbar. Man nahm an, dass es auf die Staatsform nicht entscheidend ankäme. (Fs)

292f Das waren drei zwar irrige, die Gefahr unterschätzende, aber immerhin rational nachvollziehbare Motive. Sehr viel schwieriger ist es, die Motive zu verstehen, aus denen heraus die protestantisch geprägten Parteien dem Ermächtigungsgesetz zustimmten. Unter diesen muss man die konservativen und die liberalen unter-scheiden. [...]

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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Vertrauen in den Fürsten; Vereinbarkeit: Absolutismus - Rechtsstaatlichkeit; Hindenburg

Kurzinhalt: Die eigentliche Schreckenserfahrung war die des 30-jährigen Krieges und nicht die der totalitären Entartung des Absolutismus. Friede schien wichtiger als der Rechtszustand

Textausschnitt: 293b Zu den historischen, theologischen, philosophischen und sozialen Wurzeln dieser Einsichtshemmung ist schon viel gesagt worden. Man hat hingewiesen auf Eigentümlichkeiten des deutschen Protestantismus und des deutschen Idealismus, auf das Scheitern aller Revolutionsversuche, auf die industrielle Explosion, auf die nationalen Demütigungen und deren psychologische Überkompensation im großdeutschen Nationalismus und auf ähnliche Motive. Doch gilt es, einen für unseren Zusammenhang besonders wichtigen Gesichtspunkt hervorzuheben: das Vertrauen in die Person des Machthabers. Die absolutistischen Fürsten Deutschlands haben den Missbrauch ihrer Macht selten zu solch totalitärem konfessionellem Terror gesteigert wie z.B. der französische König nach 1685. Manche Umstände wirkten hier zusammen: Nach dem reichsrechtlichen Prinzip »cuius regio - eius religio« regierten die deutschen Fürsten seit 1555 Einkonfessions-Staaten und hatten zu konfessionellem Terror wenig Anlass. Soweit sie später durch regionale Ausdehnung Mehrkonfessions-Staaten wurden, wie Preußen und Bayern, war der konfessionelle Fanatismus schon weitgehend verblasst, und die Fürsten regierten verhältnismäßig tolerant. Die Theologie unterstützte das Vertrauen in den Fürsten nachdrücklich (»seid Untertan denen, die Gewalt über euch haben«), und das galt besonders in den evangelischen Landesteilen, wo die Fürsten zugleich oberste Bischöfe waren. Die Erfahrungsberichte aus Frankreich stammten von Hugenotten, denen die illegale Flucht gelungen war, und was die anderen, denen sie nicht gelungen war, erlitten hatten, drang nicht tief genug ins Bewusstsein. Die eigentliche Schreckenserfahrung war die des 30-jährigen Krieges und nicht die der totalitären Entartung des Absolutismus. Friede schien wichtiger als der Rechtszustand. Als dann im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts die so genannten aufgeklärten absoluten Herrscher einen verhältnismäßig hohen Grad an Rechtssicherheit schufen, erschien Absolutismus mit Rechtsstaatlichkeit vereinbar. (Fs) (notabene)

293c Trotzdem hatte die politische Aufklärung im Bewusstsein der Gebildeten zwar Fuß gefasst, aber doch nicht genug, um die Entartung der französischen Revolution nachhaltig zu überdauern. Deren Terror schrieb man weniger der Aufhebung der gewaltenteilenden Verfassung von 1791 und dem Despotismus der neuen absoluten Herrschaft zu, als vielmehr der revolutionären Auflehnung gegen die Monarchie (vgl. oben § 79). Und die konservative Propaganda tat alles, um den Unterschied zwischen einer Revolution mit dem Ziel einer gewaltenteilenden Verfassung und dem einer revolutionären Despotie zu verwischen. (Fs)

294a Das unbegrenzte Vertrauen in den unumschränkten Machthaber hatte etwas vom Vertrauen in den Vater, der auch bei großer Strenge gütig ist und das Beste seiner Kinder will. Dieses Urvertrauen scheint sich über alle Erfahrung des 19. Jahrhunderts hinweg erhalten und in der Weimarer Republik auf den Reichspräsidenten Hindenburg übertragen zu haben. Da dieser es war, der Hitler zum Reichskanzler machte, da Hitler sich am »Tage von Potsdam« (21. März 1933) ehrerbietig vor seiner Autorität verneigte und schließlich sein Nachfolger wurde, übertrug sich dieses Urvertrauen auf ihn. Wie Eberhard Jäckel dargelegt hat1, konnte man sich in weitesten Kreisen des deutschen Volkes nicht vorstellen, dass der Inhaber des höchsten Staatsamtes persönlich für geschehenes Unrecht verantwortlich war. Man pflegte später zu sagen: »Wenn das der Führer wüsste« oder »Dem Führer bleibt auch nichts erspart«. Wie wenig der Zusammenhang zwischen Terror und Staatsform im deutschen Bewusstsein lebendig war, zeigte sich sogar noch bei den konservativen Helden und Märtyrern des Widerstands. Sie beriefen sich auf das Wort Gottes, auf die Ehre des Vaterlandes oder die persönliche Ehre, auf Liebe zum Volk oder auf das Glück der künftigen Generationen. Sie kämpften in der Regel gegen konkrete Missstände, z.B. gegen antikirchliche Maßnahmen, das Euthanasieprogramm, die Verfolgung nichtarischer Pfarrer, oder sie versuchten einfach nur, die drohende totale Niederlage abzuwenden. Nur ausnahmsweise beriefen sie sich auf den schlichten Grundsatz, dass jeder Mensch gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde hat und dass deshalb das politische System, das den Menschen des Rechtszustandes schlechthin beraubte, prinzipiell und im Ganzen unrecht sei: so vor allem im Kreis um Professor Huber und die Weiße Rose.22 (Fs)

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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Liberalismus - Relativismus; Ermächtigungsgesetz; Ordnungsliberalismus - laissez faire Liberalismus; Neigung zum Recht des Stärkeren

Kurzinhalt: Der Relativismus galt unter Weimarer Liberalen als die philosophische Grundlage der Demokratie. Relativismus besagt in einer Kurzformel: ...;

Textausschnitt: 294b Das heikelste Problem aber ist das des deutschen Liberalismus. Wir müssen eine Erklärung für zwei historische Tatsachen suchen: Erstens: Die deutschen Liberalen1 verloren in den Jahren vor Hitler's Wahlerfolgen nicht weniger als 6/7 ihrer Wähler. Während die Zahl der Hitler-Wähler zwischen den Reichstagswahlen von 1928 und März 1933 von 810.000 auf 17,3 Millionen anstieg, sank die Zahl der liberalen Wähler von 5,5 Millionen auf 766.000, also auf rund 1/7. Nicht alle der verloren gegangenen Wähler mögen unmittelbar die NSDAP gewählt haben, manche haben vielleicht Wählerverluste anderer Parteien ausgeglichen. Trotzdem ist die Feststellung unabweisbar, dass die ursprünglich liberalen Wähler offenkundig ein beträchtliches Wählerreservoir für die Nazis gestellt haben.2 (Fs)

295a Zweitens stimmten die übrig gebliebenen liberalen Abgeordneten des Reichstags dem Ermächtigungsgesetz geschlossen zu. Selbst aus den Reihen derer, die sich bis dahin als loyale Mitglieder der Weimarer Koalition bewährt hatten, gab es weder Widerspruch noch eine einzige Nein-Stimme. Im Unterschied zu den Deutschnationalen und zum Zentrum hatten die Liberalen kein erkennbares Motiv für ihre Zustimmung. Sie forderten nichts und erhielten nichts. Sie hatten nichts zu hoffen, sondern mussten sich als Partei auflösen und taten dies widerstandslos. (Fs)

295b Wie sind diese historischen Tatsachen zu erklären? Weshalb verhielt sich der deutsche Liberale in einer Weise, die einem englischen, schwedischen, holländischen oder Schweizer Liberalen nie in den Sinn gekommen wäre?
[...]

295d Der Relativismus galt unter Weimarer Liberalen als die philosophische Grundlage der Demokratie.1 Relativismus besagt in einer Kurzformel: Alle politischen und sozialen Anschauungen seien subjektiv und insofern relativ. Wenn jeder die Relativität seiner politischen Anschauung einsehe, werde er für seine Anschauungen keinen Absolutheitsanspruch erheben und die anderen Anschauungen als gleichberechtigt respektieren und tolerieren. Diese Selbstbescheidung mache Freiheit und Demokratie möglich. Dieser Relativismus hat freilich eine logische Konsequenz, die hätte bedacht werden müssen. Wenn alle Anschauungen relativ sind, dann sind auch die Ideen von Freiheit und Demokratie relativ und haben kein größeres Recht als die Ideen, die Freiheit und Demokratie abschaffen wollen. Alles, was man dann gegen die Feinde von Freiheit und Demokratie tun kann, ist, sie durch Belehrung und moralische Appelle zur Selbstbescheidung zu überreden.2 Überzeugt sie das nicht, so haben sie das Recht auf Beseitigung von Freiheit und Demokratie. (Fs) (notabene)

295e Diese Konsequenz wurde von den liberalen Staatsrechtlern ausdrücklich gezogen und zur herrschenden Auslegung der Weimarer Verfassung gemacht. Es lief auf die Lehre hinaus, dass das Volk mit Mehrheit die mehrheitsorientierte Demokratie abschaffen könne. Der damals maßgebliche Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung von Anschütz zählte auf, was die Mehrheit alles legal ändern könne, u.a. »die Staats- und Regierungsform (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus) und andere prinzipielle Fragen einschließlich der Grundrechte«3. Thoma sekundierte Anschütz im Handbuch des deutschen Staatsrechts: »Unmöglich ... aber kann das, was die entschiedene und unzweifelhafte Mehrheit des Volkes auf legalem Wege beschließt (und stürzte es selbst die Grundsäulen der gegenwärtigen Verfassung um), als Staatsstreich oder Rebellion angesehen werden.«4 Thoma fügte hinzu, dies sei eine »vielleicht gewagte, aber in ihrer Folgerichtigkeit großartige Erfassung der Idee der freien demokratischen Selbstbestimmung«.5 Was Thoma so großartig fand, war das Recht auf die irreversible Selbstaufhebung der freien demokratischen Selbstbestimmung. (Fs)

[...]

296d Wie konnte sich ein Liberaler dazu stellen? Ein Ordnungsliberaler hätte den Nationalsozialisten das Recht bestritten, andere ihrer Rechte zu berauben. Er hätte die Demokratie mit angemessenen Mitteln der Staatsgewalt verteidigt, weil er dem Recht auf Freiheit absoluten Geltungsanspruch zuerkannt hätte. Da die deutschen Liberalen aber Relativisten waren und auch der Freiheit selbst keinen absoluten Geltungsanspruch zuerkennen wollten, tolerierten sie Hitler's Intoleranz. Sie weigerten sich anzuerkennen, dass die Freiheit des einen durch das gleiche Recht der anderen auf Freiheit begrenzt ist und dass diese Begrenzung nicht durch die individuelle Gesinnung, sondern durch den freiheitlich-demokratischen Staat garantiert wird. Die deutschen Liberalen hatten einen moralischen, aber keinen politischen Willen. Sie setzten auf die Gesinnung, nicht auf die Institutionen. Das erklärt ihre passive Duldung der nationalsozialistischen Machtergreifung. (Fs)
297a Wie aber erklärt sich, dass sie die unumschränkte Macht nicht nur geduldet, sondern aktiv mit herbeigeführt haben? Die Antwort ist: Ohne einen eigenen politischen Willen setzt sich die natürliche psychologische Neigung durch, zu verstärken, was ohnehin geschieht. Das aber heißt, den jeweils Stärksten zu unterstützen. Hinter dem laissez-faire des freien Spiels der Kräfte verbirgt sich letztlich die Philosophie vom Recht des Stärkeren. So wie im ungehemmten wirtschaftlichen Wettbewerb die stärkste wirtschaftliche Macht das Monopol erringen kann, so auch im freien Spiel der politischen Kräfte. (Fs) (notabene)
297b Das Recht des Stärkeren ist der Gegensatz zum Rechtsprinzip. Das Rechtsprinzip fordert, dass allgemein verbindliche Rechtsnormen die Freiheit so beschränken, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen zusammen bestehen kann. Gilt das Rechtsprinzip nicht absolut, so heißt das: Der Stärkere darf den Schwächeren seiner Willkür unterwerfen. Entweder gilt das Rechtsprinzip oder das Recht des Stärkeren - eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Die relativistischen Liberalen wollten dieser Konsequenz ausweichen, nämlich das Rechtsprinzip und das Recht des Stärkeren auf die gleiche Stufe stellen und beide für gleichberechtigt erklären. Doch das läuft praktisch auf Unterstützung des Rechts des Stärkeren hinaus. Denn das Recht des Stärkeren ist das biologisch Natürliche: Die großen Fische fressen die kleinen. Hitler stützte seinen Anspruch, alle anderen einschließlich der Liberalen seiner Willkür zu unterwerfen, ausdrücklich auf biologische Beispiele. Der Relativismus bedeutete nicht Neutralität zwischen zwei gleichberechtigten Prinzipien, sondern Neutralität zwischen Geist und Natur, zwischen Kultur und Barbarei, zwischen dem moralisch begründeten Grundsatz, dass jeder Mensch gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde hat, und der moralisch blinden Durchsetzungstendenz des Machttriebs - und bei solcher Neutralität muss das Recht gegen die Macht verlieren. (Fs)

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