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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Platon; Höhlengleichnis; zweite Höhle; Moderne, Aufklärung

Kurzinhalt: »Die Absicht der Aufklärung war die Rehabilitierung des Natürlichen durch die Leugnung (oder Einschränkung) des Übernatürlichen; aber ihre Leistung war die Entdeckung eines neuen >natürlichen< Fundaments, das ...

Textausschnitt: 19a Die Absicht der Auseinandersetzung mit der Moderne kann in erster Näherung durch ein Bild verdeutlicht werden, das sich an Platons Höhlengleichnis anschließt. Zu Beginn des siebten Buches der Politeia beschreibt Platon die Situation der gewöhnlichen Menschen, der Nicht-Philosophen, als diejenige von Höhlenbewohnern, die nur Schatten von künstlichen Gegenständen wahrnehmen und in ihren Meinungen über deren Bedeutung und Zusammenhang befangen sind. Weil sie anders als die Philosophen keinen Begriff von »Natur« haben, wissen sie nicht einmal, was künstliche Dinge im Unterschied zu natürlichen Dingen sind. Sie halten deshalb ihre Meinungen für die Wahrheit schlechthin und erheben sie durch gesellschaftliche Konventionen der Höhlengemeinschaft zum autoritären öffentlichen Dogma. Der Philosoph unterscheidet sich von der Höhlengemeinschaft dadurch, daß er von den Meinungen zum Licht der Erkenntnis aufzusteigen versucht. Das Höhlendasein beinhaltet für den Philosophen eine natürliche Schwierigkeit. Die Voraussetzung des Philosophen ist es, seine Intention von der Meinung auf die Erkenntnis zu richten und sein Augenmerk von den künstlichen Dingen auf ihre natürlichen Ursachen zu lenken. Der Standpunkt der philosophischen Intention ist bereits mit der Einsicht verbunden, als Höhlenbewohner in einer natürlichen Unwissenheit zu leben und die Meinungen der Höhlengesellschaft als den natürlichen Ausgangspunkt für den Aufstieg zur Erkenntnis nutzen zu müssen. Die natürliche Schwierigkeit ist nicht nur ein philosophisches, sondern zugleich ein politisches Problem. Strauss zeigt, daß das Höhlengleichnis einen politischen Sinn hat, insofern die Höhle mit der Welt der Polis gleichzusetzen ist. Es gehört wesentlich zum Selbstverständnis der Höhlenbewohner, kein Bewußtsein davon zu haben, daß ihre Heimstatt nur eine Höhle innerhalb des Universums ist. Sie halten ihre Stadt für die Welt schlechthin oder zumindest für das Höchste in der Welt. Die Absicht des Philosophen, auf die Natur hinter den künstlichen Dingen zu schauen, hat deshalb in ihrem Ursprung eine politische Bedeutung. Durch die bloße Absicht auf Erkenntnis stellt der Philosoph das autoritäre öffentliche Dogma in Frage und gerät in einen politischen Konflikt mit der Gesellschaft, in der er lebt. (Fs) (notabene)

20A Die Situation des modernen Menschen ist nach Leo Strauss nicht mehr die der natürlichen Unwissenheit der ursprünglichen Höhlenbewohner: »wir befinden uns heute in einer zweiten, viel tieferen Höhle als die glücklichen Unwissenden, mit denen es Sokrates zu tun hatte«. In die »zweite Höhle« geraten zu sein ist das Ergebnis der modernen Aufklärung. »Die Absicht der Aufklärung war die Rehabilitierung des Natürlichen durch die Leugnung (oder Einschränkung) des Übernatürlichen; aber ihre Leistung war die Entdeckung eines neuen >natürlichen< Fundaments, das alles weniger als natürlich, vielmehr gleichsam das Residuum des >Übernatürlichen< ist.« In dem Willen, den Konflikt zwischen Philosophie und Gesellschaft zu harmonisieren, betrachtete die Aufklärung die Gesellschaft als eine Gesamtheit möglicher Philosophen und glaubte, durch eine Popularisierung der Philosophie Einfluß auf sie ausüben zu können. Für die Philosophie ergibt sich dadurch eine neue Situation und eine mehrfache Herausforderung. Wenn es wahr ist, daß die Philosophie von dem natürlichen Selbstverständnis der Gesellschaft und der Ebene der natürlichen Meinungen auszugehen hat, dann muß sie zuerst wieder das Niveau der natürlichen Höhle erreichen. In Begriffen der klassischen Beschreibung der natürlichen Schwierigkeiten der Philosophie formuliert Strauss das Problem so: (Fs) (notabene)

»Menschen können solche Angst vor dem Aufstieg zum Licht der Sonne bekommen und so begierig werden, den Aufstieg für jeden ihrer Nachkommen äußerlich unmöglich zu machen, daß sie eine tiefe Grube unterhalb der Höhle graben, in welcher sie geboren wurden, und sich in diese Grube zurückziehen. Wenn einer ihrer Abkommen wünschen würde, zum Licht der Sonne aufzusteigen, müßte er erst versuchen, das Niveau der natürlichen Höhle zu erreichen, und er müßte neue und höchst artifizielle Werkzeuge erfinden, die für jene, die in der natürlichen Höhle lebten, unbekannt und unnötig waren. Er wäre ein Dummkopf, er würde nie das Licht der Sonne sehen, er würde die letzte Spur der Erinnerung an die Sonne verlieren, wenn er verkehrterweise dächte, daß er durch das Erfinden seiner neuen Werkzeuge über die angestammten Höhlenbewohner hinaus fortgeschritten wäre.«

221a Es ist diese Diagnose, die dem Ansatz der politischen Philosophie von Leo Strauss zugrunde liegt. Die politische Philosophie der Moderne definiert sich selbst durch den Bruch, den sie mit der klassischen Philosophie vollzogen hat. Anstelle des Aufstiegs zur Erkenntnis hat sie einen Stollen in die entgegengesetzte Richtung vorgetrieben, um sich einerseits vor den Gefahren des Aufstiegs zu schützen und um andererseits die interesselose Erkenntnis durch praktisch wirksame »Theorie« zu ersetzen. Sie hat sich dadurch in eine Situation hineinmanövriert, in der Philosophie unmöglich ist. Die dringendste Aufgabe der Philosophie muß es deshalb heute sein, ihr natürliches Ausgangsniveau wiederzufinden. Hierin liegt die Rechtfertigung der, wie es zunächst scheint, philosophiegeschichtlichen Anlage des Werkes von Leo Strauss. »Darum und nur darum ist die >Historisierung< der Philosophie berechtigt und notwendig: nur die Geschichte der Philosophie ermöglicht den Aufstieg aus der zweiten, >unnatürlichen< Höhle, in die wir weniger durch die Tradition selbst als durch die Tradition der Polemik gegen die Tradition geraten sind, in jene erste, >natürliche< Höhle, die Platons Gleichnis schildert, und aus der ans Licht zu gelangen der ursprüngliche Sinn des Philosophierens ist.« Dem zunächst notwendigen philosophiegeschichtlichen Zugang stellen sich zwei Aufgaben. Um den Weg aus der »zweiten Höhle« zurück in die »erste Höhle« zu finden, muß man den Ausgangspunkt der modernen Philosophie suchen und ihre Prinzipien verstehen lernen. Das erfordert ein intensives Studium der Intention der modernen Philosophie und ihrer Geschichte. Des weiteren aber muß man sich, am Ausgangspunkt der Moderne angelangt, radikal von der Systematik modernen Denkens befreien und die von der Tradition der Polemik gegen die Tradition verschütteten Wegmarken entdecken, denen die klassischen Denker gefolgt waren. Spätestens an diesem Punkt transformiert sich das philosophiegeschichtliche in ein philosophisches Unternehmen. »Der Historiker der Philosophie muß sich alsdann einer Transformation in einen Philosophen unterziehen, oder einer Konversion zur Philosophie, wenn er ein kompetenter Historiker der Philosophie sein möchte.« »Die Wegmarken, welche die Denker der Vergangenheit leiteten, müssen wiederentdeckt werden, bevor sie benutzt werden können. Bevor es dem Historiker gelingt, sie wiederzufinden, kann er nicht umhin, sich in einem Zustand äußerster Verwirrung, universalen Zweifels zu befinden: er findet sich selbst in einer Dunkelheit, welche ausschließlich von seinem Wissen erleuchtet wird, daß er nichts weiß. Wenn er sich mit dem Studium der Philosophie der Vergangenheit beschäftigt, muß er wissen, daß er sich auf eine Reise begibt, deren Ende ihm vollständig verborgen ist: er wird wahrscheinlich nicht zu dem Ufer seiner Zeit als derselbe zurückkehren, als der er es verlassen hat.« (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Kultur, liberaler Kulturbegriff, Liberalismuskritik; Kultur - Natur;

Kurzinhalt: Die Anthropozentrik des modernen Denkens geht so weit, daß nicht nur die »Kultur«, sondern das menschliche Selbst als ein Produkt des menschlichen Geistes betrachtet wird; Kultur ist immer Kultur der Natur

Textausschnitt: 89a Der liberale Kulturbegriff steht im Zentrum der Liberalismuskritik. Schmitt hat sich bewußt die Aufgabe gestellt, das Spezifische des Politischen zu bestimmen. Eine derartige Bestimmung verlangt zunächst die Angabe der übergeordneten Gattung. In der Systematik liberalen Denkens wäre die nächstliegende Antwort auf diese Frage, die Gattung, innerhalb deren das Politische zu bestimmen sei, wäre die »Kultur«. Das Politische selbst wäre dann eine Kulturprovinz, ein neben anderen (moralischen, ästhetischen, ökonomischen) Sachgebieten autonomer Bereich menschlichen Denkens und Handelns. Sowohl Carl Schmitt als auch Leo Strauss halten eine derartige Bestimmung für verfehlt, weil sie die Fundamentalität des Politischen leugnet und der Entpolitisierung des menschlichen Lebens zuarbeitet. Die deshalb notwendig werdende Kritik des Kulturbegriffs setzt bei Strauss allerdings entschieden grundsätzlicher an als bei Schmitt. Er läßt offen, »ob man überhaupt von einem anderen als dem modernen Kulturbegriff in strenger Rede sprechen kann«. Das moderne Kulturverständnis begreift nicht nur die verschiedenen Sachgebiete menschlichen Denkens und Handelns im Verhältnis zueinander als autonom und selbständig, sondern hält die »Kultur« als Ganzes für eine »souveräne Schöpfung« des menschlichen Geistes. Die Anthropozentrik des modernen Denkens geht so weit, daß nicht nur die »Kultur«, sondern das menschliche Selbst als ein Produkt des menschlichen Geistes betrachtet wird. Abgesehen von einigen biologischen und psychologischen Grundmustern werden alle Formen, die dem menschlichen Wollen und Handeln vorangehen, zurückgewiesen. Der Mensch macht sich selbst zu dem, was er ist. Des Menschen bloße Menschlichkeit ist erworben. Das Politische in diesem Sinne als ein Kulturphänomen zu verstehen würde bedeuten, es als das freie Produkt, als eine »Erfindung« des menschlichen Geistes aufzufassen, geradeso wie der neuzeitliche Staat als eine souveräne Konstruktion mechanischer Rationalität in Erscheinung tritt. Es würde weiterhin bedeuten, daß das Politische einen nur begrenzten Geltungsanspruch neben anderen Kulturphänomenen erheben könnte, die ihrerseits auf universale Behauptungen verzichten müßten. (Fs) (notabene)

90A Dem stellt Strauss entgegen, daß »die Tatsache des Politischen« genau wie die Religion eine »ursprüngliche Tatsache« ist, die alle »Kultur« transzendiert. Ihrem Selbstverständnis nach kann die Religion nicht als eine »spontane Erzeugung« des menschlichen Geistes begriffen werden, weil sie als Offenbarungsreligion den Menschen gegeben, und zwar als Gesetz gegeben wurde. Sie kann sich weiterhin nicht mit dem Range einer Kulturprovinz bescheiden, weil sie gemäß ihrem Selbstverständnis die Frage nach der richtigen Lebensweise abschließend und universal gültig beantwortet hat. Der Universalitätsanspruch der Religion hat demnach den zweifachen Sinn eines universalen Anspruchs auf Wahrheit und auf Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz. In gleicher Weise ist die ursprüngliche Tatsache des Politischen kein Sekundärprodukt des menschlichen Geistes, als Tatsache ist sie gleichursprünglich mit der menschlichen Natur gegeben. Politik und Religion sind deshalb »eine Crux der Kulturphilosophie« insgesamt. Indem Strauss die Ursprünglichkeit des Politischen geltend macht, überschreitet er die herrschende Auffassung. (Fs)

»Durch diese Auffassung wird in Vergessenheit gebracht, daß >Kultur< immer etwas voraussetzt, das kultiviert wird: Kultur ist immer Kultur der Natur. Das bedeutet ursprünglich: die Kultur bildet die natürlichen Anlagen aus; sie ist die sorgfältige Pflege der Natur - einerlei ob des Erdbodens oder des menschlichen Geistes -; sie gehorcht eben damit den Anweisungen, welche die Natur selbst gibt. Es kann aber auch bedeuten: durch Gehorsam gegenüber der Natur die Natur besiegen (parendo vincere nach dem Wort Bacons); dann ist die Kultur nicht so sehr treue Pflege der Natur als harter und listiger Kampf wider die Natur. Ob die Kultur als Pflege der Natur oder als Kampf mit der Natur verstanden wird, hängt davon ab, wie die Natur verstanden ist: ob als vorbildliche Ordnung oder als zu beseitigende Unordnung. Wie immer aber die Kultur verstanden wird - in jedem Fall ist >Kultur< Kultur der Natur. >Kultur< ist so sehr Kultur der Natur, daß sie nur dann als souveräne Schöpfung des Geistes verstanden werden kann, wenn die Natur, die kultiviert wird, als Gegensatz des Geistes vorausgesetzt und vergessen worden ist. Da wir nun unter >Kultur< vorzüglich die Kultur der menschlichen Natur verstehen, so ist die Voraussetzung der Kultur vorzüglich die menschliche Natur, und, da der Mensch seiner Natur nach ein animal sociale ist, so ist die der Kultur zugrundeliegende menschliche Natur das natürliche Zusammenleben der Menschen, d. h. die Art und Weise, wie sich der Mensch vor aller Kultur zu den anderen Menschen verhält. Der Terminus für das so verstandene natürliche Zusammenleben heißt: Status naturalis. Man kann also sagen, das Fundament der Kultur ist der Status naturalis.«

91a Dieser Absatz kennzeichnet die Scheidelinie zwischen klassischer und moderner politischer Philosophie, er verweist auf den Horizont, innerhalb dessen die Strausssche Auffassung vom Politischen anzusiedeln ist, und gibt einen Hinweis auf das Programm seiner politischen Philosophie. Die Kritik am Kulturbegriff konzentriert sich auf den Vorwurf, der moderne Rationalismus habe seine eigenen Fundamente vergessen. Die Naturvergessenheit der modernen Kultur ist mitverantwortlich für die Unmenschlichkeit der modernen Politik. Hobbes hatte den »Status naturalis« durch den Status der Zivilisation negieren wollen. Das implizierte die Negation der sozialen, politischen Natur des Menschen zugunsten eines unpolitischen Individualismus, es implizierte die Aufgabe des klassischen Verständnisses von der Natur als einer vorbildlichen Ordnung und den Wandel der Haltung gegenüber der Natur im Sinne der Naturbeherrschung. Was Hobbes mit dem Ideal der Zivilisation, das »der Selbstbehauptung des Menschen gegen die übermächtige Natur« gedient hatte, noch in vollem Bewußtsein dessen, wogegen es sich richtete, in Gang setzte, entwickelte sich im Zuge der fortschreitenden Aufklärung zu dem »höheren« Ideal der Kultur. (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Moderne: 3 Wellen; Machiavelli und Hobbes; Rousseau; Nietzsche

Kurzinhalt: Der anthropozentrische Grundzug der Moderne wird in der Gegenüberstellung mit dem kosmozentrischen Charakter der Antike und dem theozentrischen Denken des Mittelalters deutlich

Textausschnitt: 47a Welche aber sind die positiven Merkmale der Moderne? Leo Strauss hat im Zusammenhang ihrer Charakterisierung von den »drei Wellen der Moderne« gesprochen, wie es der Titel des kleinen Aufsatzes, The Three Waves of Modernity, der postum 1975 erschien, andeutet und es die Anlage von Naturrecht und Geschichte nachvollziehbar macht. Mit ihnen verbinden sich die Namen Machiavellis und Hobbes' für das erste, Rousseaus für das zweite und Nietzsches für das dritte Stadium. Diese Namen stehen jedoch nicht für einen primär chronologisch zu verstehenden Ablauf, sie markieren spezifische Merkmale der Moderne, die bei ihnen besonders klar ausgeprägt sind. Man kann sie als Prämissen und Konsequenzen begreifen, die im Ergebnis zur Krise der Philosophie als der Krise der Moderne geführt haben. Einige Schwerpunkte seien hier summarisch skizziert. (Fs)

1. Die moderne politische Philosophie begrenzt ihren Gesichtskreis auf die Interessen der Gesellschaft. Sie gibt die Absicht auf die Erkenntnis vom Ganzen zugunsten der »Eroberung der Natur durch den Menschen um der Erleichterung der Lage des Menschen willen« auf. Platonisch gesprochen, begibt sie sich in die Höhle der geschichtlichen Welt und beschränkt sich auf die Belange und die praktischen Probleme ihrer Bewohner. Die Dimension der menschlichen Vollkommenheit, welche die Dimension außerhalb der Höhle umschloß, wird aufgegeben. Dadurch rückt der Mensch isoliert ins Zentrum des modernen Denkens. Der anthropozentrische Grundzug der Moderne wird in der Gegenüberstellung mit dem kosmozentrischen Charakter der Antike und dem theozentrischen Denken des Mittelalters deutlich. Die politische Philosophie stellt sich in den Dienst der weltlichen Macht, um im Gegenzug die Gewährleistung ihrer Sicherheit zu erhalten. (Fs)
48A

2. Die Beschränkung des Erkenntnisinteresses und die Absicht der Realisierung pragmatischer Lösungen setzt eine Beschränkung der moralischen Standards voraus. Die Moderne begreift den Menschen nicht mehr aus der Perspektive dessen, was er sein kann oder soll, sie nimmt ihn so, wie er ist. Die normativen Ansprüche der klassischen Moral stehen ihrer praktischen Absicht ebenso im Wege wie das Christentum, das die Menschen durch das Sündenbewußtsein schwach und abhängig gemacht hatte. Die Herabsetzung der moralischen Standards machte gravierende Veränderungen im Bauplan der klassischen Philosophie und entscheidende Modifikationen im Tugendverständnis unumgänglich. Durch die Beschränkung auf die praktischen Probleme der geschichtlichen Höhle durfte die Tugend nicht mehr als ein übergeschichtlicher Standard aufgefaßt werden, an dem sich die Gesellschaft ausrichten sollte. Die gesellschaftlichen Standards dienten nun umgekehrt als Maßstab dessen, was man unter Tugend zu verstehen habe. Gerecht ist, was die Gesellschaft als gerecht akzeptiert und was ihr nützt. Die moralische Dimension der Tugend wurde unter diesem Gesichtspunkt zugunsten der bürgerlichen Tugend suspendiert. Der Patriotismus, die Ergebenheit an die kollektive Selbstsucht, rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig emanzipierten sich die Selbstsucht und die Leidenschaften gegenüber der Tugend. Sie wurden ihrerseits nicht mehr durch die Tugend begrenzt und ausgeglichen, sondern avancierten als Ehrgeiz und Ruhmsucht zu ihrem integralen Bestandteil. Im Zusammenhang damit steht ein Motivationsproblem, insofern sich Leidenschaften, Selbstsucht und Rechtsansprüche leichter für die praktische Durchsetzung von Interessen instrumentalisieren lassen als der Appell an moralische Tugend, die Eingliederung in eine natürliche Ordnung und die Erfüllung von Pflichten. Die ethische Haltung der Moderne ist der Hedonismus, die Identifizierung des Guten mit dem Angenehmen. Die Besonderheit liegt darin, den Hedonismus zur Grundlage einer politischen Konzeption zu machen. Der klassische Hedonismus verstand sich als apolitisch, als eine individuelle Haltung am Rande der politischen Gesellschaft, die für ihre Funktionsfähigkeit anderer Prinzipien bedurfte. Der politische Hedonismus der Moderne wurde zu einer Lehre, die mehr als jede andere die Verhältnisse revolutionierte. (Fs) (notabene)

49A
3. Die Folge der politischen und moralischen Neuorientierung war eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses zur Natur. Die anthropozentrische Auffassung der Wirklichkeit verbietet es, den Menschen als Teil einer natürlichen Ordnung oder als in den Rahmen der Schöpfung eingegliederte Kreatur zu verstehen. Der Blick auf das Ganze wählt umgekehrt die menschliche Perspektive, genauer gesagt die Perspektive des menschlichen Bewußtseins als des Aufbau- und Konstruktionsprinzips der Welt. Die Subjektivität ist die Quelle aller »Kultur«, die ihre Grundlage in der Natur verliert. Die Veränderung des Verhältnisses zur Natur hat verschiedene Aspekte. (Fs) (notabene)
49B

3.1. Durch die Anpassung an die kontingenten Zwecke der Gesellschaft geht die Bindung an die natürlichen Zwecke verloren. (Fs)

49C
3.2. Die Natur ist nicht die bleibende, zu bewahrende Grundlage des menschlichen Lebens, sondern ein feindlicher Zustand, der durch die Zivilisation überwunden werden muß. Die modernen Vertragstheorien gehen von der Konstruktion eines Naturzustandes aus, in dem selbstsüchtige Individuen, mit fundamentalen Rechten ausgestattet, in einem wechselseitigen Bedrohungsverhältnis nebeneinander leben. Dieser Zustand ist auf seine eigene Negation hin angelegt.

50A
3.3. Nicht nur die menschliche Natur, aufgefaßt als ein ursprünglicher Zustand der Gefährdung, auch die äußere Natur stellt ein Hindernis für die pragmatische Absicht des modernen Projekts dar. Natur und Zufall sind dem Menschen feindlich und müssen beherrschbar werden. Das moderne Projekt der Zivilisation ist eine Revolte gegen die Natur. (Fs)

50B
4. Um das Projekt der Moderne verwirklichen zu können, bedurfte es einer Neuorientierung der Wissenschaft, der es nicht auf das Verstehen der Natur ankommen durfte, die man vielmehr als Instrument der Machtentfaltung einsetzen konnte. Sie hat den radikalen Bruch mit den Prinzipien der klassischen Wissenschaft zur Voraussetzung. Dabei reicht es keineswegs aus, darauf hinzuweisen, daß die Wissenschaft des 17. Jahrhunderts Finalursachen zurückgewiesen habe und das teleologische Denken nicht erst seit Ockham in Verruf geraten war. Denn Finalursachen hatten auch die antiken Materialisten geleugnet, jedoch ohne in Abrede zu stellen, daß das gute Leben ein Leben gemäß der Natur sei. Dies ist es, was die moderne Wissenschaft bezweifelt. Ihre Wendung gegen die Natur beruht weniger auf einer wissenschaftlich-methodischen Entdeckung als auf einer moralischen Entscheidung. Insgesamt macht es die Natur dem Menschen nicht einfach, sein Leben zu fristen. Die Bewegung der Moderne beruht auf dem konsequenten Entschluß, den Menschen durch seine eigene Anstrengung von der Versklavung durch die Natur zu befreien. Die Forderung nach Beherrschung der Natur verleiht diesem Entschluß Ausdruck. Die Natur wird als Feind betrachtet, und die Wissenschaft ist die Waffe, mit der man sie niederhalten und dienstbar machen kann. Angesichts dieses Szenarios sucht der Mensch einen Archimedischen Punkt außerhalb des Natürlichen, was zum Synonym für das Nicht-Menschliche wird. Im gleichen Zuge verändert sich die Funktion der Erkenntnis. Sie ist nicht mehr interesselose Betrachtung des Ganzen, als dessen Teil sich der Mensch versteht, sondern ein Instrument, das im Reich der blinden und gleichgültigen Notwendigkeit Überlebensmechanismen produziert. Hobbes entschied sich deshalb für eine konstruktivistische Methode, die strikte Neutralität in dem Konflikt zwischen Spiritualismus und Materialismus hält. Die moderne Wissenschaft ist konstruktivistisch aufgebaut, weil sie glaubt, nur dem vertrauen zu können, was sie vollständig beherrscht. Im logischen Bereich sind nur solche Begriffe als verläßliche Erkenntnisinstrumente zugelassen, die man deshalb kontrollieren kann, weil man sie selbst konstruiert hat. Der begriffliche Apparat der modernen Wissenschaft wurde in einem abstrakten, »leeren« Horizont entwickelt, er entstammt nicht der Fülle vorwissenschaftlicher Erfahrung. Die Moderne ist unter diesem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt eine Verbindung von extremem Skeptizismus gegenüber der Durchlässigkeit des Universums für die Vernunft und extremem Dogmatismus hinsichtlich des Geltungsanspruchs konstruktivistischer, wissenschaftlicher »Wahrheit«. Diese Mischung führte zunächst zu einem neuen Glauben an die unendliche Fortschrittsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis als eines Systems oder einer Ansammlung von bestätigten Hypothesen, die endlos der Revision ausgesetzt bleiben.

51A
5. Untrennbar mit dem Fortschrittsoptimismus verbunden war eine bestimmte Auffassung von »Aufklärung«, wonach die Popularisierung und Verbreitung philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Menschen von Vorurteilen befreien und den Verheißungen der Moderne zugänglich machen könnten. Dem wissenschaftlichen Fortschritt sollte der soziale auf dem Fuße folgen, weshalb eine Harmonie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft möglich wäre. (Fs)

51B
6. Die Wendung gegen die Natur und zu einem Typus von Wissenschaft, der auf Naturbeherrschung ausgelegt ist, wird begleitet von einer Wendung zur Geschichte, die wiederum verschiedene Aspekte umfaßt. (Fs)

52A
6.1. Die Verwerfung natürlicher Zwecke impliziert die Leugnung natürlicher Ziele menschlicher Vollkommenheit. Der Mensch verläßt den umfassenden Rahmen der natürlichen Ordnung und wird freigesetzt für eine unendliche Anpassungsfähigkeit. Die Ausrichtung auf die wirksame Gestaltung der menschlichen Verhältnisse schließt eine wirksame Anpassung der menschlichen Natur an diese Verhältnisse mit ein. Die menschliche Natur wird schließlich auf die bloße Anpassungsfähigkeit, die Perfektibilität, reduziert. (Fs)

52B
6.2. Durch die Freistellung des Menschen aus dem natürlichen Zusammenhang tritt die Dimension der Geschichte als das Reich der Freiheit dem Reich der natürlichen Notwendigkeit entgegen. (Fs)

52C
6.3. Die Neuorientierung der modernen Gesinnung führte zu einer historischen Dynamisierung des menschlichen Selbstverständnisses. Die Erfolge der Naturwissenschaften machten Hoffnung, in der technischen Beherrschung der Natur unendlichen Fortschritt erzielen zu können. Die Übertragung dieser Prinzipien auf den Bereich des Politischen führte zu dem Glauben an einen analogen sozialen Fortschritt und zu der Hoffnung, das menschliche Problem mit politischen Mitteln lösen zu können. Durch die Begrenzung der Perspektive auf die geschichtliche Höhle trat die Frage nach dem richtigen Leben hinter das Interesse an Fortschritt zurück. (Fs)

52D
6.4. Die Historisierung des Denkens führte zu einer Abhängigkeit neuer Art, welche die Stelle der Gebundenheit durch die natürliche Ordnung einnahm. Die menschliche Freiheit wird durch ihre früheren Äußerungen und durch das Kontinuum ihrer geschichtlichen Tätigkeit relativiert. (Fs)

52E
7. Rousseau trat der Entwicklung, die zur Aufklärung geführt hatte, kritisch entgegen. Er bemängelte die Unnatürlichkeit des Lebens des modernen Bourgeois und verachtete die Popularisierung der Philosophie, die ihre Zerstörung zur Folge hatte. So stellte er sich im Namen der Natur und der Tugend der Entwicklung entgegen. Zugleich aber akzeptierte er bestimmte Voraussetzungen der Moderne wie beispielsweise die Zuordnung der Tugend zur Demokratie, die Hochschätzung des Instinktes und die Konzeption der theoretischen Wissenschaft. Zwar wollte er das Ideal der klassischen Philosophie gegen die Aufklärung verteidigen, doch machten die modernen Elemente in seiner Philosophie die Lösung des Konflikts zwischen der Polis und der Natur, zwischen Philosophie und Gesellschaft, zwischen der politischen Gleichheit und der natürlichen Ungleichheit unmöglich. Er übernahm und radikalisierte die moderne Annahme vom Naturzustand und wollte zwischen ihm und der Zivilisation mit den Mitteln der modernen theoretischen Wissenschaft vermitteln. Er dachte sich den erforderlichen Übergang als eine geschichtliche Entwicklung vom im Prinzip animalischen Urmenschen bis hin zum Bürger. Die Freiheit wurde zu einer leeren Vervollkommnungsfähigkeit uminterpretiert, so daß die Eigenschaften des zivilisatorischen Zustands als geschichtlich erworben und von dem Entwicklungsprozeß abhängig gedacht wurden. Dadurch aber wurde der Mensch selbst zum Produkt einer geschichtlichen Entwicklung umgedeutet, und die Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier wurde auf einen graduellen Unterschied reduziert. Die Krise, die Rousseaus Kritik impliziert, gab der Moderne zugleich eine neue Richtung und Dynamik. (Fs)

53A
8. Friedrich Nietzsche erkannte das Problem der Moderne und spitzte es zu. Strauss bekannte sich in seinen Jugendjahren zu Nietzsche, das heißt nach seiner Promotion und dem Ausklingen seiner Verbindung zum Marburger Neukantianismus: »[...] ich kann nur sagen, dass mich Nietzsche zwischen meinem 22. und 30. Jahr so beherrscht und bezaubert hat, dass ich ihm alles, was ich von ihm verstand, [...] aufs Wort glaubte.« Erst allmählich kam Strauss der Verdacht, daß mit Nietzsche etwas »nicht stimmt«. Die Bewegung der Moderne strebte nach Nietzsche auf einen Menschentypus zu, der, von allen Konflikten und Leiden befreit, ein inhaltsleeres, unpolitisches Leben führt. Nietzsche hielt es durchaus für möglich, daß die Bewegung ihr Ziel erreichen könnte. Der Preis, den die Menschheit dafür würde zahlen müssen, wäre nichts Geringeres als der Verlust ihrer Menschlichkeit, die Erniedrigung zu einer Masse von ihrer Begrenztheit, ihrer Vornehmheit und ihrer Größe beraubten Wesen. Nietzsche sah das moderne Europa am Scheideweg, am Punkt der größten Gefahr. Er beanspruchte, auf dem Kulminationspunkt der Geschichte ihr Rätsel gelöst zu haben. Durch die Klarheit seiner Vision werde das Ganze der Geschichte einschließlich der Gegenwart und der Zukunft begreifbar. Um die Irrtümer und die Dekadenz der Menschheit durch den Rationalismus auf der Spitze der Modernität zu bekämpfen, müsse man die Antike wiederholen. Die Wurzel des Übels sah Nietzsche in dem Optimismus des vernunftgläubigen Zeitalters, das menschliche Problem lösen zu können. Den Ursprung dieser Entwicklung lokalisierte er aber nicht in der Verkehrung der klassischen Rationalität durch die Moderne, sondern beim ersten Aufscheinen des theoretischen Menschen in Sokrates. Strauss verstand Nietzsche allerdings dahingehend, daß dieser trotz oder gerade wegen seiner Rückkehr zur Antike in der Polemik gegen die Moderne selbst ein Moderner geblieben war. Das Bewußtsein von der kommenden Krise schien ihm nach einer kraftvollen, aktiven Gegenposition zu verlangen. Nietzsches »aktiver Pessimismus« suchte die Überwindung der Krise in ihrer Radikalisierung. Er ging Schopenhauers pessimistischer Weltverneinung auf den Grund, um diesen noch zu durchstoßen und zu einer Denkweise zu gelangen, die alle Weltverneinung übertreffen sollte. Strauss untersucht diese Tendenz in dem außergewöhnlich konzentrierten, durch seine Stellung innerhalb der Studies in Platonic Political Philosophy hervorgehobenen Aufsatz Note on the Plan of Nietzsche's »Beyond Good and Evil«. Am Grunde der tödlichen Wahrheit von Gottes Tod zeigt sich ihr Gegenteil. Strauss gelangt zu Nietzsches Theologie und ihrer »entschieden nicht-theistischen Rechtfertigung Gottes« durch den Willen zur Macht. In der Annäherung des Denkens an »das religiöse Wesen« wendet sich Nietzsche von den klassischen Philosophen ab. Der Wille zur Macht nimmt die Stelle des Eros ein. »Die fundamentale Alternative ist die der Herrschaft der Philosophie über die Religion oder der Herrschaft der Religion über die Philosophie; sie ist nicht, wie für Plato oder Aristoteles, die des philosophischen und des politischen Lebens; für Nietzsche, im Unterschied zu den Klassikern, gehört die Politik von vornherein zu einer niedrigeren Ebene als entweder die Philosophie oder die Religion.« Strauss wandte sich von Nietzsche ab, dessen Diagnose unübertroffen, dessen Therapie verhängnisvoll war. Nach Strauss hatte Sokrates eine Annahme gemacht, die zu machen Nietzsche versäumte. Sokrates trat für einen Rationalismus ein, der tatsächlich optimistisch stimmen konnte, weil er in ein teleologisches Verständnis vom Ganzen eingebettet war. Sokrates war der erste, der das menschliche Handeln zum zentralen Thema der Philosophie machte, der die Dinge im Lichte von Zwecken untersuchte und auf diese Weise die Überordnung des Guten anerkannte. Er verstand, Weisheit mit Mäßigung zu vereinen.1 (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: das Böse - Liberalismus; Sünde; vertragstheoretische Begründung des Staates

Kurzinhalt: Nach Strauss mußte Hobbes die Sünde leugnen, »weil er keine primäre, jedem Anspruch als berechtigtem Anspruch vorangehende Verpflichtung des Menschen anerkannte; vertragstheoretische Begründung des Staates: keine materialen Vorgaben

Textausschnitt: Aus s. unten:

Nach Strauss mußte Hobbes die Sünde leugnen, »weil er keine primäre, jedem Anspruch als berechtigtem Anspruch vorangehende Verpflichtung des Menschen anerkannte, weil er den Menschen als von Natur frei, d. h. unverpflichtet verstand«. Die vertragstheoretische Begründung des modernen Staates kann keine materialen Vorgaben akzeptieren, die von der universalen Zustimmung der Vertragspartner unabhängig wären.

Im moralischen Bereich setzt der Liberalismus eben jene Neutralität bereits voraus, die er im Zuge seiner historischen Entfaltung vorantreibt. Bosheit als unschuldige Bosheit zu verstehen führt letztlich zur Auflösung der Unterscheidung von »gut« und »böse« überhaupt.

Der Kern der Neutralisierungen des modernen Liberalismus ist in der Neutralisierung des moralischen Problems zu suchen.
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96A Die Ursprünglichkeit der Tatsache des Politischen hat ebenso wie die Philosophie die Unvollkommenheit oder Bosheit der menschlichen Natur zur Voraussetzung. Nur kommt alles darauf an, wie man »Bosheit« versteht, »als menschliche Minderwertigkeit oder als animalische Kraft«. Es gehört zu den Grundlagen des Liberalismus, die menschliche Bosheit als animalische Kraft zu betrachten, wie auch der unpolitische Hedonismus der Epikureer einen »Animalismus« vertritt. Der Mensch kann nur in Anführungszeichen »böse« sein, so wie ein Tier »böse« ist, das von Hunger und Überlebensangst umgetrieben wird. Der Liberalismus setzt voraus, daß die menschliche Bosheit eine unschuldige Bosheit ist, aus der dem Menschen keine Pflichten erwachsen. Nach Strauss mußte Hobbes die Sünde leugnen, »weil er keine primäre, jedem Anspruch als berechtigtem Anspruch vorangehende Verpflichtung des Menschen anerkannte, weil er den Menschen als von Natur frei, d. h. unverpflichtet verstand«. Die vertragstheoretische Begründung des modernen Staates kann keine materialen Vorgaben akzeptieren, die von der universalen Zustimmung der Vertragspartner unabhängig wären. Denn welchen Sinn hätte ein solcher Vertrag, der nur im nachhinein Bindungen anerkennt, die im vorhinein in der menschlichen Natur begründet wären? Im moralischen Bereich setzt der Liberalismus eben jene Neutralität bereits voraus, die er im Zuge seiner historischen Entfaltung vorantreibt. Bosheit als unschuldige Bosheit zu verstehen führt letztlich zur Auflösung der Unterscheidung von »gut« und »böse« überhaupt. In der moralisch neutralen animalischen Kraft steckt etwas, was bewundert und selbst als Güte aufgefaßt werden kann. Machiavellis Begriff der Tugend zeigt, wie kalkulierte Bosheit als patriotische »virtu« ausgelegt werden kann. Mit der Bosheit verschwindet aber in letzter Konsequenz das Politische überhaupt. Denn Bosheit bedeutet Gefährlichkeit und Mangel, sie zeigt die Bedürftigkeit des Menschen, seine Herrschaftsbedürftigkeit. Für Strauss ergibt sich daher die Aufgabe, »die Auffassung der menschlichen Bosheit als animalischer und darum unschuldiger >Bosheit< rückgängig zu machen und zu der Auffassung der menschlichen Bosheit als moralischer Schlechtigkeit zurückzukehren«. »Die als Herrschaftsbedürftigkeit entdeckte Gefährlichkeit des Menschen kann angemessen nur als moralische Schlechtigkeit verstanden werden. Als solche muß sie zwar anerkannt, kann sie aber nicht bejaht werden.«1 (Fs)


97a Der Kern der Neutralisierungen des modernen Liberalismus ist in der Neutralisierung des moralischen Problems zu suchen. Die Politik erkennt ihr Fundament nicht mehr in der Auseinandersetzung um die Frage »Wie soll ich leben?« Diese Frage wird aus der Öffentlichkeit in den privaten Bereich verwiesen, um den Streit über die Zwecke des menschlichen Lebens stillzustellen. Das ist der Preis, der für den unbedingten Willen zu Verständigung und Frieden zu zahlen ist. Die Preisgabe der politischen Auseinandersetzung um die Zwecke menschlichen Lebens bedeutet die Preisgabe der Menschlichkeit zugunsten einer sekuritätsorientierten Bürgerlichkeit. (Fs) (notabene)

»Verständigung ist aber grundsätzlich immer zu erzielen über die Mittel zu einem schon feststehenden Zweck, während über die Zwecke selbst immer Streit ist: wir streiten miteinander und mit uns selbst immer nur über das Gerechte und das Gute (Piaton, Euthyphron 7 B-D und Phaidros 263 A). Will man daher Verständigung um jeden Preis, so gibt es keinen anderen Weg, als sich der Frage nach dem Richtigen ganz zu entschlagen und sich allein um die Mittel zu kümmern. So wird begreiflich, daß das moderne Europa, nachdem es einmal, um dem Streit über den rechten Glauben zu entgehen, auf die Suche nach einem neutralen Boden als solchem ausgegangen war, schließlich zu dem Glauben an die Technik gelangt ist. [...] Die Verständigung um jeden Preis ist nur möglich als Verständigung auf Kosten des Sinns des menschlichen Lebens; denn sie ist nur möglich, wenn der Mensch darauf verzichtet, die Frage nach dem Richtigen zu stellen; und verzichtet der Mensch auf diese Frage, so verzichtet er darauf, ein Mensch zu sein. Stellt er aber die Frage nach dem Richtigen im Ernst, so entbrennt angesichts >der unentwirrbaren Problematik dieser Frage der Streit, der Streit auf Leben und Tod: im Ernst der Frage nach dem Richtigen hat das Politische - die Freund-Feind-Gruppierung der Menschheit - seinen Rechtsgrund.«

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Epikur, Lukrez ; Religionskritik - Hedonismus; Zweck der Wissenschaft; radikal unpolitisch; Hobbes

Kurzinhalt: Wenn Strauss von »Epikureertum« spricht, dann meint er damit diese spezifische Form des Hedonismus, die nicht auf Lust schlechthin, sondern auf Sicherung der Lust bedacht ist

Textausschnitt: 124a Die klassische Religionskritik ist bei Epikur formuliert. Sie gilt den politischen Göttern, die von einer Stadt per Gesetz im Kult institutionalisiert werden, um ihre Lebensweise, das Regime und die angestammten Bräuche mit heiliger Autorität zu versehen. Insofern besteht ein Unterschied zur späteren Religionskritik vor allem des 17. Jahrhunderts, die durch Einflüsse von Averroes und Machiavelli geprägt wurde. Der Epikurismus unterscheidet sich von diesen beiden Strömungen weiterhin dadurch, daß sie im Namen des theoretischen Lebens und der »virtu« auftraten, während sein Motiv, die Ataraxie oder »Ruhe und Schreckenlosigkeit des Lebens«, »sich ursprünglich durch den Gegensatz zur Religion« bestimmt. Die Religionskritik war, wie Strauss ausführt, das unmittelbare Wollen und Ziel der Philosophie Epikurs, um die Selbstbefreiung des Geistes von Furcht und Unruhe zu erreichen. »Epikur ist wahrlich der Klassiker der Religionskritik: seine ganze Philosophie setzt wie keine andere die Furcht vor übermenschlichen Mächten und vor dem Tod als die das Glück, die Ruhe des Menschen bedrohende Gefahr voraus; ja, diese Philosophie ist kaum etwas anderes als das klassische Mittel, die Furcht vor dem Numen und dem Tod zu beschwichtigen, indem sie sie als >gegenstandslos< erweist.« Klassizität verdient er wegen der Universalität des Grundes, der ihn bestimmt, in dem »ein allgemein-menschliches, das allgemeinste, in allen Wandlungen des menschlichen Bewußtseins sich kaum verändernde Motiv für die Auflehnung gegen die Religion zum Wort« kommt. (Fs)

125A Strauss geht von der Möglichkeit aus, daß die wissenschaftliche Religionskritik nur aus »einem ursprünglichen Interesse des Herzens«, aus einem ursprünglichen Motiv als ihrem Grund verstanden werden könne. Das leitende Interesse ist, laut Strauss' Epikur-Lektüre, die Beseitigung der Furcht vor wirkenden Göttern und vor dem Tod, vor allem wenn dieser unter der Annahme der unsterblichen Seele ewige Strafen und Übel erwarten läßt. Die allgemeine Voraussetzung dieser Position ist eine hedonistische Haltung, die Gleichsetzung des Guten mit dem Angenehmen, in deren Folge die Lust zum alleinigen Maßstab hinsichtlich der Frage nach dem richtigen Leben avanciert. Das Bestreben gilt in erster Linie der Absicherung der Lust vor Störungen durch vergangene oder zukünftige Schmerzen. Wenn Strauss von »Epikureertum« spricht, dann meint er damit diese spezifische Form des Hedonismus, die nicht auf Lust schlechthin, sondern auf Sicherung der Lust bedacht ist. Er möchte darunter auch keine historisch exakt zu fixierende Lehre verstanden wissen, sondern eine allgemein-menschliche Neigung, die bei Epikur ihren klassischen philosophischen Ausdruck gefunden hat. Die Sicherung der Lust verlangt, wie angedeutet, ihren Schutz vor zukünftigen Bedrohungen. Die Erwartung ewiger, unbegrenzter Übel durch strafende Götter macht naturgemäß alle Lust zunichte. Wer wird heute noch leichten Herzens eine Lust genießen können, wenn er schon morgen in ein neues »Leben« übertritt und auf ewig die Rache der Götter zu spüren bekommt? Allein die Furcht vor dem vielleicht Kommenden, komme es oder nicht, macht jede Lust unmöglich. Man kann diesem Dilemma, so scheint es, nur durch die Beseitigung der Götter- und der Todesfurcht mittels der Wissenschaft entgehen. Der Geist kann sich von seiner Furcht selbst befreien, wenn er auf überzeugende Weise die Furchtbarkeit des vermeintlich Furchtbaren leugnet. Das ist Sinn und Zweck der Wissenschaft: »wenn uns nicht die Verdächte bezüglich der Dinge am Himmel und bezüglich des Todes beunruhigten, so bedürften wir keiner Physik«. (Fs) (notabene)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Aufklärung: Religionskritik; philosophische Religionskritik: viele Arten (Epikur, Alfarabi, Spinoza)

Kurzinhalt: ... die Orthodoxie mittels des Spottes aus ihrer Stellung »herauszulachen« ...; Die Aufklärung wandte sich folgerichtig von der theoretischen Auseinandersetzung ab und versuchte die Orthodoxie praktisch zu überwinden

Textausschnitt: 135a Gegenüber der politischen Moderierung der Spannung zwischen Religion und Philosophie versuchte die Aufklärung vor allem in Gestalt der spinozistischen Religionskritik die Offenbarung aufgrund der Schrift zu widerlegen. Der Rekonstruktion dieses Versuchs diente die Religionskritik Spinozas von 1930. Strauss zeigt vor allem, daß der Kampf der Aufklärung gegen die Orthodoxie aus zahlreichen theoretischen Gründen scheitern mußte. Da den radikalen Aufklärern die Unwiderlegbarkeit der Orthodoxie durchaus bewußt war und weil der Geist der positiven Wissenschaft die gemeinsame Grundlage von Weisheit und Offenbarung verlassen hatte, bestand die »Widerlegung« hauptsächlich in dem Versuch, die Orthodoxie mittels des Spottes aus ihrer Stellung »herauszulachen«. Das gespielte Selbstbewußtsein konnte Strauss aber nicht darüber hinwegtäuschen, »daß diese ihr eigentümliche, geschichtlich so wirksame Kritik das Zentrum der Offenbarungs-Religion nicht erreicht, sondern nur Kritik von den Konsequenzen her ist und daher fragwürdig ist«. Die Aufklärung wandte sich folgerichtig von der theoretischen Auseinandersetzung ab und versuchte die Orthodoxie praktisch zu überwinden. Sie wollte zeigen, daß die Welt ohne die Annahme eines unergründlichen Gottes und ohne die Lebensführung durch die Offenbarung völlig verständlich und vollkommen beherrschbar ist. Sie wollte die Orthodoxie durch das Gelingen ihres irdischen Systems widerlegen. Tatsächlich aber war die Kritik der Aufklärung nur defensiv erfolgreich im Beweis der Unerkennbarkeit von Wundern unter den Voraussetzungen der neuen Naturwissenschaft, die damit zum eigentlichen Rechtsgrund der Aufklärung wird. Wie aber kann die Aufklärung ihre defensive Haltung begründen? Verschenkt sie nicht willkürlich eine Dimension, die dem Menschen durch Glauben zugänglich ist? Wendet sie sich gegen die Offenbarung, weil sie die Glaubenswahrheit nicht sehen will oder nicht sehen kann? Ist es überhaupt möglich, bei einer defensiven Kritik stehenzubleiben, wenn die Offenbarung die Weisheit immerfort in Frage stellen wird? Der Dialog zwischen Vernunft und Offenbarung konnte geführt werden und die westliche Kultur tragen, solange er theoretisch blieb. Da beide in ihrer Gutheißung der überkommenen Moral übereinstimmten, konnte auch die Politik eine ruhige Entwicklung nehmen. Keiner der beiden Antagonisten sollte politische Macht für sich beanspruchen und den Dialog auf diese Weise für sich entscheiden wollen. Die Herrschaft sektiererischer religiöser oder philosophischer Autoritäten in der nachklassischen Zeit hat stets zur Tyrannei geführt. Hier liegen die Gefahren, welche die Aufklärung durch die praktische Überwindung der Offenbarung mit sich führt.1 (Fn)


136a Die philosophische Religionskritik zeigt sehr unterschiedliche Facetten, wobei im Kern nur der Platonismus eine Rechtfertigung der Philosophie gegenüber den Ansprüchen von Politik und Religion erreichen kann. Epikur steht für eine Tradition der Religionskritik auf hedonistischer Basis, die sich nicht politisch versteht und folglich die Theologie nur widerlegen möchte, insoweit sie die fundamentalen Beunruhigungen und Befürchtungen des menschlichen Lebens schürt. Die Analyse Spinozas verdeutlicht die theoretischen Schwierigkeiten eines an universale Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft glaubenden Befreiungsversuchs von religiösen Vorurteilen. Die Platoniker des mittelalterlichen jüdischen und islamischen Rationalismus machen dagegen deutlich, wie auch angesichts einer möglichen Insuffizienz der menschlichen Vernunft die Verteidigung des philosophischen Lebens als der humanisierenden Suche nach der Wahrheit aufgebaut werden kann. Die Schwierigkeiten der drei Positionen machen klar, daß das fundamentale Problem des Verhältnisses zwischen Philosophie und Religion ein moralisch-politisches Problem ist und als ein solches behandelt werden muß. Die Notwendigkeit der Philosophie kann gegenüber dem Gehorsamsanspruch der Religion nur aus einer teleologischen Perspektive unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Vollkommenheit vertreten und politisch gesichert werden. Machiavellis Religionskritik beruht demgegenüber auf einer Reduzierung des moralischen Anspruchs im Interesse einer auf Wirkung bedachten, »realistischen« politischen Philosophie, die das Christentum ebenso wie die klassische Philosophie für eine moralische Einengung der menschlichen Möglichkeiten verantwortlich macht und mit beiden in einem Zug bricht. Die einzig angemessene und tragfähige Rechtfertigung des philosophischen Lebens bietet deshalb das sokratisch-platonische Naturrecht. (Fn)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Philosophie: esoterisch - exoterisch; Philosopie - Meinung; Sokrates; Popularisierung der Philosophie

Kurzinhalt: Die Gefährdung des Philosophen durch die Gesellschaft wird an der Person des Sokrates manifest. Die Gefährdung ist also eine wechselseitige.

Textausschnitt: 138a ... So wurde er zum Wiederbegründer der Kunst sorgfältigen Schreibens und Interpretierens gegenüber einer den Intentionen der Philosophen äußerlich bleibenden, philosophiegeschichtlichen Tradition. Die Wiederentdeckung der Technik esoterischen Schreibens wurde für Strauss nicht nur im Hinblick auf die Interpretation bestimmter Texte aus der Geschichte der Philosophie, sondern für seine Konzeption politischer Philosophie insgesamt wichtig. Die Strausssche These lautet zusammengefaßt folgendermaßen: Philosophie oder Wissenschaft ist der Versuch, Meinungen durch Wissen zu ersetzen. Nun ist aber die Meinung diejenige kognitive Ebene, auf der das Selbstverständnis der Gesellschaft und die Orientierung des politischen Lebens angesiedelt sind. Weil die Philosophie ihrer Idee nach kritisch ist, gefährdet sie die Gesellschaft insgesamt durch Auflösung ihrer kognitiven Basis. Letztlich aber ist die Tätigkeit des Philosophen transsozial, weshalb er die Meinungen, auf denen die Gesellschaft, in der er lebt, beruht, in der Regel respektieren wird. Das heißt weder, daß er sie als wahr anerkennen, noch daß er sich ihnen beugen soll. Es bedeutet nur, daß er die philosophischen Thesen, die die Stabilität der Gesellschaft gefährden könnten, in einer Weise darstellt, die keine desintegrierende Wirkung für das intellektuelle Niveau der elementaren Meinungen und Glaubensinhalte zeigt. Philosophen oder Wissenschaftler, die diese Ansicht über das Verhältnis zwischen Philosophie und Gesellschaft teilen, bedienen sich einer besonderen Kunst des Schreibens, die es ihnen ermöglicht, dem sehr eingeschränkten philosophisch begabten Kreis der Öffentlichkeit die Wahrheit mitzuteilen, ohne die uneingeschränkte Verpflichtung der Menge auf die Meinungen, auf denen die Gesellschaft ruht, zu gefährden. Sie unterscheiden mithin zwischen einer esoterischen, verdeckt mitgeteilten wahren Lehre und der gesellschaftlich nützlichen exoterischen Lehre an der Oberfläche eines Textes. Während diese jedermann zugänglich ist, erschließt sich jene nur den sehr sorgfältigen und gut ausgebildeten Lesern nach langem und konzentriertem Studium.1 (Fn)

141A Philosophie kann in diesem Spannungsverhältnis auch den entgegengesetzten Weg gehen und sich durch massenwirksame Aufklärung der gesellschaftlichen Autorität entgegenstellen. Dies scheint die Möglichkeit zu sein, welche die moderne politische Philosophie für sich ins Auge gefaßt hat. Sie gerät dadurch allerdings in eine doppelte Gefahr, einmal in die Gefahr der politischen Verfolgung und andererseits in die Gefahr, sich durch Popularisierung in einer Weise zu veräußern, daß ihr streng auf Wissen ausgerichteter Charakter verwässert wird, weil sich anspruchsvolle Wahrheiten der breiten Öffentlichkeit nicht vermitteln lassen und man sie deshalb auf das weniger gefestigte Niveau der Meinung zurückführen muß. Die Neutralisierung der modernen Philosophie ist für Strauss eine natürliche Folge ihrer Popularisierung seit der Aufklärung. Die Reduzierung der Wertmaßstäbe des politischen Lebens seit Machiavelli ist, so verstanden, eine Konsequenz des Drucks der Gesellschaft, die öffentliche Meinung nicht durch anspruchsvolle Wahrheiten zu belasten. Der Versuch, Philosophie und Politik miteinander zu versöhnen, geht auf Kosten der philosophischen Substanz. Philosophie ist in »Kultur« integriert worden. Die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention wurde durch die Unterscheidung von Natur und Geschichte ersetzt. (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

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Stichwort: Aristophanes (Wolken) - Sokrates; Philosophie - Dichtung; Ursprung: politische Philosophie

Kurzinhalt: Weil die Philosophie nicht in der Lage ist, die Nicht-Philosophen oder das normale Volk zu überreden, ist sie keine politische Macht

Textausschnitt: 170A Aristophanes zeigt den »vorsokratischen« Sokrates, der in seiner Schule Naturwissenschaft und Rhetorik lehrt, der nicht an die Götter seiner Stadt glaubt und sich ansonsten durch einen wundersamen Mangel an Klugheit und Selbsterkenntnis auszeichnet. Dieser Sokrates agiert in einem dramatischen Setting, in dem der Konflikt zwischen hergebrachter Moral und hergebrachter Theologie zum Austrag kommt. Die natürliche Kluft zwischen Familie und Stadt muß in irgendeiner Form überbrückt werden, weil die Familie nicht autark ist und die städtische Gemeinschaft braucht. So gibt es bestimmte konventionelle Regeln wie das Verbot des Inzests, welche die Familie zwingen, im Interesse ihres Fortbestands in die Stadt zu expandieren. Die konventionellen Regeln, welche die Kluft zwischen Familie und Stadt überbrücken helfen, können jedoch nur wirksam funktionieren, wenn sie durch Bezugnahme auf die Götter geweiht werden. Das aber ist wiederum ein Problem für sich. Die Frage ist, was Philosophie und Dichtung zur Lösung dieses Problems, in das sie unmittelbar eingebunden sind, beitragen können. Aristophanes wirft Sokrates vor, als Naturforscher gleichgültig gegenüber Problemen der Gerechtigkeit zu sein. Es sei zwar richtig, daß niemand, der wie Sokrates sein Leben dem Erforschen der Natur widmet, einen Anreiz habe, anderen Schaden zuzufügen. Aber Sokrates übersehe, daß nur wenige zu einem theoretischen Leben fähig wären. Er sei unempfänglich für die verheerende Wirkung, die seine Gleichgültigkeit auf das Leben der Stadt habe, wenn auch die normalen Menschen, die keine Philosophen sind, von Sokrates' Ansicht beeinflußt werden sollten. Sokrates sei sich des Umfeldes nicht bewußt, in dem er seine theoretischen Forschungen betreibt. Deshalb mangele es ihm an Klugheit und Selbsterkenntnis. Er sei aus Unverstand unpolitisch und deshalb gefährdet. Wenn Sokrates in den Wolken verfolgt wird, hat er keine Mittel zur Verteidigung. Naturforschung und Rhetorik verleihen keine politische Macht. Die Dichtung ist im Gegensatz zur Philosophie sehr wohl eine politische Autorität, weil sie mit den ihr eigenen Mitteln die Öffentlichkeit beeinflussen kann. (Fs)

171A Das Szenario, das Aristophanes entwickelt, ist für Strauss deshalb so bedeutend, weil es in der Figur des Sokrates, des Begründers der politischen Philosophie, die Situation unmittelbar vor der Hinwendung der Philosophie zur politischen Sphäre greifbar werden läßt. Es macht den Hintergrund der Begründung der politischen Philosophie plastisch und hebt dabei ein wichtiges inhaltliches Merkmal der politischen Philosophie hervor, die Selbsterkenntnis des Philosophen in seiner politischen Situation. Aristophanes zeigt einen Sokrates, der das Ganze der Natur erforscht und von politischen Dingen nichts versteht. Das Anliegen der Philosophie transzendiert die Polis. Weil die Philosophie nicht in der Lage ist, die Nicht-Philosophen oder das normale Volk zu überreden, ist sie keine politische Macht. »Philosophie kann im Gegensatz zur Dichtung die Menge nicht bezaubern. Weil Philosophie das Menschliche und Ephemere transzendiert, ist sie radikal unpolitisch, und sie ist daher amusisch und unerotisch. Sie kann nicht die gerechten Dinge lehren, während die Dichtung dies kann. Philosophie muß dann um eine Beschäftigung ergänzt werden, welche politisch ist, weil sie musisch und erotisch ist, wenn Philosophie gerecht werden soll. Philosophie mangelt es an Selbsterkenntnis. Dichtung ist Selbsterkenntnis.« Platon hat dieses Problem gesehen und den athenischen Fremden in den Gesetzen eingestehen lassen, daß die menschlichen Dinge eines gewissen Ernstes wert seien. »Die Anerkennung der Tatsache durch die Philosophie, daß die menschliche Rasse eines gewissen Ernstes wert ist, ist der Ursprung der politischen Philosophie oder politischen Wissenschaft. Wenn diese Anerkennung jedoch philosophisch sein soll, muß dies bedeuten, daß die politischen Dinge, die bloß menschlichen Dinge, von entscheidender Wichtigkeit für das Verstehen der Natur als Ganzes sind. Der Philosoph, der dies als erster realisierte, war Sokrates, der Sokrates, der aus dem Sokrates der Wolken hervorgegangen ist.« (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Xenophanes - Sokrates; Mäßigung; Politik - Philosophie wie Enthaltsamkeit - Tugend;

Kurzinhalt: Xenophons sokratische Schriften können als eine Antwort auf die Darstellung des Sokrates bei Aristophanes gelesen werden ...

Textausschnitt: 172a Xenophons sokratische Schriften können als eine Antwort auf die Darstellung des Sokrates bei Aristophanes gelesen werden. Der Sokrates des Xenophon ist das genaue Gegenteil von dem des Aristophanes. Sokrates erscheint bei Xenophon nicht als der bloße Betrachter von Dingen im Himmel und unter der Erde, sondern als der politische Erzieher par excellence. Er verfügt über praktische Weisheit, wie man nur über sie verfügen kann. Das zeigt sich unter anderem in seinen militärischen Fähigkeiten, die Sokrates anders als Kyros, der Gegenpol im Werk Xenophons, nicht ausüben wollte. Die Grundlage seiner Funktion als politischer Erzieher ist die Erkenntnis von der Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen hinsichtlich ihrer Talente und ihrer moralischen Eignung und die Fähigkeit, sie entsprechend unterschiedlich anzusprechen und zu behandeln. Sokrates versteht die Natur der politischen Dinge und hat erkannt, daß sie nicht einfach vernünftig, sondern auch durch Leidenschaften und andere Kräfte bestimmt sind. Sie sind eine Klasse für sich, wie die noetische Heterogenität des Ganzen zeigt. Zwischen dem Gemeingut, der auf die politische Sphäre zugeschnittenen Gerechtigkeit, und dem privaten Gut besteht ein wesentlicher Unterschied, vor allem, wenn das private Leben ein philosophisches Leben ist.
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173a Mäßigung ist das zentrale Merkmal der Weisheit des Sokrates, verstanden als die Anerkennung der noetischen Heterogenität des Ganzen und damit als Anerkennung der wesentlichen Differenz zwischen dem Politischen und dem Nicht-Politischen. Mäßigung führt zu politischer Umsicht und dem spezifisch politischen Verhalten des Philosophen. Mäßigung bedeutet für einen Philosophen in erster Linie, bestimmte Meinungen anzuerkennen, nicht weil sie wahr sind, sondern weil sie heilsam sind für das politische Leben, das die Voraussetzung der philosophischen Existenz ist. Dazu gehören die Meinungen über die gesetzlichen Götter und die Respektierung der öffentlichen Frömmigkeit, auch wenn klar ist, daß der Philosoph als Philosoph eigene, private Ansichten über die Religion hegt. »Das Politische ist tatsächlich nicht das Höchste, aber es ist das Erste, weil es das Dringendste ist. Es verhält sich zur Philosophie, wie sich Enthaltsamkeit zur eigentlichen Tugend verhält. Es ist die Grundlage, die unverzichtbare Bedingung.« (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

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Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Aristophanes, Xenophon, Sokrates; das Politische sui generis; Verhältnis: Politik - Philosophie; Weiheit - Gesetz; Verwässerung der Weisheit durch Zustimmung

Kurzinhalt: Man kann sagen, daß Sokrates' Analyse des Politischen beim Phänomen des Gesetzes beginnt, ...; Es kommt also darauf an, den Status des Politischen gegenüber dem Status der Philosophie zu klären

Textausschnitt: 175A Die Komödie des Aristophanes hat die Unterscheidung zwischen Natur und Gesetz zur Voraussetzung, sie basiert mithin auf Philosophie. Sie versteht es aber anders als diese, aufgrund ihrer musischen und erotischen Begeisterung Einfluß auf die Gesellschaft zu nehmen. Nach ihrem Selbstverständnis ist die Dichtung folglich die Grundlage und der Schlußstein der praktischen Weisheit, innerhalb deren die Philosophie ihren Platz finden kann. Die Dichtung vermag die Philosophie zu schützen und zu vollenden. Dem Anspruch des Aristophanes muß Xenophon widersprechen, wenn er die Unabhängigkeit und die Würde der Philosophie sichern möchte. Das Problem des Sokrates nimmt bei ihm folglich eine andere Gestalt an. Sokrates ist sich der politischen Problematik der Philosophie absolut bewußt, wie sich in der Gegenüberstellung des politischen und des philosophischen Lebens und ihrer Abwägung gegeneinander zeigt. Seine politische Philosophie besteht im wesentlichen in einer Verhältnisbestimmung der beiden Bereiche zueinander. Die philosophische Einsicht von der noetischen Heterogenität des Ganzen führt zunächst zu der Erkenntnis, daß das Politische sui generis ist. Das Politische ist ein eigener Bereich des Seienden und kann als solcher nicht auf etwas Unpolitisches reduziert werden. Das heißt, daß man den Anspruch der Polis auf Gesetzestreue und den Glauben an die Götter, die von der Stadt verehrt werden, anerkennen und respektieren muß. Das heißt aber nicht, daß der Anspruch der Polis darauf, die höchste Autorität zu sein, gerechtfertigt ist. Denn dies würde bedeuten, daß Gerechtigkeit im rechtlichen Sinne der wahren Tugend, der »translegalen« Gerechtigkeit, überlegen wäre. Es würde bedeuten, daß der Anspruch der Philosophie, die wahre Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben geben zu können, nichtig wäre. Es kommt also darauf an, den Status des Politischen gegenüber dem Status der Philosophie zu klären. »Das Urteil über den Status des Politischen wird von dem Ergebnis der Analyse des Politischen abhängen. Man kann sagen, daß Sokrates' Analyse des Politischen beim Phänomen des Gesetzes beginnt, denn Gesetze scheinen das spezifisch politische Phänomen zu sein.« Die Existenz der Polis hängt von der Gesetzestreue ihrer Bürger ab. Gerechtigkeit im Sinne von Gesetzestreue ist somit die politische Tugend schlechthin. Auch scheint die Legitimität politischer Herrschaft an die Existenz von Gesetzen gebunden zu sein. Legitime Herrschaft ist Herrschaft der Gesetze, nicht Herrschaft nach der Willkür einzelner oder der Menge. Die entscheidende Frage aber ist, wie die Gesetze zustande kommen, denn die an die Gesetze gebundenen Herrscher sind ja zugleich Gesetzgeber, und es kommt darauf an, daß sie gute Gesetze machen. Die Unterscheidung von legitimen und nicht-legitimen Regimen verändert sich also zu der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Regimen. Wenn aber die entscheidende Eigenschaft eines guten Gesetzgebers Weisheit ist, dann wird das gute Regime die Herrschaft der Weisen sein. Ein berechtigter Herrschaftsanspruch kann folglich nur auf Wissen gegründet werden. Das Wissen jedoch erhebt den Weisen über das Gesetz. (Fs)

»Der Mann von der höchsten politischen Weisheit ist jedem Gesetz überlegen, nicht nur weil er allein der Ursprung ausgezeichneter Gesetze sein kann, sondern gleichfalls weil er eine Flexibilität hat, die Gesetzen, wie weise sie auch immer sein mögen, notwendigerweise fehlt. Der Mann von der höchsten politischen Weisheit ist ein sehendes Gesetz, wohingegen jedes eigentliche Gesetz in einem gewissen Ausmaß blind ist. Die Gerechtigkeit des wahren Herrschers kann deshalb nicht in Gesetzestreue oder rechtlicher Gerechtigkeit bestehen. Er muß von einer translegalen Gerechtigkeit geleitet sein, von der Gewohnheit, menschlichen Wesen zu nützen, ihnen zu helfen, so gut wie möglich zu werden und so glücklich wie möglich zu leben.«

177a Die politische Kunst überschreitet, wenn sie zur Vollkommenheit gebracht ist, die Gesetze. Sie ist nicht am konventionellen Nomos ausgerichtet, sondern am Naturrecht. Zwar taucht der Begriff des Naturrechts als solcher bei Xenophon nicht auf, durchaus aber der Begriff des ungeschriebenen Gesetzes. Das ungeschriebene Gesetz setzt sich selbst durch, insofern seine Durchbrechung den Gesetzesbrecher ohne jeden menschlichen Eingriff bestraft. Die in der menschlichen Natur angelegte Ordnung ist der Maßstab der höchsten politischen Kunst. Nach der Analyse des Politischen bei Xenophon, die im wesentlichen mit der Analyse Platons übereinstimmt, scheint das politische Problem durch die Herrschaft der Weisen gelöst werden zu können. Andererseits aber zeigt sich erst an diesem Punkt die eigentliche Dimension des politischen Problems. Der Weise kann nur kraft seiner Weisheit herrschen, das heißt, er ist darauf angewiesen, daß die Nicht-Weisen seine Weisheit und den mit ihr verbundenen Herrschaftsanspruch anerkennen. Doch ist dem eine natürliche Grenze gesetzt. Die Überredungskunst des Weisen allein wird nicht ausreichen, seine Herrschaft zu sichern, und Gewaltmittel müssen für das beste Regime ausgeschlossen werden. In der Realität wird der Weise folglich nur indirekt herrschen können, wobei sich zeigt, daß die indirekte Herrschaft wiederum die Herrschaft der Gesetze sein wird, auf deren Zustandekommen der Weise in irgendeiner Form Einfluß nehmen kann. »Mit anderen Worten, die unbegrenzte Herrschaft unverwässerter Weisheit muß durch die Herrschaft einer Weisheit ersetzt werden, die durch Zustimmung verwässert ist.« Um die »Blindheit« der Gesetze auszugleichen, müssen ihre Interpretation und Ausführung von kompetenten Bürgern, vom Staatsmann durchgeführt werden. Die Analyse des Politischen führt mithin zu einem politischen Kompromiß, der deshalb nötig wird, weil das politische Leben in jeder Hinsicht mehr oder weniger unvollkommen ist. Somit kann aus der Analyse des Politischen ein Urteil über den Status des Politischen gewonnen werden. (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

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Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Xenophon, Oeconomicus: Kyros - Sokrates; Weiheit - Zustimmung der Nicht-Weisen; gentleman

Kurzinhalt: Auch in dieser Hinsicht ist der Oeconomicus, der den »perfect gentleman« zum Thema hat, in Xenophons Werk der sokratische Dialog schlechthin ...

Textausschnitt: 178a Das Politische beinhaltet seinem Wesen nach eine Beeinträchtigung der Weisheit durch die Notwendigkeit der Zustimmung der Nicht-Weisen. Der Anspruch des Politischen, die höchste Autorität für die Führung des menschlichen Lebens zu sein, erweist sich somit als unbegründet. Tugend oder die wirkliche Vollkommenheit des Menschen liegt jenseits des Politischen, sie ist transpolitisch. Der Konflikt zwischen dem politischen und dem philosophischen Leben bleibt somit bestehen, auch wenn die Notwendigkeit und die Überlegenheit des philosophischen Lebens als erwiesen angesehen werden. Der Austrag dieses Konfliktes ist das Thema der Philosophie Xenophons. Die beiden Pole seines Werkes, Kyros und Sokrates, sind die Repräsentanten der zwei widerstreitenden Lebensformen. Die Spannung zwischen ihnen zeigt Xenophon am deutlichsten im Oeconomicus, »seiner sokratischen Rede par excellence«. Im Zentrum des Oeconomicus steht die Vorstellung vom »perfect gentleman«. »Perfect gentleman« ist die englische Übersetzung des griechischen »kalos kagathos aner«, was wörtlich soviel wie »schöner und guter Mann« heißt. Im Grunde ist der Ausdruck aber so unübersetzbar wie sein englisches Pendant, so daß dieses beibehalten werden soll. Die Frage nach dem »perfect gentleman« steht für die Art von Fragen, denen sich Sokrates nach seiner Abwendung von der auf sich selbst gestellten Naturphilosophie zugewandt hat, und betrifft die ethischen und politischen Dinge, für die er sich interessierte, sie umfaßt all die ansonsten einzeln zu behandelnden Fragen »Was ist Frömmigkeit?«, »Was ist edel?« und anderes mehr. Auch in dieser Hinsicht ist der Oeconomicus, der den »perfect gentleman« zum Thema hat, in Xenophons Werk der sokratische Dialog schlechthin. Am Oeconomicus zeigt sich, daß Sokrates durch das Beispiel der Praxis des »perfect gentleman« den Ansatz seines Philosophierens bei den menschlichen Dingen kennengelernt hat. Das Ideal des »perfect gentleman« ist das Tugendideal des politischen Lebens; zu ihm gehören Gesundheit, Körperstärke, öffentliches Ansehen, Ehre, Wohlwollen von Seiten der Freunde, ehrenhafte Sicherheit im Krieg sowie ehrenvolles Wachstum des Wohlstands. Das politische Leben zeigt sich hier in enger Verknüpfung mit dem im ökonomischen Sinne privaten Bereich. Entsprechend kann ein »gentleman« auch durchaus in einer aufgeklärten Tyrannis sein Glück finden. So zentral das Thema des »perfect gentleman« für Sokrates ist, so entscheidend ist die Einsicht, daß Sokrates selbst kein »gentleman« ist und keiner sein möchte, es sei denn, man setzt zwei unterschiedliche Begriffe von »gentleman« voraus, wobei einer dem entspricht, was die gewöhnlichen Leute denken, und der andere, sokratische, dem des Weisen. Sokrates ist zuwenig auf seine Reputation bedacht, nimmt sogar den schlechten Ruf in Kauf, den Aristophanes und andere Komödienschreiber ihm angedichtet haben, er steht im Ansehen eines armen Mannes, der sich mit eitlem Geschwätz in der Öffentlichkeit herumtreibt, anstatt sein eigenes Haus zu bestellen. Sokrates verzichtet auf derlei öffentlich angesehene Vorzüge, er verzichtet sogar darauf, im Ansehen der Tugend der Männlichkeit zu stehen, weil er ein Mensch ist und kein »Mann«. (Fs)

179A Der »gentleman« und Sokrates sind Repräsentanten zweier unterschiedlicher Arten von Tugend, der politischen oder vulgären Tugend auf der einen Seite, die dem praktischen oder politischen Leben angemessen ist, und der wirklichen Tugend, die im philosophischen Leben ihren angemessenen Ausdruck findet. Das Hervorstechende der sokratischen Tugend beruht auf ihren geistigen Qualitäten. Sokrates weiß aufgrund eigenen Nachdenkens, was fromm, was unfromm, was hoch und was niedrig ist. Die Tugend des politischen Lebens verlangt eine ehrgeizige Natur, während die Tugend des philosophischen Lebens eine gute Natur voraussetzt. Im gleichen Verhältnis zueinander stehen die Erziehungskonzepte, die beide repräsentieren. Sokrates verfügt über ein besseres Verständnis davon, was Erziehung ist, und davon, welch bedeutende Rolle die Frömmigkeit bei der Erziehung spielt.1 (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Sokrates der platonischen Dialoge; Politeia - Nomoi; Grenzen des Politischen im Transpolitischen - 3 Möglichkeiten: Philosophie, Offenbarung, Liberalismus

Kurzinhalt: Platoniker intendieren die philosophische Wahrheit. »Sokrates« ist mithin eine Art Chiffre...; drei Möglichkeiten, die wesentliche Beschränkung des Politischen zu verstehen...

Textausschnitt: 180a Die dritte wichtige »Quelle« zu Sokrates sind die Dialoge Platons. Sie sind Zeugnisse eminent politischer Philosophie und unterscheiden sich dadurch von den sokratischen Schriften Xenophons, die mitunter auch einen historisch geprägten Zugang zum Problem des Sokrates suchen. Wenn man von Aristophanes', Xenophons oder Platons »Sokrates« spricht, darf man dahinter nur in sehr zurückgenommener Weise den »historischen Sokrates« vermuten. Platoniker intendieren die philosophische Wahrheit. »Sokrates« ist mithin eine Art Chiffre, ein Siegel, das für etwas steht. »Sokrates« bezeichnet »das Problem des Sokrates«, das politische Problem der Philosophie und der Wissenschaft. Die Gegenüberstellung von Aristophanes und Xenophon dient in erster Linie der Konfrontation des »vorsokratischen« mit dem »sokratischen« Sokrates, oder anders gesagt, einer unpolitischen mit einer politischen Präsentation der klassischen Philosophie. Platons Dialoge gehen darüber hinaus. Insbesondere seine Schrift über den Staat, die Politeia, ist eine philosophische »Exposition der ratio rerum civilium, des wesentlichen Charakters der politischen Dinge, wie Cicero weise gesagt hat«. Die Politeia ist nach Strauss mithin das gerade nicht, wofür sie lehrbuchhaft gehalten wird, nämlich der Entwurf eines idealen Staates. Einen Entwurf des besten Staates liefert nach Strauss demgegenüber die Schrift über die Gesetze, die Nomoi, einen Entwurf jedenfalls des bestmöglichen Staates für Menschen. Insofern sind die Nomoi das politischste Werk Platons, während die Politeia das Hauptwerk der politischen Philosophie ist. Was bedeutet es, wenn man die Politeia als »Exposition der ratio rerum civilium« bezeichnet und nicht als einen Idealstaatsentwurf? Strauss zufolge geht es Platon darum, die wesentliche Beschränkung des Politischen aufzuzeigen. Die Grenzen des Politischen liegen im Transpolitischen, in demjenigen, was das Politische zur Voraussetzung hat und zugleich im Hinblick auf die Frage nach dem richtigen Leben überschreitet. Strauss sieht drei Möglichkeiten, die wesentliche Beschränkung des Politischen zu verstehen, gemäß der klassischen politischen Philosophie, gemäß der offenbarten Religion und gemäß der modernen politischen Philosophie oder des Liberalismus. (Fs) (notabene)

»Nach Sokrates ist das Transpolitische, dem das Politische seine Würde verdankt, Philosophie oder theoria, welche jedoch nur dem zugänglich ist, was er gute Naturen nennt, menschlichen Wesen, die eine bestimmte natürliche Ausstattung besitzen. Nach der Lehre der Offenbarung ist das Transpolitische durch Glauben zugänglich, welcher nicht von spezifischen natürlichen Voraussetzungen abhängt, sondern von göttlicher Gnade oder Gottes freier Wahl. Nach dem Liberalismus besteht das Transpolitische in etwas, welches jedes menschliche Wesen so gut wie jedes andere menschliche Wesen besitzt. Der klassische Ausdruck liberalen Denkens ist die Ansicht, daß die politische Gesellschaft vor allem zum Schutz der Rechte des Menschen besteht, der Rechte, welche jedes menschliche Wesen ohne Rücksicht auf seine natürlichen Gaben wie auf seine Leistung besitzt, um von göttlicher Gnade gar nicht zu reden.«

181a Diese scheinbar beiläufig eingestreute Bemerkung verdient eine besondere Aufmerksamkeit. Sie formuliert nicht drei gleichwertige Möglichkeiten, das Transpolitische aufzufassen, sondern drei unterschiedliche Positionen beziehungsweise Negationen des Politischen selbst in Verbindung mit drei Auffassungen von der menschlichen Natur. Dabei vermag der politische Liberalismus oder die moderne politische Philosophie das Politische nur als eine Funktion des Subpolitischen zu verstehen, insofern das Konstrukt der politischen Gesellschaft in erster Linie die Aufgäbe hat, die vorpolitische Gleichheit der Menschen im Hinblick auf ihre »natürlichen« (Uberlebens-)Ansprüche durchzusetzen und zu sichern. Das Politische ist hier insofern sekundär, als es nur in einem instrumentellen Sinne, als »vernünftige« Konsequenz eines polemisch konstruierten Naturzustandes entwickelt wird. (Fs)


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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Polis - Philosophie; Freundschaft: Sokrates - Thrasymachos

Kurzinhalt: Thrasymachos: In ihm verbindet sich das Höhere mit dem Niederen, er ist das Band zwischen dem Philosophen und der Menge

Textausschnitt: 184A Und so macht Strauss auf eine Merkwürdigkeit in der Politeia aufmerksam, auf die vor ihm nur Alfarabi hingewiesen hat, daß nämlich Thrasymachos, Redner und Gegner der Sokratischen Position im Eröffnungsgespräch über die Gerechtigkeit, mit Sokrates Freundschaft schließt und in den »Idealstaat« integriert wird, weil »der Weg des Sokrates, der nur für den Umgang des Philosophen mit der Elite angemessen ist, mit dem Weg des Thrasymachos kombiniert werden muß, der angemessen ist für den Umgang des Philosophen mit der Menge«. Der ambivalenten Position des Thrasymachos entspricht die zentrale Stellung des mittleren Seelenteils, des Mutes (thymos), in der Politeia. Der »thymos« ist eine Art Energie, die nicht von sich aus auf ein letztes Ziel gerichtet ist, sondern sich mit unterschiedlichen Kräften verbinden kann. Er kann die Sache der Polis ebenso zu der seinen machen wie die Sache des Geistes. In ihm verbindet sich das Höhere mit dem Niederen, er ist das Band zwischen dem Philosophen und der Menge. Die ambivalente Haltung der Politeia gegenüber Thrasymachos zeigt, daß sie sich auf der Handlungsebene, die für die Interpretation Platonischer Dialoge entscheidend ist, um die Stärken und Schwächen der Rhetorik dreht und letztlich die Einsicht in die wesentliche Begrenzung der Vernunft und der Rede im allgemeinen und damit in die Natur der politischen Dinge formuliert. Gerechtigkeit ist in letzter Konsequenz nur demjenigen möglich, der seine Vernunft in richtiger Weise kultiviert hat, also dem philosophischen Individuum, unabhängig von der Beschaffenheit der Polis, in der es lebt. Umgekehrt wird auch die Qualität einer politischen Gemeinschaft nichts daran ändern, daß gewöhnliche Menschen nicht schlechthin gerecht sein können. »Das gerechte Leben zu führen bedeutet, ein zurückgezogenes Leben zu führen, das zurückgezogene Leben par excellence, das Leben des Philosophen.« Für das Verständnis des Politischen ist die Einsicht wesentlich, daß politische Dinge sich immer unterhalb der Vollkommenheit bewegen, deren das Individuum fähig ist. Platon diskutiert alle philosophischen Probleme im Hinblick auf die fundamentale Sokratische Frage »Was ist die richtige Lebensweise?« Dabei erweist sich das philosophische Leben als die schlechthin richtige Lebensweise. »Schließlich definiert Platon das Naturrecht unter direkter Bezugnahme auf die Tatsache, daß das einzige einfach gerechte Leben das Leben des Philosophen ist.«1 (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

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Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Sokrates, politische Philosophie: Problem der Grenze; Dichtung - Philosophie;

Kurzinhalt: Platon verlangt nicht nur, daß die Dichtung eine »Hilfskunst« sein müsse, sondern er wählt für die Darstellung seiner Philosophie ebenfalls ein nicht-autonomes Hilfsmittel aus dem künstlerischen Bereich ...

Textausschnitt: 185a Das Problem des Ursprungs und der Grenzen der Rationalität ist in gewisser Weise das Problem des Sokrates oder das Problem der klassischen politischen Philosophie überhaupt. Das Problem, das die klassische politische Philosophie lösen wollte, das Hindernis, das sie überwinden wollte, findet sich in der Darstellung des Sokrates durch Aristophanes in einer Kritik an der Philosophie aus politischer Perspektive, die darauf abzielt, die Unabhängigkeit des philosophischen Denkens gegenüber seiner Integration in die autonome Dichtung einzuschränken. Es ist deshalb auch keine alternative politische Philosophie, es ist die autonome Dichtung, mit der sich die klassische Philosophie als ihrem Gegenmodell auseinanderzusetzen hat. Daraus ergibt sich das schwierige Verhältnis zwischen Dichtung und Philosophie, insofern die Philosophie einerseits auf die Dichtung als »Hilfskunst« angewiesen ist, die zwischen ihr und der politischen Sphäre dank »edler Täuschungen« vermitteln kann, sie aber andererseits den Anspruch der autonomen Dichtung, Gerechtigkeit zu lehren und so das politische Problem zu lösen, zurückweisen muß. Die Übereinstimmung zwischen Philosophie und Dichtung geht in dieser Situation denkbar weit. Das Thema der Dichtung ist die menschliche Seele, und sie verfügt über ein Wissen von der Seele, so daß Strauss sie als »psychologia kai psychagogia« bezeichnet, als Verständnis von der Seele und als Seelenführung. Genau das aber ist auch die Platonische Philosophie. »Der Kern oder die arche, das begründende Prinzip der Platonischen Philosophie ist die Lehre von der Seele, und dieser Kern oder diese arche ist identisch mit dem Thema der Dichtung.« Eine noch weiter gehende Übereinstimmung zeigt sich in der Darstellung der Platonischen Philosophie im Dialog, einer Art Drama oder Dichtung. Platon verlangt nicht nur, daß die Dichtung eine »Hilfskunst« sein müsse, sondern er wählt für die Darstellung seiner Philosophie ebenfalls ein nicht-autonomes Hilfsmittel aus dem künstlerischen Bereich, wobei beides dem Verständnis der menschlichen Seele dienen soll. Die Präsentation der Platonischen Philosophie soll wie die Dichtung das ganze Sein berühren, weil sie tatsächlich als die Lösung des menschlichen Problems, des Problems der Glückseligkeit, und daher nicht als Lehre, sondern als Lebensweise angenommen werden will. Die einzige noch mögliche Unterscheidung ist die, daß die Dichtung andere, unterlegene Lebensweisen repräsentiert und die Philosophie als Lösung des menschlichen Problems ausschließt. Insoweit aber nach Platon und Aristoteles das menschliche Problem nicht mit politischen Mitteln lösbar ist, sondern nur durch die Philosophie und die philosophische Lebensweise, ist die Dichtung der Philosophie unterlegen.1 (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Naturrecht, Natur; Odysseus; klassische Naturbegriff: zwei Dimensionen; Lehre vom besten Regime; exoterisch - esoterisch; Cicero

Kurzinhalt: moderne Philosophie als »Revolution gegen die Natur«; Doppelgesichtigkeit der klassischen politischen Philosophie: exoterische und eine esoterische

Textausschnitt: 188a Was versteht man unter »Natur« in der Rede vom »klassischen Naturrecht«? »Natur« ist von Anbeginn das Thema der Philosophie. Bei Homer kommt der entsprechende griechische Ausdruck »physis« nur einmal vor. Odysseus erzählt, Hermeias habe eine heilsame Pflanze dem Boden entrissen und ihre »Natur« erklärt, was dadurch geschah, daß er ihr Aussehen, ihr »Verhalten« oder ihre »Lebensweise« und das Verhalten von Menschen und Göttern ihr gegenüber beschrieb. Im ursprünglichen Sinne bezeichnet »Natur« das Aussehen und Wirken einer Klasse von Dingen, die weder von Göttern noch von den Menschen gemacht sind. Daneben gibt es aber auch Dinge, von denen man sagt, sie seien »von Natur«, weil sie als erste Dinge nicht entstanden sind, sondern alle anderen Dinge durch sie entstehen. Der klassische Naturbegriff hat in der Hauptsache zwei Dimensionen der Bedeutung, erstens die »Lebensweise« oder »der wesentliche Charakterzug eines Dinges oder einer Gruppe von Dingen« und zweitens die »ersten Dinge«. Die ersten Dinge sind immer und unvergänglich, unabänderlich und von erkennbarer Notwendigkeit. Sie beruhen nicht auf Konventionen und haben als letzte Ursache der anderen Dinge eine höhere Würde als diese. Sie konstituieren die Ordnung, in der das Nicht-immer-Seiende seinen Ort findet. Die Kenntnis der verschiedenen »Naturen« beinhaltet die Erkenntnis von ihrer Begrenztheit. »Natur« ist primär ein Ausdruck der Unterscheidung. Im ursprünglichen Sinn ist nicht so etwas gemeint wie »die große Mutter Natur«, welche die Totalität aller Erscheinungen umfaßt. Gemeint sind die einzelnen Dinge oder Klassen von Dingen, die als Teile des Ganzen verschieden sind. In Verbindung mit der Vorstellung von ersten Dingen tritt neben die unterscheidende Funktion des Naturbegriffs seine zweite Funktion, Maßstab zu sein. Erste Dinge haben Vorrang vor anderen. Folglich hat auch eine Lebensweise, die auf erste Dinge ausgerichtet ist, Vorrang vor anderen Lebensweisen. Natur wird zum Maßstab für die richtige Lebensweise und zugleich zur Voraussetzung von Werturteilen. Wenn Leo Strauss die moderne Philosophie als »Revolution gegen die Natur« kennzeichnet, dann ist damit nicht nur der Herrschaftsanspruch der modernen Wissenschaft über die Natur im Sinne der natürlichen Umwelt gemeint, sondern der Generalangriff der Moderne auf die basale Selbsterkenntnis, daß die rechte Lebensweise natürliche Beschränkungen einschließt und ein unlösbares politisches Dilemma umfaßt. Die Revolution gegen die Natur ist aber auch eine Revolution gegen die Philosophie, die in dem politischen Dilemma, in dem der Mensch steht, »Natur« entdeckt und auf diese Weise den Philosophen von den Autoritäten befreit. Das ist ja der Hauptpunkt der Kritik an Hobbes, daß er »auf Treu und Glauben« die Ansicht, politische Philosophie sei möglich und notwendig, akzeptierte, sie also nicht prüfte. Hätte er sie geprüft, hätte er womöglich erkannt, daß sein politischer Hedonismus und seine theoretische Konstruktion ihm die Grundlage, auf der er zu stehen vermeinte, unter den Füßen wegzogen. Die Revolution gegen die Philosophie ist ein Angriff auf das philosophische Leben als die natürliche und rechte Lebensweise. Der Kreis schließt sich.1 (Fs)
189a Für die Naturrechtsinterpretation von Leo Strauss ist die klassische Einsicht von entscheidender Bedeutung, daß sich die Naturrechtslehre mit der Lehre vom besten Regime überschneidet und einen wesentlich politischen Charakter hat. Es war vor allem der Einfluß der Offenbarungsreligion, der diesen Charakterzug verwischt hat. Der politische Grundzug des klassischen Naturrechts muß immer in dem Zusammenhang verstanden werden, daß für die klassische Philosophie das politische Leben von wesentlich geringerer Würde war als das philosophische Leben. Dies führt zu der zentralen Schwierigkeit. »Wenn das letzte Ziel des Menschen transpolitisch ist, dann würde das Naturrecht eine transpolitische Wurzel zu haben scheinen.« Der politische Charakter des Naturrechts verbietet offenbar die Annahme einer transpolitischen Wurzel. Und deshalb weist Strauss darauf hin, daß die Natur des Menschen und die Vollendung seiner Natur, also die Tugend, nach klassischer Ansicht zwei ganz verschiedene Dinge sind, weshalb die Naturrechtslehre ihren Ansatzpunkt nicht einseitig in der Erforschung der menschlichen Natur suchen darf. Als politische Lehre im engeren Sinn muß sie ihren dialektischen Ausgangspunkt in den Meinungen über das Gerechte suchen. Damit zeigt die bei Strauss offengelegte klassische Naturrechtslehre die typische Doppelgesichtigkeit der klassischen politischen Philosophie. Es gibt eine exoterische und eine esoterische Version. Die exoterische, für die politische Öffentlichkeit anwendbare Version findet vor allem in der sogenannten stoischen Naturrechtslehre Ausdruck. Das erklärt, weshalb Strauss die »sokratisch-platonisch-stoische Naturrechtslehre« zusammenfassen kann und damit eine Beziehung herstellt, die niemand vor ihm gesehen hat. (Fs)

189a Für die Naturrechtsinterpretation von Leo Strauss ist die klassische Einsicht von entscheidender Bedeutung, daß sich die Naturrechtslehre mit der Lehre vom besten Regime überschneidet und einen wesentlich politischen Charakter hat. Es war vor allem der Einfluß der Offenbarungsreligion, der diesen Charakterzug verwischt hat. Der politische Grundzug des klassischen Naturrechts muß immer in dem Zusammenhang verstanden werden, daß für die klassische Philosophie das politische Leben von wesentlich geringerer Würde war als das philosophische Leben. Dies führt zu der zentralen Schwierigkeit. »Wenn das letzte Ziel des Menschen transpolitisch ist, dann würde das Naturrecht eine transpolitische Wurzel zu haben scheinen.« Der politische Charakter des Naturrechts verbietet offenbar die Annahme einer transpolitischen Wurzel. Und deshalb weist Strauss darauf hin, daß die Natur des Menschen und die Vollendung seiner Natur, also die Tugend, nach klassischer Ansicht zwei ganz verschiedene Dinge sind, weshalb die Naturrechtslehre ihren Ansatzpunkt nicht einseitig in der Erforschung der menschlichen Natur suchen darf. Als politische Lehre im engeren Sinn muß sie ihren dialektischen Ausgangspunkt in den Meinungen über das Gerechte suchen. Damit zeigt die bei Strauss offengelegte klassische Naturrechtslehre die typische Doppelgesichtigkeit der klassischen politischen Philosophie. Es gibt eine exoterische und eine esoterische Version. Die exoterische, für die politische Öffentlichkeit anwendbare Version findet vor allem in der sogenannten stoischen Naturrechtslehre Ausdruck. Das erklärt, weshalb Strauss die »sokratisch-platonisch-stoische Naturrechtslehre« zusammenfassen kann und damit eine Beziehung herstellt, die niemand vor ihm gesehen hat. (Fs)

190A Cicero überliefert das stoische Naturrecht und wurde von der modernen, historischen Interpretation als dessen Anhänger apostrophiert, was Strauss für irreführend hält. Es ist irreführend schon deshalb, weil Cicero ausdrücklich auf den esoterischen Charakter seiner Dialoge hinweist. Parallel zur esoterisch-exoterischen Doppelgestalt des klassischen Naturrechts verlaufen weitere Ambiguitäten. Der Sokratische Ansatz der Philosophie richtet sich auf die Untersuchung der Naturen der Dinge, dessen, was jedes einzelne im Unterschied zu jedem anderen ist. Seine Philosophie ist nach Strauss deshalb nicht im Ansatz metaphysisch, denn das hieße, das Augenmerk unmittelbar auf das Wissen vom Ganzen zu richten. Sokrates betrachte die Menschen zunächst in ihrem Verhältnis zu der Klasse von Dingen, der sie angehören, mit anderen Worten, im Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft. Der einzelne Mensch ist demnach in einer doppelten Weise Teil eines Ganzen, einmal als Angehöriger seiner Art als ganzer und einmal als Teil des Ganzen schlechthin. Die Frage ist, inwieweit der einzelne nicht nur indirekt über seine Artzugehörigkeit, sondern unmittelbar für das Ganze offen ist. Das Naturrecht als politische Lehre geht von den verschiedenen Meinungen über die Gerechtigkeit aus und klärt sie in der dialektischen Auseinandersetzung. Schon zu Beginn des Kapitels über das klassische Naturrecht hat Strauss auf den Common sense als den notwendigen Ansatzpunkt der politischen Philosophie des Sokrates und der Sokratischen Dialektik hingewiesen, wie auch allgemein die Meinung das Element der politischen Sphäre ist. Klassisches Naturrecht scheint auf dieser Ebene damit gerade das nicht zu sein, was man denen, die sich in der neueren Politischen Wissenschaft mit der Naturrechtslehre befaßt haben, vorhält, nämlich »ontologisch-normativ«. Es ist politisch und erfährt dementsprechend eine politische Behandlung. Konsequenterweise geht Strauss in der Beschreibung der sokratisch-platonisch-stoischen Naturrechtslehre in genau der verlangten Weise dialektisch vor, indem er den Widerspruch zwischen den beiden am weitesten verbreiteten Meinungen über die Gerechtigkeit in einen grundsätzlichen Selbstwiderspruch der Naturrechtslehre vorantreibt. Die dialektische Überlegung führt zunächst zu der bekannten Konsequenz, daß die Weisen die absolute Aufsicht führen müssen. Damit ist bereits auf eine Vorstellung von Gerechtigkeit verwiesen, welche die Autorität des Gesetzes transzendiert. Ist aber der verbindliche Rahmen des Gesetzes erst einmal gebrochen, dann führt die dialektische Fortentwicklung des Gedankens unmittelbar zu einer kommunistischen Universalgesellschaft vollkommener Menschen. (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Polis - Universalgesellschaft, Weltstaat - Kosmos von Gott regiert; Naturrechtslehre (Durchgangsstadium) -> Gerechtigkeit; esoterisch - exoterisch

Kurzinhalt: Die konsistent gerechte Gesellschaft ist deshalb gezwungen, sich in einen Weltstaat zu verwandeln ... in Wahrheit der von Gott regierte Kosmos; »It is to understand Socrates«

Textausschnitt: 192a Die Umwandlung der Polis in eine Universalgesellschaft wird notwendig aufgrund eines Selbstwiderspruchs der politischen Tugend oder der bürgerlichen Moral. In der gerechten Gesellschaft kann allein das Prinzip des Verdienstes die gesellschaftliche Hierarchie bestimmen. Solange aber die bürgerliche Gesellschaft national geschlossen ist, durchkreuzt etwa das Abstammungsprinzip das Verdienstprinzip. Zudem macht die nationale Geschlossenheit der bürgerlichen Gesellschaft die Freund-Feind-Unterscheidung notwendig, die unmittelbar in den SeLbstwiderspruch der bürgerlichen Moral führt. Was die politische Gesellschaft nach innen als untugendhaft verwirft, muß sie unter den Bedingungen des Krieges nach außen zumindest teilweise als nützlich gutheißen. Die konsistent gerechte Gesellschaft ist deshalb gezwungen, sich in einen Weltstaat zu verwandeln. Dies wiederum kann transpolitische theologische Folgen haben. »Aber kein Mensch und auch keine Gruppe von Menschen kann die ganze Menschheit gerecht regieren. Daher ist das, was man ahnt, wenn man von >Weltstaat< als einer allumfassenden menschlichen Gesellschaft spricht, die einer einzigen menschlichen Regierung unterworfen ist, in Wahrheit der von Gott regierte Kosmos. Dieser ist dann die einzig wahre Polis oder ganz einfach die naturgemäße Polis, weil sie die einzige schlechthin gerechte Polis ist. Die Menschen sind nur dann ihre Bürger oder freie Menschen in ihr, wenn sie weise sind. Ihr Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das diese natürliche Polis ordnet, dem Naturgesetz, ist dasselbe wie Klugheit.« Das ist eine erstaunliche Konsequenz für einen Gedankengang, der so exakt wie möglich den Charakter der sokratisch-platonisch-stoischen Naturrechtslehre beschreiben möchte. Strauss schließt diesen Abschnitt mit einer Fußnote ab, der ausführlichsten im ganzen Buch. Darin heißt es: »Viele Interpreten Platons beachten nicht in genügendem Maße die Möglichkeit, daß das Anliegen seines Sokrates ebenso sehr im Verstehen dessen, was Gerechtigkeit ist, d.h. im Verstehen der ganzen Verwickeltheit des Gerechtigkeitsproblems, wie im Lehren [preaching] der Gerechtigkeit bestand.« (Fs)

193A Diese Bemerkung verdient die höchste Aufmerksamkeit, wenn die Absicht der ganzen Schrift Natural Right and History in dem Hinweis »It is to understand Socrates« angedeutet ist, der sich aus den in Kapitälchen gesetzten Eröffnungsformulierungen der »Introduction« und der beiden Kapitel über »The Origin of the Idea of Natural Right« und über »Classical Natural Right« ergibt. In der einzigen vorliegenden deutschen Übersetzung ist dieser Hinweis leider verlorengegangen. Geht es Strauss selbst mithin weniger um das Predigen einer Naturrechtslehre als um das Verstehen des ganzen, verwickelten Naturrechtsproblems bis hin zur Verwerfung der politischen Philosophie durch Heidegger? Die klassische Naturrechtslehre ist politisch, sie ist keine juristische, rein philosophische oder ethische Doktrin. Als politische Lehre umfaßt sie die Untersuchung des Gerechtigkeitsproblems auf der Ebene der bürgerlichen Moral, die aufgrund ihrer inneren Widersprüche über sich selbst hinausweist. Die Argumentation in dem hier zur Debatte stehenden Abschnitt endet in dem Schluß, »daß man sagt, es kann keine wahre Gerechtigkeit geben, wenn es keine göttliche Herrschaft oder Vorsehung gibt«. Das politische Problem der Naturrechtslehre, das darin gipfelt, daß es keine politische Lösung für das fundamentale Dilemma gibt, verbindet sich hier mit der Frage der Religion, es verdichtet sich zu dem theologisch-politischen Problem, von dem Strauss sagte, es sei seit seinen Spinoza-Studien das Thema seiner Untersuchungen geblieben. Es ist in erster Linie ein Problem für die Philosophie und das philosophische Leben. In dem folgenden Abschnitt wendet sich Strauss konsequenterweise der philosophischen Alternative zu. Die Naturrechtslehre ist nur ein Stadium auf dem Weg, die Gerechtigkeit zu verstehen. Die Lösung transzendiert die Sphäre des politischen Lebens. Neben der theologischen Lösung, die auf einen religiös verordneten Gesetzesgehorsam hinausläuft, gibt es noch andere Gründe, die politische Sphäre zu transzendieren, die Strauss hier freilich nur »andeutet«. Diese Gründe sind in den Erfordernissen des philosophischen Lebens als des wahrhaft natürlichen Lebens zu suchen. Das philosophische Leben aber stellt die bürgerliche Moral radikal in Frage. Es eröffnet eine ganz andere Dimension von Gerechtigkeit, Tugend und Moral, die einer anderen Wurzel als der vulgären bürgerlichen Moral entspringt. Die Wahrheit des philosophischen Lebens und der es tragenden noetischen Tugend, das mit ihm verbundene von Natur aus Rechte steht zum politischen Naturrecht in einem revolutionären Gegensatz. Das politische Naturrecht beruht auf einem niedrigeren Prinzip, es ist eine exoterische, abgeschwächte Version. »Das Naturrecht würde Dynamit für die bürgerliche Gesellschaft sein.« Diese Aussage beschreibt prägnant das Verhältnis zwischen Philosophie und Politik und sowohl die politische Gefährdung als auch die politische Verantwortung der Philosophie. In der Konsequenz führt dies zu einem Kompromiß zwischen natürlichem und konventionellem Recht, zwischen den Erfordernissen der Weisheit und der Zustimmung. Das politisch Gute besteht in einer zumindest nach außen hin akzeptierten radikalen Reduktion des Anspruchs der Philosophie, einer Reduktion, die »eine ungeheure Menge Übels entfernt, ohne eine ungeheure Menge von Vorurteilen zu erschüttern«.1 (Fs) (notabene)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Naturrecht: Konvention - Natur (immer gültig); physei dikaion - nomos tes physeos; Maßstab: Zweckhierarchie

Kurzinhalt: Es gibt eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, es gibt aber keine universal gültigen Regeln für die Handlungen

Textausschnitt: Auszug s. unten 196A:

»Es gibt eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, es gibt aber keine universal gültigen Regeln für die Handlungen.« Die Handlungsorientierung erfolgt durch ein Inbeziehungsetzen der verschiedenen konkurrierenden Zwecke in einer Entscheidungssituation. Dabei ist keinesfalls allein der Rang der Zwecke für die Entscheidung maßgeblich, es muß auch die Dringlichkeit der Zweckerfüllung in einer gegebenen Situation berücksichtigt werden. Unter Umständen ist das Dringende dem Ranghöheren vorzuziehen. Allerdings gibt es auch keine universale Handlungsregel, die vorschreibt, der Dringlichkeit eines Zweckes unbedingten Vorrang einzuräumen. Der einzig universell gültige Maßstab ist die Zweckhierarchie. Deshalb ist es »unsere Pflicht, die höchste Aktivität, sosehr wir können, zu unserer dringendsten oder notwendigsten Sache zu machen«. Von Natur aus sind wir gehalten, unsere höchste Möglichkeit als unsere dringendste anzuerkennen.

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194a Nach der Entdeckung der Unterscheidung von Natur und Konvention mußte sich die Frage nach der Reichweite des Natürlichen im Bereich des Politischen stellen. Die Grundlage des Naturrechts im engeren Sinne bildet die natürliche Sozialitat des Menschen, die vor allem in seiner Vernunft- und Sprachbefähigung zur Geltung kommt. Aber auch im vorvernünftigen Bereich zeigt sich die uranfängliche Geneigtheit des Menschen zu seinesgleichen, in Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Mitleid. Derartige Emotionen interpretiert die klassische Philosophie nicht als genetisch und evolutionär bedingte Instrumente zur Steigerung des eigenen Nutzens, sondern als Folge der ursprünglichen Angewiesenheit der Menschen auf das Miteinander. Geht man von der Geselligkeit als einem Prinzip des menschlichen Lebens aus, dann ist auch die Gemeinschaftstugend schlechthin, die Gerechtigkeit, dem Menschen natürlich. Die richtige Ordnung der Seele, also Gerechtigkeit, bringt es mit sich, daß sich der einzelne gut in die Gemeinschaft einfügt und das Gemeinwohl fördert. Die Natürlichkeit von Gerechtigkeit und Recht impliziert zugleich eine Begrenzung der natürlichen Freiheit. Nicht alles, was möglich ist, ist erlaubt. Jeder Mensch hat davon in irgendeiner Weise eine Ahnung, die sich in seinem »natürlichen Gewissen« ausdrückt. »Zurückhaltung ist daher genauso natürlich oder uranfänglich wie Freiheit.« Die primäre Frage ist, ob es ein von Natur aus Rechtes, ein Naturrecht, gibt. Dieser Frage geht die Annahme voraus, wonach Dinge wie Gesundheit oder Intelligenz für den Menschen von Natur aus gut sind. Wer würde das bestreiten wollen? »Die genaue Streitfrage betraf deshalb den Status jenes Rechts, welches universell anerkannt ist: ist jenes Recht bloß die Bedingung für das Zusammenleben einer besonderen Gesellschaft, das heißt einer Gesellschaft, die auf Vertrag oder Übereinkunft beruht, wobei jenes Recht seine Gültigkeit von dem vorhergehenden Vertrag ableitet, oder gibt es da eine Gerechtigkeit zwischen Menschen als Menschen, die von keinerlei menschlicher Verabredung her stammt? Mit anderen Worten, basiert Gerechtigkeit nur auf der Berechnung von dem Vorteil des Zusammenlebens, oder ist sie um ihrer selbst willen wählenswert und deshalb >von Natur
196A Das klassische Naturrecht darf nach Strauss nur eingeschränkt legalistisch verstanden werden. Die Einsicht in das Naturrecht ist nicht mit der Erkenntnis von universal gültigen Handlungsregeln verbunden. Es formuliert keine gesetzlichen Normen, die bestimmte Handlungen verbieten und andere vorschreiben. Das Naturrecht bezieht sich auf die Ordnung des Ganzen. »Es gibt eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, es gibt aber keine universal gültigen Regeln für die Handlungen.« Die Handlungsorientierung erfolgt durch ein Inbeziehungsetzen der verschiedenen konkurrierenden Zwecke in einer Entscheidungssituation. Dabei ist keinesfalls allein der Rang der Zwecke für die Entscheidung maßgeblich, es muß auch die Dringlichkeit der Zweckerfüllung in einer gegebenen Situation berücksichtigt werden. Unter Umständen ist das Dringende dem Ranghöheren vorzuziehen. Allerdings gibt es auch keine universale Handlungsregel, die vorschreibt, der Dringlichkeit eines Zweckes unbedingten Vorrang einzuräumen. Der einzig universell gültige Maßstab ist die Zweckhierarchie. Deshalb ist es »unsere Pflicht, die höchste Aktivität, sosehr wir können, zu unserer dringendsten oder notwendigsten Sache zu machen«. Von Natur aus sind wir gehalten, unsere höchste Möglichkeit als unsere dringendste anzuerkennen. Nur sind die individuellen Bedingungen sehr unterschiedlich, die es dem einzelnen erlauben, sich auf seine höchste Menschlichkeit hin zu konzentrieren und anzustrengen. Deshalb kann die Dringlichkeit nicht eo ipso immer auf der Waagschale unserer höchsten Möglichkeit lasten. Die universale Hierarchie der Zwecke reicht als Maßstab aus, Werturteile über Erscheinungen innerhalb der menschlichen Sphäre zu fällen, sie reicht aber nicht aus, unsere Handlungen umfassend anzuleiten. Die klassische politische Philosophie macht dies klar, indem sie der Naturrechtslehre die Form einer Strukturerkenntnis über das beste Regime gibt. Eine so konzipierte, in bezug auf die politische Steuerung äußerst zurückhaltende »Lehre« bedarf zur Bewältigung des politischen Geschehens der Ergänzung durch die Kunst des Staatsmannes.1 (Fs) (notabene)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Platon: Naturrecht = Gerechtigkeit; politeia (das beste Regime) - Verfassung; gentleman

Kurzinhalt: ... Erfüllung der natürlichen menschlichen Neigungen in höchstmöglichem Grade und in angemessener Reihenfolge;

Textausschnitt: 197a Platon argumentiert aus dem Gegensatz zum Konventionalismus heraus für das Naturrecht. Nach der Interpretation von Strauss ist das Naturrecht auf der einen Seite mit der »Idee« der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit selbst, zu identifizieren. Gerechtigkeit ist dann gegeben, wenn jeder die ihm obliegenden Aufgaben sachgerecht erfüllt. Das gilt im Kleinen für die einzelnen Teile der menschlichen Seele und im Ganzen für das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft. Im Gegensatz zur konventionalistisch-hedonistischen These ist für das klassische Naturrecht das Gute nicht mit dem Angenehmen identisch. Der Ausgang der Überlegung beruht auf der Beobachtung, daß der Lust Bedürfnisse vorausgehen und die verschiedenen Formen von Lust im Hinblick auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse zu erfassen sind. Dabei zeigt sich, daß es eine natürliche Ordnung von Bedürfnissen zwischen den unterschiedlichen Lebewesen gibt. Ein Esel hat andere Bedürfnisse als ein Mensch. Die natürliche Ordnung der Bedürfnisse weist ihrerseits auf die natürliche Verfassung der Lebewesen zurück. In ihr kommt das Was eines Wesens, seine ursprüngliche Gestalt, zum Ausdruck. Der besonderen Verfassung eines Lebewesens entspricht seine besondere Lebensweise, sein besonderes Werk. Die Vervollkommnung des Lebewesens und seine gute Beschaffenheit hängen davon ab, ob es der ihm zukommenden Weise gemäß lebt und sein besonderes Werk erfüllt. Dann ist es »in Ordnung«. Die menschliche Seele besteht aus drei unterschiedlichen Teilen (Vernunft, Mut und Begehren). Der Mensch in seiner Einheit ist gerecht, wenn jeder Seelenteil die ihm obliegenden Funktionen gut erfüllt. Dann ist er gesund und »in Ordnung«, wie ein Staat insgesamt »in Ordnung« ist, wenn alle seine Teile gut aufeinander abgestimmt funktionieren. Jeder Teil muß seine spezifische Tauglichkeit entfalten und zu der ihm eigenen Vollkommenheit gelangen. Ein guter Mensch lebt gemäß seiner natürlichen Verfassung und folgt denjenigen Bedürfnissen und Neigungen, die ihm nach der natürlichen Ordnung zukommen. Der Begriff des Guten hört, so verstanden, auf, ein Begriff der moralischen Tugend zu sein, deren Wirkungskreis die politische Sphäre ist. Nach dem Verständnis Platons ist die hierarchische Ordnung der natürlichen Verfassung des Menschen die Grundlage des Naturrechts im weiteren Sinn. Hier spielt die Unterscheidung zwischen Körper und Seele hinein, die man nur auf Kosten von Selbstwidersprüchen leugnen kann. Das besondere Kennzeichen der menschlichen Seele liegt in ihrer Befähigung zu Sprache und Vernunft, zum »logos«. Gemäß der maßgeblichen natürlichen Ordnung der Bedürfnisse ist es das besondere, in einer Tätigkeit begründete Werk der vernunftbegabten Seele, worin das Gut für den Menschen liegt. Das gute Leben schlechthin, worauf sich die Grundfrage aller Philosophie richtet, besteht in der Erfüllung der natürlichen menschlichen Neigungen in höchstmöglichem Grade und in angemessener Reihenfolge. Das gute Leben ist das wohlbedachte Leben, in dem die beste Fähigkeit des Menschen zu vollkommener Tauglichkeit entfaltet wird. Die Regeln, die den allgemeinen Charakter des guten Lebens umschreiben, sind nach der Interpretation von Strauss im weiteren Sinn das »Naturgesetz«.1 (Fs)

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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Diagnose: Krise der Moderne; Positivismus, Historismus; Widerspruch: Grundlage der westlichen Tradition

Kurzinhalt: Der Spannungsbogen zwischen Philosophie und Religion scheint unterdessen zerbrochen zu sein ... So befindet sich die liberale westliche Tradition in einer Krise ...

Textausschnitt: 39a Die Meinungen, die das Selbstverständnis der Öffentlichkeit prägen, sind der natürliche Ausgangspunkt der politischen Philosophie. Ihre erste Aufgabe ist eine diagnostische, sie muß feststellen, welche die vorherrschenden Meinungen sind, sie auf ihren philosophisch bedeutsamen Kern zurückführen und sich ihrer Voraussetzungen versichern. Leo Strauss erkannte bald, daß so einfach die Dinge nicht lagen. Denn zu den vorherrschenden Meinungen zählte im 20. Jahrhundert die Überzeugung, daß Philosophie weder möglich noch notwendig sei. Ihr universaler Erkenntnisanspruch wurde in seinen beiden fundamentalen Voraussetzungen bestritten. Der Historismus behauptete, die Philosophie müsse vom Gedanken der Universalität Abschied nehmen, weil die »historische Erfahrung« die geschichtliche Relativität allen menschlichen Denkens offenbart habe. Das Dogma der modernen positivistischen Wissenschaft hatte andererseits die Ansicht popularisiert, nur die wissenschaftliche Erkenntnis objektiv festgestellter Tatsachen sei Erkenntnis im strengen Sinne. Strauss stand vor dem Befund, daß die Tradition der politischen Philosophie abgebrochen war. Man hielt sie für eine Folge mehr oder weniger brillanter Irrtümer, die das erbauliche Material für die Philosophiegeschichte als die letzte »philosophische« Disziplin lieferte. Die diagnostische Aufgabe, der sich Strauss gegenübersah, veränderte sich dadurch zu einer Besinnung der Philosophie auf ihre eigenen Voraussetzungen. Wie war es zum Abbruch der philosophischen Tradition gekommen? Mit welchem Recht wollten der Historismus und der Positivismus der Philosophie die Grundlage entziehen? Strauss nahm die herkulische Herausforderung an und begann, das Projekt der Moderne neu aufzurollen, um aus dem Anfang die Gegenwart zu verstehen. (Fs) (notabene)

Von Machiavelli zu Nietzsche: Das Projekt der Moderne

40a Ein Widerspruch ist die Grundlage der westlichen Tradition. Sie verdankt ihre Vitalität der unaufhebbaren Spannung zwischen Athen und Jerusalem. Sowohl die griechische Philosophie als auch der Glaube an die biblische Offenbarung beanspruchen, die dringendste Frage des Menschen - »Wie soll ich leben?« - beantworten zu können. Während die Philosophie das Gute durch die ungeleitete menschliche Vernunft erkennen will, verpflichtet der Glaube den Menschen zu gehorsamer Liebe gegenüber dem biblischen Gesetz. Beide Antworten schließen einander wechselseitig aus. Es hat immer wieder Versuche gegeben, die heterogenen Elemente miteinander zu versöhnen und »den Bogen abzuspannen«, doch kann es eine Synthese von Philosophie und Religion ebensowenig geben wie eine Synthese von Philosophie und Geschichte. Ein Kompromiß zwischen Philosophie und Religion wäre nur durch einseitige Unterordnung und durch die Preisgabe des wesentlichen Anspruchs einer der beiden rivalisierenden Mächte möglich. Die Philosophie würde zur Magd der Theologie herabsinken oder umgekehrt. Die westliche Tradition lebt zu einem großen Teil von den verschiedenen Versuchen, sich vor dem Gegner zu rechtfertigen oder die Ansprüche des Gegners zu bestreiten. Ohne den Antagonismus der fundamentalen Alternative kann es die westliche Tradition so wenig geben wie eine Gesellschaft ohne Widersprüche. Konformismus wirkt zerstörerisch.1 (Fs)

41a Der Spannungsbogen zwischen Philosophie und Religion scheint unterdessen zerbrochen zu sein. Eine Zeitlang sah es für einige Beobachter so aus, als sei die Philosophie aus dem Streit zwischen Orthodoxie und Aufklärung als Siegerin hervorgegangen, wenigstens in jenen Systemen, in denen die atheistische Gesellschaft Wirklichkeit geworden war. Diese Gesellschaften haben ihre »Philosophien« inzwischen mit sich ins Grab genommen. Die liberale ökonomisch-technische Zivilisation, die den säkularen Kampf der Systeme überlebt hat, bestreitet ihrerseits den Erkenntnisanspruch der Philosophie im Namen der Wissenschaft. Philosophische Einsicht stehe auf einer Stufe mit allen anderen möglichen Überzeugungen und Einstellungen. Erkenntnis, die sich nicht wissenschaftlich ausweisen könne, sei Ideologie. Der moderne Rationalismus hat es der Philosophie schwergemacht, ihre bloße Möglichkeit zu rechtfertigen. So befindet sich die liberale westliche Tradition in einer Krise, sie steht in der Gefahr einer vollständigen Desintegration und kann an ihren eigenen Zweck, die universale Gesellschaft freier und gleicher Menschen, nicht mehr glauben machen. Strauss erinnert zu Beginn von Naturrecht und Geschichte an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, in der die religiösen und naturrechtlichen Grundlagen des amerikanischen Systems als »von selbst einleuchtende Wahrheiten« bezeichnet werden, und weist darauf hin, daß man diese »Wahrheiten« unter dem Einfluß des deutschen Denkens in Amerika heute allenfalls noch für ein Ideal oder einen Mythos hält. Ein anderer Ausdruck der modernen Krise ist das Versagen von Politik und Gesellschaft im Angesicht der Vernichtung der Menschlichkeit durch die Tyranneien des 20. Jahrhunderts. Die Moderne kennt ihre Prinzipien nicht mehr, ihre geistigen Grundlagen sind fragwürdig geworden. Der Streit zwischen Athen und Jerusalem scheint verstummt. Der Sieg der »Philosophie« über die Autorität des Glaubens war ein zweifelhafter Erfolg, wenn er um den Preis ihres Verschwindens erkauft werden mußte. Die politische Krise der Moderne ist eine Folge der Krise der westlichen Tradition.1 (Fs)

42a Es ist eine weit gehende, aber hochinteressante These, die Krise der Moderne als Krise der Philosophie zu identifizieren. Sie beinhaltet die stillschweigende Folgerung, daß die Überwindung der Krise nur durch die vollständige Rehabilitierung und Wiedereinsetzung der politischen Philosophie, die ursprünglich mit politischer Wissenschaft identisch war, möglich ist. Diese Konsequenz ist selbst ein Argument für die Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit, die Strausssche Pathologie ist schon im Ansatz Therapie. Um die Anlage des Werkes von Leo Strauss zu verstehen, muß man überlegen, welche Schritte zum Erreichen dieses Zieles notwendig sind. Die primäre Aufgabe ist eine Untersuchung der Bewegung, die zur Verwerfung der Möglichkeit der politischen Philosophie geführt hat. Prozesse kann man nur aus ihren Prinzipien verstehen. Das verlangt, zum Beginn der modernen politischen Wissenschaft zurückzukehren, die als das Instrument einer neuen Gesinnung das Ergebnis mehrfacher, komplizierter Transformationen grundlegender Einstellungen ist. Die Wissenschaft ist keine autonome, aus sich selbst gerechtfertigte Instanz. Sie ist abhängig von den Zwecksetzungen derjenigen, die sich ihrer bedienen. Man muß also die Prinzipien der modernen Haltung selbst herausarbeiten, philosophisch analysieren und in ihnen das positivistische und historistische Selbstverständnis sichtbar mächen, das zur Zerstörung des Rationalismus und zur Verwerfung der Möglichkeit der Philosophie geführt hat. Leo Strauss hat im Verlauf seiner Arbeit erkannt, daß eine Untersuchung der Anfangsgründe der modernen Haltung nur gelingen kann, wenn man die Reflexion um eine entscheidende Dimension erweitert. Die Analyse des modernen Denkens kann nicht ausschließlich vom Standpunkt der Moderne aus vorgenommen werden. Wer sie als eine Modifikation oder Transformation vormodernen Denkens begreift, muß zuvor die modifizierte Tradition so verstanden haben, wie sie sich selbst verstand. Um die Prinzipien der modernen politischen Wissenschaft angemessen auffassen zu können, muß man zuvor die Prinzipien der politischen Wissenschaft überhaupt kennen. Es ist deshalb aus systematischen Gründen notwendig, den historischen Rahmen der Moderne in Richtung auf den Ursprung der politischen Wissenschaft hin zu überschreiten. Man muß sich mit dem Problem des Sokrates befassen. (Fs) (notabene)
»Die positivistische politische Wissenschaft ist nicht direkt aus dem Verständnis des Bürgers von den politischen Dingen entstanden. Die positivistische politische Wissenschaft kam dank einer sehr komplexen Transformation der modernen politischen Philosophie ins Dasein, und die moderne politische Philosophie entstand ihrerseits dank einer sehr komplexen Transformation der klassischen politischen Philosophie. Ein angemessenes Verständnis der positivistischen politischen Wissenschaft, insofern es sich von einem bloßen Gebrauchen dieser Wissenschaft unterscheidet, ist nicht möglich außer durch ein Studium der politischen Schriften von Platon und Aristoteles, denn diese Schriften sind die bedeutendsten Dokumente der Entstehung der politischen Wissenschaft aus dem vorwissenschaftlichen Verstehen der politischen Dinge.«

43a Strauss erkannte eine weitere Notwendigkeit. Wer die Prinzipien des Selbstverständnisses der gegenwärtigen politischen Wissenschaft erkennen möchte, muß auf den derivativen Charakter ihrer Sprache und ihrer Methoden reflektieren, muß »die wesentliche Genese der Perspektive des politischen Wissenschaftlers aus der Perspektive des Bürgers verstehen«. Auch dies verlangt einen Rückgang auf das ursprüngliche Wissenschaftsverständnis der klassischen Tradition. Mit anderen Worten, weder die historische noch die positivistische Methodologie ist geeignet für die Lösung der Krise der Moderne. Strauss demonstriert, wie eine rein historische Untersuchung der Ursprünge der politischen Wissenschaft gezwungenermaßen bei Hippodamos von Milet enden und ihren Gegenstand damit verfehlen müßte. Er zeigt darüber hinaus die Unfähigkeit der positivistischen Sozialwissenschaft, von ihrem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus auch nur Rechenschaft über ihre eigene Notwendigkeit abzulegen. Die charakteristische Beschränkung der modernen Sozialwissenschaft, die eine Funktion der charakteristischen Beschränkung der modernen Gesinnung ist, muß aus wissenschaftlichen Gründen selbst überschritten werden. Man muß deshalb eine neue Vision vom Ganzen entwickeln, welche die partikularen Horizonte der modernen Sozialwissenschaft, ihrer Methodologie und der historischen Anschauung, die ihr zugrunde liegt, überwindet, wenn man der Krise der Moderne Herr werden will. Es besteht eine wissenschaftliche Notwendigkeit an klassischer politischer Philosophie.2 (Fs)

44a Die vorherrschenden zeitgenössischen Denkschulen sind nach Strauss der Historismus und der Positivismus. Sie sind eine Funktion des modernen Projekts und bestreiten die Möglichkeit der Philosophie. Leo Strauss hat in verschiedenen Untersuchungen gezeigt, daß die Moderne ein moralisches Fundament hat und zugleich auf eine moralische Reduktion zielt. Einer Auseinandersetzung mit dem Historismus und dem Positivismus sollte deshalb eine Verständigung über die Entstehung, die Eigenart und die Entwicklung der Moderne vorangehen. Dazu schien es Strauss von Beginn an notwendig, die »querelle des anciens et des modernes« wiederaufzunehmen. Dieser Streit war eine literarische Kontroverse zwischen den Verfechtern der antiken Dichtung Griechenlands und Roms, deren Klassizität als ein nicht zu übertreffender Maßstab verteidigt werden sollte, und den selbst-bewußten Schriftstellern, die im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts vermeinten, eine neue Ära klassischer Literatur zu etablieren. Er war vor allem die letzte Auseinandersetzung zwischen der Tradition und der Moderne, die, wenn auch nicht bis zu ihrem Ende, in einem ungeschichtlichen Bewußtsein geführt wurde. Die »Wiederaufnahme« der »querelle« durch Leo Strauss zu Beginn der dreißiger Jahre kennzeichnet die Auflehnung gegen das vorherrschende historische Bewußtsein, das einen wirklichen Streit um die Sache mit Positionen, die in der Vergangenheit formuliert wurden, gar nicht mehr zuläßt. Es geht Strauss nicht um die »Rückkehr« zu vormodernen Positionen, sondern um eine fundamentale Auseinandersetzung in der Gegenwart, die sich die Bedingungen nicht vom Gegner und den Vorurteilen, auf die er sich stützt, aufzwingen lassen will. Der Disput, den Strauss initiiert, gerät inhaltlich zu einer Kontroverse zwischen der klassischen Philosophie und der philosophisch sterilisierten, vom historischen und positivistischen Denken geprägten modernen Wissenschaft, die sich auf den Trümmern Europas mit dem strahlenden Glanz von technischer Naturbeherrschung und ökonomischer Wohlfahrt umgibt. Dabei verteilt Strauss die Beweislast neu und macht klar, daß die Verfechter der modernen Grundsätze selbst auf einer Auseinandersetzung mit nichtmodernen Prinzipien bestehen müssen. Sie können sich nicht auf eine reine Verteidigungsposition zurückziehen. Sie müssen, wenn sie ihren eigenen Prinzipien treu bleiben wollen, zu denen die Forderung nach Befreiung von Vorurteilen und die Aufforderung zu radikalem Zweifel gehören, die Fähigkeit entwickeln, ihre Grundsätze dauernd aus kritischer Distanz, und das heißt aus der Perspektive ihrer Gegner, zu überprüfen. Andernfalls würden sie sich dem Verdacht aussetzen, verhüllte Interessen zu vertreten und dogmatisch an einer etablierten Position festzuhalten. Die fortdauernde freie und unparteiliche Überprüfung unserer Grundanschauungen ist nach den modernen Leitideen notwendig. Die Wiederaufnahme des Streites blieb kein den Schriften von Leo Strauss immanentes Motiv. Er schlug sich äußerlich nieder in der Debatte mit Alexandre Kojeve, der 1950 in einem Aufsatz über Tyrannis und Weisheit, der ursprünglich L'action politique des philosophes hieß, auf Strauss' ungewöhnliche Interpretation von Xenophons Dialog Hieron geantwortet hatte.3 (Fs)

46a Um den Streit zu verstehen, den Leo Strauss wiederaufnimmt, ist es notwendig, seine Abgrenzung von Antike und Moderne nachzuzeichnen. Die Unterteilung der Geschichte in Moderne und Vormoderne setzt einen scheinbar simplifizierenden Epochendualismus mit einer Zeitscheide im 16. Jahrhundert voraus. Strauss ist sich absolut des Umstandes bewußt, daß diese beiden Großepochen keineswegs homogene historische Entwicklungsphasen sind, sondern daß sie erstens in sich differenziert und zweitens füreinander durchlässig sind. In der Antike gab es »Moderne«, wie es in der Moderne lebendige »antike« Traditionen gibt. Deshalb ist es wichtig, daß die Unterscheidung von Antike und Moderne nicht nur kein chronologisches Kriterium, sondern auch keine chronologische Bedeutung hat. Ein Phänomen ist nicht deshalb modern, weil es, sagen wir, zwischen 1532 und heute auftaucht. Wenn es darum geht, die Prinzipien der Moderne kritisch zu überprüfen, dann ist die Moderne auf eine Weise abzugrenzen, wie es dem Selbstverständnis ihrer Protagonisten entspricht. So gehörte es zum Selbstverständnis Machiavellis, einen radikalen Bruch mit den Prinzipien der Tradition vollzogen zu haben, auch wenn er seinen Anspruch auf Originalität weniger freimütig erhob, als es nach ihm Thomas Hobbes tun sollte. Genau dieser Anspruch wird zu dem entscheidenden Kriterium, die Moderne zu bestimmen. Modernität ist eine Haltung, um nicht zu sagen eine Gesinnung, die sich zunächst in der negativen Absicht ausdrückt, klassische Philosophie in all ihren Formen zurückzuweisen. Das ist auch der Grund, weshalb das Mittelalter im Straussschen Dualismus nicht auftaucht. Ob Machiavelli, Bodin oder Hobbes, alle wenden sich gegen die klassischen Prinzipien und nicht primär gegen das mittelalterliche Denken, das im Gegenteil eine grundsätzliche Gemeinsamkeit mit der Moderne hat, nämlich von der biblischen Lehre beeinflußt zu sein, wenn auch in ganz anderer Weise als diese. Die Übereinstimmung der klassischen politischen Philosophie bestand in der Überzeugung, daß das Ziel des politischen Lebens die Tugend ist, wobei die aristokratische Republik oder das gemischte Regime diejenige Ordnung ist, die der Tugend am meisten dient. Die Zurückweisung des klassischen Schemas als unrealistisch ist das der Moderne zugrundeliegende negative Prinzip.4 (Fs) (notabene)

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