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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kritik: Rahner - Dualismus (Geist in Welt); Moraltheologen - "untermenschlicher" Bereich als "Rohmaterial"

Kurzinhalt: Der Mensch ist von Natur ein "animal"; er hat nicht nur einen Leib, sondern ist Leib2, - ein Leib, der allerdings von einer "anima rationalis" informiert, beseelt ist... Man is not an incarnate spirit; he is a rational animal ...

Textausschnitt: 86a Das "bonum hominis", auf das die Tugend der sinnlichen Strebungen zielt, besteht darin, "daß die Vernunft in vollkommener Weise die Wahrheit erkenne, und die niederen Strebungen gemäß der Regel der Vernunft geordnet werden".1 Der Mensch ist keineswegs ein rein spirituelles Wesen, dessen Strebeakte und Handlungen ausschließlich geistiger Natur sind. Der Mensch ist von Natur ein "animal"; er hat nicht nur einen Leib, sondern ist Leib2, - ein Leib, der allerdings von einer "anima rationalis" informiert, beseelt ist. Als Körper und "animal" besitzt er Sinneserkenntnis und sinnliche Strebevermögen, sinnen-und leibgebundene Möglichkeiten und Bedürfnisse, die in ihm nicht "unter-menschliche", ihm fremde oder beschränkende "Naturphänomene", sondern in seine personale Seinsstruktur integrierte, sein menschliches Person-Sein mitkonstituierende Fundamente menschlicher Existenz darstellen. Ebenso sind alle "inclinationes naturales" in ihm immer schon menschliche Neigungen, welche die Grundlinien formulieren, denen gemäß menschliches Leben und Handeln menschlich verlaufen. Wenn diese Neigungen von der Vernunft geordnet werden müssen, so heißt dies nicht, daß sie nicht bereits immer schon, durch ihre seinsmäßige Zugehörigkeit zum menschlichen Suppositum einen menschlichen Sinn besitzen; in diesem Sinne müssen sie nicht noch erst "vermenschlicht" oder "vergeistigt" werden, um dem Menschen für sein Leben etwas sagen zu können.3 (Fs)

Fußnote (3=9):

9 Sehr gut hervorgehoben hat die Wichtigkeit dieses Aspektes G. GRISEZ in seinem Artikel "Dualism and the New Morality", in: L'Agire Morale, a. a. O., S. 323-30. Die Idee des Menschen als "Geist in Welt" (oder: "inkarnierter Geist"), wie sie etwa der Anthropologie Karl Rahners zugrundeliegt, halte ich für äußerst problematisch, denn sie ist grundlegend dualistisch. Vgl. auch G. GRISEZ, A New Formulation of a Natural-Law Argument against Contraception, in: The Thomist, 30 (1966), S. 349: "Man is not an incarnate spirit; he is a rational animal. The dualism implied in the definition of man as incarnate spirit threatens to become a totalitarianism which will distort the true shape of man's nature and thus destroy the only solid foundation for a realistic personalism. And Christian personalism must be realistic, as has been declared repeatedly in the past against gnostics, manichees, cathars and jansensists."
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86b Deshalb muß der, im Grunde dualistischen, These vieler gegenwärtiger Moraltheologen entschieden widersprochen werden, die natürlichen Neigungen - auch diejenigen der "natura animalis" - stellten lediglich eine Art naturales "Rohmaterial" dar, einen Bereich "untermenschlichen" Seins, das nicht bereits schon durch seine Zugehörigkeit zum menschlichen Sein ein "bonum humanum" wäre, sondern erst durch nachherige Integration in die Sphäre des Menschlichen zu einem solchen würde. Daß dem nicht so ist, zeigt sich bereits bei der fundamentalsten aller natürlichen Neigungen, die der Mensch mit allem subsistierenden Seienden gemeinsam hat: nämlich der Neigung zur "conservatio sui esse", zur Selbsterhaltung. Es hat ja offensichtlich überhaupt keinen Sinn zu behaupten, daß dieses "esse" nicht schon von Natur aus ein "bonum humanum" sei, sondern erst zu einem solchen gemacht werden müsse. (Fs)

87a Dabei würde letztlich die seinsmäßige Integration dieser Neigungen im Kontext der Person, eine Integration, die immer schon besteht, die den Menschen überhaupt zum Menschen macht, und die deshalb in diesem Sinne nicht geleistet werden muß, mit ihrer praktisch-kognitiven und operativen Integration durch die "ratio naturalis" und die sittliche Tugend verwechselt. Der Mensch muß nämlich diese Neigungen nicht zunächst seinsmäßig vermenschlichen; sie sind von Anfang an menschliche Neigungen. Er muß sie jedoch praktisch-kognitiv in ihrem menschlichen Sinn ordnen und entsprechend verfolgen. Das leisten diese Neigungen nicht von sich aus. An dieser Stelle erhält nun auch der eingangs als methodischer Ausgangspunkt kritisierte Satz "Werde, was du bist!" eine klar umrissene Bedeutung. (Fs)

87b Die These jedoch, die natürlichen Neigungen würden erst "menschlich", insofern sie von der Vernunft aufgegriffen werden, hieße, daß der Mensch sie durch dieses Aufgreifen überhaupt erst seinsmäßig in ihrem menschlichen Sinn konstituiert. Diese These wäre spiritualistisch oder dualistisch und würde zudem behaupten, der Mensch besitze über die Natur, die er selbst ist, eine durch diese Natur selbst nicht näher bestimmte Verfügungsoder sittliche "Sinngebungsgewalt". (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kritik: naturalistische These, suppositum humanum

Kurzinhalt: Der Pluralität der Seelenteile und der ihnen entsprechenden natürlichen Neigungen steht die fundamentale Einheit der menschlichen Seele als "forma substantialis" gegenüber

Textausschnitt: 87c Gleichzeitig muß aber auch der naturalistischen These widersprochen werden, wonach der Mensch lediglich ein Gefüge natürlicher Neigungen ist, welche für ihn ohne weitere Regulierung oder "kognitive Integration" bereits schon normativ wären und bereits als solche schon den Charakter eines sittlich bedeutsamen Naturgesetzes hätten. Der Pluralität der Seelenteile und der ihnen entsprechenden natürlichen Neigungen steht die fundamentale Einheit der menschlichen Seele als "forma substantialis" gegenüber, sowie die substantielle Einheit von Leib und Seele und schließlich die Einheit der Person und ihrer Akte: Das suppositum humanum. Diese Einheit begründet, daß alle natürlichen Neigungen immer schon einen Wertbezug auf die Gesamt-Einheit besitzen; ein Wert, der allerdings nicht unmittelbar aus dem Ziel der einzelnen Neigungen "ablesbar" ist, sondern sich erst aus ihrer Beziehung zum spezifisch Humanen, dem vernünftigen Teil der Seele ergibt. (Fs) (notabene)

87d Deshalb kann man aufgrund einer empiristischen Konstatierung natürlicher Neigungen allein noch wenig Normatives für das sittliche Handeln aussagen. Anderseits sind jedoch auch solche normativen Aussagen nur möglich, wenn man diese Neigungen als menschliche Neigungen, als "bona humana", Güter der menschlichen Person respektiert. Ohne diesen Respekt gäbe es keine Moralphilosophie und auch keine Moraltheologie, die auch nur im Entferntesten imstande wären, etwas Wahres auszusagen.1 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kritik: spiritualistische, dualistische Ethik; "naturalistic fallacy"; "transgressio in aliud genus"; "proportio ad rationem"

Kurzinhalt: Jede Neigung und ihr Gut werden immer als "mein" erfahren, und nicht als ein "fremder" Gegenstand;

Textausschnitt: 91b [...]Die Ziele dieser natürlichen Neigungen als vormoralische Güter zu betrachten, würde dann heißen, sie besäßen überhaupt keine innere "proportio ad rationem", sie seien also, wie Thomas das ausdrückt, "indifferentes ex specie"; d. h.: sie besäßen auch im Kontext des Suppositums, also nicht nur abstrakt im "genus naturae" betrachtet, keine innere sittliche Wertbezogenheit, eine solche würden sie erst durch weitere Umstände oder Intentionen des Handelnden erhalten. (Fs)

91c Nun ist aber eben die abstrakt-ontische Betrachtung der natürlichen Neigungen und ihrer Ziele weder eine ethisch noch anthropologisch adäquate Betrachtungsweise; sie kann also auch nicht zu einem moralisch-qualifizierenden Urteil führen; und ein solches ist ja die Behauptung, sie seien "indifferente" oder "vor-moralische" Güter.1 Nicht die Ziele dieser Neigungen sind vormoralisch, sondern die abstrakte Betrachtungsweise ist hier vormoralisch - oder nicht-moralisch; sie ist als Abstraktion dieser natürlichen Neigungen, ihre Herauslösung aus dem Kontext der Person, des Suppositums, die bloße Vergegenständlichung ihres "genus naturae".2 (Fs)

92a Die von den natürlichen Neigungen erstrebten Ziele als "vormoralische" Güter zu bezeichnen, heißt demnach, eine sittliche Qualifizierung (oder genauer: "Disqualifizierung") aufgrund des "genus naturae" vorzunehmen. Dies ist jedoch eine unstatthafte "transgressio in aliud genus" und damit ein Fehlschluß, der unschwer als bloße Variante der "naturalistic fallacy" erkannt werden kann. Denn diese beruht ja gerade darauf zu mißachten, daß "genus naturae" und "genus moris" nicht auseinander ableitbar sind; daß also auf der Ebene des "genus naturae" keine sittlich qualifizierenden Prädikate möglich sind. "Moralische Indifferenz" ist aber ein solches Prädikat. (Fs)

92b Eine strukturell spiritualistische und dualistische Ethik hat ihre Basis notwendigerweise in einer abstrakt-naturalistischen Betrachtungweise von Handlungsobjekten. Es handelt sich dabei im Kontext der Ethik um einen grundlegenden Fehler, einen "error in principiis". Durch diese naturalistische Interpretation von Handlungsobjekten - basierend auf der illegitimen Ableitung objektiver (spezifischer) Indifferenz aus dem abstrakt betrachteten, aus dem Gesamtkontext des menschlichen Suppositums herausgelösten "genus naturae" der natürlichen Neigungen - müssen dann beispielsweise in einer "teleologischen Ethik" nachträglich diese als vorsittlich und ethisch indifferent qualifizierten Güter erst wieder in einen ethischen Kontext eingearbeitet werden, damit der naturalistische Ausgangspunkt überwunden werden kann. Eine solche Ethik vermag dabei jedoch den Gesamtkontext der menschlichen Person nicht mehr adäquat zu rekonstruieren, und um zu Handlungsnormen zu gelangen, muß sie "universalteleologisch" und das heißt letztlich: utilitaristisch verfahren.3 (Fs)

92c In Wirklichkeit werden diese "bona propria" - als "bona particularia" der einzelnen natürlichen Neigungen - von der praktischen Vernunft sowie in der moralphilosophischen Reflexion keineswegs in ihrem "genus naturae" objektiviert. Wie gesagt ist der ontisch-naturale Aspekt dieser Güter oder Ziele eine Abstraktion, eine Herauslösung aus dem Kontext und damit eine "Reduktion" ihrer Intelligibilität. Der Mensch ist auch als Gegenstand praktischer (Selbst-)Erfahrung nie eine bloße Summe verschiedener natürlicher Neigungen, die sich gewissermaßen zusammenhangslos dieser Erfahrung anböten. Er ist vielmehr Person, d. h. eine bestimmte Art von Suppositum, in das sowohl die "natura animalis" wie auch die "natura rationalis" - Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Geist - integriert sind. Zunächst ist jegliche Erfahrung und Erkenntnis solcher natürlicher Neigungen eine Leistung der Person als ganzer, die diese Neigungen als eigene, zu ihr gehörige erfährt. Solche Erfahrung vollzieht sich nicht abstrakt, sondern existentiell. Jede Neigung und ihr Gut werden immer als "mein" erfahren, und nicht als ein "fremder" Gegenstand, wie die mich umgebende "Natur", also personal-kontextbezogen.1 Diese Art von Erfahrung ist nur ein Niederschlag der ursprünglichen, seinsmäßigen oder anthropologischen Integration verschiedener naturaler Schichten im Suppositum. Aufgrund dieser Metaphysik des Suppositums, die eine solche Erfahrung zu erklären vermag, zeigt sich, daß jede der natürlichen Neigungen im Kontext der Person von Natur aus einen Sinnbezug besitzt, der das bloße "genus naturae" immer schon transzendiert, jedoch gerade auch durch die bloß abstrakte, herauslösende Betrachtungsweise in seiner Intelligibilität verstellt und zerstört würde. Der in einer moralischen Vergegenständlichung natürliche Sinn der natürlichen Neigungen ist ein personaler Sinn, und er ist mit ihrem "genus naturae" nicht zu identifizieren. (Fs)

93a Die Leistung der natürlichen Vernunft, deren Akte ja solche der Person sind, besteht nun gerade darin, diese Transzendenz der "bona particularia" aufgrund ihrer Integration in das Suppositum zu erfassen. In ihrem natürlichen Akt, der eine "inclinatio naturalis ad virtutem", bzw. "ad vivere secundum rationem" entspricht, erfaßt die Vernunft diese "bona particularia" als "bona humana" und somit als sittliche Güter der Gesamt-Person. Diesem Prozeß entspricht die sittliche Objektivierung von Gütern oder Werten. In ihm konstituiert sich das Objekt der praktischen Vernunft, das zum Objekt des Willens wird, der dadurch sein sittliches Gutsein erhält. Über den Willen wird dieser Inhalt auf die vom Willen selbst vollzogenen und die von ihm "befohlenen" Akte übertragen, die dadurch "actus humani", menschliche und sittliche Handlungen sind, weil sie einem "appetitus intellectivus" und letztlich der "voluntas deliberata" entspringen. (Fs)


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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Das Handlungsobjekt: forma a ratione concepta; materia ex qua; materia circa quam; Metapher: Farbe - Licht

Kurzinhalt: Man darf den Begriff "moralisches Objekt" nicht verdinglichen oder gar der Gefahr erliegen, ihn auf das "genus naturae" zu reduzieren.1 Die "teleologische Ethik" verdankt, ...

Textausschnitt: 94a Die Aussage, die Ziele der natürlichen Neigungen seien transzendent hinsichtlich ihrer Integration in das Suppositum, ist nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache, daß sich der objektive Wert oder Sinngehalt (also das "obiectum actus in genere moris") durch eine "proportio ad rationem" konstituiert. Man darf den Begriff "moralisches Objekt" nicht verdinglichen oder gar der Gefahr erliegen, ihn auf das "genus naturae" zu reduzieren.1 Die "teleologische Ethik" verdankt, wie später gezeigt werden soll, einen Großteil ihrer Plausibilität nicht zuletzt der Tatsache, daß sie sich gegen ein solches naturalistisches ("physizistisches") Mißverständnis der "moralitas ex obiecto" gewandt hat, dabei jedoch selbst dessen Grundproblematik, die Verkennung der praktischen Vernunft, nicht zu erfassen vermochte und deshalb in ihrem Ausgangspunkt selber einem bedauerlichen Naturalismus verfallen bleibt. (Fs) (notabene)

94b Der hl. Thomas betont, wie bereits angeführt: "Species moralium actuum constituuntur ex formis, prout sunt a ratione conceptae".2 Diese "forma a ratione concepta" ist nichts anderes als das Objekt einer Handlung in seinem "genus moris". Deshalb unterstreicht Thomas, daß dieses Objekt nicht eine "materia ex qua" sei; eine solche liegt ja einem natürlichen Prozeß der "generatio" als Ko-Prinzip zur "forma substantialis" zugrunde; sie ist unabhängig von der "forma" noch unbestimmt und als "materia prima" sogar in reiner Potentialität. Handlungsobjekte nennt man hingegen eine "materia circa quam": diese ist nicht ein noch unbestimmtes Ko-Prinzip des Gesamtobjektes, sondern vielmehr dieses Objekt selbst, aber unter dem Aspekt seiner materialen Bestimmtheit betrachtet. Sie ist bereits durch die praktische Vernunft konfiguriert und deshalb - ganz im Gegensatz zur "materia ex qua" - "habet quodammodo rationem formae inquantum dat speciem".3 Im Sentenzenkommentar nennt Thomas die "materia circa quam" sogar "finis actus", der nichts anderes als das "obiectum" sei.4 (Fs)

95a Die Gleichsetzung von moralischem Objekt (Objekt der praktischen Vernunft, "actus exterior ordinatus a ratione", und als solches dem Willen als proportioniertes Objekt zum Ziel seines Strebens vorgesetzt) mit der "materia circa quam" mag manchmal verwirren. Die Verwirrung löst sich indes, wenn beachtet wird, daß für Thomas in jedem Objekt - wie in jedem "bonum" generell - ein materialer und ein formaler Aspekt zu beachten ist5, die sich nicht einfach wie zwei "Dinge" summieren, und sich auch nicht im Sinne hyle-morphistischer Ko-Prinzipien zueinander verhalten, sondern vielmehr, mit einer geglückten Metapher, so wie die Farbe zum Licht.6 Die "materia circa quam" von der "ratio" vergegenständlicht, ist nicht eine "materia informis", sondern bereits eine geordnete, vernunftgeprägte Materie. Oder wie Thomas sagt: eine "materia debita" oder "materia commensurata a ratione" aufgrund des "finis rationis"; ohne das formelle Licht des "ordo rationis", - der ein "ordo ad finem" ist, - kann auch die "materia circa quam" gar nicht gedacht werden.7 (Fs; Fußnote) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Das Objekt als Ziel des Willens; Verwechslung von "ordo specificationis" und "ordo executionis"

Kurzinhalt: Der Wille, der sich auf einen ihm äußeren Akt als "actus imperatus" erstreckt, ist also nicht aus sich heraus Ursache der "bonitas moralis" dieses äußeren Aktes ...

Textausschnitt: 96a Der Wille, der sich auf einen ihm äußeren Akt als "actus imperatus" erstreckt, ist also nicht aus sich heraus Ursache der "bonitas moralis" dieses äußeren Aktes, etwa im Sinne eine "finis operantis", die einem vormoralischen "exterior event" die sittliche Qualität einer Intention verleihen würde.1 Denn Ziel des Willens ist zunächst einmal die ihr von der Vernunft angebotene "materia circa quam" als "materia debita" ihres Imperiums. Die eben erwähnte Fehlbeurteilung entspringt der Verwechslung von "ordo specificationis" und "ordo executionis". Denn, wie Thomas betont, stammt das sittliche Gutsein des äußeren Aktes aufgrund der "materia debita" und den "circumstantiae debitae" nicht vom Willen, sondern vielmehr von der Vernunft.2 Denn der äußere Akt ist Objekt des Willens, insofern - und nur insofern - er dem Willen als ein durch die Vernunft erfaßtes und geordnetes Gut vorgelegt wird; in dieser Ordnung der sittlich-objektiven Spezifizierung liegt also das "bonum rationis" vor dem "bonum voluntatis". In der Ordnung der Ausführung einer Handlung jedoch ist dies umgekehrt: hier wird das Gutsein des äußeren Aktes gerade durch den Willen bewirkt, der, wenn er einmal durch die Vernunft spezifiziert ist, seine "bonitas" auf den von ihm gewollten äußeren Akt überträgt, der ja nur insofern eine sittliche Qualität besitzt, als er gewollt (ein "volitum") ist; die sittliche Qualität des Handelns ist unter diesem Gesichtspunkt also eine Folge des inneren (elektiven und intentionalen) Willensaktes.3 (Fs)

Fußnote (aus Absatz 96b):
15 Hier liegt vielleicht die entscheidende Fehlüberlegung von Janssens; er unterstellt nämlich, daß der Wille sich auf "ontische" Güter als ontische richten könne, daß es also möglich sei, "per se" ontische Übel qua ontische zu wollen, diese zum "finis intentionis" zu erheben; und darin, und nur darin, liege dann auch sittliche Bosheit. Eine solche Objektivierung ontischer Güter durch den Willen, unter Ausschluß einer moralisch qualifizierenden und spezifizierenden "ordinatio der Vernunft, ist jedoch unmöglich und widerspricht der Natur des menschlichen Willens als "appetitus in ratione" oder "appetitus intellectualis". Die Argumentation Janssens' ist also naturalistisch. Wir werden auf dieses Problem in Teil II, Kap. 7 zurückkommen.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: anthropologische Voraussetzung; natürlichen Neigungen - lex naturalis;

Kurzinhalt: Diese natürlichen Neigungen machen aus, was ein Mensch ist, bevor er überhaupt etwas tut. Sie alle tendieren auf ihr "bonum proprium"

Textausschnitt: 99b Rekapitulieren wir zunächst bereits Gesagtes: Insofern der Mensch als Geschöpf Gottes einem spezifischen "modus essendi" gemäß konstituiert ist, partizipiert er durch seine natürlichen Neigungen, als ein "mensuratus", am Ewigen Gesetz. Diese natürlichen Neigungen machen aus, was ein Mensch ist, bevor er überhaupt etwas tut. Sie alle tendieren auf ihr "bonum proprium", "ad proprium actum et finem", - wobei das "proprium" der "ratio naturalis" gerade das "debitum" ist. Durch eine "ordinatio", die der "inclinatio naturalis rationis ad debitum actum et finem" entspringt, werden sämtliche natürlichen Neigungen ihrer Integration in den Gesamtkontext der Person entsprechend verfolgt. Die "ordinatio rationis", die dies bewerkstelligt, heißt "lex naturalis"; in ihr besteht die formelle - weil vernünftige, aktiv-messende, gesetzgebende - Partizipation der vernünftigen Kreatur an der "lex aeterna". (Fs) (notabene)

99c Die der menschlichen Seele, die von Natur aus Form eines Leibes ist, entspringenden natürlichen Neigungen sind vielschichtig. Sie verlaufen von der "inclinatio ad conservationem sui esse" über den Ernährungstrieb zur Erhaltung des Individuums und die "inclinatio ad coniunctionem maris et feminae", die auf das Gemeinwohl der Spezies und deren Erhaltung gerichtet ist, bis hin zu jenen Neigungen, die ausschließlich dem Menschen eigen sind: die Erkenntnis der Wahrheit, insbesondere die Erkenntnis Gottes (das "Bonum Commune" des ganzen Universums), sowie das Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, mit all dem, was dieses Leben an Forderungen der Gerechtigkeit impliziert. (Fs) (notabene)

[..]


100a Denn schlußendlich kommt dem Menschen unter allen Lebewesen eine einzigartige Stellung dadurch zu, daß er eine geistige Seele besitzt, die "ad imaginem" der göttlichen Natur geschaffen ist. Durch diese Gottebenbildlichkeit besitzt der Mensch die Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen, zu lieben und die Gemeinschaft mit seinesgleichen als Freundschaft zu leben, wobei Freundschaft nichts anderes ist, als das Erstreben des Gutes des anderen wie ein eigenes Gut. Die Geistigkeit des Menschen begründet seine Freiheit, die Verfügungsgewalt über seine Handlungen (personale Autonomie) und insbesondere die Fähigkeit, jenen natürlichen Neigungen, die aufgrund ihrer naturhaften Dynamik nicht von sich aus dem "Gesetz des Geistes" folgen, dennoch aber aufgrund ihrer seinsmäßigen Integration in das Suppositum konstitutive Sinnelemente der Gesamt-Person sind und deshalb auch eine operative Integration verlangen, solchen natürlichen Neigungen also das "Gesetz des Geistes" zu geben und sie ihm entsprechend auf vollmenschliche Weise zu verfolgen, also aufgrund der Erfassung ihrer Sinnhaftigkeit im Kontext der Person und unter dem bewegenden Imperium des Willens, dem "appetitus intellectualis", - in der Gestalt menschlicher Liebe also. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: "peccatum contra naturam"; "agere contra naturam"; praesuppositum, praesuppositio (eg: phantasma für praktische Vernunft); luxuria; maximum peccatum inter species luxuriae

Kurzinhalt: Was Prinzip, Fundament des "ordo rationis" oder "ordo virtutis" ist, besitzt deshalb selbst eine moralische Qualifizierbarkeit ...kraft seines Charakters als eines "praesuppositum" für den "ordo virtutis",

Textausschnitt: 111a Thomas behandelt das "peccatum contra naturam" bekanntlich eingehend im Zusammenhang mit dem Laster der "luxuria", der Unzucht. Es lohnt sich, seine Begründung dafür zu lesen, weshalb das "vitium contra naturam" auch ein "maximum peccatum inter species luxuriae" sei:
"In quolibet genere pessima est principii corruptio, ex quo alia dependent. Principia autem rationis sunt ea quae sunt secundum naturam: nam ratio, praesuppositis his quae sunt a natum determinata, disponit alia secundum quod convenit. Et hoc apparet tam in speculativis quam in operativis. Et ideo, sicut in speculativis error circa ea quorum cognitio homini est naturaliter indita, est gravissimus et turpissimus; ita in agendis agere contra ea quae sunt secundum naturam determinata, est gravissimum et turpissimum. Quia ergo in vitiis quae sunt contra naturam transgreditur homo id quod est secundum naturam determinatum circa usum venereum, inde est quod in hac materia hoc peccatum est gravissimum. (...) Per aliae autem luxuriae species praeteritur solum id quod est secundum rationem rectam determinatum; ex praexuppositione tamen naturalium principiorum."1

Q[154] A[12] Body
I answer that, In every genus, worst of all is the corruption of the principle on which the rest depend. Now the principles of reason are those things that are according to nature, because reason presupposes things as determined by nature, before disposing of other things according as it is fitting. This may be observed both in speculative and in practical matters. Wherefore just as in speculative matters the most grievous and shameful error is that which is about things the knowledge of which is naturally bestowed on man, so in matters of action it is most grave and shameful to act against things as determined by nature. Therefore, since by the unnatural vices man transgresses that which has been determined by nature with regard to the use of venereal actions, it follows that in this matter this sin is gravest of all. After it comes incest, which, as stated above (A[9]), is contrary to the natural respect which we owe persons related to us.

111c Im Rahmen einer ganzheitlichen Sicht der menschlichen Person und ihrer natürlichen Strebungen wird der zitierte Gedankengang unmittelbar plausibel; es besteht nicht die geringste Gefahr einer naturalistischen Fehldeutung: Denn der "ordo naturalis" einer jeden natürlichen Neigung hinsichtlich seines "actus et finis proprius" ist Fundament und Prinzip, praesuppositum des "ordo rationis" und damit auch der "lex naturalis", ja des sittlichen Handelns überhaupt als menschliches Handeln, und im Speziellen: jeder Form von menschlicher Liebe. Was Prinzip, Fundament des "ordo rationis" oder "ordo virtutis" ist, besitzt deshalb selbst eine moralische Qualifizierbarkeit, und zwar nicht aufgrund seiner bloßen "Natürlichkeit", sondern kraft seines Charakters als eines "praesuppositum" für den "ordo virtutis", und damit für das menschliche Handeln als menschliches überhaupt. (Fs) (notabene)

112a Ist ein willentliches Handeln in diesem Sinne "contra naturam", so ist es zwar nicht unmittelbar "contra rationem", jedoch "contra naturam quam ratio praesupponit". Der Akt der "ratio naturalis" und damit die gesamte Ordnung des sittlichen Handelns wird durch ein solches "contra naturam agere" in seinem natürlichen Fundament verletzt und deshalb ist ein solches "contra naturam" ein fundamentaler Verstoß gegen die Ordnung der Vernunft in ihren Grundlagen. Das Verhältnis der "praesuppositio" zwischen Natur und Vernunft ist das entscheidende und einzige Kriterium dafür, daß ein Wollen eines solchermaßen ausgezeichneten "ontischen Übels" unmittelbar auch ein moralisches Übel zu sein vermag, bzw. dafür, daß es niemals nur ein "ontisches Übel" sein kann. (Fs) (notabene)

112b Nur in einer dualistischen, bzw. spiritualistischen Anthropologie kann eine solche "praesuppositio" übersehen werden, und zwar, weil dann sämtliche von der geistigen Sphäre des Menschen selbst unterscheidbaren Schichten der menschlichen Natur als sittlich indifferent und deshalb bezüglich der praktischen Vernunft und dem Willen nicht als Prinzipien, sondern instrumental aufgefaßt werden. Als eine Art "Rohmaterial" also, in welchem eine Ordnung, die mit dem "ordo moralis" einen inneren Bezug hätte, überhaupt noch nicht vorhanden wäre, sondern erst geschaffen werden müßte. Der Aufruf vieler Moraltheologen, jede moralische Verpflichtung bestünde einfach darin, "soviel ontisches Übel wie möglich zu verhindern", wobei kein "ontisches Übel" jedoch schon in sich auch ein moralisches Übel sein könne, mag zwar als Beleg für ihre edlen Absichten gelten, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie dabei die Grundstruktur praktischer Werterkenntnis und sittlichen Handelns verkennen, sowie auch, nebenbei bemerkt, die Wirklichkeit der "lex aeterna" und ihre Partizipation im Menschen. Damit werden wir uns noch eingehend beschäftigen. (Fs)

112c Mit dem hl. Thomas ist zu betonen, daß sowohl die spezifisch menschlichen Akte der Erkenntnis wie auch die der Liebe immer auf einem "ordo a natura determinata", und d. h. einer bestimmten natürlichen Neigung mit ihrem "finis et actus proprius" aufruhen und sich allein in ihrem Kontext überhaupt definieren und vollziehen lassen, - zumindest, soweit es vom Willen des Menschen abhängt. Das gilt selbstverständlich auch für die der geistigen Ebene zugehörige Ausrichtung des Intellektes auf die Wahrheit, die Erkenntnis Gottes ("desiderium naturale") und des Willens auf das Gute und auf das Du, die natürlicherweise einen "ordo iustitiae" begründen, der wiederum Grundlage aller menschlichen Liebe darstellt und auch im Kontext ehelicher Liebe konstitutive Bedeutung besitzt; denn eheliche Liebe vollzieht sich in der Einheit der Person auch immer in der Ordnung der Tugend der Gerechtigkeit. (Fs) (notabene)

112d Es soll damit unterstrichen werden, daß die moralische Qualifizierung eines "contra naturam agere" nicht einer Ableitung des "ordo moralis" aus dem "ordo naturae" entspricht. Sie entspringt vielmehr gerade umgekehrt, einer Interpretation des natürlichen "ordo" der natürlichen Neigungen im Lichte des "ordo rationis", bzw. der Tugend; sie beruht also auf der Erfassung der Beziehung einer "praesuppositio". Deshalb erweist sich die moralische Qualifizierung des "contra naturam agere" selbst als eine Leistung der praktischen Vernunft. (Fs) (notabene)

112e Ebenfalls wird nicht behauptet, der "ordo naturalis", den die Vernunft voraussetzt, sei "lex naturalis". Mit Thomas würden wir sagen: "pertinet ad legem naturalem", aber selbst ist er noch nicht "lex", denn diese besteht in der "ordinatio rationis" bezüglich dem "proprium" der natürlichen Neigungen, eine "ordinatio", die allerdings ohne dieses "praesuppositum" gar nicht zustande kommen könnte; d. h. sie könnte, wegen der Mißachtung der passiven Partizipation am Ewigen Gesetz (des "mensuratum esse" des Menschen) keine dem Ewigen Gesetz entsprechende "ordinatio" sein und würde deshalb ihren Charakter als "lex naturalis, quae est participatio legis aeternae in rationali creatura" grundlegend verfehlen. Deshalb kann man sagen: eine solche "ordinatio" entspräche auch nicht dem Willen Gottes. (Fs)

113a Wenn verstanden wird, daß es einen "ordo naturalis" gibt, "quem lex naturalis praesupponit", daß ohne ihn auch die "lex naturalis", der "ordo rationis" und der "ordo virtutis" ihr Fundament verlieren, so versteht man auch, weshalb durch ein solchermaßen qualifiziertes "contra naturam agere" überhaupt ein echtes, im Vollsinne menschliches Handeln, Erkennen und Lieben verunmöglicht wird. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Ehe; drei Ziele: finis primarius - finis secundarius - sakramentaler Sinn; Analogie zu "actus primus" (Substanz) und "actus secundus"

Kurzinhalt: Deshalb nennt man diesen gemeinschaftlichen Aspekt auch einen "finis secundarius"; nicht weil er nebensächlich wäre, sondern weil er auf dem "finis primarius" aufruht und ohne diesen gar nicht bestehen würde

Textausschnitt: 101b Eheliche Liebe (nicht als Liebe, sondern in ihrer Spezifität als eheliche Liebe zwischen Mann und Frau) ist ebenso nicht ein gewissermaßen nachträglich "inkarniertes", aber ursprünglich rein geistiges Phänomen. Sie entspringt vielmehr fundamental und ursprünglich dieser natürlichen Neigung der animalischen Natur des Menschen, zeigt sich jedoch aufgrund ihrer seinsmäßigen Integration in das Suppositum als etwas Neues: als menschliche Liebe zwischen Mann und Frau, die, wiederum aufgrund der spezifischen Würde des Menschen als geistiges Wesen, die Eigenart von ehelicher Liebe besitzt.1 (Fs)

101c Auch die Finalität der Fortpflanzung selbst - sowie das "bonum commune naturae" - erhält im Kontext des Suppositums "Mensch" eine höhere und neue Dimension. Denn sie ist jetzt nicht mehr nur auf das "bonum commune naturae" der Spezies gerichtet, sondern direkt auf das "bonum" eines neuen geistigen Individuums, einer Person in ihrer Individualität, die ebenfalls die "imago Dei" in sich trägt und aufgrund der Geistigkeit ihrer Seele, die Unsterblichkeit (= Inkorruptibilität) impliziert, auch als Individuum die Spezies transzendiert.2 Es handelt sich deshalb nicht nur um bloße Weitergabe des Lebens auf jener Ebene, der die entsprechende "naturalis inclinatio" entspringt, sondern um die Weitergabe von menschlichem Leben, also letztlich darum, "das Gottebenbild von Mensch zu Mensch weiterzugeben".3 (Fs)

102a In einer noch weitergehenden Durchdringung der Sinnfülle dieses Aktes und der Liebe, die seine Grundlage bildet, - ohne damit schon auf die eigentlich übernatürliche, theologische Ebene einzugehen -, unter der Berücksichtigung der Tatsache, daß beim Entstehen jeden menschlichen Lebens ein unmittelbarer göttlicher Schöpfungssakt bezüglich der menschlichen Seele impliziert ist, wird menschliche Fortpflanzung als direkte Mitwirkung an einem göttlichen Schöpfungsakt erkennbar.4 Damit wird auch deutlich - was hier nur am Rande vermerkt sei - daß die Weitergabe menschlichen Lebens (wie auch das menschliche Leben überhaupt) unter sämtlichen anderen in der Natur vorkommenden Phänomenen eine völlige Sonder- und Ausnahmestellung einnimmt. Die Weitergabe des menschlichen Lebens besitzt nicht jene Autonomie der "causa secunda", die sonst allgemein allen Naturphänomenen zuzusprechen ist; sie ist vielmehr ein Zusammenwirken von geschöpflichem Wirken des Menschen ("causa secunda") und dem schöpferischen Wirken Gottes, bezüglich dessen - d. h., was die Erschaffung der Seele und damit das menschliche Leben überhaupt betrifft - die "causa secunda" in etwa eine Art "causa instrumentalis" ist. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt, aufgrund dessen die nur beschränkte Verfügungsgewalt des Menschen über das menschliche Leben (das eigene und jenes des Nächsten) zu begründen ist.5 Das unmittelbar-schöpferische Wirken Gottes beim Entstehen eines jeden einzelnen menschlichen Lebens ist letztlich auch der Grund dafür, weshalb man von der "Heiligkeit" dieses Lebens spricht: Denn menschliches Leben ist nicht nur ein Naturphänomen; es ist das einzige Phänomen der körperlichen Welt, das sowohl in seiner Entstehung wie auch in seinem Bestehen die Natur gleichzeitig in den konstitutiven Prinzipien seines Seins transzendiert. (Fs)





Fußnote zu 101b

6 Die Ehe ist ja auch aufgrund der vernünftigen Natur des Menschen eine "communitas", die selbst als solche durch das Fundament, auf dem sie aufruht, ihre Spezifität erlangt. Deshalb nennt man diesen gemeinschaftlichen Aspekt auch einen "finis secundarius"; nicht weil er nebensächlich wäre, sondern weil er auf dem "finis primarius" aufruht und ohne diesen gar nicht bestehen würde. Auch das "dritte" Ziel oder Gut, der sakramentale Charakter der Ehe, bestünde ja gar nicht ohne die ersten beiden. Er ist aber im Kontext eines christlichen Lebens der entscheidende und wichtigste Gesichtspunkt, schließt jedoch die anderen Ziele ein. Die "Rangordnung" bezeichnet einen Konstituierungszusammenhang, ist aber kein wertendes Urteil über die Bedeutsamkeit der einzelnen Ziele. Das Verhältnis ist analog zu jenem zwischen "actus primus" (Substanz) und "actus secundus" (die "operatio"); der erste ist fundierend; ohne ihn gäbe es keinen "actus secundus"; der letztere, die "operatio" steht aber gerade in der Ordnung der Vollkommenheit höher ("operatio est ultima perfectio rei"), denn er schließt das Gründende ein, setzt es voraus und vervollkommnet es. Anders ist auch die Lehre vom "finis primarius" und "secundarius" der Ehe nicht zu verstehen.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Ehe; Erschaffung der Seele; Kreationismus; causa secunda

Kurzinhalt: Die Eltern sind vielmehr Ursache auch der Beseelung, des Personseins, aber auf instrumentale Weise. Das heißt: Gott wirkt nicht "neben" den Eltern in die kategoriale Welt hinein, ...

Textausschnitt: 102a [...] Die Weitergabe des menschlichen Lebens besitzt nicht jene Autonomie der "causa secunda", die sonst allgemein allen Naturphänomenen zuzusprechen ist; sie ist vielmehr ein Zusammenwirken von geschöpflichem Wirken des Menschen ("causa secunda") und dem schöpferischen Wirken Gottes, bezüglich dessen - d. h., was die Erschaffung der Seele und damit das menschliche Leben überhaupt betrifft - die "causa secunda" in etwa eine Art "causa instrumentalis" ist. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt, aufgrund dessen die nur beschränkte Verfügungsgewalt des Menschen über das menschliche Leben (das eigene und jenes des Nächsten) zu begründen ist.1 Das unmittelbar-schöpferische Wirken Gottes beim Entstehen eines jeden einzelnen menschlichen Lebens ist letztlich auch der Grund dafür, weshalb man von der "Heiligkeit" dieses Lebens spricht: Denn menschliches Leben ist nicht nur ein Naturphänomen; es ist das einzige Phänomen der körperlichen Welt, das sowohl in seiner Entstehung wie auch in seinem Bestehen die Natur gleichzeitig in den konstitutiven Prinzipien seines Seins transzendiert.

Fußnote:

10 Dies zu betonen ist angesichts der oftmaligen Schwierigkeiten, z. B. die sittliche Dimension des Selbstmordes richtig zu beurteilen, wichtig. Bezüglich des Verfügungsrechtes, das der Mensch über das menschliche Leben besitzt, kann man nicht aufgrund der sonst generell einschlägigen Struktur der "causa secunda" argumentieren, weil der Mensch als "causa secunda" allein das menschliche Leben gar nicht weiterzugeben vermöchte; er kann dies nur in einer Mitwirkung mit der unmittelbar schöpferischen Kausalität Gottes, in etwa vergleichbar mit einer "causa Instrumentalis", so daß das Leben eines jeden einzelnen Menschen in einer ganz besonderen und einmaligen Weise "Geschenk" und "Leihgabe" ist, über die also der Mensch nicht als "Eigentümer", sondern als "Verwalter" verfügt. Bedauerlicherweise hat B. Schüller in seiner Kritik traditioneller Argumente für das Tötungsverbot diesen entscheidenden Aspekt übergangen und die metaphysische Beziehung der Geschöpflichkeit des Menschen auf ein (sowieso bezüglich aller Geschöpfe bestehendes) "exklusives Herrscherrecht" Gottes reduziert (vgl. B. SCHÜLLER, Die Begründung sittlicher Urteile, 2. Aufl. Düsseldorf 1980, S. 238-251). Der Vorwurf des Anthropomorphismus, den J. FUCHS gegenüber dem sogenannten "Kreationismus" (unmittelbare Erschaffung der Seele durch Gott) vorgebracht hat, scheint mir auf einem Fehlverständnis göttlicher Kausalität zu beruhen (vgl. J. FUCHS, Das Gottesbild und die Moral innerweltlichen Handelns, in: Stimmen der Zeit 202 (1984), S. 363-382). Nach Fuchs wäre, gemäß diesem Argument, Gott durch Eingreifen Ko-Operator der Eltern. Durch die Erschaffung der Seele würde sich Gott dabei ein innerweltliches Recht vorbehalten. Die Eltern wären nur Ursache des "biologischen Substrats"; Gott Ursache des Personseins. Gott wirke in dieser Welt nur durch Zweitursachen; deshalb müssen auch die Eltern Ursache des ganzen Menschen sein, d. h. der Seele in derselben Weise wie des Körpers. Diese Auffassung, gemäß dem "Kreationismus" seien die Eltern nur Ursache des "organischen Substrates", oder Gott wirke als ko-operative Ursache in die kategoriale Welt hinein, muß jedoch als fundamentales Mißverständnis bezeichnet werden. Die Eltern sind vielmehr Ursache auch der Beseelung, des Personseins, aber auf instrumentale Weise. Das heißt: Gott wirkt nicht "neben" den Eltern in die kategoriale Welt hinein, sondern erhebt im Zeugungsakt die Eltern aus der kategorialen Ebene der Zweitursächlichkeit auf die Ebene geschöpflicher Ursächlichkeit; die Eltern wirken kooperativ mit Gott, und nicht umgekehrt. Das ist nicht eine anthropomorphe Erklärung. Vielmehr scheint Fuchs den Fehler zu begehen, das "kreationistische" Argument anthropomorph zu verstehen, um es dann aufgrund dieses Vorverständnisses zu kritisieren.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Humanae vitae; Kontrazeption, Sexualität, Keuschheit; Unterscheidung: prokreativer Sinngehalt - verantwortungsvolle Elternschaft

Kurzinhalt: ... die Befürworter einer sittlichen Legitimität der Kontrazeption unter den katholischen Moraltheologen gehen ja in der Regel davon aus, daß die Kontrazeption das gleiche Ziel anstrebe, wie die natürliche Familienplanung ...

Textausschnitt: Fußnote zu 115a:

[...] Es scheint mir von großer Wichtigkeit, die beiden Fragen nach dem prokreativen Sinngehalt der ehelichen Liebe (Zusammenhang zwischen ehelicher Liebe und Fortpflanzung) einerseits, und den Akten der Wahrnehmung verantwortlicher Elternschaft andererseits zu unterscheiden, was in der Diskussion nicht immer der Fall ist und zu Ungenauigkeiten führt. Die Kontrazeption zum Zwecke der prinzipiellen Ausschaltung der prokreativen Dimension der menschlichen Sexualität steht im Folgenden nicht zur Diskussion. Sondern einzig und allein die Frage nach der Sittlichkeit der Akte der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung, der Regulierung der Fruchtbarkeit also, unter der Voraussetzung, daß der prokreative Sinn der menschlichen Sexualität grundsätzlich anerkannt bleiben soll. Denn die Befürworter einer sittlichen Legitimität der Kontrazeption unter den katholischen Moraltheologen gehen ja in der Regel davon aus, daß die Kontrazeption das gleiche Ziel anstrebe, wie die natürliche Familienplanung, daß sie also nicht einer negativen Einstellung gegenüber dem prokreativen Sinn der ehelichen Liebe entspringe, sondern nur eine andere Methode zur verantwortlichen Regulierung dieser an sich unbestrittenen prokreativen Folgen der Sexualität sei. Es zeigt sich dann allerdings, daß diese Rechnung nicht aufgeht, d. h. daß auch eine in dieser Absicht praktizierte Kontrazeption schließlich zu einer anti-prokreativen Einstellung führt; das ist jedoch eine Folge der Kontrazeption, die zwar für die Erkenntnis ihrer anthropologischen und ethischen Fragwürdigkeit ins Gewicht fällt, nicht jedoch den Punkt bezeichnet, welcher den Grund dieser Fragwürdigkeit ausmacht.


115c Das Anliegen von HV stellt sich vor allem in den Kontext der zweiten Frage, wie Verantwortlichkeit in der Elternschaft auszuüben sei, um zum Schluß zu gelangen, daß dafür der Weg der künstlichen Empfängnisverhütung aus moralischen Gründen auszuschließen sei. Versuchen wir kurz den Weg dieser Argumentation zu skizzieren, indem wir diese gleichzeitig in die Ergebnisse der vorhergehenden Darlegungen einfügen und sie dadurch entsprechend näher beleuchten. (Fs)

115d Der Mensch ist dazu berufen, die Aufgabe der Weitergabe des menschlichen Lebens, als Mitwirken an der göttlichen Schöpferliebe, auf vernünftige und verantwortliche Weise wahrzunehmen, gleichsam als Interpret dieser Liebe und "sibi ipsi et aliis providens", also gemäß einer "ordinatio rationis" der "lex naturalis". Es handelt sich beim Menschen nicht um eine trieb- oder instinktgesteuerte, sondern um eine vernünftig-willentliche, und damit also: um verantwortliche Elternschaft. Das Maß seiner aktiven Mitwirkung an der göttlichen Weltregierung und somit seiner vernünftigen Teilnahme an der göttlichen Vorsehung bezüglich der Schaffung neuen menschlichen Lebens, die, obwohl der Mensch nur Mitwirkender ist, dennoch von seinem Mitwirken-Wollen abhängt, dieses Maß verleiht dem Menschen nicht die natürliche Neigung als solche mit ihren naturalen Antrieben, sondern die Vernunft. Der Akt der Weitergabe des menschlichen Lebens ist deshalb nicht ein Akt der Zeugungspotenz, sondern ein personaler Akt (ein "actus humanus"), ein Akt, der also wesentlich ein vernunftgeprägter Willensakt, oder, was im Falle der willentlichen Verbindung von Mann und Frau dasselbe ist: ein Akt menschlicher Liebe ist. (Fs)

[...]

117b Dabei lehrt nun die Enzyklika - und darin liegt ja der strittige Punkt - daß das einzig sittlich adäquate Mittel der Einschränkung oder Regulierung der Fruchtbarkeit die Enthaltsamkeit ist, während die "direkte, dauernde oder zeitlich begrenzte Sterilisierung des Mannes oder der Frau" sowie jede Handlung als unsittlich verurteilt wird, "die entweder in Voraussicht oder während des Vollzuges des ehelichen Aktes oder im Anschluß an ihn beim Verlauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel" (Nr. 14). (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Prinzipienerkenntnis und affektive Disposition

Kurzinhalt: Den bloß Unenthaltsamen oder moralisch Schwachen vergleicht deshalb Aristoteles mit "einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, ...

Textausschnitt: 267b Denn wie Aristoteles betont, "verdirbt" das Laster "das Prinzip". Nicht jedes Urteilen allerdings wird durch "Lust und Unlust verdorben und verkehrt". So etwa ist das "Urteil über die Frage, ob das Dreieck eine Winkelsumme hat, die zwei rechten Winkeln gleich ist" affektiv nicht gefährdet; es ist ein rein theoretisches Urteil. Gefährdet sind hingegen Urteile, die affektiv gebunden sind, also solche der praktischen Vernunft, "Urteile über das, was man tun soll. Denn die Prinzipien der Handlungen liegen in ihren Zwecken. Ist man aber einmal durch Lust oder Unlust bestochen, so verbirgt sich einem sofort das rechte Prinzip, und man vergisst, dass man seinetwegen und um seinetwillen alles wählen und tun soll. Denn es ist der Schlechtigkeit eigen, das Prinzip zu verderben"1. (Fs) (notabene)

267c Erworbene affektive Dispositionen, also Tugenden und Laster, haben einen Einfluss sowohl auf die Erkenntnis der Prinzipien wie auch auf ihre handlungsleitende Effizienz. Der Tugendhafte tut das Gute aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Guten. Das intentionale Zielstreben seiner affektiven Dispositionen bewirkt gerade, dass er mit Leichtigkeit, Beständigkeit und Freude tut, was den Prinzipien entspricht. "Tugend, natürliche oder durch Gewöhnung erworbene, lehrt, die rechte Auffassung über das Prinzip des Handelns zu besitzen"2. Dadurch wird Klugheit möglich, die ein "untrüglicher, vernünftiger Habitus des Handelns ist in Dingen, die die menschlichen Güter betreffen"3. (Fs)

267d Der Unenthaltsame hingegen weiß zwar, was gut ist, er verfällt jedoch dem Wahlirrtum: Sein praktisches Urteil in der Handlungswahl wird affektiv fehlgeleitet. Aber "er hat das Beste, das Prinzip nicht verloren"4. Typisch ist in diesem Fall nachträgliche Einsicht und Reue5. Der eigentlich Lasterhafte jedoch besitzt anstelle der Prinzipien ein anderes Prinzip, nämlich jenes, das seinen affektiven Dispositionen entspricht. Den bloß Unenthaltsamen oder moralisch Schwachen vergleicht deshalb Aristoteles mit "einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, dieselben aber nicht in Vollzug bringt"; der Lasterhafte jedoch "gleicht einer Stadt, die ihre Gesetze zwar in Vollzug bringt, aber schlechte Gesetze hat"6. (Fs) (notabene)

268a Das aber macht das Geschäft der Ethik selbst zu einer gefährdeten Aufgabe. Aristoteles betont gleich zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik, dass derjenige, der "den Leidenschaften gemäß lebt" und nicht der Vernunft gemäß, kein geeigneter Hörer von Ethikvorlesungen ist. Diese Aussage ist freilich eine Zumutung. Aber ist sie deshalb weniger wahr? Auch wenn man sie wohl in dem Sinne präzisieren müsste, dass kein geeigneter Hörer der Ethik jener sei, der nicht zumindest die Absicht verfolgt oder sonst irgendwie gewillt ist, der Vernunft gemäß zu handeln. Denn genau dieser ist es ja, der nicht auf Gründe hören will, und dem ebenfalls nicht daran liegt, seine Präferenzen und Prioritäten zu hinterfragen und sie gegebenenfalls zu revidieren. Genau das ist jedoch das Geschäft der Ethik. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Definition: Tugend (Thomas vs. Augustinus)

Kurzinhalt: "Die [sittliche] Tugend ist ein Habitus des Wählens, der die in Bezug auf uns bemessene Mitte hält, gemäß der Bestimmung durch die Vernunft, und zwar so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt"

Textausschnitt: 177a Thomas v. Aquin legt seiner Tugendlehre - der Gepflogenheit seiner Zeit entgegen - nicht die Augustinische, sondern die Aristotelische Definition der sittlichen Tugend zugrunde1. Diese lautet: "Die [sittliche] Tugend ist ein Habitus des Wählens, der die in Bezug auf uns bemessene Mitte hält, gemäß der Bestimmung durch die Vernunft, und zwar so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt"2. (Fs)

177b Die Hauptelemente dieser Definition sind die folgenden:
(1) Sittliche Tugend ist ein "Habitus des Wählens" (griech. hexis prohairetike; lat. habitus electivus). (Fs)
(2) Dieser Habitus, bzw. die Wahl bezieht sich auf eine "Mitte" (griech. mesotes; lat. medietas). (Fs)
(3) Diese Mitte, bzw. der Akt des Habitus (die Handlungswahl) wird durch die Vernunft bestimmt (griech. logos; lat. ratiö)
(4) Die Vernunft ist diejenige eines "klugen Mannes" (griech. phronimos; lat. eigentlich "prudens" oder sapiens, wobei damit Klugheit als "praktische Weisheit" bezeichnet wird)3. "Norm" ist also nicht irgendeine Vernunft, sondern die Klugheit: orthos logos oder recta ratio (agibilium). (Fs)

177c Eine sittliche Tugend vervollkommnet als Habitus die Handlungswahl, das heißt die "Wahl der Mittel" (die electio), und damit bewirkt sie im eigentlichen Sinne gutes Handeln. Die sittliche Tugend ist also in allen Fällen Vollkommenheit des wählenden und d.h. des handlungs-auslösenden Aktes des Willens, dies auch dann, wenn sie eigentlich und unmittelbar die Vollkommenheit eines sinnlichen Strebens ausmacht. Wir verstehen das, wenn wir uns an die früheren Ausführungen über das Verhältnis zwischen Wille, Vernunft und Leidenschaft und die dort angesprochene Möglichkeit von Wahlirrtum und Wahlunwissenheit erinnern. Genau vor dieser Art Irrtum und Unwissenheit bewahrt sittliche Tugend. Und umgekehrt: Sittliche Tugend garantiert die Vernunftgemäßheit jenes Urteils, das in einem Wahlakt in volviert ist und diesen bestimmt: Das affektiv geleitete konkrete, letzte, unmittelbar handlungsauslösen-de Urteil der praktischen Vernunft. (Fs)

178a Zweitens besteht, gemäß der genannten Definition, sittliche Tugend in einer "Mitte"; diese Mitte ist eine Mitte "in Bezug auf uns", und sie ist durch die Vernunft bestimmt, und zwar durch jene Vernunft, die Klugheit genannt wird. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Unfehlbarkeit, Klugheit

Kurzinhalt: Die "Unfehlbarkeit" der Klugheit meint eben, dass der Kluge unfehlbar wählt, was "gut" ist, was "sittlich richtig" ist, d.h. was mit den Zielen der Tugenden übereinstimmt

Textausschnitt: [...] Die "Unfehlbarkeit" der Klugheit meint eben, dass der Kluge unfehlbar wählt, was "gut" ist, was "sittlich richtig" ist, d.h. was mit den Zielen der Tugenden übereinstimmt. "Von der Sache her" ist es vielleicht nicht unbedingt das Beste (es kann auch durchaus nur "für mich das Beste" sein, aufgrund ganz persönlicher Umstände). Diese moralische Unfehlbarkeit kann auch - besonders in komplexen und neuartigen Situationen - einhergehen mit Unsicherheit, Schwanken oder subjektiver Ungewissheit. Aber das Tun des Klugen wird immer ein solches sein, das mit dem Ziel der Tugend in Übereinstimmung steht; er wird nichts Ungerechtes tun, nicht überstürzt oder maßlos handeln. Gerade im Bereich der Tugenden des Maßes und des Starkmutes werden ihn seine wohlgeordneten Affekte einen klaren Kopf bewahren helfen, wodurch es ihm einfach fallen wird, das Richtige zu sehen. Er wird nicht aus Feigheit, Bequemlichkeit, Ressentiment u. ä. zu Ungerechtem neigen, etwa parteilich sein; er wird sich nicht, da lasterhaft, ein X für ein U vormachen. Er hat ein Gespür für das Recht des anderen, er liebt die Wahrheit, auch wenn sie ihm unbequem ist. Er ist fähig, loyal zu sein, opferbereit, solidarisch, d.h. ihm ist es am Wohl des Mitmenschen wirklich gelegen, er hat ein aufrichtiges Interesse daran (gemäß der Goldenen Regel), und deshalb werden seine Handlungsurteile gerecht sein. (Fs)


262b Es geht demnach um die Frage, wie jeneslnenschlich Gute, das der Intellekt auf der allgemeinen Ebene der Prinzipien erkennt bzw. als praktisches Gebot konstituiert, bis hin auf das konkrete Handeln übertragen werden kann, so dass] dieses Handeln eben tatsächlich mit diesem Guten übereinstimmt (dies ist die praktische/Wahrheit des Handlungsurteils), d.h. den Menschen zu diesem Guten hinführt und in so zu/einem "guten Menschen" werden lässt. Wir wollen ja gerechte Menschen sein; aber Gerechtigkeit können Wir praktisch nicht verwirklichen, indem wir einfach nach Gerechtigkeit streben; wir müssen Gerechtes tun und uns von Ungerechtem enthalten. Der Kluge ist derjenige, der - was auch immer er wählen mag - wählt, was mit dem Ziel der Gerechtigkeit in Übereinstimmung steht und damit dieses Ziel und das entsprechende Prinzip erfüllt. Darin besteht seine "Unfehlbarkeit", die aber nicht impliziert, dass zwischen dem "Prinzip Gerechtigkeit" und der konkreten, durch die Klugheit bestimmten Handlung gleichsam eine ein-eindeutige Beziehung bestünde. Und noch weniger ist gemeint, dass aus allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien irgend etwas für das konkrete Handeln abgeleitet oder erschlossen werden könnte. Dennoch aber ist die konkrete gerechte Handlung eben Verwirklichung und Erfüllung des Prinzips Gerechtigkeit, und damit von Vernünftigkeit, wodurch der Handelnde zu einem gerechten Menschen wird, - sogar wenn er sich hie und da in der Sache irrt oder sub-optimal handelt. Diese sittliche "Unfehlbarkeit" der Klugheit enthebt sie deshalb auch nicht der Aufgabe des ethisch-normativen Diskurses. Darauf wurde bereits im Abschnitt über die Tugend der Klugheit hingewiesen. Nun ist aber, im nachfolgenden Exkurs, noch auf einen weiteren Aspekt der eben behandelten Thematik einzugehen: die Frage der Gewissheit konkreter Handlungsurteile. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Praktische Vernunft; Gewissheit; konkret - allgemein

Kurzinhalt: die "Gewissheit der Erkenntnis des Anspruchs" nehme "im Prozess der konkretisierenden Determination" ab, würde bedeuten,

Textausschnitt: 264a Etwas ganz anderes bedeutetete es allerdings zu behaupten - genau dies wird aber von den genannten Interpreten offensichtlich behauptet -, mit zunehmender Konkretisierung wachse auch die Unsicherheit des Handlungsurteils, als ob der Handelnde bezüglich des konkret zu Tuenden, weil es partikular ist, nie zur Gewissheit kommen könne, sittlich richtig, d.h. in Erfüllung des Prinzips gehandelt zu haben; und deshalb sei auch die Verbindlichkeit konkreter praktischer Urteile geringer, als jene allgemeiner Regeln, die mit Notwendigkeit und ausnahmslos gelten. In diese Richtung scheinen in der Tat gewisse Äußerungen etwa von L. Honnefelder1 und F.-J. Bormann2 zu zielen. Schockenhoff hingegen drückt sich in dieser Beziehung eher unklar und zweideutig aus: "Deshalb kann es auf der Ebene der konkreten Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft überhaupt keine allen gemeinsame Wahrheit oder praktische Richtigkeit mehr geben, denn die einzelnen Handlungen entziehen sich in ihrer Singularität und Kontingenz der Erkenntnis durch allgemeine und notwendige Begriffe"3. Zu sagen, das Singuläre entziehe sich "in seiner Singularität und Kontingenz" dem allgemeinen Begriff, ist nun freilich zunächst wiederum trivial und schlicht tautologisch4. Aber was soll heißen, es gebe "auf der Ebene der konkreten Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft überhaupt keine allen gemeinsame Wahrheit oder praktische Richtigkeit"? Von einem aristotelischen Standpunkt her ist diese Aussage nicht vertretbar. Was Aristoteles praktische Wahrheit" nennt, ist ja gerade das verschiedenen konkreten praktischen Urteilen Gemeinsame: ihre Übereinstimmung mit dem "richtigen Streben", d.h. mit den Zielen der sittlichen Tugenden. Gerade diese Art von Wahrheit und Allgemeinheit ist die Weise, in der auch das Singuläre, Kontingente, das operabile in seiner Konkretion, "wahr" genannt werden kann; ein genuin praktischer Typus von Wahrheit, welche das operabile in seiner Singularität und Kontextualität nicht aufhebt, es aber gleichzeitig intentional einem praktischen, jeweils das Ziel einer sittlichen Tugend formulierenden Prinzip zuordnet, so dass sie dann auch, je nach dem, eine "gerechte", "maßvolle", oder "tapfere" Handlung genannt werden kann. Die "Wahrheit" des Konkreten besteht damit letztlich darin, dass es durch das Prinzip, das es zu verwirklichen vorgibt, gerechtfertigt und in diesem Sinne aus ihm "abgeleitet" werden kann; seine Unwahrheit läge im Widerspruch zu diesem Prinzip, in seiner "Unableitbarkeit" also. Präzis in diesem Sinn ist eben auch die nur in der letzten Konkretion des Einzelfalles bestehende Praxis auch der Erkenntnis durch allgemeine Begriffe zugänglich und kann es deshalb auch eine praktische Wissenschaft geben5. (Fs)

265a Wiederum trivial ist auch, dass konkrete Handlungsurteile in vielen Fällen auf Grund der Komplexität der Materie oder der Umstände den Handelnden in Unsicherheit oder sogar Perplexität belassen. Das wiederum liegt jedoch nicht an der Konkretion des Urteils als solcher, sondern an der Komplexität der Materie und der Umstände. Handlungstheoretisch und aus der Perspektive des Handlungssubjekts betrachtet muss hingegen betont werden, dass gerade das konkrete Handlungsurteil einen höheren Grad von Gewissheit aufweisen muss, als das allgemeine Prinzip. Gerade die Allgemeinheit von Prinzipien, gestattet ja wegen ihrer praktischen Unterdeterminiertheit noch gar kein konkretes Handeln - und Handeln ist immer konkret - und belässt damit den zum Handeln Aufgerufenen in einem Zustand der Ungewissheit und Unentschlossenheit; und dies solange, bis er zur Konkretion hinsichtlich des z.B. hier und jetzt "Gerechten" bzw. des dem Mitmenschen Geschuldeten und Zuträglichen gelangt ist. Handeln kommt gerade dann zustande, wenn jener Grad von Gewissheit erlangt ist, den allein die Konkretisierung des Prinzips durch das Urteil der Klugheit ermöglicht. Der Handelnde wird dann den letzten, handlungsauslösenden Spruch seiner praktischen Vernunft (das iudicium electionis) als das verbindlichste aller Urteile empfinden und sich deshalb auch "verpflichtet" fühlen, zu tun, was die Vernunft ihm gebietet. Wie Honnefelder zu behaupten, die "Gewissheit der Erkenntnis des Anspruchs" nehme "im Prozess der konkretisierenden Determination" ab, würde bedeuten, mit zunehmender Konkretisierung praktischer Vernunft entfernte sich das handelnde Subjekt immer mehr vom Entschluss zum Handeln, um schließlich beim Urteil über die Einzelhandlung angelangt, sich hinsichtlich des sittlich Gebotenen im Zustand maximaler Unsicherheit zu befinden. Was abnimmt, ist allein die Verallgemeinerungsfähigkeit des konkret-situativen Anspruchs, die mögliche Richtigkeit dieser konkreten Handlungsweise für andere bzw. für alle Fälle. Aber auch das ist wiederum trivial. (Fs) (notabene)

265b Mit dem genannten "Gesetz der abnehmenden Gewissheit" und der damit verbundenen Interpretation der Mehrstufigkeit praktischer Vernunft wird in der Tat zuweilen erheblicher Missbrauch getrieben. [...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Ethik: Objektivität - Subjektivität; Wahrheit der Subjektivität

Kurzinhalt: "Objektivität" - wie später noch eingehend gezeigt werden soll - ist in der Perspektive der Moral kein Gegenbegriff zu "Subjektivität", sondern vielmehr eine bestimmte "Verfasstheit" von Subjektivität,

Textausschnitt: 52a Ethik ist also Lehre von der Tugend. Damit haben wir weit vorgegriffen. So viel soll festgehalten werden: Wir suchen nicht eine "Objektivität" der "universalen Vernunftimperative" oder einer "menschlichen Natur" oder eines "besten Weltzustandes" oder eines zwanglosen Konsenses aller Teilnehmer an einem idealen Diskurs. Gesucht sind vielmehr die Bestimmungskriterien für eine Art von Objektivität, die wir die Wahrheit der Subjektivität nennen können: Die Wahrheit praktischer Urteile von Handlungssubjekten über das ihrem Streben gegenständliche Gute. Das heißt nicht, Praxis und Ethik hätten nichts mit "universalen Imperativen der Vernunft", mit "menschlicher Natur" oder mit dem "besten Zustand der Welt" zu tun. Gemeint ist vielmehr, dass wir darin für die ethische Reflexion keinen Ausgangspunkt finden können. (Fs)

52b Damit soll gleich zu Beginn hervorgehoben werden, dass der Gegensatz "subjektiv"-"objektiv" in der Ethik die Perspektive verfälscht. Das "sittlich Gute" (oder "Richtige") ist weder eine von bloßer Subjektivität abgehobene Objektivität, noch auch etwas "Subjektives" im Sinne eines "subjektivistischen" Relativismus. "Objektivität" - wie später noch eingehend gezeigt werden soll - ist in der Perspektive der Moral kein Gegenbegriff zu "Subjektivität", sondern vielmehr eine bestimmte "Verfasstheit" von Subjektivität, nämlich deren Wahrheit. Die grundlegende Perspektive der Moral ist jedoch wesentlich immer die Perspektive der Subjektivität, d.h. des strebenden und aufgrund seines Strebens handelnden Subjekts. (Fs) (notabene)
Kommentar (09/29/06): interessant in Bezug auf Lonergan.

52c Um die Frage nach den Bedingungen der Wahrheit der Subjektivität zu klären, werden mehrere Schritte nötig sein. Ja die ganze Ethik ist nichts anderes als die Klärung dieser Frage. Sie hat es demnach auch - wie jedes Wissen - mit Wahrheit zu tun1. (Fs)

52d Ethik beginnt demnach mit einer handlungstheoretischen Fundamentalanalyse, die selbst wiederum nichts anderes ist, als eine Theorie des moralischen Subjekts. Und die Entfaltung der Ethik ist die Entfaltung dieser Analyse und Theorie des handelnden Menschen. Das ist es, was uns interessiert: Uns selbst als handelnde Wesen zu verstehen. (Fs)

52e Es ist deshalb durchaus einleuchtend, dass Thomas von Aquin den moraltheoretischen Teil seines systematischen Hauptwerkes mit der Frage eröffnet, ob es dem Menschen eigen sei, um eines Zieles willen zu handeln1. Die Zielgerichtetheit menschlichen Handelns und die Grundkategorien, die aus deren Analyse gewonnen werden können, sollen hier als Ausgangspunkt für das Weitere dienen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Das letzte Ziel und das Glück; Glücksstreben; Glück; glückliches Leben; Aristoteles, Thomas, omnes appetunt suam perfectionem adimpleri; Tautologie; Glückseligkeit

Kurzinhalt: Etwas um seiner selbst willen erstreben heißt, etwas zu wollen, das man in jeder erdenklichen Hinsicht und ohne Abstriche für gut zu halten fähig ist ... Ein Streben, das ins Unendliche fortgeht, wäre leer und vergeblich ...

Textausschnitt: 62b Zur ersten Frage: Es ist wohl möglich, ein Leben ohne einheitsstiftendes Ziel zu führen. Es wäre jedoch ein orientierungsloses Leben. Wir müssen diese Antwort aber noch etwas präzisieren: Wenn es auch möglich ist, ein solches orientierungsloses Leben zu führen, ein Leben also, das nicht in Permanenz von einem einzigen Ziel dominiert wird, so ist es doch nicht möglich in einer bestimmten Tätigkeit nicht jeweils ein Letztes zu verfolgen. Auch wenn dieses Letzte je nach Tätigkeit variiert, so ist ein Letztes doch immer da, denn sonst würde man sich zu gar keinem Tun entschließen können; bzw. es handelte sich nicht um eine echte menschliche Handlung, sondern um außengeleitetes Tun, das im Extremfalle ein pathologisches Phänomen wäre. (Fs) (notabene)

62c Wir müssen also nicht behaupten - und Aristoteles beispielsweise behauptet es ebenfalls nicht -, dass die Vielfalt aller Strebungen und Handlungen notwendigerweise in einem Ziel enden müssen. Das einzige was bisher gesagt sein muss, ist, dass jede einzelne Folgereihe von Strebungen notwendigerweise in einem Letzten endet1. Wer jeden Morgen ins Büro geht, tut dies mit Sicherheit aus irgend einem Letzten, das er damit erstrebt; aber dieses Letzte braucht nicht dasselbe zu sein, wie jenes, das er im täglichen Fitnesstraining erstrebt. Somit hat jede Praxis das ihr eigene letzte Ziel: Hier z.B. "Arbeiten" und "die Gesundheit erhalten". (Fs)

62d Die Frage ist nur, ob "Arbeiten" und "Gesundheit erhalten" wirklich als ein Letztes schlechthin erstrebt werden. Und damit ist nun etwas anderes gemeint: Nämlich ob wir solches um seiner selbst willen erstreben, oder doch nicht wiederum um eines anderen willen. Auf dieser Ebene ist es nun gar nicht möglich, zugleich um seiner selbst willen sowohl "Arbeiten" als auch "Gesundheit erhalten" zu erstreben. Das ergäbe innere Konflikte und zuweilen wohl auch solche im äußeren Verhalten. Hier geht es nicht mehr um die Ausrichtung einzelner Tätigkeiten auf ein Letztes, sondern das Sich-Ausrichten des Handelnden selbst als praktisches Subjekt überhaupt auf ein Letztes; also die Ausrichtung des ganzen Lebens auf ein Letztes. Wer dieses Letzte in der Erhaltung der Gesundheit sieht, der würde wohl auch zuweilen nicht zur Arbeit gehen, selbst wenn er dabei riskierte, seine Stelle zu verlieren und arbeitslos zu bleiben. Würde er zugleich auch das Letzte seines Lebens im Arbeiten erblicken, so müsste er zuweilen wohl auch an der Erhaltung seiner Gesundheit Abstriche machen. Die Position wäre also selbstwidersprüchlich und unmöglich. Würde der Betreffende jedoch je nach Situation sein letztes Ziel modifizieren, so würden wir ihn eher als eine charakterlosen Menschen einstufen. (Fs) (notabene)

63a Wollen wir denn nun aber überhaupt etwas um seiner selbst willen? Zunächst wäre zu klären, was denn mit "etwas um seiner selbst willen erstreben" gemeint ist. Etwas um seiner selbst willen erstreben heißt, etwas zu wollen, das man in jeder erdenklichen Hinsicht und ohne Abstriche für gut zu halten fähig ist, so dass gar keine Möglichkeit mehr besteht, es nochmals auf ein anderes hinzuordnen. Es handelte sich um ein Gut, in dessen Erlangung jegliches Streben gesättigt ist, seine Erfüllung findet und zum Stillstand kommt. Und da wir uns im Bereiche von Praxis bewegen, müsste es ein praktisches Gut sein, das heißt ein Gut, das in irgendeiner Form Gegenstand oder Inhalt einer Tätigkeit sein kann. Es handelte sich dabei folglich um eine Tätigkeit, die um keiner anderen willen vollzogen wird, sondern die in sich selbst ihr Ziel besitzt; die also gut ist, obgleich sie zu nichts weiterem gut ist. (Fs) (notabene)

63b Aristoteles nun sagt uns: Wenn es uns in unserem Handeln letztlich nicht um ein solches Gut zu tun wäre, dann "ginge die Sache ins Unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel"1. Was ist hier gemeint? Genau das, was Thomas mit dem Satz "omnes appetunt suam perfectionem adimpleri"2 ausdrückt, was wir sinngemäß übersetzen können mit "alle streben nach der Vollendung ihrer selbst". Doch damit scheinen wir bei einer perfekten Tautologie folgender Art angelangt zu sein: Ein Streben, das ins Unendliche fortgeht, wäre leer und vergeblich, weil ein Streben, das jedes Gut immer nun um eines anderen willen zu erlangen suchte, eben ins Unendliche fortginge, d.h. nie zum Letzten: zur Vollendung gelangte. (Fs) (notabene)

63c In Wirklichkeit ist dies aber keine Tautologie, sondern die Beschreibung eines anthropologischen (oder handlungspsychologischen) Grundsachverhaltes. Er meint nichts anderes als, dass wir eben immer ein Letztes überhaupt erstreben. Es handelt sich hier um ein handlungspsychologisches Faktum. Nun gibt es solche, deren dominierendes Lebensziel in der Gesundheit besteht, andere, bei denen dies das materielle Wohlergehen, die Anerkennung durch andere, der Sinnengenuss oder das Erleben von Abenteuern ist. Was uns aber interessiert ist im Augenblick nicht, weshalb einer z.B. das materielle Wohlergehen als Lebensziel verfolgt. Sondern, was er eigentlich im Erstreben von Besitz als Lebensziel erstrebt. Wir würden sagen: Er glaubt darin sein Glück zu finden. Und was wir damit meinen ist: Er glaubt darin jenes zu finden, was man um keines anderen willen erstrebt, sondern um seiner selbst willen. Da wir also tatsächlich alle ein Letztes wollen, weil sonst alles Wollen leer und vergeblich wäre (das ist das Faktum) so wollen wir das, was wir jeweils als ein Letztes wollen (z.B. Besitzen materieller Güter) unter dem Gesichtspunkt, unser Streben zu erfüllen. Und erfülltes Streben, gesättigtes Wollen ist nun genau das, was alle Glück nennen. Es handelt sich dabei um einen "schwachen" Begriff von Glück, weil er noch in keiner Weise entscheidet, worin denn nun genauer "Glück" besteht. (Fs)

64a Es geht hier um das, wie Aristoteles sagt, "sich selbst genügende Gut". "Als sich selbst genügend gilt uns demnach das, was für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines Weiteren bedarf. Für etwas derartiges aber halten wir die Glückseligkeit"1. Jeden Menschen, so dürfen wir hinzufügen, verlangt es mit Naturnotwendigkeit, nach etwas, was für sich allein das Leben begehrenswert macht. Er will, dass sein Leben als Ganzes gelingt. Und genau das ist es, was wir Glück nennen2. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas: finis cuius - finis quo; zwei Aspekte von "Ziel": "Ziel von etwas" und "Ziel für etwas"; Aristoteles

Kurzinhalt: Zunächst könnte man meinen, in einer Ethik, die vom erkannten Gott ausgeht, sei doch bereits alles entschieden: Das letzte Ziel des Menschen ist eben Gott.

Textausschnitt: a) Zwei Aspekte von "Ziel": "Ziel von etwas" und "Ziel für etwas"

65c Es wurde gesagt, das Glück bestehe in dem, was allein wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Die Frage nach dem Glücklichsein ist demnach eine Frage, die von Anfang an unter dem Anspruch von Kriterien der Vernünftigkeit steht. Wodurch wir glücklich werden können, welches jenes Gut ist, dessen Erlangen "für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines Weiteren bedarf", ist nicht eine Frage der Empirie oder von subjektiven Glückserlebnissen, sondern findet sich durch vernünftige Überlegung, die sich in der Ethik als Analyse handlungsmetaphysischer und anthropologischer Art vollzieht1. (Fs)

66a Die Behandlung der Frage bei Thomas v. Aquin ist mehrschichtig2. Erstens, weil die philosophische Perspektive in eine theologische Synthese eingebettet ist. Zweitens weil Thomas die Frage unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten angeht, wobei die Behandlung des Themas bei Aristoteles fast ausschließlich einen der beiden Gesichtspunkte berücksichtigt. (Fs)

66b Zunächst könnte man meinen, in einer Ethik, die vom erkannten Gott ausgeht, sei doch bereits alles entschieden: Das letzte Ziel des Menschen ist eben Gott. Wie denn könnte das auch anders sein? In der Tat ist dies ein häufig anzutreffender Kurzschluss. In Wirklichkeit ist die Sache nicht so einfach. Aus der Existenz Gottes, ja sogar aus der Existenz eines Schöpfergottes, ergibt sich keineswegs unmittelbar, dass Gott das letzte Ziel menschlichen Handelns ist. (Fs) (notabene)

66c Thomas unterscheidet nämlich gemäß einer Einteilung, die er von Aristoteles übernimmt, zwischen zwei Aspekten, unter denen wir von "Ziel" sprechen können: Als "finis cuius" und als "finis quo"1. Wir können das übersetzen als "Ziel von etwas" und "Ziel für etwas". So ist das "Ziel von" (finis cuius) einem Geizhals das Geld; das "Ziel für" einen Geizhals (der "finis quo") hingegen ist das Besitzen von Geld. Ersteres ist die "Sache", die Ziel ist; das Zweite ist der Akt oder die Tätigkeit, die sich auf die "Sache" erstreckt: das heißt das Streben danach und das Erlangen. Es sind zwei Aspekte eines einzigen Sachverhaltes. (Fs) (notabene)

66d Nun ist es für Thomas (und auch für Aristoteles, wenn auch in etwas anderer Weise) klar, dass überhaupt alles Seiende auf Gott als Letztes ausgerichtet ist. Das ist in der Metaphysik - bei Aristoteles bereits in der Physik - entschieden. Insofern gibt es gar nichts mehr zu beantworten. Aber die Perspektive des "finis cuius" ist gar nicht die Perspektive der praktischen Philosophie. Wenn wir auch wissen, dass alle Geschöpfe aufgrund ihres Geschaffenseins, auf Gott als letztes Gut des ganzen Universums bezogen sind ("Gott verherrlichen") - und Aristoteles sagt, dass Tiere und Pflanzen von Natur aus danach streben, "am Ewigen und göttlichen Anteil zu haben"1 -, so wissen wir noch lange nicht, welches nun das letzte Gut für den Menschen als praktisches Subjekt ist; d.h. welches Gut er allein vernünftigerweise in seinem Handeln als um seiner selbst willen erstreben und erlangen kann, - und demnach eben: worin denn sein Glück liege; denn das ist ja die Frage, um die es hier geht. "Es geht also nicht um die metaphysische (vorgegebene) Zielbestimmtheit des Menschen als Schöpfungswesen, sondern um die von ihm selbst vollzogene Zielsetzung, die in seinem praktischen Verhalten maßgeblich ist..."2. Was uns interessiert, ist nicht das letzte Ziel und Gut auf das der Mensch aufgrund seines kreatürlichen oder endlichen Seins - wie auch Tiere, Pflanzen und unbelebte Körper - als auf das "bonum commune" des geschaffenen Universums verwiesen ist, sondern das letzte Ziel seines Handelns. Metaphysisch wissen wir, dass der Mensch genau in dem Maße Gott verherrlicht, d.h. sich auf ihn als Bonum commune der Schöpfung ausrichtet, in dem er das dem Menschen eigentümliche Letzte (das wir Glück nennen) erreicht. Die Frage bleibt also offen, worin denn eben dieses letzte Ziel bestehe, durch dessen Erreichung der Mensch Gott "verherrlicht". (Fs) (notabene)

67a Es ist ja zumindest denkbar, dass sich das seinsmäßige (metaphysische) Auf-Gott-Ausgerichtetsein des Menschen nicht darin äußert, dass Gott in irgend einer Weise Gegenstand einer menschlichen Tätigkeit ist (z.B. Erkennen oder Lieben), sondern dass es eine andere Tätigkeit ist, durch die der Mensch Gott verherrlicht. Die Tiere verherrlichen Gott, indem sie sich nach den Regeln der Natur fortpflanzen und die ihrer Natur eigentümlichen Akte vollziehen; aber all dies hat mit Gott nichts zu "tun". Sollte Gott auch "finis quo" des Menschen, also Ziel für den Menschen, sein, dann müsste gerade das Spezifische des Menschen darin bestehen, dass Gott Gegenstand seiner Tätigkeit werden kann. Es muss dann eine menschliche Tätigkeit geben, die sich auf Gott bezieht. Und sie selbst müsste als Jenes [eg: sic] zu erweisen sein, was allein man vernünftigerwiese um seiner selbst willen erstreben kann. Dies müsste aber zunächst aufgezeigt werden, und auch die Tätigkeit, um die es sich dabei handelt, bedarf des Nachweises. (Fs) (notabene)

67b Thomas leistet nun tatsächlich einen solchen Aufweis, wobei er in zwei Schritten vorgeht: Zunächst wird die Frage gestellt, im Bereich welcher Güter überhaupt das letzte Ziel des Menschen - sein Glück - zu finden sei. Erst im zweiten Schritt wird dann ausgemacht, dass Glück eine Tätigkeit ist, und in welcher Tätigkeit dieses besteht. (Fs)

67c Aristoteles kennt den ersten Schritt in der Analyse der "Lebensformen". Da nennt er folgende: Das Genussleben, das politische Leben, das vor allem auf die Ehre zielt, und das Leben der philosophischen Betrachtung. Daneben auch das auf Gelderwerb gerichtete Leben. Der Hauptakzent liegt jedoch auf dem zweiten Aspekt. Es ist deshalb nicht einfach, den Ansatz von Thomas und den von Aristoteles zusammenzubringen, auch aus Gründen, die später noch zur Sprache kommen werden. (Fs)

67d In beiden Fällen geht es jedoch um die Analyse dessen, was man allein vernünftigerweise als ein Letztes, als um seiner selbst willen erstreben kann. Oder anders gesagt: Es geht nicht um "die Frage nach dem, was wir sollen, sondern nach dem, was wir eigentlich und im Grunde wollen"1. Diese Formulierung erscheint nur dann eigenartig, wenn übersehen wird, dass "Wollen" ein durch Vernunft geleitetes Streben ist. Was wir eigentlich und im Grunde wollen ist eben präzis jenes, was wir allein vernünftigerweise erstreben können, denn "Wollen" heißt ja so viel wie "unter der Leitung der Vernunft erstreben". Deshalb gilt: Wer das Glück nicht dort sucht, wo es nach Maßstäben der Vernunft zu finden ist, ist nicht einer, der einfach einen anderen Lebensstil, andere Auffassungen oder einen anderen Geschmack hat; vielmehr irrt er sich einfach und ist unvernünftig. Und er wird dann auch überhaupt für sein Leben, sein Handeln keine angemessene Richtschnur besitzen. Dies nicht, weil das Wissen darum, worin das Glück des Menschen besteht, uns schon sagen würde, was wir nun im einzelnen zu tun haben. Sondern weil dieses Wissen uns darüber Aufschluss gibt, nach welchem Kriterium wir bestimmen können, was auch im einzelnen zu tun gut ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Gewissen; Phänomenologie, Subjektivität, Objektivität

Kurzinhalt: Die Frage der Objektivität ist eine solche der Wahrheit der Subjektivität. Die Subjektivität des Handelnden, das "Ich", gehört ja auch zur "objektiven Welt", ...

Textausschnitt: 274d Deshalb erfahren wir auch die "Stimme des Gewissens" als eine Stimme, die mit derjenigen unserer Affektivität, mit dem, worauf wir hinneigen, in Konkurrenz stehen kann. Als etwas "Objektives" im Gegensatz zur "Subjektivität" des Affektiven. Die Rede von "objektiv" und "subjektiv" ist hier jedoch verfänglich: In Wirklichkeit handelt es sich um zwei verschiedene Formen von Subjektivität. Wir erfahren jedoch die Subjektivität des Gewissens als Anspruch von Wahrheit, d.h. als die Wahrheit der Subjektivität, und in diesem Sinne als "Objektives". (Fs) (notabene)


274e Die Rede, etwas sei "objektiv" gut oder richtig, im Unterschied zum bloß "subjektiven" Dafürhalten, gehört also zu einer Phänomenologie des Gewissensaktes. Nicht aber kann mit "objektiv" gemeint sein, das "in Wahrheit Gute" sei eine vom Handlungssubjekt unabhängige bzw. von ihm zu unterscheidende Gegebenheit (Gesetz, Norm, Natur, Seinsordnung), zu der sich dann das freie Subjekt durch "Erkennen" und "Befolgen" verhalte. Die Gegenüberstellung von "Subjekt" (Freiheit, handelnder, urteilender Mensch) und "objektiver Norm" entstammt dem (auch bei Kant noch grundlegenden) Subjekt-Objekt Dualismus neuzeitlicher Gesetzesmoral. Die Frage der Objektivität ist eine solche der Wahrheit der Subjektivität. Die Subjektivität des Handelnden, das "Ich", gehört ja auch zur "objektiven Welt", zur "Natur" oder zur "Seinsordnung". Gerade durch die Vernunft als maßstäbliche Subjektivität des Menschen entsteht erst die Objektivität des Normativen. "Bloß subjektiv gut" und "objektiv gut" ist demnach eine Unterscheidung innerhalb der Subjektivität des Handelnden; es ist die Aristotelische Unterscheidung zwischen dem lediglich "gut Scheinenden" und dem darüber hinaus auch "in Wahrheit Guten". Deshalb ist es auch verfänglich, vom Gewissen als einer "subjektiven Norm", im Unterschied zu einer "objektiven Norm" zu sprechen, weil man dabei die Wahrheitsfrage ausklammert: "Norm" kann nämlich das Gewissen nur sein, insofern es "wahr" sein kann, d.h. weil es in seiner Subjektivität "objektiv" zu sein vermag. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Kant, Aristoteles: Tugend; Konflikt: Pflicht - Neigung

Kurzinhalt: Für Aristoteles und im Unterschied zu Kant ist jedoch der Tugendhafte gerade derjenige, der tut, wozu er affektiv geneigt ist, denn seine Neigung entspricht ja der Vernunft.

Textausschnitt: 282a Dem gegenüber vertritt nun aber Kant, wie wir früher sahen1 gerade die Meinung, dass Tugend bzw. moralisches Handeln aus reiner Pflicht genau dann realisiert ist, wenn sich der Handelnde bewusst ist, seine Neigung zugunsten der Befolgung der Pflicht zurückgedrängt zu haben. Für Kant bleibt der Konflikt zwischen Neigung und moralischer Vernunft bzw. Pflichtbewusstsein für das, was er "Tugend" nennt, konstitutiv. Aristoteles hingegen vertritt die Auffassung, dass durch die sittliche Tugend dieser Zweispalt gerade aufgehoben werde. Auch Kant befindet sich allerdings in Übereinstimmung mit der Meinung des Aristoteles, dass "für den Schlechten (...) ein Zwiespalt zwischen Pflicht und Handlung" bestehe, "bei dem Tugendhaften dagegen befindet sich die Handlung mit der Pflicht im Einklang. Denn die Vernunft begehrt in jedem Menschen, was für sie das Beste ist, die Vernunft aber ist es, der der Tugendhafte gehorcht"2. Für Aristoteles und im Unterschied zu Kant ist jedoch der Tugendhafte gerade derjenige, der tut, wozu er affektiv geneigt ist, denn seine Neigung entspricht ja der Vernunft. Tugend ist also Einheit und Übereinstimmung von Neigung und Vernunft, von Neigung und Pflicht, von "subjektiven" Motiven und "objektiven" moralischen Handlungsgründen3. Zwischen dem Schlechten und dem Tugendhaften liegt für Aristoteles derjenige, der nicht die tugendhafte Neigung besitzt, aber dennoch z.B. aus Selbstbeherrschung tut, was gut ist; der also seine "Pflicht" erfüllt, aber gegen die Neigung. Für Kant entspricht gerade dieser Letztere, der Beherrschte, Enthaltsame, sich schlechten Neigungen Widersetzende und Starke, dem moralischen Menschen und damit dem schlechthin Tugendhaften, ja "selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist" kann durch Unterwerfung unter das "moralische Sollen" einen guten Willen haben4. Der gute Wille scheint also mit ansonsten schlechten Neigungen vereinbar zu sein. Die Kritik lautet hier nicht, dass dies nicht möglich sei. Ein unmäßiger Mensch kann ja durchaus den guten Willen haben, von seinem Laster loszukommen, bereits bevor er es schafft, ein maßvoller Mensch zu werden. Aber dies ist nicht Tugend, sondern der Anfang des Weges zur Tugend. Es scheint nun nicht, dass für Kant diese Unterscheidung Sinn macht oder dass sie zumindest in seiner Ethik eine Rolle spielt. Kantisch gesehen genügt für "Tugend" der Wille, sich schlechten Neigungen zu widersetzen. Die Kantische Ethik ist eben gerade deshalb keine Tugendethik, auch wenn sie gleichsam als Anhang eine "Tugendlehre" enthält. Als reine Pflichtenethik von Vernunftimperativen, als eine Ethik der Zähmung einer bösen und egoistischen Natur durch Vernunft, muss sie aber aus der Sicht einer Tugendethik das Wesen von Moralität notwendigerweise verfehlen.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote; Strafe; Vergeltung, Gerechtigkeit, Rache; Todesstrafe

Kurzinhalt: Eine Strafhandlung bezieht sich also intentional auf "Wiederherstellung der Gerechtigkeit"

Textausschnitt: 308a
(2) Ein zweiter Fall von "X-Töten" wäre derjenige einer Affekthandlung. Hier ist nicht in erster Linie der Wille gegen das Leben des anderen gerichtet, sondern die Handlung erfolgt aus Leidenschaft. Genau insofern die Leidenschaft willentlich ist, lässt sich dieser Fall auf den ersten zurückführen: Die Handlung ist dann ungerecht, wenn auch nicht aus Ungerechtigkeit, sondern aus Leidenschaft vollzogen. Wird der freie Wille durch die Leidenschaft ausgeschaltet, liegt hier gar keine menschliche, zurechenbare Handlung vor. (Fs)

(3) Drittens schließlich ist Töten als Vergeltung, d.h. als Strafe denkbar1. Eine Strafe im allgemeinen ist ein Akt der Vergeltung. "Durch eine Strafe wird die Gleichheit der Gerechtigkeit wiederhergestellt"2. Eltern, Lehrer, Vorgesetzte in verschiedenen Bereichen und schließlich die öffentliche Staatsgewalt verhängen Strafen. Wo Strafe für Unrechttun ausbleibt, empfinden wir das spontan als ungerecht. Denn wer Unrecht tut erhält dadurch einen Vorteil auf Kosten der anderen. Die Strafe hat den Zweck der Wiederherstellung und Bewahrung der Gerechtigkeit: Denn wo man ungestraft Unrecht tun kann, da wird die Basis menschlichen Zusammenlebens, die auf der Gerechtigkeit beruht, zerstört. (Fs) (notabene)

308b "Strafen" bedeutet, einem, der Unrecht getan hat, gegen seinen Willen ein Übel zuzufügen, das den auf unfaire Weise willentlich erworbenen Vorteil kompensiert (vergilt) und deshalb die Gerechtigkeit wiederherstellt. Eine Strafe richtet sich nicht auf die Schädigung des Betroffenen (das wäre nicht Vergeltung, sondern Rache), sondern auf die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit. Eine Strafe setzt deshalb immer Schuld voraus: Bestraft werden kann man nur, wofür man die Verantwortung trägt; denn andernfalls gäbe es keinen Grund, die verletzte Gerechtigkeit wiederherzustellen, weil ein (materielles) Unrecht, das ohne Schuld verübt wird, oder eine Gefahr, die auf der bloßen Existenz einer Person beruht, eben keine Verletzung der Gerechtigkeit ist. (Fs)

308c Eine Strafhandlung bezieht sich also intentional auf "Wiederherstellung der Gerechtigkeit". Sie ist objektiv eine Handlung der Gerechtigkeit. Sie verletzt nicht ein Recht eines anderen, sondern beraubt ihn des Vorteils, den er auf Kosten anderer erworben hat. Sie stellt wieder her, was der Bestrafte aus eigener Schuld aus dem Gleichgewicht brachte. Zudem aber werden Strafen um eines bestimmten Zieles willen vollzogen: Z.B. zur Besserung des Bestraften, zum Schutz anderer Menschen oder aber zur Verteidigung des Bestandes der Gesellschaft. (Fs)

308d Wenn einer, der schweres Unrecht vollzieht, sich der Justiz zu entziehen vermag, dann aber durch einen Unfall oder ein Naturereignis einen Schaden erleidet oder sogar stirbt, so betrachtet man das nicht als "Wiederherstellung der Gerechtigkeit". Was der Gerechtigkeitssinn des Menschen fordert, ist nicht der Schaden oder ein Übel für den Übeltäter (dies zu intendieren, wäre intentional kein Akt der Gerechtigkeit). Was man fordert ist die Bestrafung, d.h. ein Strafurteil der für die Wahrung der Gerechtigkeit zuständigen Instanz (deshalb wird auch Begnadigung und Amnestie aus angemessenem Grund nicht als ungerecht empfunden). Ein Zeichen dafür ist deshalb, dass - im oben genannten Fall - die Menschen dazu neigen, einen Schaden durch Unfall oder Naturereignis als "gerechte Strafe Gottes" zu interpretieren. Aufgrund des Begriffs der Vorsehung ist diese Interpretation durchaus zulässig und sie bewahrt zudem 309a Es ist sehr wichtig, das eigentliche Objekt der Strafhandlung von dem weiteren, mit ihr verfolgten Ziel zu unterscheiden. Eine Strafe, die überhaupt nichts "nützt", außer zu vergelten, würden wir nicht als sinnvoll betrachten; dennoch könnte sie eine gerechte Strafe sein (so etwa im Falle von Kleists "Michael Kohlhaas"). Strafen haben immer einen Nutzen; allerdings ist bereits die bloße Wiederherstellung von verletzter Gerechtigkeit ein solcher Nutzen. Denn sie bedeutet Wahrung der Gerechtigkeitsbeziehungen unter den Menschen. Anderer Nutzen ist diesem immer unter- bzw. auf ihn hingeordnet: Besserung, Abschreckung, Verteidigung, Schutz. Das liegt gerade daran, dass der Bestrafte ja ein Schuldiger ist und dass er bestraft wird, insofern er ein solcher ist, d.h. einen gegen das Recht der anderen gerichteten Willen besitzt, und er somit die Gemeinschaft der sich gegenseitig als Gleiche und in ihren Rechten anerkennenden Subjekte schädigt. Nur dadurch können sich die weiteren Ziele wie Besserung oder Schutz rechtfertigen. Deshalb ist dieser weitere Nutzen der Strafe selbst auch nie der Grund dafür, dass man überhaupt straft, bzw. dafür, dass Strafen ein Akt der Gerechtigkeit ist. Dies wäre eine utilitaristische Straftheorie, dergemäß eine Strafe wesentlich ein Mittel ist, einen optimalen gesellschaftlichen Zustand herzustellen. Wenn man so argumentiert, dann kann man eben grundsätzlich die Möglichkeit bejahen, auch einen Unschuldigen zu "bestrafen", nämlich dann, wenn dies für die Gesellschaft insgesamt oder die Gesamtheit der Betroffenen bessere Folgen zu haben verspricht. Weil utilitaristisch argumentierende Ethiker so denken, sind sie der Meinung, die traditionelle Norm "man soll nie einen Unschuldigen töten" beruhe ebenfalls auf einer bloßen Güterabwägung: Ein Schuldiger sei einfach jener, durch dessen Leben oder Existenz das Gemeinwohl in irgend einer Weise bedroht sei1. Das ist aber falsch: Die traditionelle Norm meinte, ein Schuldiger sei jener, der an der Bedrohung des Gemeinwohls Schuld d.h. wer dafür Veratwortung trägt, weil er die Gerechtigkeit verletzte. (Fs)

309b Es scheint einleuchtend, dass ein Unrecht, das das "öffentliche Wohl" gefährdet, allein durch jene Instanz oder Person vergolten werden kann, welche die Kompetenz besitzt, für dieses öffentliche Wohl die Sorge zu tragen. Strafen wie Geldbußen, Freiheitsentzug, Entzug von Bürgerrechten, Ausweisung, Verbannung, Ächtung, Tod können nur Akte der Gesamtgesellschaft, bzw. der legitimen öffentlichen Gewalt sein (genauso wie das Einziehen von Steuern oder Abgaben unter Strafandrohung, als Akte der distributiven Gerechtigkeit: Als Akte einer Privatperson wäre dies Erpressung und Diebstahl). Die Todesstrafe bedeutet Ausschluss aus der Gesellschaft durch Aufhebung der physischen Existenz einer Person. Als Vergeltungsakt (Wiederherstellung und Wahrung der Gerechtigkeit) kann dies intentional vollzogen werden nur von solchen, die eine entsprechende Kompetenz besitzen. Das gilt jedoch für alle Strafen: Vergeltung ohne Kompetenz ist Unrecht. Eltern dulden nicht, dass Geschwister sich untereinander strafen; auch unter Schülern, Angehörigen eines Unternehmens oder Soldaten wird dies nicht als zulässig akzeptiert: Das tun Eltern und entsprechende Vorgesetzte. Strafkompetenz (Kompetenz zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit) setzt nämlich Zuständigkeit für das Ganze voraus, in Bezug auf das Gerechtigkeit wiederhergestellt werden muss (im Falle des Versagens der zuständigen Autorität bilden deshalb solche Gemeinschaften selbständig eine legitimierte "ad hoc-Autorität"). (Fs)

309c Wer mit Zuständigkeit in Bezug auf das Ganze handelt, der handelt also in einem anderen ethischen Kontext als derjenige, der als Privatperson handelt. Ein Akt der Vergeltung ohne Zuständigkeit kann keine Wiederherstellung von Gerechtigkeit sein. Wer als Privatperson ein Unrecht mit einer "Strafe" vergilt, der vergilt Unrecht mit Unrecht. Er intendiert nicht die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, sondern das Übel des anderen als Vergeltung für das Üble, das dieser ihm zugefügt hat (Rache). Natürlich kann er das tun, weil er der Meinung ist, die Gerechtigkeit müsse wiederhergestellt werden. Aber insofern er dafür keine Kompetenz besitzt, kann der objektive Gehalt der intentionalen Basis-Handlung "X-Töten" kein Akt der Gerechtigkeit sein (das ist klassisch beschrieben in Kleists "Michael Kohlhaas"). (Fs)

310a Weil also eine Privatperson - d.h. eine Person als bloßer Angehöriger jener Gemeinschaft, in Bezug auf die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden soll - grundsätzlich nicht "strafen" kann, so kann sie a fortiori auch nicht mit dem Tod "bestrafen". Folglich gibt es keinen denkbaren Fall, in dem "x-Töten" als Handlung einer Privatperson eine gerechte Handlung wäre. Sie ist immer und unter allen Umständen ungerecht. (Fs)

310b Daraus folgt jedoch keineswegs, dass die Todesstrafe existieren muss, bzw. dass ihre tatsächliche Verhängung immer schon - oder unter allen Umständen - als gerecht erwiesen ist. Das haben wir mit den bisherigen Überlegungen nicht bewiesen. Ja, es ist auch auf der Grundlage des bisher Gesagten immer noch möglich, sogar das Gegenteil zu beweisen. Was gezeigt wurde ist nur: Sofern und wenn "Verhängung der Todesstrafe" eine Handlung des Typs "strafen" ("Wiederherstellung der Gerechtigkeit) ist, so besitzt die darin implizierte Wahl des "Todes von X" bzw. die Handlung "X-Töten" eine intentionale Identität, die verschieden ist von jeder denkbaren Tötungshandlung einer Privatperson. Es handelt sich also, im genus moris um eine objektiv verschiedene Handlungsweise: Das implizierte "Wozu?" ist nämlich verschieden. Falls Strafen durch Töten gerechtfertigt werden kann, so ist die legitim verhängte Todesstrafe ein Akt der Gerechtigkeit und nicht eine "Ausnahme" des absoluten Handlungsverbots "Du sollst nicht töten"2. Deshalb beziehen sich auf diese beiden Handlungstypen auch verschiedene Normen3. (Fs) (notabene; Fußnote)

310c Damit ist das hier anstehende Problem eigentlich gelöst. Die Frage, ob nun die Verhängung der Todesstrafe tatsächlich der Gerechtigkeit entspricht, ist zu unterscheiden von der Frage, ob man die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Todesstrafe nur als Ausnahme von der Norm "du sollst nicht töten" denken kann, so dass letztere also nicht ein absolutes Handlungsverbot wäre. Die zweite Frage - und nur um sie ging es hier - kann verneint werden4. (Fs)

310d Es handelt sich genau gleich wenig um eine Ausnahme, wie etwa die Möglichkeit der Verhängung von Geldbußen oder Gefängnisstrafen Ausnahmen sind von der Verpflichtung, anderer Eigentum und Freiheit nicht anzutasten. Wer also behauptet, die Todesstrafe könne nicht wie jede Art von Strafe als Akt der Gerechtigkeit begründet werden, der sagt implizit, "strafen" heiße überhaupt, eine Art Ausnahme von im allgemeinen geltenden moralischen Normen zu machen. Dann befindet man sich aber bereits in bedenklicher Nähe einer Straftheorie, in der Strafen generell nicht mehr als Akte der vergeltenden Gerechtigkeit, sondern als "nützliche Maßnahmen" ganz unabhängig von der Schuld des Bestraften angesehen werden5. (Fs)

311a Damit eine konkrete Art von Strafe gerechtfertigt werden kann, muss sie angemessen sein. Das gilt für Bußen, Freiheitsentzug und Todesstrafe, d.h. für jede Strafe in gleicher Weise. Die Angemessenheit der Todesstrafe bemisst sich nach der Notwendigkeit des Todes des Schuldigen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit und ihrer Bewahrung (Zusammenleben der Menschen gemäß Maßstäben der Gerechtigkeit). Dies wiederum hängt aber weitgehend von den Umständen ab und von den Möglichkeiten des Strafvollzugs. Generell können wir sagen: Um die Todesstrafe als angemessene Strafe zu rechtfertigen, müsste man zeigen, dass sie notwendig ist, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen und das heißt auch: um die menschliche Gesellschaft als Rechtsgemeinschaft zu bewahren. Eine nicht-notwendige Strafe ist nämlich eine unangemessene Strafe. Die Herabsetzung der Schwelle dieser Notwendigkeit ist eng mit den modernen Möglichkeiten des Strafvollzugs verbunden und kann durchaus als zivilisatorischer Fortschritt begriffen werden6. Denn zunächst einmal scheint es ja gerechter, einem Übeltäter die Möglichkeit zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu geben, wobei entsprechender Freiheitsentzug selbst eine angemessene Strafe sein kann. Zudem gibt es starke Argumente gegen die Todesstrafe, wie die Irreparabilität eines Justizirrtums7. (Fs)

311b Deshalb ist aufgrund der Argumentation, dass die Todesstrafe - wie jede Strafe - prinzipiell ein Akt der vergeltenden Gerechtigkeit ist, noch nichts darüber entschieden, ob sie auch ein angemessener Akt der vergeltenden Gerechtigkeit ist. Das kann auch von den Umständen abhängen; es ist aber durchaus auch möglich, sie grundsätzlich für unangemessen zu halten. Es ist kennzeichnend für viele traditionelle aber auch für die utilitaristische Begründung (oder Ablehnung) der Todesstrafe, diese beiden Fragen nicht auseinanderzuhalten8. Deshalb sei wiederholt: Akte der Selbstbehauptung der Gesellschaft wie die Todesstrafe können nur gerechtfertigt werden, weil und insofern sie in sich Akte der Gerechtigkeit sind und sie können deshalb nur jene treffen, die Schuld tragen9. Wir können also nicht - utilitaristisch - sagen, die Todesstrafe sei z.B. aus Nützlichkeitserwägungen abzulehnen, zugleich aber sei es prinzipiell diskutierbar, ob im Einzelfall ein Todesurteil gegen einen Unschuldigen aus Nützlichkeitsgründen gerechtfertigt werden könnte. Auch wenn Utilitaristen in der Regel Gründe für den Nachweis finden, dass auch dies nicht zur optimalen Folgenbilanz führen könne, so liegt das Bedenkliche schon darin, dass sie diese Möglichkeit überhaupt ernsthaft erwägen. (Fs)

312a Für Töten im Krieg und Tyrannenmord gelten analoge Argumente, die hier nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen. Man hat daraufhingewiesen, wie der ideologische Pazifismus, der Töten in kollektiver Selbstverteidigung überhaupt als unmoralisch behauptet, dazu führt, dass - falls man einmal das nackte Leben zu verteidigen hat - dann einfach alles erlaubt ist und somit die Unterscheidungen zwischen Krieg, Mord und Massaker unerheblich werden10. (Fs)den Menschen vor der Versuchung, sich über den Schaden des anderen zu freuen. Denn man freut sich ja darüber, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote; Lüge, Falschaussage; Kontext der Lüge

Kurzinhalt: Letztlich ist eine Falschaussage dann als ungerecht zu betrachten, wenn der andere vernünftigerweise erwarten kann, dass der Sprechende ihm die Wahrheit sagt ...

Textausschnitt: 313a Ein zweites Beispiel eines absoluten Handlungsverbots ist die Lüge. Die Lüge ist eine kommunikative Täuschungshandlung. Das heißt: Sie ist ein Verstoß gegen jenen Teil der Tugend der Gerechtigkeit, den man Wahrhaftigkeit nennt. Die Tugend der Wahrhaftigkeit könnten wir auch Kommunikationsgerechtigkeit nennen. (Fs)

314a Wahrhaftigkeit ist jene Art von Gerechtigkeit, die die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens bildet. Und eine Lüge ist eine willentliche Falschaussage innerhalb eines kommunikativen Kontextes. Ein kommunikativer Kontext ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm ein durch sprachliche Kommunikation vermitteltes gesellschaftliches Zusammenleben existiert, in welchem Sprache die Funktion eines Zeichens für Gedanken, Gefühle, Absichten usw. dessen besitzt, der dieses Zeichen benutzt. Missbrauch der Sprache durch Falschaussagen sind Akte kommunikativer Täuschung. (Fs)
314b Man unterscheidet "Lüge" von "Falschaussage". Eine Falschaussage ist ein Sprechakt, in dem das Zeichen (Wort) nicht mit dem Gedanken des Sprechenden übereinstimmt. Das kann geschehen, weil man z.B. eine Sprache nicht richtig beherrscht oder durch Versprechen. Eine "Lüge" ist eine willentliche Falschaussage, d.h. ein Sprechakt, in dem die genannte Nichtübereinstimmung gewollt ist. (Fs)

314c Eine Lüge ist aufgrund ihrer intentionalen Identität - also objektiv - eine sprachliche Handlung, die gegen die eigene Hinordnung auf menschliches Zusammenleben, sowie gegen das "Gut des anderen" gerichtet ist: Gegen sein Recht, dass die Worte seiner Mitmenschen "wahr" sind, d.h. mit dem, was der Sprechende denkt übereinstimmen. Er hat dieses Recht, nicht getäuscht zu werden, weil er das "Recht auf Gesellschaft" und das Recht auf Gleichheit der Anerkennung als Glied der Kommunikationsgemeinschaft hat. Zudem hat er auch das Recht auf das Funktionieren entsprechender Institutionen, was ebenfalls Wahrhaftigkeit voraussetzt. Lügen ist demnach dem Wohlwollen gegenüber dem anderen entgegengesetzt und ein Entzug der Anerkennung des anderen als mir Gleicher. (Fs) (notabene)

314d Diese objektive Identität der willentlichen Falschaussage innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft besteht unabhängig von weiteren Absichten, mit denen man eine Lüge vollzieht: Um jemandem zu schaden; um sich selbst, einem anderen oder sogar dem Belogenen selbst, einen Vorteil zu verschaffen bzw. einen Nachteil zu vermeiden; oder zum Scherz. Letztlich ist eine Falschaussage dann als ungerecht zu betrachten, wenn der andere vernünftigerweise erwarten kann, dass der Sprechende ihm die Wahrheit sagt ("vernünftigerweise" meint nicht "voraussichtlich" sondern "gerechterweise": Denn einer, von dem bekannt ist, dass er immer lügt, und dem deshalb niemand mehr glaubt, ist deshalb weiterhin ungerecht). (Fs)

314e Deshalb können wir Kontexte angeben, in denen eine willentliche Falschaussage keine Ungerechtigkeit sein kann. In einem Spiel z.B., in dem es gerade darum geht, den anderen hereinzulegen und Lügen zu den Spielregeln gehören, erwartet niemand, dass der andere die Wahrheit spricht, sondern nur, dass er sich an die Spielregeln hält; und Falschaussagen gehören hier zu den Spielregeln. Der kommunikative Kontext ist gemäß der Spielsituation modifiziert. Deshalb sind spielregelgerechte Falschaussagen auch keine Ungerechtigkeit. Sie richten sich intentional in keiner Weise gegen die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens. (Fs)

314f Ein anderer Fall sind Falschmeldungen, kommunikative Täuschungsakte, irreführende Angaben in einer Kriegssituation (z.B. zur Irreführung des Gegners über eigene operative Pläne, Standorte von Truppen, Angaben bei Kontrollen oder Verhören; spezieller auch die Fälschung von Dokumenten). Man kann solche Handlungen nicht als Verletzung der Kommunikationsgemeinschaft betrachten, weil eine solche hier ja gar nicht existiert. Wenn man sich durch Hinterhalte, Tammanöver usw. täuschen darf, so ist nicht einzusehen, wieso nicht auch durch Sprechakte. (Fs)

315a Man muss allerdings präzisieren: Genau insofern zwischen Kriegsparteien keine Gemeinsamkeit menschlichen Zusammenlebens besteht, so gibt es zwischen ihnen auch gar nicht die Möglichkeit eines Verstoßes gegen die kommunikative Basis eines solchen Zusammenlebens. Nun sind aber gegeneinander kriegführende Menschen in einem fundamentalen Sinne immer "Mitmenschen". Krieg ist eine Ausnahmesituation und entsprechende Kriegshandlungen sind nur so lange gerechtfertigt - vorausgesetzt natürlich, der Krieg selbst lasse sich moralisch rechtfertigen -, bis die Normalsituation "Frieden" wiederhergestellt zu werden vermag. Solche Menschen sind also potentielle Partner gesellschaftlichen Zusammenlebens und damit potentielle Glieder einer Kommunikationsgemeinschaft. Deshalb gibt es auch im Krieg Akte, die der Wiederherstellung der Kommunikationsgemeinschaft dienen; z.B. Verhandlungsangebote, etwa signalisiert durch die weiße Fahne. Diese zur Täuschung einzusetzen, wäre deshalb ein sogar besonders schwerwiegender Verstoß gegen die Kommunikationsgerechtigkeit und einer Lüge gleichzusetzen. So wie der Missbrauch aller anderen Handlungsweisen bzw. Kommunikationshandlungen, denen derselbe Sinn zukommt. Die Grenzen können hier durchaus fließend sein und es kann Grauzonen geben. (Fs)

315b Von Fichte stammt das Wort "Du darfst nicht lügen, und wenn die Welt darüber in Trümmer zerfallen sollte"1. Er meinte zwar, dass für ein moralisches Subjekt klar sei, dass "in dem Plane ihrer [der Welt] Erhaltung sicherlich nicht auf eine Lüge gerechnet ist". Aber der Satz ist schon deshalb fragwürdig, weil eine Situation, in der die Enthaltung von einer Lüge die Welt zertrümmerte, wohl zumindest einer Kriegssituation ähnlich wäre. Bevor man solche Spitzfindigkeiten diskutiert, wäre es allerdings ratsam, ein konkretes Beispiel für einen solchen Fall anzugeben. (Fs)

315c In seinen Vorlesungen zur Philosophie des Rechts aus dem Jahre 1819/20 macht sich Hegel über ein Beispiel aus Fichtes "System der Sittenlehre" lustig - es scheint allerdings von Benjamin Constant zu stammen und wurde bereits von Kant diskutiert2 - nämlich über den Fall, "dass einer wütend mit dem Dolche in ein Zimmer dringt und jemand ermorden will, der sich verborgen hat. Es fragt sich hier, ob ein anderer, der mit ihm im Zimmer ist und um den Verborgenen weiß, schlechthin gehalten sein soll, die Wahrheit zu sagen". Hegel löst den Fall elegant: Hier sei "das Sprechen nicht bloß ein Sprechen, sondern ein Handeln, und zwar ein ebensolches, als ob ich einem andern, der jemand ermorden will und keinen Dolch hat, den Dolch dazu in die Hand gebe"3. (Fs)

315d Das ist sicher richtig. Aber Hegel geht dem Problem aus dem Weg. Denn was tut man, wenn der Eindringling sich mit Schweigen nicht begnügt, sondern eine Antwort verlangt? Nichts sagen ist kein Problem, aber darf man etwas Falsches sagen? Es scheint, dass dies durchaus vertreten werden kann: So wie die Angabe der Wahrheit der Handlung "jemandem einen Dolch in die Hand zu geben" gleich ist, wäre eine falsche Auskunft hier eine reine Verteidigungshandlung ("ihm den Dolch aus der Hand nehmen"). Von der Existenz eines kommunikativen Kontextes kann nicht die Rede sein. Dass ihm die Wahrheit gesagt werde, kann der Eindringling nicht vernünftigerweise erwarten. Und sollte er nur im Affekt den Tod des anderen wollen, so wäre er später, nach erfolgter Ernüchterung, dem "Lügner" wahrscheinlich sogar dankbar, ihm eine falsche Angabe gemacht zu haben. Letztlich ist es jedoch sinnlos, solche Fälle kasuistisch zu diskutieren. Denn in der Wirklichkeit gibt es, je nach Situation, eine Vielfalt von Möglichkeiten: Um den Bedrohten zu verteidigen, könnte und müsste man ja ohnehin versuchen, den Eindringling zu überwältigen, ihn hinauszutreiben, oder wenigstens zu fliehen, usw. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Lüge; "gerechtfertigte" Falschaussage; Beachtung des jeweiligen Kontexts

Kurzinhalt: Innerhalb dieses ethischen Kontextes gibt es demnach keine Kontingenz der Handlungsmaterie; aber der Kontext selbst ist kontingent, d.h. er besteht nicht immer.

Textausschnitt: 316a Vorausgesetzt also, eine kommunikativer Kontext bzw. Kommunikationsgemeinschaft existiert, so gilt die Norm des Lügenverbotes als absolutes Handlungsverbot: Verstoß gegen die Tugend der Wahrhaftigkeit und damit gegen Gerechtigkeit. Der kommunikative Kontext ist genau jener Kontext, in Bezug auf den sich die Tugend der Wahrhaftigkeit konstituiert und der der Handlung "Falschaussage" somit die intentionale Identität einer Ungerechtigkeit verleiht. Die intentionale Handlung "lügen" ist gegen ein "für den Menschen Gutes" gerichtet: Gegen das Gut nämlich, als Glied einer Gemeinschaft menschlichen Zusammenlebens zu existieren; bzw. es richtet sich gegen dieses Gut als ein "für den anderen Gutes", d.h. dass er "als mir Gleicher" mit mir in einer Gemeinschaft des Zusammenlebens existiert. Das wird gerade deutlich bei der an sich harmlosesten aller Lügen, der Scherzlüge, die, wenn sie systematisch mit jemandem betrieben wird und man sich nicht dafür entschuldigt, dem anderen Anerkennung versagt und zwischenmenschliche Gemeinschaft zerstören kann. Insofern kein kommunikativer Kontext besteht, können diese Güter nicht verletzt werden; bzw. sofern diese Güter gar nicht verletzt werden können, kann man auch nicht von einer Ungerechtigkeit sprechen. (Fs)

317a Wenn das Lügenverbot meint, "man soll nicht ungerechte Falschaussagen machen", so kann deshalb als Grund von Ungerechtigkeit hier nicht die schlechte Absicht bzw. die schlechte Bilanz vorausgesehener Folgen bezeichnet werden, sondern allein der Kontext einer existierenden Kommunikationsgemeinschaft, ein Kontext, der eben ganz unabhängig von Absichten und weiteren Folgen existiert oder nicht existiert. Innerhalb dieses ethischen Kontextes gibt es demnach keine Kontingenz der Handlungsmaterie; aber der Kontext selbst ist kontingent, d.h. er besteht nicht immer. Ein absolutes Verbot kann aber, wie jede sittliche Norm und jede intentionale Handlung, immer nur in Bezug auf einen ethischen Kontext definiert werden. (Fs) (notabene)

317c Sofern also ein kommunikativer Kontext - der Kontext menschlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens - vorliegt, ist deshalb eine willentliche Falschaussage oder "Lüge" in sich und immer eine Ungerechtigkeit. Weil aber Normen immer in Bezug auf ethisch relevante Kontexte und entsprechende intentionale Handlungen formuliert werden, sprechen wir im Falle von nichtkommunikativen Kontexten von einer "Ausnahme". Streng genommen liegt jedoch die Ausnahme nicht auf Seiten der Norm, sondern auf der Seite des ethischen Kontextes, auf den sie sich bezieht. Wie das Tötungsverbot kennt es, wenn wir die Beschränktheit jeder Normformulierung und ihren Rückbezug auf praktische Prinzipien, Tugenden und intentionale Handlungen berücksichtigen, keine Ausnahme. (Fs)

18a Auch ausweichende Antworten wie "Ich weiß nicht" (als Antwort auf einen Fragesteller, der kein Recht auf die entsprechende Information hat) oder "Er ist nicht hier" (z. B. um jemanden vor einem unwillkommenen Telefonanruf zu "beschützen"), können m. E. unter Umständen eine Verletzung der Kommunikationsgerechtigkeit und damit der Tugend der Wahrhaftigkeit sein, nämlich dann, wenn die fragende Person vernünftigerweise annehmen darf, der Befragte und mit "Ich weiß es nicht" Antwortende wisse es tatsächlich nicht bzw. der ans Telefon Gerufene sei wirklich nicht zugegen. Hier werden falsche Informationen übermittelt und es liegt eine bewusste Irreführung vor1. Es gibt aber Kontexte, in denen - konventionellerweise - solche Antworten nichts anderes als allgemein bekannte Umgangsformen sind, die dazu dienen, auf höfliche, nicht brüskierende Weise zum Ausdruck zu bringen, man wolle, könne oder dürfe jemandem auf diese Frage keine Antwort geben oder der am Telefon Verlangte wolle jetzt, mit der Bitte um Respektierung seiner Privatsphäre, eben nicht ans Telefon kommen. Allerdings sind wohl gerade für den letzten Fall durchaus noch weniger brüskierende Wege denkbar. (Fs)

318b Da die Lüge eine willentliche Falschaussage und nur als solche eine Verletzung der Kommunikationsgerechtigkeit ist, verliert sie an Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit, je mehr der Wille des Sprechenden unter Einfluss von Furcht vor einem ihm drohenden Übel steht (und sie ist dann auch entsprechend weniger "Lüge"). Thomas v. Aquin sagt, je größer das mit einer Lüge zu erreichen beabsichtigte Gut ist, desto geringer ist die Schuld des Lügners2. Deshalb sind wir auch geneigt, in gewissen Umständen eine Lüge leicht zu entschuldigen. Das hat aber nichts mit ihrer normativen Rechtfertigung zu tun. Man soll sich ja auch für eine verständliche Notlüge entschuldigen; das kann man aber nur, wenn man nicht sagt, es habe sich um eine "gerechtfertigte Falschaussage" gehandelt, man habe also "richtig" gehandelt. Dann brauchte man sich ja gar nicht zu entschuldigen; man verdiente vielmehr Lob. In Wahrheit sind Notlügen Zeichen der Schwäche, der Feigheit ("Ein Lügner ist ein feiger Mensch"3), und oft ist ihre (subjektive) "Unausweichlichkeit" Folge unklugen Verhaltens. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Normen im Bereich der Tugend des Maßes und Starkmuts; Trunkenheit; Empfängnisverhütung

Kurzinhalt: Eine Handlungsweise, welche die durch Vernunft und Wille zu vollziehende verantwortliche Modifizierung der Dynamik eines sinnlichen Strebens behindert oder verunmöglicht ...

Textausschnitt: 318c Die bisherigen Beispiele für Normen stammten sämtlich aus dem Bereich der Tugend der Gerechtigkeit. Im Falle der Tugenden des Maßes und des Starkmutes gelten mutatis mutandis dieselben Grundsätze. Hier können allerdings zumeist nur sehr formale Kriterien angegeben werden, da ja die Mitte dieser Tugenden immer nur eine "Mitte in Bezug auf uns" ist. "Schlecht" im Bereich dieser Tugenden, die ja die vernunftgemäße Ordnung der sinnlichen Strebungen herstellen, sind nicht eigentlich bestimmte Handlungen zu nennen, sondern das Verhältnis des Willens zu den Leidenschaften. Eine Leidenschaft - sofern der Wille mitspielt - ist schlecht, wenn sie die Herrschaft der Vernunft über das sinnliche Begehren verunmöglicht bzw. das Urteil der Vernunft über das Gute verkehrt. Über die sittliche Bedeutsamkeit dieser Tugenden wurde bereits früher genügend gesagt. Man kann aber in dieser Beziehung nicht eigentliche Handlungsnonnen, sondern höchstens sittliche Beurteilungskriterien formulieren. (Fs)

319a Es gibt allerdings auch Handlungen im Bereich dieser Tugenden, bezüglich derer Normen formuliert werden können, weil diese Handlungen ein bestimmtes Verhältnis der Vernunft und des Willens zur eigenen Triebstruktur etablieren oder zum Ausdruck bringen. "Sich betrinken" ist als (willentliche) Handlungsweise eine Handlung, durch die die Herrschaft der Vernunft ausgeschaltet wird. Hier kann ein absolutes Handlungsverbot formuliert werden, allerdings wiederum nur bezüglich der Tugend des Maßes (und damit eines ethischen Kontextes): Das Handlungsverbot gilt für Akte der Unmäßigkeit, und nicht z.B. für jenen, der sich zum Zwecke eines wissenschaftlichen Experimentes oder zum Zweck der Anästhesie bei einer Notoperation in den Zustand der totalen Betrunkenheit versetzt. (Fs) (notabene)

319b Wir können sagen: (1) Eine Handlungsweise, welche die durch Vernunft und Wille zu vollziehende verantwortliche Modifizierung der Dynamik eines sinnlichen Strebens behindert oder verunmöglicht, - so dass die Vernunft ihrer Herrschaft über die sinnliche Triebstruktur enthoben wird -, oder aber (2) eine Handlung, die darauf abzielt, diese verantwortliche Modifizierung überflüssig zu machen - indem aus Gründen der Verantwortung zu vermeidende Folgen von Akten dieses Triebes verhindert werden, so dass der Trieb zu Vermeidung dieser Folgen nicht mehr durch Vernunft und Wille beherrscht zu werden braucht und er seiner nun folgenlosen Eigendynamik überlassen werden kann - sind Handlungen, die in sich gegen jene Tugend verstossen, durch die das entsprechende Streben vervollkommnet wird1. (Fs)

Fußnote
230 Das letztere trifft m. E. auf die Handlung "Empfängnisverhütung" zu, in Bezug auf die deshalb eine absolut verbietende Handlungsnorm formuliert werden kann. Zur Beschreibung des Objekts dieser Handlung s. oben III,4,c; zur Begründung der Norm vgl. M. Rhonheimer, Sexualität und Verantwortung, a. a. O. In kürzerer Form findet sich die Argumentation in meinem Artikel: Empfängnisverhütung, Sexualverhalten und Menschenbild, in: Imago Hominis II, 1 (1995), S. 145-152.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: Utilitarismus; Ethik Kants

Kurzinhalt: Utilitarismus: Theorien darüber, wie man in gegebenen Situationen ganz abgesehen davon ob nun der Wille des Handelnden gut oder schlecht ist zu "richtigen" Entscheidungen gelangt; Kantische Ethik: das Gegenteil

Textausschnitt: 323a Wir können utilitaristische Ethiken (welcher Art auch immer) als Theorien darüber begreifen, wie man in gegebenen Situationen ganz abgesehen davon ob nun der Wille des Handelnden gut oder schlecht ist zu "richtigen" Entscheidungen gelangt; Kantische Ethik hingegen ließe sich begreifen als das Umgekehrte, nämlich als eine Theorie darüber, unter welchen Bedingungen unser Wille gut oder schlecht ist, ganz abgesehen davon, was nun in einer gegebenen Situation die richtige Handlungsentscheidung ist. Kantische Ethik ist eine (transzendentale) Theorie der Bedingungen der Möglichkeit eines guten Willens; Utilitarismus ist eine Theorie des richtigen Handelns. Damit bewegen sich beide auf einer verschiedenen Ebene und es kann nicht erstaunen, dass sie sich trefflich ergänzen: Man kann als Utilitarist gleichzeitig Kantianer, und als Kantianer Utilitarist sein; Kant selbst verfährt ja, wie wir sahen, bei der Behandlung des Lügenverbotes zunächst regelutilitaristisch, um dann aber die unbedingte Befolgung der so gewonnenen Norm zur unhintergehbaren Bedingung der Moralität des Willens zu erheben (eine Ebene, mit der sich utilitaristische Begründungen gar nicht beschäftigen). (Fs)

323b Hier also sind Theorie über das Gutsein des Willens und Theorie über die Richtigkeit des Handelns auseinandergetreten. Die Moderne braucht für die Ethik immer mindest zwei in sich disparate Theorien, die dann, zum Verständnis des Ganzen, kombiniert werden müssen (wobei die gegenwärtige virtue ethics sich praktisch auf einen einzigen der beiden Teile, nämlich den ersten, konzentriert). Kennzeichen klassischer Tugendethik ist hingegen gerade, in einem einzigen Zugriff Gutsein des Wollens und Richtigkeit des Handelns zusammenzubringen. Dies freilich um den Preis, keine eindeutigen Lösungen für konkrete Entscheidungsprobleme anbieten zu können1. Sie bleibt eine Grundrisswissenschaft. Es gehört ja gerade zum Begriff der sittlichen Tugend, dass sie sich auf jenes bezieht, "was immer wieder anders ist". Wenn ein Kritiker der modernen Tugendethik beklagt: "Folglich können wir uns von ihr keinen großen Nutzen in angewandter Ethik und Kasuistik erhoffen"2, so gilt dies für Tugendethik in klassischer Tradition allerdings nur in eingeschränkter Weise. Wenn man unter Kasuistik das Erzielen von eindeutigen Handlungsanweisungen und Lösungen erwartet, dann ist allerdings jede Form von Tugendethik ein schlechter Helfer. Das heißt jedoch keineswegs, dass es nicht auch spezifisch tugendethische Kasuistik und Anwendungsdiskurse geben kann. Allerdings werden diese freilich einen anderen Stellenwert einnehmen, als in einer Normen-und Regelethik. (Fs)

[...]
324c Praktische Prinzipien sind vielmehr die Prinzipien der Vernunft eines Subjekts, das nach dem Gelingen seines Lebens strebt. Als solche sind sie nicht Prinzipien des Diskurses über Praxis, sondern Prinzipien der Praxis selbst, die den Menschen überhaupt als Handlungssubjekt konstituieren und sich gleichzeitig auch als die grundlegenden Prinzipien der Richtigkeit des Strebens erweisen, da sie das Handlungssubjekt, sein Wollen und die in dieses eingebetteten praktischen Urteile der moralischen Differenz von Gut und Böse unterstellen. Wer gegen diese Prinzipien verstößt ist nicht ein solcher, der unrichtig denkt und schließlich in seinen Entscheidungen einen Fehler begeht. Vielmehr ist er einer, der, weil sein Streben das Richtige verpasst, einen "unrichtigen" d.h. schlechten Willen besitzt. Hier besteht nun eben ein wesentlicher Unterschied zu allen Arten utilitaristischer Rationalität (von Kant her gesehen ist der eben ausgesprochene Satz ohnehin völlig daneben): Diese nämlich begreift praktische Prinzipien als orientierende Regeln für Entscheidungsprozesse. Diese Regeln jedoch, und das ist wesentlich, sind selbst wiederum Produkte einer bestimmten "decision-making-theory"; sie sind nichts anderes als Generalisierungen, die gerade jener Entscheidungsrationalität entstammen, die sie dann zu regulieren haben. Sie haben also keinen eigenen Usprung, sind der Entscheidungsrationalität selbst weder vor- noch übergeordnet, und vermögen diese letztlich auch nicht grundlegend, d.h. eben: prinzipiell, einzuschränken. Denn diese Prinzipien oder Regeln können, ja müssen, gemäß der Entscheidungslogik, die sie regulieren, immer wieder adaptiert und neu gefasst werden. Somit besitzen auch alle Prinzipien als Formulierung von "Pflichten" immer nur prima facie-Geltung, sind also gleichsam provisorischer Art1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Zusammenfassung; Unterschied: Tugenethik - Normenethik, utilitaristische Ethik

Kurzinhalt: Der fundamentale Unterschied zwischen einer Tugend- und einer Normenethik besteht demnach darin, dass ...; die erste und entscheidende Frage: Was für ein Mensch bin oder werde ich, wenn ich dieses oder jenes tue,

Textausschnitt: 237a Der fundamentale Unterschied zwischen einer Tugend- und einer Normenethik besteht demnach darin, dass sich für die erstere das sittlich Richtige immer auch schon als Richtigkeit des Strebens bezüglich des "Für-den-Menschen-Guten" auf der Ebene konkreter Handlungen in Bezug auf bestimmte Personen bestimmt, mit denen der Handelnde (sei es von Natur aus oder durch einen Handlungsbezug wie Versprechen, Verträge usw.) in einem sittlich qualifizierten Verhältnis steht (auch zu sich selbst steht der Handelnde in einem sittlichen Verhältnis). Deshalb vermag sie von Handlungen zu sprechen, die "in sich" oder "immer" schlecht sind. Eine Normenethik utilitaristischer Art jedoch, d.h. letztlich eine argumentativ verfahrende Normenethik, kann solchen Verhältnissen keine privilegierte Stellung einräumen; sie muss deshalb auch die Kategorie der "Richtigkeit" von Handlungen von derjenigen der "Güte des Willens" abtrennen. Sie kann deshalb auch nicht verstehen, dass der intentionale Bezug des Willens auf "Gerechtigkeit" - d.h. der "gerechte Wille" - in jeder einzelnen konkreten Handlungswahl auf dem Spiel steht. (Fs)

237b Die immer wieder ins Zentrum der vorliegenden Darstellung gerückte Eigenschaft menschlichen Handelns als intentionales Handeln und die wesentlich intentionale Strukturierung von Handlungsobjekten - es ist entscheidend, dies nie aus den Augen zu verlieren - begründet und reflektiert zugleich die aller Moral eigene Perspektive: Sittliche Handlungen sind immanente Akte, die - abgesehen von ihren Wirkungen auf andere Handlungssubjekte - immer auch den Handelnden selbst verändern. Durch Handeln als intentionaler Vollzug erlangt der Mensch als ein Seiendes jene zunehmende Seinsfülle - Vervollkommnung -, die wir meinen, wenn wir von ein "guten Menschen" sprechen. "Intentionale Handlungen" sind Vollzüge, mit denen das Handlungssubjekt vernünftig-strebend auf etwas abzielt und er sich gemäß diesem "Abzielen auf etwas" (das Gute) auch verändert. Deshalb werden wir, je nach dem, durch intentionale Handlungen "gute" oder "schlechte" Menschen - und damit ist gemeint: wir erlangen, was man allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben kann, wodurch unser Streben jene Sättigung erfährt, auf die wir in unserem Glücklichsein-wollen alle schon immer aus sind. Die Frage der Moral ist nie einfach: Was soll ich tun? Welche Handlungsweise ist hier und jetzt die richtige? Diese Fragen sind zweifellos Fragen der Ethik und der Moral, sie sind aber nachgeordnet und untergeordnet unter die erste und entscheidende Frage: Was für ein Mensch bin oder werde ich, wenn ich dieses oder jenes tue, d.h. es aus freien Stücken wähle? Worauf richte ich mich, worauf zielt mein Leben als Gesamtes, wenn ich diese oder jene Handlung vollziehe bzw. unterlasse? (notabene)

237c Sittliches Gutsein ist gegenüber dem bloßen Gutsein aufgrund der Tatsache, ein existierender Mensch zu sein, ein Mehr: Es ist metaphysisch gesprochen ein akzidentelles (hinzukommendes) Sein, in der Perspektive des Guten jedoch erst das eigentliche Gutsein, aufgrund dessen wir dann auch von einem Menschen sagen: er ist ein guter Mensch. Als sittliche (handelnde) Subjekte werden wir bzw. sind wir, was wir erstreben und aufgrund unseres Strebens tun. Nichts würde es dem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt verbesserte, dabei aber selbst kein guter Mensch wäre bzw. würde. Er würde dann nämlich gar nicht die Welt verbessern. Denn eine Welt ohne Menschen guten Willens - ohne "gute Menschen" - ist keine gute Welt. (Fs) (notabene)

237d Das klingt nun freilich wortklauberisch, weil man meinen könnte - und utilitaristische Ethiker meinen es in der Tat - schließlich sei man gerade dann ein guter Mensch, wenn man die Welt zu verbessern suche. Dieser Einwand ginge jedoch am zentralen Punkt vorbei: Wir können das Gute für die Welt, die Gesellschaft, kurz: für unsere Mitmenschen immer nur in dem Maße erstreben, verfolgen und daran mitwirken, in dem wir selbst schon auf das "für den Menschen Gute" aus sind. Und das wiederum sind wir nur, insofern wir uns zunächst die Frage stellen: Was ist das in Wahrheit für mich Gute? Es ist unmöglich, anderen wohlzuwollen, wenn wir nicht wissen, was jeweils zu unserem Wohl gehört. Denn auf den anderen beziehen wir uns ursprünglich - auch kognitiv - nicht als auf einen schlechthin anderen, sondern als auf einen "mir Gleichen" und damit als auf ein "anderes Selbst" (vielleicht hat das auch Emmanuel Levinas übersehen). Das Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" oder die goldene Regel sind keine Trivialitäten; vielmehr bilden sie - ganz abgesehen von ihrer paränetischen Funktion - das kognitive Strukturgesetz praktischer Vernunft. (Fs) (notabene)

238a Die Ausformung sittlicher Tugend durch die handlungsbestimmende praktische Vernunft in dieser Perspektive der Moral, führt uns dazu, einige Grundstrukturen einer "Ethik des Handlungsurteils" zu formulieren und sie durch Kritik an der Gegenposition des Utilitarismus zu präzisieren. Eine solche Ethik des Handlungsurteils reflektiert die moralische Logik der konkret-handlungsbestimmenden Vernunft, d.h. jene Logik, deren Einhaltung Bedingung dafür ist, dass diese Vernunft der Struktur der Klugheit gemäß urteilt und so schließlich den Habitus der Klugheit zu erwerben vermag. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Umstände und Folgen; Prinzipien für die moralische Bewertung von Handlungsfolgen

Kurzinhalt: Was auf der Ebene der naturalen Identität des Aktes ein Umstand ist, muss auf der Ebene seiner moralischen Identität als intentionale Handlung eine konstitutive, der Ordnung der Vernunft widersprechende "Objektbedingung" ... genannt werden

Textausschnitt: 332a Der objektive Gehalt einer intentionalen (Basis-) Handlung ist, wie wir sahen, Gegenstand der Vernunft. Die Vernunft ist es, die die verschiedenen Handlungselemente (Handlungsabläufe, Umstände, "Wozu?", ethischer Kontext) zu einer gegenständlichen Einheit zusammenfügt und sie so - in Relation zu Prinzipien (Tugenden) - als gut oder schlecht zu identifizieren vermag: species moralium actuum constituuntur ex formis prout sunt a ratione conceptae, "die Artbestimmungen sittlicher Handlungen bilden sich aus Formprinzipien wie sie von der Vernunft erfasst werden"1 (Fs)

332b Wenn wir eine Handlung in ihrer naturalen Identität (in ihrem genus naturae) als rein physischen Handlungsablauf betrachten, so gibt es allerdings eine Menge von Umständen und Folgen bzw. Wirkungen dieses Handlungsablaufs, deren Abmessung durch die Vernunft nun tatsächlich diesem Vollzug als intentionale Handlung erst ihre moralische Identität (ihr genus moris) verleiht. Damit ein Diebstahl ein Diebstahl ist, muss die weggenommene Sache rechtmäßiger Besitz des anderen sein. Bezüglich des physischen Handlungsablaufs "jemandem etwas wegnehmen" ist dies lediglich ein "Um-stand" (es gehört zu den circumstantia). Für die Vernunft wird dieser jedoch zu einem konstitutiven Element der moralischen Identität dieser Handlung: Der Wille richtet sich hier gegen das Recht des anderen. Die Rechtsverletzung (die Verletzung des "dem anderen Zustehenden", "ihm Geschuldeten", des "Seinen") ist die eigentümliche objektive Wirkung der Handlungsweise, so wie sie der Vernunft gegenständlich ist; denn nur die Vernunft vermag ja gemäß dem ihr selbst entspringenden Prinzip Gerechtigkeit zu urteilen. Die Handlung ist demnach ein Akt der Spezies "Ungerechtigkeit". Was auf der Ebene der naturalen Identität des Aktes ein Umstand ist, muss auf der Ebene seiner moralischen Identität als intentionale Handlung eine konstitutive, der Ordnung der Vernunft widersprechende "Objektbedingung" (principalis conditio obiecti rationi repugnans)2 oder "wesentliche Objektdifferenz" (differentia essentialis obiecti)3 genannt werden (bezüglich der Ebene des genus naturae ist auch das intentionale "Wozu?", die "Aneignung", nur ein Umstand; für die Vernunft gehört dies jedoch zur Wesensform der Handlung). Ob der Diebstahl morgens oder abends stattfindet, ob zwei oder nur ein Pferd gestohlen werden, ob sich dies auf dem Land oder in der Stadt vollzieht, das alles ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um einen Diebstahl handelt. Diese Gegebenheiten sind nun also Umstände in Bezug auf die moralische Identität der Handlung. Für die Vernunft bilden sie höchstens quantitative Elemente (ein mehr oder weniger schwerwiegender Diebstahl). (Fs) (notabene)

333a Falls der Bestohlene z.B. aus geschäftlichen Gründen auf seine Pferde angewiesen ist und ihm durch den Diebstahl als Folge ein wirtschaftlicher Schaden erwächst, so ist dies (in Bezug auf die objektive Identität "Diebstahl") ein Umstand - oder eine Folge - die der Handlung allerdings eine weitere objektive Dimension als zusätzliche Schädigung verleiht (auch wenn dies nicht ein weiteres Ziel war, das man mit dem Diebstahl verfolgte). Oder: Wenn A das Haus von B anzündet, so ist dies objektiv eine materielle Schädigung von B. Ob sich B im Haus befindet oder nicht, ist bezüglich der naturalen Identität der Handlung lediglich ein Umstand; nicht aber bezüglich ihrer moralischen Identität: Wenn B als Folge (der physischen Handlung) verbrennt, so ist diese Folge bezüglich der moralischen Identität der intentionalen Handlung entweder eine unbeabsichtigte Folge (weil A meinte, es sei niemand im Haus), für die A allerdings die volle Verantwortung trägt; oder aber A hat B's Haus gerade deshalb angezündet, weil er B töten wollte. Dann ist die Handlung objektiv ein Mord (obwohl bezüglich der naturalen Identität des Handlungsvollzugs "das Haus von B anzünden" das "im Haus sein" nicht mehr als ein Umstand ist; moralisch betrachtet, d.h. für die Vernunft, handelt es sich jedoch um eine konstitutive Objekt-Bedingung). Nun ist es wiederum denkbar, dass B ein gefährlicher Terrorist ist, und sein Tod zu Folge hat, dass ein von ihm geplantes Attentat am nächsten Tag nicht zur Durchführung kommt, so dass viele Menschen durch A's Handlung vor dem Tod bewahrt werden, und dass dieser B deshalb töten wollte, weil er genau dies zu erreichen beabsichtigte. Diese Folge ist nun allerdings bezüglich der moralischen Identität der Handlung von A wiederum nur ein - allerdings gewichtiger - Umstand; sie ändert nichts an deren objektiver Identität. A hat B gegenüber eine Ungerechtigkeit vollzogen (Mord), wenn auch mit einer an sich guten Absicht. A's Handlung "B töten" wird dadurch weder gerechtfertigt noch "besser", obwohl der ganze Handlungskomplex (also die Absicht einbezogen) freilich weniger schlecht ist, als wenn auch die Absicht eine schlechte gewesen wäre. (Fs) (notabene)

333b Für die praktische Vernunft gibt es demnach zwei Arten von Umständen und Folgen: (1) Solche die bezüglich des physisch-natural betrachteten Aktes reine Umstände sind, als nicht zum naturalen Wesen des Aktes gehören, für das Objekt der intentionalen Handlung jedoch und damit für die moralische Identität von Handlungen konstitutiv und gerade Bedingung sind; und (2) solche, die gerade bezüglich der moralischen Identität nur Umstände sind, diese Identität also nicht verändern. Und hier ist auch zu sagen: Solche Umstände der zweiten Art können durchaus wiederum bezüglich des naturalen Aktes keine Umstände sein, sondern dessen notwendige Wesenfolge: Wenn durch einen ehebrecherischen Sexualverkehr ein Kind gezeugt wird, so ist die Zeugung bezüglich des naturalen Aktes eine "direkte Wesensfolge" und keineswegs ein Umstand; wohl aber ist es ein Umstand bezüglich der moralischen Identität der Handlung "Ehebruch": Die Handlung ist ein Ehebruch (Verletzung der Treue) ganz unabhängig davon, ob nun dabei ein Kind gezeugt wird oder nicht4. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Prinzipien über die Beurteilung der Folgen von Handlungen (7Punkte)

Kurzinhalt: (3) Für die üblen Folgen unserer schlechten Handlungen tragen wir ebenfalls die Verantwortung, auch wenn diese Folgen nicht vorausgesehen waren. Wir hätten sie ja vermeiden können ...

Textausschnitt: 334a Aufgrund dieser intentionalen Analyse von Handlungen können wir nun einige Prinzipien darüber formulieren, wie die Folgen unserer Handlungen zu beurteilen sind. (Fs)
(1) Jene Folgen, die Objektbedingung sind, prägen den objektiven Gehalt dessen, was wir wählen. Ob eine Folge Objektbedingung ist, beurteilt die Vernunft hinsichtlich der Ziele der Tugenden. Wenn "A ein Pferd wegnehmen, das er rechtmäßig besitzt" zur Folge hätte, dass sich das Pferd verdoppelte und jetzt A und B ein Pferd besitzen würden, so läge hier keine Ungerechtigkeit vor. Nun ist aber die Folge des Wegnehmens, dass A ein Pferd, auf dessen Besitz ihm ein Rechtsanspruch zusteht, nicht mehr besitzt. Folglich ist die Handlung objektiv ungerecht. (Fs)

(2) Für die guten Folgen unserer guten Handlungen tragen wir zusätzlich das Verdienst und wird man uns entsprechend auch loben. Dies sogar, wenn wir sie nicht voraussehen konnten. (Fs)

(3) Für die üblen Folgen unserer schlechten Handlungen tragen wir ebenfalls die Verantwortung, auch wenn diese Folgen nicht vorausgesehen waren. Wir hätten sie ja vermeiden können, wenn wir getan hätten, was gut ist bzw. wenn wir jene schlechte Handlung nicht vollzogen hätte, aus der sich die üblen Folgen ergaben. (Fs)

(4) Die guten Folgen schlechter Handlungen können dem Handelnden nicht als Verdienst angerechnet werden. Denn die eigentliche, zurechenbare Folge ist die schlechte Folge, d.h. jene Wirkung, die eine schlechte Handlung eben schlecht macht, und das ist diejenige Folge, welche die intentionale Identität der Handlung konstituiert (z.B. Verletzung eines Rechtsanspruchs). Was sich daraus überdies an Gutem ergeben mag, ist gemäß obigen Bestimmungen dann als Nebenfolge (Umstand) der intentionalen Handlung zu betrachten, auch wenn sie mit der Absicht vollzogen wurde, diese Folge zu bewirken. (Fs)

(5) Für die nicht-voraussehbaren üblen Folgen unserer guten Handlungen sind wir nicht verantwortlich. Sie sind schlechterdings nicht-intentional, vorausgesetzt, dass wir sie wirklich nicht voraussehen konnten. (Fs)

(6) Die vorausgesehenen üblen Folgen der Unterlassung einer Handlung können uns dann nicht zugerechnet werden, sofern der Vollzug der unterlassenen Handlung objektiv schlecht gewesen wäre (=der Zweck heiligt nicht die Mittel); des weiteren gilt Prinzip (4). (Fs)

(7) Die vorausgesehenen üblen Folgen objektiv guter Handlungen können dem Handelnden nicht zugerechnet werden, vorausgesetzt, (a) diese Handlung wurde nicht gerade deshalb vollzogen, um diese Folge zu bewirken (d.h. es gibt unabhängig von ihrem voraussichtlichen Eintreten einen Grund, die Handlung zu vollziehen); (b) der Grund, die Handlung trotz Voraussicht der üblen Folge zu vollziehen, ist der Folge angemessen schwerwiegend und (c) man hat alles weitere in seiner Macht Stehende getan, damit die üble Folge nicht eintritt. Die üble Folge ist dann ebenfalls nicht-intentional, d.h. eine nichtintentionale Nebenfolge. (Fs)

334b Gerade dies letztere Prinzip ist das umstrittenste. Es ist das Prinzip des "indirekten Handelns" bzw. besser: des "indirekt Gewollten" (voluntarium indirectum), oft auch formuliert als Prinzip der "Handlung mit Doppeleffekt". Genauer: Umstritten ist die Relevanz der Unterscheidung zwischen Prinzip (6) und (7). (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Sokrates; Utilitarismus, konsequentialistische Ethik; Leon von Salamis

Kurzinhalt: Ein konsequentialistischer Sokrates hätte sich also fragen müssen: (a) Welche sind voraussichtlich die Folgen einer Auslieferung des Leon und dessen Tod? (b) Welche sind voraussichtlich die Folgen meiner Weigerung, Leon auszuliefern, ...

Textausschnitt: 353a Ein Mann, der die Entscheidung für eine beste Welt als Folge der Tugend getroffen hat, war der Sokrates der platonischen Apologie1. Als die Tyrannenoligarchie der Dreißig ihm und seinen Freunden den Auftrag gaben, den unschuldigen Leon von Salamis zur Hinrichtung herbeizuschaffen, vollzog er keine Güterabwägung, sondern er weigerte sich einfach, eine Handlung zu vollziehen, die er als in sich ungerecht beurteilte, wissend, dass ihm dieser Ungehorsam den Tod bringen würde (was, wie er nicht wissen konnte, nicht eintrat, da die Dreißig vorher gestürzt wurden)2. (Fs) (notabene)

353b Sokrates handelte nach der zuerst von Demokrit formulierten Maxime "Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun"3. Diesem Satz stimmen wir alle ohne zu zögern zu. Das Schlimme für den Konsequentialismus ist, dass er ihn nicht rechtfertigen kann4. Denn der Satz setzt den Begriff intentionaler Handlungsvollzüge und die Perspektive des Handlungssubjekts, die Moral der "ersten Person" voraus: "Unrecht erleiden" ist nämlich für denjenigen, der hier entscheidet, ein nichtsittliches Übel und ein bloßer "Sachverhalt", ein Zustand, der ihn weder zu einem guten noch zu einem schlechten Menschen macht. "Unrechttun" hingegen ist ein sittliches Übel (auch für den Konsequentialisten), durch das er ein schlechter Mensch würde. Deshalb ist der Sinn des Satzes klar: "Ich ziehe es vor, in einen schlechteren Zustand versetzt zu werden, als Schlechtes zu tun (weil ich dadurch ein schlechter Mensch werde)". Dies entspricht auch der wörtlichen Übersetzung von Demokrits Maxime: "Wer Unrecht tut ist unseliger, als wem Unrecht geschieht"5. (Fs) (notabene)

354a Das Problem für den Konsequentialisten besteht darin, dass er ein solches Handlungsurteil gemäß seiner Theorie nicht vollziehen darf. Denn "ungerecht" ist für ihn eine Handlung ja nur, insofern sie "unrichtig" ist. Und um diese Richtigkeit zu bestimmen, muss er alle voraussichtlichen Folgen für alle Betroffenen abwägen, und zwar in gleicher Weise die Folgen eines Tuns, wie auch diejenigen eines Unterlassens. Ein konsequentialistischer Sokrates hätte sich also fragen müssen: (a) Welche sind voraussichtlich die Folgen einer Auslieferung des Leon und dessen Tod? (b) Welche sind voraussichtlich die Folgen meiner Weigerung, Leon auszuliefern, und meines eigenen Todes? Er hätte dann die Folgen des Todes von Leon und des seinen gegeneinander abwägen müssen. Dabei stünden nun Folgen-Sachverhalt (a) gegen Folgen-Sachverhalt (b). Und man sieht: Die Frage des Unrechttuns ist jetzt plötzlich gar keine sinnvolle Frage mehr. Die Frage ist nur noch: Welches "Ereignis" bewirkt die besseren Folgen? Und darin, dieses Ereignis (Tun oder Unterlassen) zu verursachen, bestünde dann die richtige Handlungsweise. (Fs) (notabene)

354b Die Frage "Ist es besser Unrecht zu erleiden oder Unrecht zu tun?" wird militaristisch also umgeformt in die Frage: "Was ist besser, dass ich durch Unterlassung der Handlung X eine üble Folge für mich selbst oder durch deren Vollzug eine üble Folge für einen anderen bewirke?". Dabei wird die "radikale Subjektivität des Sittlichen"6 ausgeklammert: Die Tatsache, dass ich der Handelnde bin. Das eigene Handeln wird wie ein bloßes "Ereignis" behandelt, das gewisse Folgen zeitigt. Das Handlungsurteil besteht darin zu bestimmen, welches Ereignis erwünschter ist. Etwa so, wie man fragen könnte: Was ist besser, dass durch ein Erdbeben hundert Menschen getötet werden oder nur fünfzig? Jedermann würde das erste Erdbeben für schlimmer halten. Erdbeben jedoch sind Naturereignisse; menschliche Handlungen sind es nicht. (Fs)

354c Sokrates hätte zum Schluss kommen können, dass die Folgen seines Todes schlimmer seien, als diejenigen des Todes von Leon (wahrscheinlich hätte er sogar gute Gründe haben können; heute wissen wir, dass gerade die nicht-utilitaristische Einstellung von Sokrates die besten Folgen hatte, denn anders wäre Sokrates nicht Sokrates gewesen und es hätte wohl auch keinen Philosophen Piaton gegeben usw.). Das utilitaristische Kalkül auf den Fall Sokrates angewandt zeigt aber gerade, dass es durch die Verwandlung aller sittlicher Handlungen in eine reine "Verursachung von Sachverhalten und Weltzuständen" und deren Bilanzierung die Beurteilung der Frage überflüssig macht, was man eigentlich tut7. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Naturgesetz, lex naturalis: zweifach falsches Verständnis (Physizismus, Naturalismus, Dualismus)

Kurzinhalt: Naturgesetz ... denn dieses wird von der erkennenden Vernunft nicht einfach "vorgefunden", sondern von ihr einem Akt praktischer Erkenntnis konstituiert: Thomas begreift die natürliche praktische Vernunft als Gesetzgeber und nicht als Befolgerin ...

Textausschnitt: 26b Der gemeinsame Boden, den diese Prämissen bilden, ist das Unvermögen, die konsumtive Bedeutung der praktischen Vernunft für die Erkenntnis sittlicher Werte zu erfassen. Damit ist gemeint: Im Rahmen bestimmter moraltheologischer Schulrichtungen, durch die eine große Zahl heutiger Moraltheologen geformt wurden, verstand man das Naturgesetz oft als ein der praktischen Vernunft gewissermaßen in der Natur der Dinge vorliegender Erkenntnisgegenstand; man übersah dabei die, für Thomas gerade entscheidende, Rolle der praktischen Vernunft in der Konstitutierung des natürlichen Gesetzes; denn dieses wird von der erkennenden Vernunft nicht einfach "vorgefunden", sondern von ihr einem Akt praktischer Erkenntnis konstituiert: Thomas begreift die natürliche praktische Vernunft als Gesetzgeber und nicht nur als Befolgerin eines Gesetzes. (Fs) (notabene)

26c Eng verbunden mit einer verkürzten Auffassung des Naturgesetzes war auch die Tendenz einer Ableitung sittlicher Normen aus naturhaft ("physizistisch") verstandenem Sein (als "ontischer", vormoralischer Wert). Die an sich durchaus löbliche Absicht vieler heutiger Moraltheologen, eine solche Ableitung als unstatthaft oder zumindest unplausibel zu erweisen, wird jedoch dadurch fragwürdig, daß sie die dabei implizierte dualistische Dissoziierung von Vernunft und Natur, Sittlichkeit und Seinsordnung und schließlich die naturalistische Interpretation menschlicher Handlungsobjekte als vormoralische, ontische Gegebenheiten beibehalten; gerade dies wäre jedoch zu überwinden gewesen.

27a Der Physizismus oder Naturalismus - sowohl in seiner traditionellen Form, wie auch in neueren Varianten - beruht somit auf der Verkennung der konstitutiven Funktion der praktischen Vernunft als wertender Instanz des menschlichen Handelns. Diese sittlich wertende Vernunft gilt es heute wiederzuentdecken; ihr Begriff ist eng verbunden mit der Grundaufgabe der ratio überhaupt: Ordnung zu stiften, denn rationis est ordinare.1 Ohne ein angemessenes Verständnis dieser Aufgabe der Vernunft bleibt sowohl der Begriff der lex naturalis als ordinatio rationis, wie auch derjenige der sittlichen Tugend als ordo rationis im Dunkeln. (Fs)

27b Ohne die großen Verdienste neothomistischer Theoretiker des Naturgesetzes schmälern zu wollen, kann nicht bestritten werden, daß viele unter ihnen die spezifische Eigenart der praktischen Vernunft übersehen haben.1 Man erblickte in ihr nur zu oft, in verfehlter Weise, eine Kombination von theoretisch-metaphysischer Erkenntnis + Wille.2 Dies rührt daher, die lex naturalis - im Sinne des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffes - mit einer im Sein der Dinge bestehenden Naturordnung zu identifizieren; dies bedeutet, den Begriff einer dem sittlichen Sollen zugrundeliegenden "Naturordnung" - oder "natürlichen Ordnung" (ordo naturalis) - in einer Weise zu verstehen, welche die Vernunft, wie kritisiert wurde, auf die Rolle eines "Ableseorgans" reduziert, das aufgrund der Erkenntnis dessen, was ist, vorschreibt, daß, was ist, nun auch sein solle. Formeln wie "Erfülle deine Wesensnatur!" oder "Werde, was du bist!" sind in dieser Art Naturgesetztheorien geläufig.3

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Gewissen (Pastoralkonstitution Gaudium et spes)

Kurzinhalt: Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, daß er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß ...

Textausschnitt: "Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, daß er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes; denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat."

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Naturgesetz, lex naturalis; falsches Verständnis am Beispiel Josef Fuchs

Kurzinhalt: Man befindet sich in einem Schematismus, der unterstellt, daß das Naturgesetz "objektiv" die Ordnung der Natur ist, die dann, "subjektiv", von der Vernunft erkannt, also aus der Natur "abgelesen" wird.

Textausschnitt: 30a Mit einer historischen Reminiszenz soll dies verdeutlicht und belegt werden. Josef Fuchs hatte seinerzeit in seinem Standardwerk "Lex naturae"1 lehramtliche Formulierungen bezüglich des Naturgesetzes systematisiert. Er glaubte dabei "zwei Reihen" von Formulierungen finden zu können; eine erste, die dessen "ontologische Grundlage" betrifft; und eine zweite, die sich auf die "noetische Seite des Naturgesetzes, sein Ins-Herz-geschrieben-sein, seine natürliche Erkennbarkeit durch den Menschen" bezieht.2 Zur ersten Reihe gehören Formulierungen wie die Ehe sei aufgrund ihrer "Natur" Einehe, diese Eigenschaft folge aus der "Natur des Menschen" selbst, das Eigentumsrecht sei "von der Natur" selbst gegeben, die Wertordnung ergebe sich "aus der Natur der Dinge" usw. (Fs)
30b Was ist damit entschieden? Doch wohl nur, daß die sittliche Ordnung ein natürliches Fundament besitzt. Wie allerdings diese natürliche Fundierung und Regelung wirksam wird, ist damit nicht gesagt. Fuchs interpretiert jedoch: "So erscheint das Sein, das Wesen, die leibgeistige Natur des Menschen selbst als die Norm des sittlichen Verhaltens und des Rechtes." Diese Schlußfolgerung geht entschieden zu weit. Man könnte sie zwar, wiederum als "abgekürzte Rede", gelten lassen; sie verwandelt sich aber in den Händen eines Moraltheologen in eine viel weitergehende, analytische Aussage: Norm, Maßstab des sittlich Guten sei die Natur; die sittliche Ordnung wird auf die Naturordnung reduziert. (Fs)

30c Wenn dann Fuchs von der "zweiten Reihe" spricht (das Naturgesetz ist ins Herz des Menschen eingeschrieben und natürlicherweise erkennbar), dann kann dieser zweite Aspekt nur im Einklang mit dem ersten interpretiert werden, und das heißt: Die Entscheidung bezüglich der Interpretation ist bereits gefallen. Fuchs formuliert: "Die naturhafte Seinswirklichkeit stellt die objektiv-seinshafte Aussage über die sittliche und rechtliche Ordnung dar, die in der von der Seinswirklichkeit her bestimmten Vernunftserkenntnis subjektiv erfaßt wird; die Vernunft liest aus der Natur der Dinge und des Menschen das Naturrecht heraus. Die Aussage, daß die Vernunft das ins Menschenherz geschriebene Gesetz lesen kann, will offensichtlich nichts anderes bedeuten: das Naturgesetz ist insofern ins Herz geschrieben, als die Vernunft aus der Seinswirklichkeit des Menschen und der Dinge heraus das Gesetz der Natur zu erfassen vermag." (Fs) (notabene)

30d Alle diese Formulierungen könnte man in der abgekürzten Rede der Alltagskommunikation und auch der Verkündigung einigermaßen gelten lassen. Baut man jedoch darauf eine systematische Analyse auf, so hat man bereits eine folgenschwere Entscheidung getroffen: Man befindet sich in einem Schematismus, der unterstellt, daß das Naturgesetz "objektiv" die Ordnung der Natur ist, die dann, "subjektiv", von der Vernunft erkannt, also aus der Natur "abgelesen" wird. (Fs) (notabene)

[...] das Studium der großen theologischen Meister und der Kirchenväter ist dabei vernachlässigt worden. So haben in den Grundorientierungen vieler Moraltheologen offenbar bestimmte, nur einzelne Schulrichtungen repräsentierende Denkschemata bis heute deren Auffassung von der "traditionellen katholischen Moraltheologie" geprägt. (Fs)

32a Ein solches Schema ist jenes der Unterscheidung eines "objektiven" Naturgesetzes als "Naturordnung" von einer "subjektiven" Erkenntnis dieser Ordnung durch die Vernunft als eine zum Nachvollzug "aufgegebene" Wesensordnung der Dinge und die so verstandene Ableitung des "Sollens" aus dem "Sein". Was in diesem Schema jedoch völlig unberücksichtigt bleibt, ist die praktische Vernunft, insofern sie in ihrem Erkenntnisakt die "lex naturalis" selbst konstituiert, d. h. es bleibt unerkannt, daß die praktische Vernunft selbst eine natürliche Erkenntnisweise besitzt, die ebenfalls zur Natur des Menschen gehört und mitformuliert, was Naturgesetz ist. Es handelt sich dabei um den natürlichen Akt der praktischen Vernunft, der zwar zur "Natur des Menschen" gehört, dabei aber, als Natur, dem Akt der praktischen Vernunft nicht "gegenüber steht", sondern vielmehr dieser Akt, bzw. die durch ihn etablierte Ordnung ("ordinatio rationis") selbst ist. Das Naturgesetz ist also nicht einfach von der Vernunft aus der Natur abgelesen, sondern durch die Vernunft in einem natürlichen Akt praktischer Erkenntnis konstituiert. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Ableitung der Sittlichkeit aus der Natur: methodologischer Fehlschluss

Kurzinhalt: Einwand: operari sequitur esse; wir erkennen jedoch, gerade umgekehrt, das Wesen der Dinge aufgrund ihrer Akte. Das primum in essendo bleibt dabei das ultimum in cognoscendo.

Textausschnitt: 38c Mit diesen Fragen, so denke ich, werden nicht offene Türen eingerannt. Es geht ja nur darum, obige Aussage beim Wort zu nehmen. Man könnte einwenden: Was etwas sein soll - seine Vollkommenheit - könne man aus seiner Natur ablesen. Jedes Seiende besitze ja ein Wesen und ihm entspringende Potenzen, die als Grundlage seiner Tätigkeit diese selbst als gut oder schlecht qualifiziere: operari sequitur esse. (Fs) (notabene)

38d Das soll nicht bestritten werden, würde uns aber nur dann weiterhelfen, wenn wir die geschaffene Wirklichkeit mit den Augen des Schöpfers zu erkennen vermöchten, d. h. im Lichte der lex aeterna. Wir erkennen jedoch, gerade umgekehrt, das Wesen der Dinge aufgrund ihrer Akte.1 Das primum in essendo bleibt dabei das ultimum in cognoscendo. Da nun aber der Mensch, im Unterschied zu den anderen Geschöpfen, in seinem Handeln keiner "determinatio ad unum" unterliegt, seine Akte also frei sind, und deshalb "naturgemäß" aber auch nicht "naturgemäß" vollzogen werden, d. h. "gut" oder aber auch "schlecht", der Tugend entsprechen oder ihr entgegengesetzt sein können, so sind sie aufgrund der Faktizität ihrer Setzung sittlich noch nicht qualifizierbar, - auch wenn eine bestimmte Handlungsweise unter den Menschen einer bestimmten Epoche oder in einer bestimmten Gesellschaft die Regel, das "Normale" sein sollte. (Fs)

39a Für die Wissenschaft vom sittlichen Handeln genügt deshalb in keiner Weise eine rein empirische Feststellung dessen, was die Menschen tun. Aber auch eine metaphysische Feststellung der "Natur" des Menschen kann hier zumindest nicht den Ausgangspunkt bilden, denn eine für die Ethik relevante Metaphysik oder Anthropologie setzt aus dem gleichen Grund bereits einen Begriff des menschlichen Handelns als spezifisch, und nicht nur empirisch-faktisch, menschliches Handeln voraus. (Fs) (notabene)

39b Mit der Berufung auf die "Wesensnatur" als Grundlage der Beurteilung der Angemessen-heit von Handlungen begibt man sich deshalb methodologisch gesehen in eine Sackgasse. Es sei betont: Es handelt sich um eine Frage der Erkenntnisweise und der Methode, die vor allem den Gegenstand selbst in seiner Eigenart respektiert, - und das heißt hier den Menschen, der - wie sich im Verlauf der folgenden Erörterungen zeigen wird - keine res naturalis, kein "Naturding" ist. Der Mensch, insofern er ein sittlich handelndes Wesen ist, transzendiert gerade durch Vernunft das, was nur "Natur" ist. Aus einem Begriff des Wesens des Menschen kann die Bestimmtheit dieser Transzendenz nicht schon abgeleitet werden. Vielmehr wird gerade erst das "Wesen" des Menschen durch die Analyse des sittlichen Handelns erhellt und transparent. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kritik: Werde, was du bist! (Pieper); Unmöglichkeit der Ableitung des "sittlich-Guten" aus der "essentia"

Kurzinhalt: Aber nicht das Wesen ist Ziel und Vollkommenheit; sondern es gibt eine durch Akte erreichte Vollkommenheit, die das Ziel des "Wesens" ist

Textausschnitt: 39c Die Bestimmung des sittlich Guten, verstanden als metaphysische Ableitung aus der sogenannten "Wesensnatur", erweist sich auch noch aus anderen Gründen, gerade im Kontext einer thomistischen Metaphysik, als problematisch. (Fs)

39d Diese Ableitung beruht nämlich auf der Annahme, daß das Wesen und die Natur der Dinge, also auch diejenige des Menschen, Ziel und deshalb Maßstab seiner Vervollkommnung bilde. So pflegten beispielsweise Heinrich Rommen1 oder Josef Pieper2 zu argumentieren, wobei letzterer die Formulierung "Werde, was du bist!" verwendet. Das ist ein schönes, aber analytisch ebenso unbrauchbares Prinzip. Denn, so kann man fragen: Wieso muß ich das, was ich bin, erst werden, wenn ich es doch bereits bin? Was für einen Sinn hat es zu sagen, daß man das, was man ist, erst sei, wenn man es geworden ist? Gemeint ist natürlich ganz einfach, daß der Mensch erst durch sittliches Handeln sein Menschsein verwirkliche, und er eben erst so im Vollsinne Mensch werde. Nur wird dann eben der Terminus "Mensch" zweimal in verschiedenem Sinne gebraucht: Zunächst in seiner Spezifität als "Wesen" des Menschen; danach in seinem Modus der Vollkommenheit, der eben gerade nicht ausmacht, daß ein Mensch das ist, was er ist, nämlich ein Mensch. (Fs) (notabene)

40a Metaphysische Argumente dieser Art rechtfertigen sich mit einer entsprechenden ontologischen Begrifflichkeit: Das "Wesen" existiere zunächst in seiner Spezifität als Unvollkommenheit. Erst durch das sittlich gute Handeln gelange es zu einem Modus der Existenz, der vollkommen ist. Das Wesen wird also als Ziel der Vervollkommnung verstanden.3 Eine solche Metaphysik ist essentialistisch und ich glaube, daß sie sich darin von derjenigen des hl. Thomas zutiefst unterscheidet.4 (Fs) (notabene Fußnote)

40b Bei genauerem Hinsehen wird offensichtlich, daß man sich damit gewissermaßen den Ast abschneidet, auf dem man sitzt. Denn hieß es zunächst, daß man aus der Wesensordnung des Seienden den Maßstab für das Gute - das gute Handeln - erschließen könne, so wird nun zusätzlich postuliert, daß dieses Wesen erst am Ende des Vervollkommnungsprozesses realisiert, in Existenz gesetzt und sichtbar wird. Das bedeutet nun aber, daß der Maßstab sich nicht aus dem, was ist, ergibt, sondern aus der Erkenntnis dessen, was sein soll. Impliziert wird also gerade eine gewisse Priorität und Autonomie der normativ-praktischen Fragestellung gegenüber der Erkenntnis dessen, was ist. Damit wird nun aber gerade die praktische Erkenntnis von der rein metaphysischen abgegrenzt und es erweist sich im erkenntnistheoretischen Essentialismus der Normbegründung ein innerer Widerspruch. Sätze wie "Werde, was du bist!", oder: "Was ist, soll auch sein" offenbaren sich damit als methodisch sinnlos und unbrauchbar. (Fs) (notabene)

40c Der Widerspruch wird nur verdeckt, wenn man die Erkenntnis des Vollkommenen - also der Tugend - als rein metaphysische Erkenntnis der Seinsordnung, der "Wesensnatur" oder als Deduktion aus einer "natura metaphysica" ausgibt. So gelangt man nämlich zu dem bekannten und immer wieder festgestellten Zirkel, man lese ja nur das aus der Natur heraus, was vorher bereits durch Antizipation der Erkenntnis der der Natur entsprechenden Vollkommenheit in sie hineingelegt wurde. Dieser Zirkel, so scheint mir, ist in einer Theorie der "lex naturalis" unvermeidlich, wenn sie sich in den Bahnen einer Metaphysik bewegt, die - anders als diejenige des hl. Thomas - das "Wesen" als die Fülle des Seins (als plenitudo essendi) interpretiert.1 (Fs)

40d Daß das Wesen - oder genauer: die "forma substantialis" - und damit die Natur "Ziel" ist, steht für Thomas zwar fest. Thomas ist die aristotelische Lehre aus dem zweiten Buch der Physik geläufig: forma est finis. Gemeint ist damit jedoch nicht, daß die Natur oder die substantielle Form, bzw. die eine bestimmte "natura" konstituierenden Prinzipien der species, Ziel des Prozesses der Vervollkommnung darstellen; vielmehr sind sie Ziel der Entstehung "finis generationis" eines Naturdinges.2 (Fs) (notabene)

41a Auch in seiner "Politik" benutzt Aristoteles den Grundsatz, daß die Natur Ziel sei, dies aber im Zusammenhang mit der Entstehung - der "genesis" - der Polis aus ihren Teilen: Menschen und Hausgemeinschaften.3 Das alles aber hat mit dem Verhältnis zwischen Natur und sittlich-Gutem noch gar nichts zu tun: Vielmehr behaupten sowohl Aristoteles wie auch Thomas, dieses Gute bilde in seiner habituellen Aneignung, der Tugend, gewissermaßen eine "zweite Natur". Natur und Vollkommenheit, deren Zusammenhang und Verknüpfung die Ethik untersucht, sind nicht auseinander deduzierbar. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Inkonvertibilität des "esse morale" mit dem "esse essentiale"; generatio simpliciter - secundum quid

Kurzinhalt: "... damit es sich aber in angemessener Weise in Bezug auf das verhält, was außerhalb seiner ist, wird es ausschließlich durch Akzidenzien vervollkommnet, die zum Wesen hinzutreten (...).

Textausschnitt: 41b Für Thomas ist die "bonitas moralis" als "plenitudo essendi" - die ultima perfectio rei durch Tätigkeit - gerade jener Bereich, der die Prinzipien der "essentia", das Wesen übersteigt.1 Um ein metaphysisches Prinzip nicht zu mißbrauchen, ist in diesem Zusammenhang zu betonen, daß die Konvertibilität des sittlich Guten mit dem Sein eben eine solche mit dem sittlichen Sein (dem "esse morale") und nicht mit dem substantiellen, "wesenhaften" Sein darstellt. (Fs) (notabene)

41c Während im Naturprozess des Entstehens (generatio simpliciter) eine esse substantiale Wirklichkeit erlangt, so nennt Thomas die sittliche Vervollkommnung eine generatio secundum quid, aus der ein esse accidentale folgt; dieses ist das esse morale, ein akzidentelles Sein, das zu den Wesensprinzipien hinzutritt, zugleich jedoch die bonitas simpliciter dastellt. "Denn ein jedes Ding nennt man ein Seiendes insofern es absolut betrachtet wird; gut nennt man es hingegen in Hinsicht auf anderes. In sich selbst, zum Zwecke seiner Subsistenz, wird etwas durch seine Wesensprinzipien vervollkommnet; damit es sich aber in angemessener Weise in Bezug auf das verhält, was außerhalb seiner ist, wird es ausschließlich durch Akzidenzien vervollkommnet, die zum Wesen hinzutreten (...)." Nur in Gott sei Weisheit, Gerechtigkeit, Starkmut etc. - also jede Vollkommenheit - identisch mit seinem Wesen; in uns sind sie, als Tugenden, essentiae superadditae. Die sittliche Vollkommenheit ("bonitas absoluta" oder "simpliciter") fällt in Gott mit seinem Wesen zusammen, "in nobis autem consideratur secundum ea quae superadduntur essentiae".2 (Fs) (notabene)

41d Die immer wieder beschworene Konvertitibilität des Seienden mit dem Guten braucht also nicht als Konvertibilität des "bonum morale" mit den "esse essentiale" aufgefaßt zu werden. Thomas bestreitet eine solche Identifizierung ausdrücklich und hält daran fest, daß die Ordnung der operativen Vollkommenheit (der Sittlichkeit) die Ordnung der Natur übersteigt. (Fs) (notabene)

42a Der Satz "alles Sollen gründet im Sein" wird deshalb dann problematisch, wenn das Sein mit der essentia gleichgesetzt wird; bedenkt man, daß die menschliche Natur oder das "Wesen" aus sich - diesem Wesen entsprechend, aber nicht mit ihm identisch - Potenzen hervorbringt, und diese wiederum Akte, so erweitert sich das Feld des "Seienden", - und auch des "Natürlichen". Während die essentia ein für das Menschsein metaphysisch-konstitutiv Notwendiges ist, bildet der Bereich der Akte den über das konstitutiv-Notwendige hinausreichenden Bezirk der Freiheit. Das in Freiheit gesetzt Sein ist jedoch aus einem metaphysisch-notwendigen Konstitutivum nicht ableitbar, sondern nur in ihm begründbar. Es handelt sich bei der menschlichen Freiheit um eine metaphysisch konditionierte Freiheit, aber eben doch um Freiheit; eine logisch zwingende Ableitung des in Freiheit -und das heißt aufgrund vernünftiger Einsicht und eigenem Wollen - vollzogenen Guten (d. h. des "sittlich Guten") kann nicht geleistet werden. (Fs) (notabene)

42b Wie gezeigt werden wird, entspringt die Ausrichtung des Willens auf das Gute ursprünglich nicht einer metaphysischen Wesenseinsicht, sondern einer praktischen Erfahrung. In ihr kommt zwar die Natur des Menschen zum Ausdruck, sie ist aber als Spruch der praktischen Vernunft "Das ist gut" oder "Das soll ich tun" nicht aus metaphysischer Wesenseinsicht abgeleitet; sie gründet in der Natur des Menschen, begründet aber eben deshalb erst die Möglichkeit metaphysischer Einsicht in diese Natur. (Fs)

42c In der Verwechslung von "natürlicher Begründetheit praktischer Einsicht" mit "Ableitung praktischer Einsich aus der Metaphysik" und dem sich aus dieser Verwechslung ergebenden Zirkel, besteht das Ungenügen essentialistischer Analyse des sittlichen Sollens. Das esse morale bedarf hingegen zu seiner Erfassung eines eigenen Modus der Erkenntnis, der auch eine besondere Wissenschaft und Methode zugeordnet ist, die, wenn auch nicht unabhängig, so doch verschieden von der Metaphysik ist. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Die Differenzierung von spekulativer und praktischer Vernunft

Kurzinhalt: Gegenstände der menschlichen »Theoria" sind nur für den Schöpferwillen Gottes auch praktische Gegenstände

Textausschnitt: 44d Was heißt nun jedoch, spekulativer und praktischer Intellekt unterscheiden sich durch ihr Ziel? Ziel des Intellektes, seiner spekulativen "apprehensio", ist doch gerade das Sichtbarmachen der in der Sinneserfahrung eingeschlossenen intelligiblen Wahrheit. Ist der praktische Intellekt etwa nicht auf Wahrheit gerichtet? (Fs) (notabene)

[...]

Ganz abgesehen davon, daß der Intellekt von Natur aus immer spekulativ ist - denn die "speculatio" ist die dem Intellekt im Unterschied zu den Sinnen eigene Art der "apprehensio", die eben sieht, was die Sinne nicht "sehen", nämlich die intelligible Wahrheit - abgesehen von der Natur des Vermögens also, geht es hier um das verschiedene Ziel, welches das erkennende Subjekt verfolgt, wenn es einmal seinen Intellekt theoretisch, ein anderes Mal praktisch gebraucht. Trotz der gleichbleibenden spekulativen Eigenart des Vermögens, unterscheiden sich dann die kognitiven Intentionen des Erkenntnisaktes. Einmal ist diese Intention - das Ziel - theoretisch (bloßes Erkennen dessen, was ist, um der Erkenntnis willen); im anderen Fall ist sie praktisch (die Bestimmung des praktisch Guten, dessen, was getan werden soll). Dem ersten Erkenntnismodus entsprechen theoretische, dem zweiten praktischen Urteile.1 Praktische Urteile sind zwar eine "extensio" des spekulativen Aktes der Vernunft; sie sind aber keine "extensio" theoretischer Urteile der Vernunft. (Fs) (notabene)

45c Daß Thomas die unterschiedliche Struktur praktischer Urteile nicht übersehen hat, wird aus seinem Kommentar zu De anima deutlich. Es zeigt sich, daß die "extensio" des Intellektes keineswegs darin besteht, daß nun einfach der Inhalt spekulativer Urteile durch einen hinzutretenden Willensakt "gewollt" und so auf die Sphäre des Handelns angewandt würde. Das in einer metaphysisch-theoretischen Erkenntnis erfaßte Sein braucht und kann ja gar nicht in diesem Sinne gewollt werden, da es ein notwendig Seiendes bereits ist. Der Wille kann sich dem Sein wohl liebend zuwenden; dabei handelt es sich jedoch um die affektive Vollendung der Kontemplation. Gegenstände der menschlichen »Theoria" sind nur für den Schöpferwillen Gottes auch praktische Gegenstände. (Fs) (notabene)

45d Das Verhältnis zwischen praktischem Intellekt und Willen (bzw. Liebe) ist vielmehr umgekehrt: Während die Theoria mit der staunend-fragenden Hinwendung des Intellektes zur Wirklichkeit beginnt, um sie dann in einem Nachvollzug schöpferischer Liebe ("Und Gott sah, daß alles gut war") zu bestätigen, so ist das Prinzip des praktischen Intellektes Gegenstand eines Strebens, ein appetibile. Die "extensio ad opus" beruht auf einer bewegenden Kraft, einer motio, die praktischen Urteilen durch das ihnen eigene Prinzip zukommt. Dieses Prinzip, das "appetibile", ein praktisches Gut, das "bewegt ohne bewegt zu sein", ist das "primum consideratum ab intellectu practico".1 Es ist als unbewegtes und zugleich bewegendes Prinzip der Ausgangspunkt der consideratio des praktischen Intellektes, der als Intellekt dadurch seine bewegende Kraft, d. h. seine "extensio" erhält. "Der praktische Intellekt - betont Thomas - wird deshalb 'bewegend' genannt, weil nämlich sein Prinzip, das Erstrebte ('appetibile'), bewegt."2 (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Die "appetitive" Bedingtheit der praktischen Vernunft; nihil volitum nisi praecognitum; naturaliter appetibile; inclinatio naturalis

Kurzinhalt: Der praktische Intellekt ist das in diese intentionale Struktur des Erstrebens und Tuns des praktischen Guten eingebettete Licht, das ermöglicht, das wahrhaft Gute vom nur scheinbar Guten zu unterscheiden

Textausschnitt: 46a Somit scheint klar zu sein, daß auch für Thomas der Akt der praktischen Vernunft - praktische Urteile - nicht durch ein Wollen des theoretisch Erkannten oder ein extensives Praktischwerden theoretischer Urteile entsteht. Vielmehr besitzt der praktische Intellekt von Anfang an ein anderes Verhältnis zum Streben, ist in dieses eingebettet und von ihm abhängig. Das appetibile, Prinzip ("primum consideratum") des praktischen Intellektes, ist nicht irgend ein Gut, sondern ein praktisches Gut. Praktische Güter sind nicht solche, die in der Notwendigkeit der Struktur des Seienden bereits als "Gegebenheiten" auftreten oder "Dinge", die man erstrebt oder im Handeln berücksichtigt.1 Sie unterliegen vielmehr der Kontingenz des Handelns und damit des Strebens. Für den Dieb ist ja nicht das Geld das "praktische Gut", das er verfolgt, sondern der Besitz dieses Geldes, oder aber der Gebrauch desselben. Das Geld als solches ist kein praktischer Gegenstand; es existiert unabhängig von allem Handeln; sein Besitz oder seine Verwendung jedoch wird erst durch Handeln erreicht; und damit es zu einem Gegenstand des Handelns wird, dazu bedarf es eines von der praktischen Vernunft organisierten Strebens, eines Strebens, das sich auf Grund des praktischen Urteils formiert: "Das, - d. h. nicht das Geld, sondern der Besitz oder die Verwendung dieses Geldes -, ist gut". (Fs)

47a Das notwendig Seiende ist gewollt (geliebt), insofern es ist. Ein Willensakt, der sich auf den Inhalt eines Banktresors richtet, ist als solcher praktisch irrelevant, bzw. undefiniert. Er kann ja auch bloße Anerkennung oder Mitfreude über den Besitz oder den Erfolg des Anderen beinhalten. Praktische Güter "sind" nur, insofern sie erstrebt, gewollt, geliebt werden, und sie sind dies jeweils aufgrund eines praktischen Urteils der Vernunft; deshalb können sie so oder anders sein; sie können auch nicht sein; und insofern sind sie kontingent. Kontingent sind sie auch, weil ihr Modus der Verwirklichung im konkreten Handeln vielfältig und je wieder anders ist.2 Der praktische Intellekt ist das in diese intentionale Struktur des Erstrebens und Tuns des praktischen Guten eingebettete Licht, das ermöglicht, das wahrhaft Gute vom nur scheinbar Guten zu unterscheiden - die spezifische Leistung intellektueller "speculatio" - und es bis auf die Stufe der konkreten Handlungswahl (electio) zu bestimmen.3 (Fs) (notabene)

47b Damit ist keineswegs das Prinzip "nihil volitum nisi praecognitum" durchbrochen. Das eigentlich praktische Streben (die Intention und die von ihr abhängige und sie konkretisierende "electio") beruht immer auf einem Urteil der praktischen Vernunft. Und der erste Erkenntnisakt erhält seine Information aus einer ihm gegenständlichen Wirklichkeit, einer "res".1 Diese Wirklichkeit ist jeweils ein dem Intellekt vorgegebenes, insofern natürliches Feld seiner "apprehensio". Im Falle theoretischer Erkenntnis handelt es sich um den Gegenstandsbereich des Seienden; im Falle praktischer Erkenntnis ist das "primum consideratum" ein "appetibile", das als erstes ein naturaliter appetibile sein muß, dem eine natürliche Neigung (inclinatio naturalis) entspricht. (Fs) (notabene)


47c Das Objekt der "inclinatio naturalis" ist von Anfang an praktisch (ein Ziel), das in einem Akt der "natürlichen Vernunft" ein naturaliter cognitum darstellt und als solches als praktisches Gut und "bonum humanum" erfaßt wird.1 Dieser ursprüngliche Akt der "ratio naturalis" ist Ausgangspunkt aller praktischen Urteile. Diese sind ebensowenig aus Urteilen metaphysischer Theorie ableitbar oder rekonstruierbar, wie die ersten Prinzipien der praktischen Vernunft aus den ersten Prinzipien der theoretischen Vernunft ableitbar sind. Beide besitzen den Charakter der Ursprünglichkeit und sind sozusagen "eigenen Rechts". (Fs)

47d Dabei zeigt sich wiederum, daß auch der praktische Intellekt seinen grundlegend spekulativen Charakter eines intellektiven "lumen" nicht verliert. Nur führt die spekulative (intellektive) "apprehensio", die auf ein "appetibile" gerichtet ist, zu einem praktischen Urteil. Die ursprüngliche "speculatio" ist durch die appetitive Bedingtheit dieser Art von "apprehensio" in der intentionalen Dynamik des Strebens ("inclinatio naturalis" - "inten-tio" - "electio") integriert: es hat eine "extensio" auf das "operabile" stattgefunden. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Die Unableitbarkeit des ersten Prinzips der praktischen Vernunft; prosecutio, fuga "praktische Kopula"

Kurzinhalt: Die Struktur dieses praktischen Urteils beruht ja nicht auf der Verknüpfung zweier Termini (Subjekt und Prädikat), wie das in einer Aussage (enuntiatio) der Fall ist, sondern in einem Verhältnis des "appetitus" zum "appetibile

Textausschnitt: 51b In einer Vertiefung dieser Analyse zeigt sich, daß der normative Charakter des ersten Prinzips der praktischen Vernunft, ebenso wie der fundierende Charakter desjenigen der theoretischen Vernunft, des Widerspruchsprinzips, unableitbar und damit unbeweisbar ist. Das heißt: Die Ableitung der normativen Geltung des Urteils "bonum est prosequendum et faciendum, malum est vitandum" aus der grundlegend naturhaften Beziehung zwischen "bonum" und "prosecutio" ist undurchführbar, da das Erste nie abgeleitet oder bewiesen werden kann, sondern vielmehr der Evidenz der Erfahrung unterliegt. Wer es doch versucht, kann schließlich höchstens zur Feststellung gelangen, daß es sich hier um eine bloße Leerformel oder Tautologie, um ein formallogisches Strukturprinzip oder dergleichen handelt.1 (Fs)

51c Das hieße jedoch - gerade weil man das Unbeweisbare begründen will - die Natur dieses Prinzips zu verkennen. Denn es handelt sich hier nicht um ein Aussage-Urteil, sondern um die in der Reflexion zum Ausdruck gebrachte Struktur eines vernunftgeprägten Strebeaktes. Dieser Strebeakt selbst, bzw. das ihm zugrundeliegende erste praktische Urteil, ist das erste Prinzip der praktischen Vernunft. Die Struktur dieses praktischen Urteils beruht ja nicht auf der Verknüpfung zweier Termini (Subjekt und Prädikat), wie das in einer Aussage (enuntiatio) der Fall ist, sondern in einem Verhältnis des "appetitus" zum "appetibile". Das Verhältnis besteht nicht in einer kognitiven Zuordnung der Art, wie sie in der Kopula "est" oder "non est" zum Ausdruck kommt, sondern in der "prosecutio", bzw. der "fuga", die gewissermaßen die "praktische Kopula" genannt werden können.2 (Fs) (notabene)

52a Erst in der Reflexion auf den im Streben integrierten Akt der praktischen Vernunft erhalten wir eine sprachlich formulierbare Gestalt dieses "praeceptum" in der Form einer Aussage: "bonum prosequendum est...". Hier handelt es sich nun um ein Urteil im geläufigen Sinn, das aber aus keinen anderen Urteilen oder Prämissen ableitbar, sondern nur in der Reflexion bewußtgewordene Bestätigung des ersten Aktes der praktischen Vernunft ist. Weit davon entfernt, eine Leerformel, Tautologie oder ein formallogisches "ethisches Denkprinzip" zu sein, handelt es sich vielmehr um eine ursprüngliche appetitive Beziehung und - gleichzeitig - intellektive "Intuition", die den Intellekt als praktischen konstituiert und seine "extensio" ermöglicht. (Fs)

52b Alles, was in der Folge von der "ratio naturalis" in universaler Weise als gut erkannt wird oder aber im "iudicium electionis" (bzw. durch die Klugheit) konkret als hie et nunc zu tun bestimmt wird, formuliert sich unter der Herrschaft dieses ersten Prinzips als "praeceptum" der praktischen Vernunft: im ersten Fall als ein solches der lex naturalis; im zweiten Fall als "praeceptum", der Klugheit.1 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Unterschied: forma substantialis - recta ratio; forma naturalis" (genus naturae) - "forma a ratione concepta"; "ordo naturalis" - "ordo rationis"

Kurzinhalt: [...] nicht aber um zu behaupten, die "forma substantialis" - also die natürliche "Wesensform" des Menschen - sei der Maßstab der "bonitas" einer "operatio"

Textausschnitt: 60b Aufgrund dieser Formulierung wird einsichtig, daß Thomas den Rekurs auf die Seele, die "forma substantialis", - ebenso wie Aristoteles - lediglich dazu benutzt, um das Formprinzip menschlicher, d. h. sittlicher Handlungen zu bestimmen, nicht aber um zu behaupten, die "forma substantialis" - also die natürliche "Wesensform" des Menschen - sei der Maßstab der "bonitas" einer "operatio". Der Verweis auf die Seele dient vielmehr dazu, das Kriterium für die Auffindung dieses Maßstabes aufzuzeigen; dieser kann nun als die ratio, und zwar als die "ratio recta" angegeben werden.1 (Fs) (notabene)

60c Der Begriff recta ratio ist nicht ein anderer Terminus für die "forma substantialis", sondern bezeichnet die "rectitudo" eines Seelenvermögens, bzw. seiner Akte. Maßstab ist das diese "rectitudo" (praktische Wahrheit) besitzende Urteil der Vernunft, ein "dictamen rationis rectae".2 Andernfalls wäre es unverständlich, weshalb Thomas in dem angeführten Text von einer "perversitas rationis" spricht, die nicht nur der "recta ratio", sondern, wie es hier heißt, auch der Natur der Vernunft widerspreche. Eine solche Verderbtheit kann nur dem Vermögen und seinem Akt zukommen, und selbstverständlich nicht der "forma substantialis". (Fs) (notabene)

60d Daß dem vorliegendem Text tatsächlich dieser Sinn zuzusprechen ist, bestätigt Thomas selbst durch den Hinweis, daß die "recta ratio" einer dianoetischen Tugend - der Klugheit - entspreche, wovon im sechsten Buch die Rede sein werde.3 Damit ist die normative Aufgabe der Vernunft begründet: "Der Unterschied von Gut und Böse im moralischen Sinne kann demnach nur spezifisch sein, wenn er sich im Hinblick auf das Prinzip der menschlichen Akte ergibt, und dieses Prinzip ist die Vernunft"4, - und nicht die Wesensnatur" oder die "natura metaphysica". (Fs) (notabene)
61a Durch eine Reflexion im Lichte der Metaphysik des Handelns ist jetzt begründet, was die praktische Vernunft in ihrem eigenen Vollzug bereits schon selbst erfahren hat. Denn damit die praktische Vernunft (d. h. die praktisch urteilende Person) sich ihrer maßgebenden Funktion bewußt wird und diese auch ausübt, bedarf sie ja nicht zuvor einer metaphysischen Ableitung dieser Funktion. Das wäre absurd, weil sittlich-praktische Erkenntnis dann den Fachphilosophen vorbehalten wäre. Die Möglichkeit sittlich-praktischer Erkenntnis wird nicht durch Metaphysik begründet, sondern durch das natürliche Licht der "ratio naturalis".5 Die reflektive Begründung - demonstratio - der maßverleihenden Funktion der Vernunft durch den Rekurs auf die "forma substantialis" - die menschliche Seele - entspricht einer nachfolgenden Reflexion im Sinne der "reditio completa". (Fs) (notabene)

61b Diese Überlegungen sind wichtig für eine sinngerechte Interpretation von I - II, q.18, a.5. Wenn hier Thomas schreibt: "Patet ergo quod differentia boni et mali circa obiectum considerata, comparatur per se ad rationem: scilicet secundum quod obiectum est ei conveniens vel non conveniens", so ist hier als terminus ad quem der Konvenienz gerade nicht die Natur der Seele gemeint; diese letztere ist nur die Grundlage für den Nachweis, daß die Vernunft selbst dieser "terminus" ist; die moralische Spezifizierung von Objekten erfolgt im Hinblick auf die Vernunft und ihre praktischen Urteile. (Fs)

61c Nicht zu vergessen ist, was Thomas kurz zuvor bereits dargelegt hat: In gleicher Weise, wie die "forma" einem Naturding die "species" verleiht, so konstituiert das Objekt die "species" einer Handlung.6 Das Objekt ist also die "Form" der Handlung, und ist als solche eine conceptio rationis: "So wie die Spezies der Naturdinge aus natürlichen Formen entstehen, so entstehen die Spezies der sittlichen Handlungen aus Formprinzipien, wie sie durch die Vernunft erfaßt sind."7 Thomas unterscheidet damit deutlich die "forma naturalis", die als substantielle Form ein Seiendes innerhalb eines bestimmten "modus essendi" konstituiert, von einer "forma ratione concepta": diese ist nichts anderes als das Objekt, das einer Handlung seine "species moralis", letztlich die "bonitas" oder die "malitia" verleiht.64 (Fs) (notabene)

62a Diese Ausführungen erheben nicht den Anspruch, irgend etwas Neues oder noch nicht Gesehenes vorzubringen. Hätte man in den letzten fünfzig Jahren etwa die damals wie heute wichtigen und, abgesehen von zeitbedingter Polemik, unüberholten Ausführungen von L. Lehu ernster genommen und sie nicht durch Festhalten an Schultraditionen "neutralisiert", so hätte das sicher wohltuende Wirkungen bezüglich des Verständnisses der thomistischen Lehre über die Objektivität des sittlichen Handelns und die "lex naturalis" gehabt. Die immer wiederkehrende Verwechslung und Vermengung zwischen den Ebenen der "forma naturalis" (genus naturae) und der "forma a ratione concepta", das Objekt auf der Ebene des "genus moris", sowie zwischen "ordo naturalis" und "ordo rationis", wie das im Rahmen einer zum Naturalismus tendierenden Thomasinterpretation geläufig war, hat schließlich gerade bezüglich der Lehre von der "lex naturalis" zu zweifelhaften Interpretationsansätzen geführt. Eine diesbezügliche Verwirrung scheint oftmals noch immer nicht überwunden zu sein, und zwar auch bei Autoren, die sich heute um eine "Neuinterpretation" thomistischer Texte bemühen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: "Lex naturalis est aliquid per rationem constitutum; sicut etiam propositio est quoddam opus rationis" (I-II, q.94, a.1)

Kurzinhalt: Für nicht wenige Interpreten ist dieser Satz zu einer Art befreiender Formel geworden, um die "Autonomie" der "lex naturalis" gegenüber der sogenannten "Naturordnung" zu konstatieren

Textausschnitt: 68c Sprachlich ist dieses "praeceptum" als solches streng genommen gar nicht ausdrückbar, wenigstens nicht in seiner Eigenheit als praktisches Urteil ("in actu exercito"), sondern höchstens als Befehl: "Tu das!". Der adäquate Ausdruck des praktischen Urteils als "praeceptum" scheint allein ein vom praezeptiven Inhalt dieses Urteils geprägter Willensakt zu sein (die "prosecutio" oder "fuga" auf der Ebene der "intentio" oder der "electio") bzw. die Handlung selbst. Die intersubjektiv erfahrene "Sprache" des präzeptiven Aktes der Vernunft als solcher ist letztlich die Handlung. Unmittelbar erfahrbar wird somit der präzeptive Akt der praktischen Vernunft in seinem Vollzug. Erst auf der Ebene der Reflexion - die aber bereits als bloßes Bewußtsein spontan in diesem Vollzug, ihn begleitend, gegenwärtig ist1 - wird dann auch die sprachliche Formulierung des "praeceptum" möglich: "Hoc est prosequendum et faciendum etc.", - wobei es sich dabei bereits um eine normative Aussage auf der Ebene der Reflexion, also eine "enuntiatio" mit normativem Gehalt, handelt, die in der Applikation durch ein Gewissenurteil selbst wieder praktisch wirksam wird. (Fs) (notabene)

68d Wir vermögen somit eine oft zitierte und nicht selten mißbrauchte Aussage des hl. Thomas in ihrem Zusammenhang zu stellen: "Das Naturgesetz ist etwas durch die Vernunft Konstituiertes, genau wie die "propositio" ein Werk der Vernunft ist."2 Der Sinn dieses Satzes ist offensichtlich folgender: Das Naturgesetz ist, wie jedes Gesetz, weder ein Habitus, noch ein Vermögen und auch kein bloßer Akt der Vernunft, sondern etwas, was durch die praktische Vernunft konstituiert wird, nämlich ein "praeceptum" der praktischen Vernunft, und zwar ein "praeceptum universale".3 (Fs)

69a Für nicht wenige Interpreten ist dieser Satz zu einer Art befreiender Formel geworden, um die "Autonomie" der "lex naturalis" gegenüber der sogenannten "Naturordnung" zu konstatieren. Ganz abgesehen davon, daß dies eine kontextfremde Interpretation wäre, wird dabei übersehen, daß die Suche nach einer solchen Autonomie auf einer naturalistischen Reduktion des Begriffes "Natur" beruht. Denn, wie noch ausführlich gezeigt werden soll, gehört auch die dieses "praeceptum" effektiv und inhaltlich begründende ratio naturalis zur "Natur". Eine metaphysische Disjunktion von Natur und Vernunft, wie auch von freiem Willen und Natur besitzt ja in einem thomistischen Kontext keinen Sinn4, - man müßte sich dazu eher auf Kant berufen. Eine solche dualistische Anthropologie, die unausweichlich zu einer spiritualistisch argumentierenden Ethik der grundsätzlichen Verfügbarkeit des "Natürlichen" führt, entspringt letztlich dem Versuch, einer weiterhin naturalistisch - "physizistisch" - interpretierten "Naturordnung" eine Vernunft gegenüberstellen, die den Charakter einer gegenüber dem Natürlichen ungebundenen Freiheit beansprucht.5 Damit wird nun aber gerade das Problem, das zur Debatte steht - die Konstituierung eines natürlichen Gesetzes durch die praktische Vernunft - eigentlich liquidiert. Aufgrund der von den hier angesprochenen Autoren entwickelten Neuinterpretation einer "lex naturalis" als Begründung "theonomer Autonomie" entsteht nämlich ein völlig anderes Paradigma der Normenbegründung: Das teleologisch-utilitaristische, das später noch eingehend zur Sprache kommen wird.6 (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Die Konstituierung der "lex naturalis" durch die "lex aeterna"; Alternative zum stoischen Begriff des Naturgesetzes und seines Prinzips des "secundum naturam vivere"

Kurzinhalt: Denn auf der Ebene des Geschöpfes, der "causa secunda" also, ist die Ordnung des natürlichen Gesetzes tatsächlich ein Werk der Vernunft, "aliquid per rationem constitutum" und somit formell ein "ordo rationis", ...

Textausschnitt: 70e So wie man das Gesetz allgemein als "dictamen practicae rationis in principe" bezeichnen kann und vorausgesetzt, daß die Welt durch die Vorsehung Gottes regiert wird, läßt sich der "Plan" der göttlichen Weltregierung ("ratio gubernationis rerum in Deo") als Gesetz bezeichnen. Dieser Plan oder dieses Gesetz ist ein "conceptum" der "ratio divina", und deshalb ewig; es ist also ein ewiges Gesetz.1 (Fs)

71a Das natürliche Gesetz ist nun nicht "aliquid diversum a lege aeterna", nicht etwas vom Ewigen Gesetz Verschiedenes, sondern "quaedam participatio eius", "eine gewisse Teilnahme an ihm".2 Dies zu betonen erweist sich als wichtig: Denn der "Raum", in welchem die menschliche Vernunft gesetzgebend wirkt, ist nicht als Freiraum zu denken, innerhalb dessen gewissermaßen noch nichts "vorgesehen" oder geordnet wäre und der damit auch noch nicht einem Gesetz unterläge. Dieser Fehlschluß - der letztlich einem Irrtum bezüglich der Natur der göttlichen Vorsehung gleichkommt - liegt dem Begriff "theonome Autonomie" zugrunde. (Fs)

71b Vielmehr besteht dieses Gesetz für das menschliche Handeln bereits, aber - das ist gegenüber einer naturalistischen Fehldeutung zu betonen - nur im göttlichen Geist und nicht in der geschaffenen Natur. Die durch die "lex aeterna" etablierte und im Bereich des menschlichen Handelns durch das natürliche Gesetz konstituierte Ordnung ist keine "Naturordnung" schlechthin, sondern ein "ordo rationis", der von Ewigkeit her in Gott besteht und dann, durch die menschliche Vernunft vermittelt, in den Akten des Willens und den einzelnen Handlungen konstituiert wird.3 (Fs)

71c Die Rückbeziehung der "lex naturalis" auf eine der Natur selbst transzendente "lex aeterna" - möglich nur in einer Metaphyik des geschaffenen Seins - erweist die thomistische Lehre vom Naturgesetz, trotz aller anderer Parallelen, als eigentliche Alternative zum stoischen Begriff des Naturgesetzes und seines Prinzips des "secundum naturam vivere". Denn auf der Ebene des Geschöpfes, der "causa secunda" also, ist die Ordnung des natürlichen Gesetzes tatsächlich ein Werk der Vernunft, "aliquid per rationem constitutum" und somit formell ein "ordo rationis", - und eben nicht, wie gemäß stoischer Auffassung und der an dieser orientierten naturalistischen Deutung, eine "Naturordnung", derer die Vernunft lediglich einsichtig wird, um dann in Übereinstimmung mit ihr zu leben. Die Stoa hat wohl die "lex aeterna" entdeckt, und dadurch erklärt sich die große Anziehungskraft, die ihre Lehre immer auf die christlich inspirierte Philosophie auszuüben vermochte. Die stoische Philosophie mußte aber gleichzeitig die "lex aeterna" mit der natürlichen Seinsordnung schlicht identifizieren, und deshalb wird das stoische Naturgesetz zu einer vernünftigen Partizipation an der Notwendigkeit der Seinsordnung, und Freiheit zur "Einsicht in die Notwendigkeit", wie ein anderer "Stoiker", nämlich Hegel, formulierte. Das Problem, das sich aus dieser Identifizierung ergibt, ist jenes der nachfolgenden zirkelhaften konkret-materialen Bestimmung des Inhaltes dieses natürlichen Gesetzes.4 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Die doppelte Partizipation der "lex aeterna" im Menschen; ratio aeterna; inclinatio - determinatio

Kurzinhalt: Die vernünftige Kreatur nimmt deshalb an der göttlichen Vorsehung nicht nur hinsichtlich des Regiert-Werdens, sondern ebenfalls hinsichtlich des Regierens teil ...

Textausschnitt: 72a Nun stellt sich allerdings bei Thomas in seiner ganzen Schärfe das Problem, wie denn die Ordnung des Ewigen Gesetzes auf der Ebene der Kreatur vermittelt, transparent und wirksam wird. Daß dies durch direkte Offenbarung oder göttlich-positive Gesetzgebung möglich ist1, ist für den Begriff der "lex naturalis" belanglos. In der Beantwortung dieser Frage präzisiert sich der thomistische Begriff des natürlichen Gesetzes. (Fs)
72b Der hl. Thomas greift dazu auf die frühere Bestimmung des Gesetzes im allgemeinen als "regula" und "mensura" zurück. Da alle Geschöpfe der göttlichen Vorsehung und damit dem Ewigen Gesetz unterstellt sind, muß die entsprechende Regel, der Maßstab, auch irgendwie im Geschöpf enthalten sein. Zunächst ist ja, als geschaffenes Sein, alles Seiende einer bestimmten Spezies gemäß formiert und besitzt demnach einen determinierten Seinsmodus, (den man "essentia", sein "Wesen" nennt). Ihm entsprechend sind alle seienden Dinge bereits in ihrem Sein durch die schöpferische Vernunft Gottes "gemessen" und "geregelt". Diese passive Partizipation an der "lex aeterna" drückt sich in der einer jeden Spezies entsprechenden "inclinatio in proprios actus et fines" aus.2 Alle Geschöpfe besitzen eine solche passive impressio der "lex aeterna" in ihrem Sein, die sich in natürlichen Neigungen zu spezifischen Akten und Zielen äußert, - also auch der Mensch.3 (Fs) (notabene)
72c Somit ist die "naturalis inclinatio" das im Sein, in der Natur verankerte appetitive Fundament aller Akte und deren Zielgerichtetheit.4 Nicht aber bildet sie für den Menschen bereits einen adäquaten "ordo operationis". Bei den unvernünftigen Lebewesen werden die natürlichen Neigungen durch wiederum naturhafte Ordnungsprinzipien (z. B. die Instinkte) auf angemessene Akte und das ihnen angemessene Ziel, den "finis debitus", hingeordnet.5 Eine solche Hinordnung auf das "debitum" erweist sich als zusätzlich notwendig, da die natürliche Neigung als solche lediglich das seinshafte Fundament ist, auf und in der die Ordnung der Akte ruht. (Fs)

73a Der Mensch hingegen, so betont Thomas, besitzt eine höhere Weise der Teilhabe an der lex aeterna", nämlich durch eine Partizipation der "ratio aeterna" selbst, wodurch er eine naturalis inclinatio ad debitum actum et finem" besitzt.6 Der unvernünftigen Kreatur kommt eine solche "inclinatio" auf das "debitum" nicht zu; sie besitzt zwar eine naturhafte "determinatio" ihrer Neigungen. "Inclinatio" und "determinatio" sind jedoch nicht dasselbe: Während alle unvernünftigen Lebewesen in den Instinkten - oder wie auch immer das operativ-normative Ordnungsprinzip hier genannt werden soll - eine rein passive "determinatio" oder "regulatio" ihrer natürlichen Neigungen besitzen - eine "mensuratio" -, so ist hingegen der Mensch zur Bestimmung und Ausrichtung auf das "debitum" - das Gute - mit einem anderen aktiven und kognitiven Ordnungsprinzip ausgestattet, nämlich mit einer erneuten "inclinatio naturalis", die der ratio naturalis entspringt, eine Partizipation der "divina ratio", Ebenbild - itnago - der göttlichen Vernunft.7 (Fs) (notabene)

73b Durch sie wird uns das Ewige Gesetz transparent. Sie ist im Menschen ein lumen, ein Licht, durch eine "impressio divini luminis in nobis". Dieses Licht ermöglicht uns zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Darin liegt Funktion und Wirksamkeit der "lex naturalis", durch die der Mensch "providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens" wird.8 Der Mensch durch die "lex naturalis" selbst Teilhaber und verantwortlicher Interpret der göttlichen Vorsehung, ist Mitarbieter, Mitvollstrecker der göttlichen Weltregierung bezüglich seiner selbst und anderer.9 "Die vernünftige Kreatur nimmt deshalb an der göttlichen Vorsehung nicht nur hinsichtlich des Regiert-Werdens, sondern ebenfalls hinsichtlich des Regierens teil. (...) Die Regierungsfunktion der menschlichen Akte, insofern sie personale Akte sind, gehört zur göttlichen Vorsehung."10 (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Das erste Prinzip der praktischen Vernunft; ratio boni; "Bonum est quod omnia appetunt; Bonum est prosequendum et faciendum, malum vitandum

Kurzinhalt: ... ein Faktum, das in diesem Satz nur reflex formuliert und festgehalten wird: dem Faktum des "appetibile", das sich stets der Vernunft als Ziel vergegenständlicht

Textausschnitt: 76b Ebenso wie in der spekulativen Vernunft - so beginnt der besagte Artikel - gibt es auch in der praktischen Vernunft erste, allgemein evidente, unableitbare Urteile ("propositio per se notae communiter omnibus"). Es handelt sich dabei um Urteile, deren Termini allen bekannt sind ("quarum termini sunt omnibus noti"). Diese Termini solcher praktischer Urteile sind, wie bereits gezeigt, jeweils ein "bonum" (vom "bonum communissimum" bis zum konkreten "bonum operabile"), sowie das praktische "Prädikat" "prosequendum", bzw. "fugiendum". Eine solche Beschreibung praktischer Urteile - als "normativer Aussagen" - ist allerdings nur in der Reflexion auf den Akt der praktischen Vernunft sinnvoll, auf jener Ebene also, auf der praktischen Urteile auch eine sprachliche Formulierung erhalten können. Auf der Ebene ihres ursprünglichen Vollzuges sind sie einer solchen Formulierung nicht zugänglich, da es sich dabei um eine appetitiv-präzeptive "affirmatio" des als "gut" erkannten ("prosecutio") handelt, oder aber um eine entsprechende "negatio" ("fuga"). (Fs) (notabene)

77a Auch hier, so scheint mir, stellt sich Thomas wie gewöhnlich auf die der Moralwissenschaft entsprechende Ebene der reflexiven Deskription ("in actu signato") von seelischen Vorgängen. Man muß sich dies stets bewußt bleiben, will man den Gegenstand der Deskription selbst - den präzeptiven Akt der praktischen Vernunft - nicht aus den Augen verlieren oder verfälschen, indem man ihn einer "normativen Aussage" - einer "enuntiatio" – gleichstellt.1 (Fs)

77b Wenn nun also Thomas sagt, daß das erste Prinzip der praktischen Vernunft auf der "ratio boni" gründe, die da heiße: "Bonum est quod omnia appetunt", so meint er nicht, daß die praktische Vernunft ihre Urteile auf diesen "Satz" gründe; sondern vielmehr auf ein Faktum, das in diesem Satz nur reflex formuliert und festgehalten wird: dem Faktum des "appetibile", das sich stets der Vernunft als Ziel vergegenständlicht, und das heißt: als etwas das "gut scheint", - also entweder ein wahrhaft oder aber nur scheinbar Gutes ist (denn auch das wahrhaft Gute "scheint" gut, ist ein "phainomenen agathon", aber sein Gutsein ist nicht nur Schein; denn es ist auch der Wahrheit gemäß gut, - und deshalb tut der Tugendhafte, wenn er tut, was ihm gut scheint, immer auch spontan das wahrhaft Gute; darin liegt ja gerade die "moralische Effizienz" der sittlichen Tugend). (Fs) (notabene)


77c Die "ratio boni" ist somit nichts anderes, als das, was wir als "gut" erfahren, die Faktizität des im Streben als dessen Ziel erfahrenen praktischen Gegenstandes, das "appetibile". Die praktische Vernunft objektiviert diesen Gegenstand als "bonum" aufgrund eines intellektiven Aktes, auf den dann die appetitive Antwort der "prosecutio" folgt, - genauer gesagt: nicht "folgt", eher beruht diese Antwort darauf, denn die "prosecutio" ist ja bereits im Urteil selbst ausgesprochen. Reflektierend auf diesen Vorgang läßt sich das erste Prinzip der praktischen Vernunft formulieren: "Bonum est prosequendum et faciendum, malum vitandum." (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Thomas, Aristoteles (Nikomachische Ethik): Lösung des Zirkels praktischer Vernunft; Unmöglichkeit einer ursprünglichen Zielwahl

Kurzinhalt: Zirkel: die Wahrheit der praktischen Vernunft hänge von der Richtigkeit des Strebens ab, die Richtigkeit des Strebens jedoch wiederum von praktischer Vernunft; fundamentale Zielstruktur menschlichen Handelns

Textausschnitt: 227b In seinem Kommentar zu jener Stelle der Nikomachischen Ethik, an der Aristoteles den Begriff "praktische Wahrheit" einführt, bemerkt Thomas, es scheine sich hier ein Zirkel zu finden: Aristoteles behaupte ja, die Wahrheit der praktischen Vernunft hänge von der Richtigkeit des Strebens ab, die Richtigkeit des Strebens jedoch wiederum von praktischer Vernunft. Thomas löst den Zirkel folgendermaßen: Jene praktische Vernunft, deren Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem richtigen Streben besteht, ist die Vernunft, die sich auf die "Wege zum Ziel" (die Mittel) richtet. Das Ziel selbst jedoch ist dem Menschen "von Natur aus bestimmt"1. Damit ist gesagt: Die fundamentale Zielstruktur menschlichen Handelns, ist nicht gesetzt durch einen Akt der Wahlfreiheit, sondern sie liegt jedem freien Wählen und entsprechendem vernünftigem Überlegen immer schon als Ausgangspunkt zugrunde, und zwar eben "von Natur aus". Aber was ist damit gemeint? (Fs) (notabene)

227c Thomas verweist zurück auf das dritte Buch der Nikomachischen Ethik. Tatsächlich heißt es dort, Ziele seien bezüglich der Handlungswahl schon immer ein Zugrundeliegendes und damit vorgegeben. Und zwar entweder "von Natur", oder aber als erworbene Disposition. Denn das Ziel des Tugendhaften ist "richtig", das Ziel des Lasterhaften jedoch "verkehrt", und zwar aus eigenem Verdienst bzw. eigener Schuld. Was uns als Ziel gut und richtig erscheint - d.h. was wir als jenes Letzte erstreben, um dessentwillen uns das Leben als ein Ganzes erstrebenswert erscheint - das hängt wiederum davon ab, was wir selbst für ein Mensch sind bzw. zu was für einem Menschen wir uns gemacht haben. Insofern aber das Ziel, bzw. die Einschätzung dessen, was Ziel ist, nicht unseren erworbenen Dispositionen entspringt, ist es ein von Natur Gegebenes1. Das gilt ja bereits vom "Glück": Wir erstreben es alle "von Natur aus". (Fs)

228a Damit ist freilich nicht geklärt, was denn ein Ziel "richtig" mache. Aber der Zirkel ist aufgelöst: Über jene Ziele, die unserem Handeln die fundamentale Orientierung verleihen, beratschlagen wir nicht und ebensowenig wählen wir sie; sonst würden wir nie handeln. Wir beratschlagen und wählen ja immer um eines Zieles willen. Und zwar letztlich genau um jener Ziele willen, die wir entweder "von Natur aus" oder aufgrund unserer erworbenen Dispositionen erstreben. Was demnach einer für gut hält, das hängt letztlich davon ab, was für ein Mensch er ist, und das wiederum hängt davon ab, was er wählt und entsprechend tut. Die "Ziele", von denen hier die Rede ist, sind also wesentlich nichthintergehbare Ausgangspunkte d.h. Prinzipien. (Fs) (notabene)

228b Eine ursprüngliche Zielwahl, die nicht bereits um eines vorausliegenden (und in diesem Sinne "höheren") Zieles erfolgt, d.h. eine absolut erste, freie Setzung dessen, was wir wollen, ist undenkbar. Eine "reine Wahl der Ziele", die ursprünglich und ohne vorausliegendes "Um-willen" sich vollzöge, wäre eine pure Entscheidung oder Setzung ohne Vernunft. Denn vernünftig wählen kann man nur hinsichtlich eines vorausliegenden Zieles. Das bedeutet allerdings nicht, dass nun die Prinzipien - also das jeweils Erste - vernunftlos erstrebt werden. Aber sie werden nicht gewählt. Und das heißt, es handelt sich um eine Ebene, wo Ziele bzw. Güter intellektiv als solche erkannt und entsprechend erstrebt werden, ohne dass dies jedoch einer Setzung im Sinne einer (Vorzugs-) Wahl entspringt. Allerdings ist dabei die Freiheit nicht aufgehoben; denn man kann sich der Intelligibilität dieser Prinzipien oder Güter und dem ihnen entsprechenden Streben - zumindest teilweise - auch widersetzen. Z.B. (vorgreifend): Auch wenn "Leben-wollen" nicht etwas ist, was wir "vernünftig wählen", sondern einfach immer schon wollen, so können wir uns diesem Streben doch widersetzen und "nicht mehr leben wollen". (Fs) (notabene)

228c Dennoch führt die Meinung des Aristoteles, unsere Auffassung vom Guten hänge jeweils davon ab, was für Menschen wir sind, nicht zu der Ansicht, letztlich sei alles relativ. Denn wir haben zwar die sittlichen Tugenden nicht "von Natur aus", aber auch nicht "gegen die Natur", sondern wir sind "von Natur aus" dazu angelegt, sie zu erwerben1. Zudem spricht Aristoteles von einer "natürlichen Tugend"2. Diese Rede unterstellt, dass es für jeden Habitus der sittlichen Tugend entsprechende naturgegebene Dispositionen gibt, die bei verschiedenen Menschen zwar wiederum von Geburt an verschieden ausgeprägt, aber eben sittliche Tugend gleichsam im Keim und als Anlage sind. Aber das allein würde uns ja noch keine kognitive Orientierung vermitteln, ja solche Tugend, die reines Vermögen ist, könnte sogar Schaden anrichten. Wirkliche, "eigentliche" Tugend, so Aristoteles, ist erst, wo auch Klugheit ist, wo also diese natürliche Disposition mit Vernunft einhergeht. Aber Vernunft allein, das wäre auch wieder nicht Tugend. Vernunft bedarf der natürlich angelegten Disposition oder Neigung. Der Habitus der Klugheit vervollkommnet demnach etwas, was zwar natürlicherweise, aber nicht als sittliche Tugend bereits vorhanden ist. Gleichwohl hilft uns auch das nicht weiter. Denn "natürliche Tugend" als natürliche Tugend zu erkennen - als "Anlage zum Guten" -, das setzt ja selbst wiederum voraus, dass man schon weiß, was gut ist: Es setzt Erfahrung sittlicher Tugend als des Vollkommenen und deshalb Naturgemäßen voraus (vgl. III,5,e). Der Begriff der natürlichen Tugend ist von der Vollkommenheit her gedacht und von ihr her erst wird die natürliche Disposition als Disposition zur Tugend erkannt. Die Frage eines kognitiven Prinzips für diese Vollkommenheit ist damit also nicht gelöst. (Fs)

229a Die Möglichkeit einer Lösung hängt von der Antwort auf folgende Frage ab: Gibt es Ziele, die wir von Natur aus erstreben und auch als "richtige" Ziele unabhängig vom Besitz des Habitus der Tugend und seiner affektiv-kognitiven Orientierungsleistung erkennen können? Das Glück, die Eudaimonia ist zwar ein solches Ziel. Aber es taugt ja nicht zur Bestimmung unserer Handlungs-Wahlakte (vgl. III,1). Gibt es Gutes, das wir von Natur aus erstreben und das zugleich Handeln zu leiten vermag? Wenn es das gibt, so wäre es in der Tat ein Handlungsprinzip, wie wir es suchen. Es wäre ein Kriterium von "Richtigkeit" des Zielstrebens. (Fs)

229b Allerdings könnte man fragen: Warum denn wäre es ein Kriterium von Richtigkeit? Es wäre doch zunächst ganz einfach nur ein Faktum, und richtig könnte immer noch jenes sein, was wir durch Hinterfragung dieses Faktums aus Freiheit bejahen oder auch verneinen. Der Einwand klingt zunächst plausibel. Es gibt jedoch einen gewichtigen Grund, ihn als falsch zu betrachten. (Fs)

229c Zunächst: Falls wir tatsächlich etwas von Natur aus als gut erstreben, so kann dies nur aus einem einzigen Grund sein: Weil unsere Vernunft wiederum von Natur aus dieses so Erstrebte als gut erkennt, und zwar in der Logik der Struktur praktischer Urteile der Art "p ist gut". Freilich ist jenes Gute, auf das sich das sinnliche Streben (auf der sinnlich-naturalen Ebene) richtet, damit nicht gemeint. Denn dieses Gut ist ja nur ein naturales Gut, und nicht ein "Gut der Vernunft" (bonum rationis). Aber der Wille - das "Streben in der Vernunft" - vermag sich ja auch auf solche in ihrem Ursprung bloß sinnliche Güter zu richten, und sie als Gut der Vernunft, d.h. in der Ordnung der Vernunft wiederum als gut (als "Gutes für die Vernunft") zu erfassen. Und insofern sie in dieser Ordnung von Natur aus als gut erkannt und erstrebt sind, sind sie eben "von Natur aus" Zielgüter menschlichen Handelns und damit Prinzipien der praktischen Vernunft. (Fs)

229d Worin besteht nun die Widerlegung des obigen Einwandes? Die Widerlegung lautet: Ein Streben, das sich auf solches richtet, was die Vernunft "von Natur aus" als gut erkennt, das ist notwendigerweise auch "richtig". Jede Freiheit, die ein solches Streben nur als bloßes Faktum anerkennen würde, um es darauf noch einmal hinsichtlich seiner Richtigkeit zu hinterfragen, würde sich selbst als vernunftgeleitete Freiheit aufheben. Sie würde nämlich fragen, ob das Vernünftige vernünftig sei, wenn anders die Frage nach Richtigkeit in eins fällt mit der Frage nach Vernünftigkeit. Dass dies aber der Fall ist, das haben wir ja bereits gezeigt: "Gut" und "schlecht", "richtig" und "falsch" im menschlichen Handeln bestimmen sich gemäß der Vernunft. Falls also die Vernunft etwas von Natur aus als Gut oder Übel erfasst, so ist ein entsprechendes Erstreben dieses Guten oder Fliehen dieses Üblen notwendigerweise -ja geradezu definitionsgemäß - auch richtig. Denn das Richtige ist eben genau das Vernunftgemäße, und nicht umgekehrt. Und das "von Natur aus Vernünftige" ist dann auch das "von Natur aus Richtige" oder Gute. Die Frage stellen, ob jenes Streben richtig sei, das sich darauf erstreckt, was wir von Natur aus als gut erfassen, hieße, Vernünftigkeit wiederum aufgrund von Kriterien der Vernünftigkeit hinterfragen zu wollen. Jedoch auch hier gilt: "Man kann nicht Gründe hören wollen dafür, dass man auf Gründe hören soll"1. Die Frage zielt ins Leere, und ebenso ins Leere zielte eine Freiheit, die, was von Natur aus von der Vernunft als gut erfasst wird, durch Hinterfragung zu problematisieren suchte. (Fs) (notabene)

[...]

231a Um das "von Natur aus Vernünftige" zu bestimmen, dafür hat uns Aristoteles keine Theorie geliefert, wohl aber Thomas von Aquin. Es ist seine Lehre über die lex naturalis, das "natürliche Gesetz". Zu diesem Terminus sind jedoch zunächst einige Bemerkungen angebracht, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: actus exterior, actus externus actus imperatus, actus elicitus

Kurzinhalt: Der "actus exterior" ist nicht identisch mit dem "actus externus" schlechthin, ... Gegensatz zum "actus elicitus", den der Wille aus sich selbst "hervorbringt"

Textausschnitt: 17 Der "actus exterior" ist nicht identisch mit dem "actus externus" schlechthin, also einer eigentlich "äußeren" Handlung wie "sprechen", "nehmen", "schlagen", "gehen" usw. Es handelt sich um den "actus exterior" des Willens, d. h. den "actus imperatus", den Akt, den der Wille vermittels eines Imperium über eine andere Potenz vollzieht, im Gegensatz zum "actus elicitus", den der Wille aus sich selbst "hervorbringt"; vom "actus exterior" in diesem Sinne handelt I-II, q.20. (Genaueres dazu findet sich in Teil II, Kap. 7.1).

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Gegensetige Bedingtheit: Vernunft - Wille - natürliche Antriebe

Kurzinhalt: Ohne Vernunft wären die natürlichen Neigungen nur blinde, naturhafte Antriebe. Die praktische Vernunft ihrerseits jedoch wäre ohne die natürlichen Neigungen und die Ausrichtung an ihnen ebenso blind und unfähig, ...

Textausschnitt: 82d Damit also die Ziele der natürlichen Neigungen überhaupt zu Objekten des Willens werden können - und, in der Folge, dann auch zum Gegenstand eines präzeptiven Aktes der praktischen Vernunft, "praeceptum" der "lex naturalis" - ist also zunächst eine intellektive "apprehensio" und "ordinatio" dieser Ziele notwendig, wodurch sie dem Willen - als "bona humana", "bona rationis" - zu adäquaten Objekten werden, um dann durch ein 'imperium" des Willens auch effektiv in dieser Ordnung verfolgt zu werden. Über die Fxistenz selbst dieser natürlichen Neigungen und ihrer Ziele als Grundlage, "principia a natura", für diesen Prozeß, hat allerdings die Vernunft keine Herrschaft; sie wird vielmehr erst gerade aufgrund dieser Neigungen als praktische Vernunft überhaupt möglich, - ebenso wie als Prinzip der Freiheit. Der erkennende Mensch, die Person, erfährt diese Neigungen als zu seinem Sein gehörig, impressae. Er kann sich nicht über sie hinwegsetzen, ohne mit den Konstitutionsbedingungen seines Seins als menschliches Sein und damit auch der Vernunft und ihrer Orientierung zur Freiheit, die immer eine natürlich gebundene und konditionierte Freiheit ist - die Freiheit eines Geschöpfes -, in Widerspruch zu geraten. Ohne Vernunft wären die natürlichen Neigungen nur blinde, naturhafte Antriebe. Die praktische Vernunft ihrerseits jedoch wäre ohne die natürlichen Neigungen und die Ausrichtung an ihnen ebenso blind und unfähig, dem Menschen zu sagen, was für sein Handeln von fundamentalem Interesse sei. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Ehe; spiritualistischen Fehldeutung; Objekt des ehelichen Aktes

Kurzinhalt: Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Liebe zwischen Mann und Frau gibt es in ihrer Spezifität als eheliche Liebe überhaupt nur aufgrund und wegen der "inclinatio naturalis"

Textausschnitt: 103a Es würde demnach wiederum einer spiritualistischen Fehldeutung des Menschen entspringen, die "coniunctio maris et feminae" einfach nur als "materiales Feld" für die "Inkarnation" oder den "Ausdruck" menschlicher Liebe zu deuten. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Liebe zwischen Mann und Frau gibt es in ihrer Spezifität als eheliche Liebe überhaupt nur aufgrund und wegen der "inclinatio naturalis", die ihr zugrundeliegt. Eheliche Liebe gründet in ihrer Spezifität als eine bestimmte Art von menschlicher Liebe gerade in dieser natürlichen Neigung; sie besteht fundamental im Verfolgen dieser Neigung, aber dies auf menschliche Weise. Und das heißt: auf vernünftig geordnete Weise, der "lex naturalis" entsprechend und geleitet vom "appetitus intellectualis", dem Willen, der menschliche Liebe ist ("dilectio" und, aufgrund der Gnade, "Caritas"). Dabei handelt es sich im Kontext der "inclinatio naturalis" bei dieser Liebe immer um eine Einheit von Sinnlichkeit und Geistigkeit, die eben gerade jetzt in ihrer gegenseitigen und unauflösbaren Bedeutung offenbar wird. (Fs) (notabene)

103b Es läßt sich also durchaus sagen, die "inclinatio naturalis ad coniunctionem maris et feminae" sei im Menschen bereits eheliche Liebe, sofern sie auf menschliche, das heißt: dem Naturgesetz entsprechende Weise, innerhalb der Ordnung der Vernunft (aufgrund einer "ordinatio rationis"), verfolgt wird. Sie kann nämlich auch auf nicht-vollmenschliche Weise befolgt werden: Außerhalb des stabilen Bandes ehelicher Treue zwischen einem Mann und einer Frau.1 Oder auch in Verantwortungslosigkeit oder reiner Triebhaftigkeit innerhalb der Ehe. Denn der Mensch ist aufgrund seiner intellektiven Teilhaber an der "lex aeterna" dazu berufen, seine Mitwirkung am Schöpfungsplan in verantwortlicher Weise auszuüben, gleichsam als "Interpret der göttlichen Schöpferliebe", "sibi ipsi et aliis providens". Elternschaft muß also verantwortlich ausgeübt werden. Das Maß dazu ist einerseits die Großzügigkeit der Liebe und andererseits persönliche und äußere Umstände, die den Menschen zu kluger und den Sinn seiner Liebe selbst nicht zerstörender Beschränkung führen können. (Fs)

[...]

104b Mir erscheint dies jedoch eine wenig zutreffende Art, die Frage anzugehen. Die Liebe zwischen Mann und Frau entspringt, wie wir gesehen haben, einer "naturalis inclinatio ad coniunctionem maris et feminae". Diese natürliche Neigung mit ihrer auf der Ebene des "quod natura omnia animalia docuit" naturgegebenen prokreativen Zielhaftigkeit wird beim Menschen als "actus humanus" im vollen Sinne zur menschlichen, ehelichen Liebe. Die Liebe zwischen Mann und Frau in ihrem unitiven Charakter (der körperlichen und willentlichen Vereinigung) liegt an der Basis des Phänomens. Sie ist nicht "Objekt" oder finis operis" des Aktes der "potentia generativa", sondern sie ist vielmehr jener einer natürlichen Neigung entspringende und durch die Vernunft geordnete Akt menschlicher Liebe, der in der "copula carnalis" seine Erfüllung ("consummatio") und letzte Vollendung ("ultima perfectio") erreicht.1 Der eheliche Akt erweist sich damit nicht als Akt der Zeugungspotenz, der zudem noch dem Ausdruck der Liebe "dient"; sondern er ist vielmehr der vollendete personale Akt einer Liebe, die von ihrem Ursprung her auf die Weitergabe des Lebens zielt, die allerdings als "actus humanus" eine willentliche und verantwortliche Weitergabe des Lebens bedeutet. (Fs)

105b Daß ein (im moralischen Sinne) objektiver und fundamentaler Zusammenhang zwischen ehelicher Liebe und menschlicher Fortpflanzung besteht, gründet jedoch nicht einfach nur auf der naturalen prokreativen Zielhaftigkeit der leiblichen Vereinigung von Mann und Frau; der moralische Zusammenhang wird vielmehr als sittlich bedeutsamer erfaßt, wenn man erkennt, daß die einzige der menschlichen Würde angemessene Form der Weitergabe dieses menschlichen Lebens darin besteht, daß dieses Leben der Liebe zwischen zwei Menschen und ihrer liebenden Vereinigung als Mitwirken mit der Liebe des Schöpfers entspringt. Die Liebe zwischen Mann und Frau und ihre Vollendung in der "commixtio carnalis" ist also viel mehr als ein bloßes "Mittel" zur Fortpflanzung einerseits, oder ein "Ausdrücken" von Liebe andererseits. Das "Objekt" oder der moralische Sinngehalt der liebenden Vereinigung ist diese leibliche Vereinigung selbst als personaler Akt und in ihrer Dimension als Liebe, die der Weitergabe des menschlichen Lebens dient. Diese Liebe und ihre "ultima perfectio" oder "consummatio" in der ehelichen Vereinigung ist also der personale Akt oder der "actus humanus" aus dem neues menschliches Leben entspringt; ein Leben, dessen Sinn auf Liebe zielt und das deshalb auch seiner menschlichen Würde entsprechend der Liebe entspringt, einer Liebe, die auf der natürlichen Ebene eine Mitwirkung mit der göttlichen Schöpferliebe bedeutet, in übernatürlicher Perspektive Abbild der erlösenden Liebe Christi zu seiner Kirche und damit zum Menschen wird. Diese Sinnhaftigkeit besitzt die liebende Vereinigung der Ehegatten unbeschadet der Tatsache, ob dieser Akt nun in diesem oder jenem Fall biologisch fruchtbar ist oder nicht. Nur der menschliche Wille könnte den auf Fruchtbarkeit angelegten Sinn dieses Aktes und damit den Sinn der Liebe zerstören; nicht jedoch vermöchten dies die faktischen biologisch-physiologischen Dispositionen der "Zeugungspotenz". (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Ehe - Leiblichkeit; Dualismus - ganzeitliche Sicht; Spiritualismus; Analogie: Seele - Körper; Intellekt -> phantasma

Kurzinhalt: ... wobei mit "Spiritualismus" hier eine Anthropologie und Ethik gemeint sind, in der Leiblichkeit und Sinnlichkeit im Kontext menschlichen Handelns keine im sittlichen Sinne konstitutive Bedeutung zugesprochen wird ...

Textausschnitt: 107a Wie nun eine solche Pervertierung im zweiten Sinne überhaupt ein moralisches Übel zu sein vermag ist nur - es sei wiederholt - aufgrund einer personal-ganzheitlichen Sicht des Menschen verständlich, in einer Anthropologie des "animal rationale". Geht diese ganzheitliche Sicht verloren, die allein eine Ethik des Leibes und der Sinnlichkeit ermöglicht1, dann befindet man sich auf den Wegen einer auf dualistischen Argumentationsbasis beruhenden spiritualistischen Fehldeutung des Menschen, - wobei mit "Spiritualismus" hier eine Anthropologie und Ethik gemeint sind, in der Leiblichkeit und Sinnlichkeit im Kontext menschlichen Handelns keine im sittlichen Sinne konstitutive Bedeutung zugesprochen wird, sondern - aufgrund einer dualistischen Gegenüberstellung von "Person" und "Natur" - alle menschlichen Akte als ursprünglich geistige Phänomene angesehen werden, die sich erst im Nachhinein auch auf der Ebene einer bezüglich dieser Akte selbst indifferenten (in sich "untermenschlichen" oder "unterpersonalen") Leiblichkeit und Sinnlichkeit "ausdrücken" oder "inkarnieren" lassen, wobei diese Ebene des "Ausdruckshandelns" für den Geist ein jeder eigener moralischen Sinnhaftigkeit entbehrendes "materiales" Feld ist, über das gestaltend "verfügt" werden kann.2 (Fs) (notabene)

107b Eine personal-ganzheitliche Anthropologie und Ethik zeichnen sich jedoch dadurch aus, daß in ihnen, wie beim hl. Thomas der Fall, die geistigen Akte zwar als die spezifischen und letztlich sinn- und ordnungsstiftenden verstanden werden; gleichzeitig aber auch erkannt wird, daß Leiblichkeit und Sinnlichkeit Fundament und Träger aller geistigen Akte sind. So wie nämlich die Seele für ihre geistigen Akte zwar keiner körperlichen Organe bedarf, so sind diese dennoch auf den Körper angewiesen, um überhaupt zu ihrem Vollzug zu gelangen. Das gilt ja gerade auch für alle Akte intellektiver Erkenntnis, die ohne "phantasma" und deshalb auch ohne "conversio ad phantasmata" geradezu gegenstandslos blieben. Denn die menschliche Seele ist von Natur aus Form eines Körpers, und die Trennung von ihm widerstreitet ihrer Natur, ist ihr "contra naturam". (Fs) (notabene)

108a Ebenso bedarf der menschliche Akt der Liebe nur in seiner spezifischen Geistigkeit als solcher betrachtet keiner weiteren Fundamente; aber wenn sich diese Liebe von ihrem leiblichen und sinnlichen Fundament mit seiner im eigenen Sinnstruktur ablöst, dann ist sie gewissermaßen nicht mehr in dieser Welt und bleibt im Doppelsinne des Wortes "gegenstandslos". Zuletzt wird dann auch gerade aufgrund einer solchen ganzheitlichen Sicht der Person wirklich verständlich, daß sich im Vollzug menschlicher Liebe in ihrer Form als ehelicher Liebe, diese gerade auf der Ebene von Sinnlichkeit und Leiblichkeit auszudrücken vermag und sich ausdrücken muß, ohne daß dabei die Gefahr einer Instrumentalisierung des eigenen Leibes und desjenigen des anderen bestünde. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Humanae vitae; Kontrazeption; Strukturprinzipien des "actus humanus"; Alternative: nicht "natürlich"-"künstlich", sondern: "willentlich" - "künstlich"

Kurzinhalt: Es geht also grundsätzlich überhaupt nicht um die Differenz zwischen zwei Arten von Unfruchtbarkeit (natürliche und künstliche), sondern vielmehr um zwei verschiedene Weisen des Verhältnisses des menschlichen Willens zur Unfruchtbarkeit und näherhin

Textausschnitt: Fußnote zu 118b:
8 Es sei wiederholt (vgl. oben Kap. 2.7.3): Damit ist nicht gemeint, daß der eheliche Akt zwei untrennbar zusammengehörige "Objekte" besitzt: Fortpflanzung und Ausdruck der Liebe. Vielmehr muß man sich vergegenwärtigen, daß der Akt selbst einer "naturalis inclinatio ad coniunctionem maris et feminae" entspringt. Diese ist, integriert in das Suppositum und in seiner vollmenschlichen Bedeutung, gerade "eheliche Liebe", deren Objekt wir nun suchen. Die Liebe zwischen Mann und Frau ist bei der Frage nach dem Objekt bereits vorausgesetzt, und wir fragen nun danach, was diese Liebe spezifiziert. Das spezifizierende Objekt ist eben der Akt der Weitergabe menschlichen Lebens. Und dies gerade deshalb, weil die Weitergabe menschlichen Lebens der Liebe entspringen muß, um der Würde des menschlichen Lebens zu entsprechen (ich habe diesen Gedanken näher ausgeführt in: Sozialphilosophie und Familie. Zur humanen Grundfunktion der Familie, a. a. O., S. 129ff.). Die Liebe kommt dabei nicht zu kurz; sie ist aber nicht Objekt, sondern grundlegender. Sie ist jene Liebe, deren Objekt wir suchen, wenn wir nach dem Objekt des ehelichen Aktes fragen. Genau deshalb sind Fortpflanzung und liebende Vereinigung untrennbar verbunden. Das Argument gilt ebenso für die Befruchtung "in vitro": Ebensowenig wie Liebe zwischen Mann und Frau von der Aufgabe der Weitergabe des Lebens getrennt werden kann, kann die Weitergabe des menschlichen Lebens von der Liebe zwischen Mann und Frau gelöst werden.
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118c Der Schlüssel zur Begründung liegt jedoch, wie mir scheint, im Begriff der verantwortlichen Elternschaft. Man hat immer wieder versucht, deren Wahrnehmung auf ein "Methodenproblem" zu beschränken, d. h.: viele Moraltheologen erblicken in der natürlichen und der künstlichen Geburtenregelung lediglich einen Unterschied in der "Methode", keine Kinder zu bekommen. Diese Fehlhaltung ist letztlich Folge einer naturalistischen Betrachtung der menschlichen Fortpflanzung. Demgegenüber ist folgende Präzisierung angebracht: Die Beschränkung der Kinderzahl muß, damit man von verantwortlicher Elternschaft sprechen kann, selbst einem Akt der Tugend der Keuschheit entspringen d. h. einer Regelung der natürlichen Neigung durch Vernunft und Willen, und kann nicht durch Akte vollzogen werden, durch die die Tugend der Keuschheit hinsichtlich der verantwortlichen Wahrnehmung der Elternschaft überflüssig wird. Oder anders gesagt: Ein Akt verantwortlicher Wahrnehmung von Elternschaft muß immer den Strukturprinzipien des "actus humanus" entsprechen. Damit besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Verantwortung und willentlicher Wahrnehmung dieser Verantwortung, sodaß durch künstlich-sterilisierende Eingriffe die Struktur des ehelichen Aktes als "actus humanus" selbst zerstört wird. (Fs) (notabene)

119a Deshalb ist festzuhalten: Es geht erstens nicht darum zu begründen, künstliche Eingriffe in die natürliche Ordnung seien an sich schon sittlich verwerflich. Zweitens soll nicht gesagt werden, der eheliche Akt sei bei Voraussicht seiner Unfruchtbarkeit sittlich schlecht; eine solche Behauptung müßte vielmehr bestritten werden. Drittens steht auch nicht zur Debatte - und das wird oft übersehen ­, ob ein moralischer Unterschied zwischen künstlich provozierter und der durch natürlich-biologische Gesetze verursachten Unfruchtbarkeit besteht. Dieser Unterschied ist nämlich in sich betrachtet moralisch belanglos, wie man am Beispiel therapeutischer Sterilisierung, (bei der der sterilisierende Effekt zwar direkt verursacht wird, aber nicht aus Gründen der Empfängnisverhütung, also nur indirekt, gewollt ist), oder beim Fall der Gefahr voraussichtlicher Vergewaltigung sehen kann. Es geht also grundsätzlich überhaupt nicht um die Differenz zwischen zwei Arten von Unfruchtbarkeit (natürliche und künstliche), sondern vielmehr um zwei verschiedene Weisen des Verhältnisses des menschlichen Willens zur Unfruchtbarkeit und näherhin: um zwei Weisen der »Kontrolle« über die Folgen der Fruchtbarkeit. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Enthaltsamkeit: kontrazeptive - unfruchtbare Periode; Kriterium: actus humanus als konstitutiv für verantwortliche Elternschaft; Widerspruch zur Tugend

Kurzinhalt: Der eigentliche Unterschied zwischen einem ehelichen Aktvollzug, der vorsätzlich in eine unfruchtbare Periode fällt, aber ...; Kontrazeption: "actus humans" ist nicht mehr konstitutiv

Textausschnitt: 121c Der eigentliche Unterschied zwischen einem ehelichen Aktvollzug, der vorsätzlich in eine unfruchtbare Periode fällt, aber ansonsten im Kontext der Enthaltsamkeit in Perioden der Fruchtbarkeit steht, und einem Akt, der unter der Bedingung der künstlichen Sterilisierung vollzogen wird, weil er folgenlos ist, besteht darin, daß ersterer bezüglich seiner preokreativen Potentialität einer "Kontrolle" der Vernunft und einer Herrschaft des Willens entspringt - also den Prinzipien des "actus humanus" und personaler Autonomie - und zwar (das ist zu betonen) in gegenseitiger Übereinstimmung des Wollens und der Einsicht beider Ehepartner. Dabei wahrt dieser Akt voll die konstitutive Eigenart menschlicher und ehelicher Liebe, sowohl, was ihre Leitung durch Vernunft und Wille betrifft, wie auch das Prinzip der Gegenseitigkeit, der Gleichheit und des "amor amicitiae", der ja jeweils das Gut des Anderen sucht. Dies gilt, auch wenn dieser Akt mit Absicht in eine unfruchtbare Periode fällt. Denn diese Absicht entspringt einer willentlichen, personalen Wahrnehmung der Verantwortung hinsichtlich der Weitergabe des menschlichen Lebens, eine Verantwortlichkeit, die jeden einzelnen ehelichen Akt kennzeichnen muß, will er überhaupt den Anforderungen eines ehelichen, d. h. prokreativ verantwortlichen Aktes gerecht werden. (Fs)

122a Die Akte der Enthaltsamkeit - Akte willentlicher Wahrnehmung dieser Verantwortung - in deren Kontext ein solcher Ehevollzug steht, sind ebenso personale Akte; gerade deshalb bleibt die Transzendenz oder Offenheit auf die Weitergabe des menschlichen Lebens, die Bejahung der Berufung zur Elternschaft und damit die volle Wahrheit der ehelichen Liebe auch in einem in unfruchtbaren Perioden vollzogenen ehelichen Akt erhalten; und dies eben gerade nicht, weil eine "biologische" Offenheit bestünde; eine solche ist ja in diesem Akt nicht vorhanden, da man um seine Unfruchtbarkeit weiß. Aber der eheliche Akt ist ja nicht der Akt der menschlichen Zeugungspotenz allein, sondern ein personaler Akt, also vor allem und zunächst ein Willensakt. Und die Offenheit im Sinne der verantwortlichen Mitwirkung an der schöpferischen Liebe Gottes, deren Interpreten die Ehegatten ja sein müssen, bleibt hier gewahrt, weil sie nicht biologische Offenheit meint, sondern eine solche des Willens und damit des menschlichen Handelns. Die objektive Qualifizierung des menschlichen Willens ist nicht von biologischen Gegebenheiten ableitbar; nicht diese sind es, die den Willen sittlich prägen. Personale Akte der Enthaltsamkeit und in ihrem Kontext stehende Ehevollzüge in unfruchtbaren Perioden sind beide für die Weitergabe des Lebens genau deshalb offen, weil sie selbst willentliche Akte der verantwortlichen Wahrnehmung von Elternschaft (d. h. der Befolgung der "inclinatio naturalis ad coniuncionem maris et feminae" im "ordo rationis", gemäß dem Naturgesetz) sind und als solche tatsächlich im Dienst an der menschlichen (verantwortlichen) Weitergabe des menschlichen Lebens stehen, was soviel heißt wie: Sie sind beide objektiv Akte verantwortlicher Elternschaft. (Fs)

122b Im zweiten Fall eines prokreativ folgenlos gemachten Sexualverkehrs wird jedoch die spezifische Eigenart menschlicher und ehelicher Liebe nicht gewahrt, ja sogar an ihrer Basis angegriffen. Denn bei ihm wird die für einen "actus humanus" geforderte Kontrolle der Vernunft und die Herrschaft des Willens über die prokreative Potentialität der Sexualität, und damit die personale Integrität ehelicher Liebe, vorsätzlich, willentlich ausgeschaltet bzw. überflüssig gemacht. Das Spezifikum des "actus humanus" ist nun für diese Art der Wahrnehmung von Verantwortlichkeit nicht mehr konstitutiv und, zur Wahrnehmung des Zweckes, überflüssig. Dadurch wird jedoch das angestrebte Ziel "verantwortliche Elternschaft" in einer Weise verfolgt, die das Prinzip der Verantwortlichkeit bezüglich der Mittel ausschaltet. Das heißt: Da in diesem Falle nicht mehr Vernunft und Wille die Kontrolle über die Folgen auszuüben haben, weil der Akt ja folgenlos ist, bzw. gemacht wurde, ist in Bezug, auf ihn, als Einzelakt, ein prokreativ verantwortliches, vernünftiges und der Herrschaft des Willens unterliegendes Verhalten gar nicht mehr notwendig. Dann aber kann er auch gar nicht mehr Ausdruck ehelicher Liebe, Einheit und Verbindung zu einer gemeinsamen, in Verantwortung getragenen Aufgabe sein, denn er ist als Handlung aus dem Kontext herausgelöst worden, in dem sich die "inclinatio naturalis ad coniunctionem maris et feminae" in ihrer prokreativen Dimension als spezifisch menschliche und eheliche Liebe konstituiert. Damit befindet er sich nicht mehr unter der Logik der Verantwortlichkeit und der verantwortlichen Offenheit für die Aufgabe der Elternschaft; denn für einen folgenlosen Akt braucht man auch keine Verantwortung zu tragen. (Fs)

122c An dieser Stelle könnte nun folgender Einwand vorgebracht werden: Von grundsätzlicher Ausschaltung willentlicher Kontrolle durch Empfängnisverhütung könne keine Rede sein, denn bei Anwendung "mechanischer" Verhütungsmittel (Kondom, Diaphragma) oder bei der Praktizierung des Coitus interruptus bedürfe es in der Regel eines weit höheren Maßes an Selbstkontrolle und -beherrschung, als dies für periodische Akte der Enthaltsamkeit nötig sei. Hier, aber auch bei disziplinierter Einnahme oraler Verhütungsmittel, liege also ebenfalls eine rational willentliche und prokreativ verantwortliche Beherrschung der Sexualität vor. Ja, sogar eine operative Sterilisierung entspringe doch letztlich einem rationalen und willentlichen Akt prokreativer Verantwortung. (Fs)

[...]

124b Somit gelangen wir zu einer ersten Präzisierung: Wenn wir im Zusammenhang menschlicher Sexualität von vernünftig-willentlicher Beherrschung, bzw. Selbstbeherrschung sprechen, so ist dabei nicht von Selbstbeherrschung oder -kontrolle irgendwelcher Art die Rede - sei diese auch noch so rational und willentlich -, sondern von jenem Typ vernünftig-willentlicher Beherrschung, Leitung oder Kontrolle, die "sittliche Tugend" heißt. Diese besteht nicht einfach darin, den entsprechenden Trieb oder seine Folgen "in den Griff zu bekommen"; vielmehr heißt sittliche Tugend, sinnliche Antriebe (nicht auf der ontologischen, sondern auf der operativen Ebene) rational zu durchformen, bzw. sie gemäß den Anforderungen personaler Akte zu vervollkommnen. (Akte der Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin als solche sind weder als sittlich gut noch als sittlich schlecht zu bezeichnen. Habgierige Menschen beispielsweise, oder Verbrecher, zeigen oft ein hohes Maß an rationaler und willentlicher Kontrolle, an Selbstdisziplin und Willensstärke zum Zwecke der Verfolgung ungeordneter und in sich völlig unkontrollierter Leidenschaften. Tugend impliziert jene Form von Selbstbeherrschung, welche die Ordnung der Vernunft in den natürlichen Neigungen, d. h. bezüglich des Erstrebens der fundamentalen menschlichen Güter herstellt. Sittlich lobenswerte Selbstbeherrschung ist immer Bestandteil rational-appetitiver (operativer) Vervollkommnung natürlicher Neigungen, nicht ein Akt ihrer Negierung oder Manipulation; ebenfalls ist jene keine sittliche lobenswerte Selbstbeherrschung, die sich auf Akte bezieht, die es ermöglichen, eine natürliche Neigung in personal-desintegrierter Weise zu verfolgen). (Fs)

125a Offensichtlich gibt es also verschiedene Typen rational-willentlicher Kontrolle oder Beherrschung sinnlicher Antriebe. Empfängnisverhütung zwecks Regelung der Fruchtbarkeit sexueller Akte ist kein Akt der Tugend; vielmehr handelt es sich hier um eine technische Manipulation sexueller Akte, um deren prokreativen Folgen durch ihre Ausschaltung "in den Griff zu bekommen". Der Coitus interruptus ist zwar keine technische Manipulation, dennoch ist er eine Manipulation, die ebenfalls darin besteht, sich nur in Bezug auf die prokreativen Folgen sexueller Betätigung, nicht jedoch in Bezug auf den Sexualtrieb selbst verantwortlich zu verhalten. (Fs)

125b Empfängnisverhütende Akte jeder Art besitzen demnach die Eigenschaft, eine von der Beherrschung des Sexualtriebes selbst unabhängige Art der Kontrolle über die prokreativen Folgen dieses Triebes zu sein. Vernünftig-willentliche Leitung und Selbstbeherrschung bezieht sich hier ausschließlich auf jene Akte, die die Regelung der prokreativen Folgen sexueller Betätigung betreffen. (Fs)

125d Dies bedeutet, daß durch empfängnisverhütende Maßnahmen der unitive Aspekt menschlicher Sexualität ("liebende Vereinigung") einerseits und die Ausübung prokreativer Verantwortung andererseits voneinander abgekoppelt werden; die Kontrolle über die Fruchtbarkeit vollzieht sich unabhängig von der operativen Dynamik der menschlichen Sexualität als "inclinatio naturalis ad coniunctionem maris et feminae". Der leiblich-unitive Aspekt ehelicher Liebe und die Akte der Kontrolle über die prokreativen Folgen dieser Liebe laufen damit gleichsam auf zwei verschiedenen Geleisen: Jene Akte, durch die diese prokreative Verantwortung, d. h. die Herrschaft über die prokreativen Folgen sexueller Akte, ausgeübt wird, sind vom Akt "liebende Vereinigung", bzw. sexueller Betätigung als Akt ehelicher Liebe völlig unabhängig; sie sind nicht selbst in die sexuelle Triebdynamik integriert und damit strukturell auch keine Akte der ehelich-leiblichen Liebe, sondern vielmehr Akte ("Maßnahmen") der technischen Kontrolle dieser Liebe. Das heißt: Menschliche Sexualtiät und Leiblichkeit, bzw. die Liebe zwischen Mann und Frau in ihrer leiblich-unitiven consummatio ist hier nicht Subjekt, Träger prokreativer Verantwortung, sondern bloßes Objekt einer regulativen Manipulation. Sexuelle Vereinigung und Akte der Wahrnehmung prokreativer Verantwortung fallen demnach auseinander.

125e Diese durch die Empfängnisverhütung bewerkstelligte Ablösung empfängnisregelnder Akte einerseits von den durch den Sexualtrieb selbst hervorgerufenen Akten andererseits, wodurch sexuelle Betätigung zu einer prokreativ folgenlosen Handlungsweise wird, ist nicht Selbst-Beherrschung im moralischen Sinne. Es handelt sich dabei vielmehr um einen Typ von dominium, welcher den Grunderfordernissen sittlicher Tugend zutiefst widerspricht. Denn sittliche Tugend besteht, wie gesagt, darin, die menschlichen Neigungen, Triebe usw. in ihrem vollen Sinngehalt der Vernunft gemäß zu ordnen, und zwar dadurch, daß sie (operativ) in die Struktur personaler Verantwortlichkeit integriert werden Diese operative Integration unterscheidet sich wesentlich von jenem Typ von dominium, durch welches das der Vernunft Widerstreitende oder nicht mit ihr in Einklang stehende unterdrückt, ausgeschaltet, "abgekoppelt", kurz: im weitesten Sinne manipuliert wird. (Fs) (notabene)


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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Enthaltsamkeit: Sexualität als Subjekt und nicht Objekt

Kurzinhalt: Akte der Enthaltsamkeit sind Akte, die den Sexualtrieb nicht zum Objekt, sondern zum Subjekt haben; Enthaltsamkeit ist selbst ein Akt leiblicher Liebe

Textausschnitt: 129a Damit zeigt sich besonders deutlich, daß periodische Enthaltsamkeit und Empfängnisverhütung intentional zwei völlig verschieden strukturierte Handlungsweisen sind: Akte der Enthaltsamkeit sind Akte, die den Sexualtrieb (mitsamt seiner prokreativen Potentialität) nicht zum Objekt, sondern zum Subjekt haben; Enthaltsamkeit ist selbst ein Akt ehelichen Sexualverhaltens bzw. leiblicher Liebe. Er ist zudem ein Akt prokreativer Verantwortung, weil das Subjekt dieses Aktes die menschliche Person, bzw. die eheliche Person-Gemeinschaft, als Urheber oder Verursacher von Prokreation ist; die Eheleute sind also im Akt der Enthaltsamkeit in der Aufgabe der verantwortlichen Weitergabe menschlichen Lebens direkt engagiert und bleiben (als Person-Gemeinschaft) Subjekt dieser Aufgabe. Im ehelichen Verkehr während unfruchtbaren Perioden verfolgen sie in ebenso prokreativ verantwortlicher Weise das ebenfalls der Sexualität eigene Gut der liebenden Vereinigung, wobei, das ist nicht zu vergessen, der Akt der Enthaltsamkeit selbst spezifischer Ausdruck, Bestätigung und Vertiefung derselben ehelichen Liebe ist, die auch in der sexuellen Vereinigung auf andere Weise ausgedrückt, bestätigt und vertieft wird. (Fs) (notabene)

129b Empfängnisverhütung jedoch ist kein Akt des Sexualverhaltens oder der leiblichen Liebe, sondern eine bloße "Maßnahme", welche die menschliche Sexualität zum Objekt hat. Der einzige Gehalt, der diesem Akt eigen ist, ist die Ausschaltung oder Negierung der prokreativen Folge sexueller Akte. In ihm werden die Eheleute als Subjekte und Urheber verantwortlicher Prokreation nicht bestätigt, sondern negiert. Kontrazeptiver Sexualverkehr ist ebenfalls kein Akt verantwortlicher leiblicher Liebe mehr, sondern vielmehr ein prokreativ folgenloser Akt, in welchem die Eheleute ebenfalls nicht Subjekte verantwortlicher Elternschaft sind, da in ihrem Sexualverhalten der prokreative Kausalnexus willentlich negiert wurde. (Fs)

130a Eheleute, die periodische Enthaltsamkeit üben, suchen durch ihr sexuelles Verhalten eine vor ihrem Gewissen nicht verantwortbare Empfängnis zu vermeiden, indem sie sich jener Akte enthalten, die voraussichtlich eine solche Empfängnis verursachen würden. Eheleute hingegen, die sich kontrazeptiver Mittel bedienen, vermeiden nicht im eigentlichen Sinne eine Empfängnis, sondern sie verhüten sie, und zwar gerade nicht durch Akte ihres sexuellen Verhaltens; eine Empfängnis zu "vermeiden" ohne dieses Verhalten modifizieren zu müssen, ist ja gerade die Pointe dessen, was man Empfängnisisverhütung nennt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Einwand: Empfängnisverhütung - Enthaltsamkeit; "technischen Effizienz" - moralische Bedeutsamkeit; "ungewolltes Kind"

Kurzinhalt: Die Entscheidung zur Empfängnisverhütung brauche keineswegs eine Entscheidung gegen die Enthaltsamkeit zu involvieren

Textausschnitt: 131d Dadurch gelangen wir zu einem weiteren Aspekt, dessen Berücksichtigung die vorhergehenden Überlegungen ergänzt: Entscheidend für die Beurteilung menschlicher Handlungen ist nicht einfach "was der Fall ist" oder "was geschieht"; sondern vielmehr, was gewollt, bzw. gewählt wird. Empfängnisverhütung wird als Mittel gewählt und ist deshalb gewollt. Etwas als Mittel wählen impliziert - sofern es sich um eine echte Wahl handelt -sich auch gegen mögliche Alternativen entscheiden. Die Wahl empfängnisverhütender Maßnahmen impliziert nun immer eine willentliche Entscheidung gegen die in der Praxis periodischer Enthaltsamkeit implizierten Erfordernisse. Empfängnisverhütung als Wahlakt des Willens impliziert, den zwischen sexuellen Akten und ihren möglichen prokreativen Folgen bestehenden Kausalnexus sowie die Enthaltsamkeit als verantwortliche Beherrschung oder Kontrolle dieses Kausalnexus als ein Übel zu betrachten. "Übel" heißt hier: als eine zu vermeidende Handlungsweise (denn jede willentliche Wahl unterliegt ja dem ersten Prinzip der praktischen Vernunft bonum prosequendum, malum vitandum est). Die Wahl der Empfängnisverhütung ist also in ihrer ethischen Substanz nicht einfach nur "Anwendung" einer bestimmten Methode, sondern eine dieser "Anwendung" vorausliegende und sie leitende Wahl einer Handlungsweise, die die willentliche Zurückweisung der Erfordernisse menschlicher Tugend, bzw. der Tugend der Keuschheit impliziert. Insbesondere ist sie eine Entscheidung gegen die Enthaltsamkeit, denn es gibt keinen konsistenten Grund, weshalb man operative Sterilisierung, Einnahme von oralen Verhütungsmitteln, Benutzung von Kondomen, Spiralen oder ständige Unterbrechung des ehelichen Aktes sinnvollerweise wählen kann, es sei denn aus dem Grund, daß man die Notwendigkeit der (periodischen) Enthaltsamkeit als ein zu vermeidendes Übel betrachte. (Fs)

132a Man könnte einwenden: Die Entscheidung zur Empfängnisverhütung brauche keineswegs eine Entscheidung gegen die Enthaltsamkeit zu involvieren, sondern sie könnte auch einzig und allein aus dem Grund getroffen werden, empfängnisverhütende Maßnahmen als den einzig völlig sicheren Weg zu betrachten. (Fs)

132b Diese Beschreibung einer antikonzeptiven Wahl ist nun jedoch ganz einfach eine falsche oder zumindest unvollständige Beschreibung; und wer ihrer Logik gemäß entschiede, der gründete seine Wahl auf einer falschen Voraussetzung. Diese Voraussetzung bestünde darin, (periodische) Enthaltsamkeit und Emfpängnisverhütung als (im technischen Sinne) zwei verschiedene Methoden zu betrachten, - also gerade darin, den eigentlichen Kern der Frage zu übersehen: Empfängnisverhütung und periodische Enthaltsamkeit sind nicht einfach zwei verschiedene "Methoden, um keine Kinder zu bekommen", sondern zwei ethisch fundamental verschiedene Handlungsweisen. Er würde die Frage der "technischen Effizienz" (die Frage nach der "Sicherheit") vor der Frage nach der moralischen Bedeutsamkeit und Zulässigkeit stellen, bzw. die Beantwortung der letzteren von der ersteren abhängig machen. Wer auf dieser Grundlage entscheidet, verrät ein entsprechendes Maß an moralischer Unwissenheit, Ahnungslosigkeit oder Unreife, die in jeweils geringerem oder höherem Maße selbstverschuldet sein kann, jedoch nichts daran ändert, daß eine solche Entscheidung eine im moralischen Sinne objektiv falsche Entscheidung wäre - und in ebenso moralisch-objektiver Weise einer Entscheidung gegen die Erfordernisse sittlicher Tugend (bzw. gegen das Erfordernis prokreativer Verantwortlichkeit sexueller Akte) gleichkommt. Im übrigen ist die "Sicherheit" bzw. "Effizienz" eines Mittels hinsichtlich der Erreichung eines angestrebten Zieles in keinem Bereich des menschlichen Handelns ein Kriterium für dessen moralische Zulässigkeit. (Fs)

132c Wer hingegen in diesem Zusammenhang vom "Risiko des ungewollten Kindes" spricht, der vergißt, daß diese Sprechweise überaus problematisch ist; denn für den Fall, daß sich die Eheleute moralisch verpflichtet fühlen, eine Schwangerschaft zu vermeiden, und deshalb periodische Enthaltsamkeit üben, setzt diese Sprechweise voraus, daß sich die Eheleute für eine - entgegen ihrer Intention, eine Schwangerschaft zu vermeiden - eventuell dennoch eintretende Empfängnis nicht verantwortlich fühlen. Diese Voraussetzung ist nun jedoch nur für den Fall einer antikonzeptiven Intentionalität zutreffend. Das sog. "ungewollte Kind" ist in Wirklichkeit nicht als "Risiko", also als ein Übel, zu betrachten, sondern als die prokreative Folge eines in sich prokreativ dimensionierten Aktes, das in periodischer Enthaltsamkieit engagierte Eheleute auch genau in dem Maße als ein Gut betrachten, als sie sich der Logik der periodischen Enthaltsamkeit entsprechend verhalten, d. h. als sie sich für die prokreativen Folgen ihrer sexuellen Akte verantwortlich fühlen. Das sogenannte "ungewollte Kind" bildet nur unter der Voraussetzung kontrazeptiver Einstellung ein Problem frustrierter Intention oder ein "Risiko". Fehlt diese Einstellung, so ist auch das sog. "ungewollte Kind" ein als Folge der ehelichen Liebe erfahrenes Gut und somit ein angenommenes Kind. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Fazit, Zusammenfassung: Empfängnisverhütung, Kontrazeption; lex aeterna; gottgewollte Ordnung

Kurzinhalt: Unterscheidung von "natürlich" und "künstlich"

Textausschnitt: 137a Somit kommen wir zum Fazit, daß in der Frage der Empfängnisverhütung, aufgrund einer "ignoratio" oder "mutatio elenchi", einer Verkennung oder Verlegung des Streitpunktes, sehr oft die eigentliche Perspektive verfehlt wurde, in der das Problem zu behandeln wäre. Das heißt: Man konzentrierte sich immer wieder auf die Frage, worin denn der Unterschied zwischen natürlich verursachter (und auch genutzter) und künstlich provozierter Unfruchtbarkeit der menschlichen Zeugungsfähigkeit liege und versuchte aufgrund der Unterscheidung von "natürlich" und "künstlich" (bzw. die "Naturordnung verletzend") eine moralische Differenz abzuleiten, - oder aber die Möglichkeit einer solchen Ableitung zu bestreiten und damit das Problem auf eine rein technische Frage effizienter Methodenwahl zu reduzieren, wobei dann die sogenannte "natürliche Methode" (periodische Enthaltsamkeit) eben nur eine andere Methode der Empfängnisverhütung wäre. In Wirklichkeit geht es jedoch, wie gezeigt wurde, um eine ganz andere Frage, nämlich um den Unterschied zwischen Beherrschung, Regulierung der prokreativen Dimension der "naturalis inclinatio" und ihrer Akte durch Vernunft und Willen und die dadurch grundgelegte Wahrung ihrer personalen Integrität als ganzheitlich-menschliche, d. h.: verantwortliche Liebe einerseits, und die Herauslösung der prokreativen Dimension der "naturalis inclinatio" aus dieser Ordnung der Tugend, bzw. der "lex naturalis" durch einen technischen Eingriff, was strukturell zur Desintegration personaler Integrität der ehelichen Liebe führt. Das Kriterium für die moralische Qualifizierung natürlicher Gegebenheiten ist also der "ordo virtutis", der auf dieser Gegebenheit unlösbar aufruht, und nicht ihre bloße "Natürlichkeit". Entscheidend ist nicht die physiologische Integrität oder "Unversehrtheit" der Zeugungspotenz, sondern die personale Integrität sexueller Akte als Akte menschlicher Liebe und ehelicher Verantwortung. Denn die Ethik handelt nicht von natürlichen Gegebenheiten, sondern von menschlichen Akten. Dabei zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen (kontrazeptiver) Verhütung möglicher prokreativer Folgen sexueller Akte und der verantwortlichen Vermeidung einer Empfängnis durch Enthaltsamkeit. Auch die "Künstlichkeit" der Kontrazeption erweist sich dann letztlich nur als mehr oder weniger praktisch notwendige Beigabe des eigentlich moralisch problematischen Aktes: der Empfängnisverhütung. (Fs) (notabene)

137b Ist jedoch einmal der hier dargestellte Zusammenhang erkannt, dann kann man in einer rückblickenden und synthetischen Deutung sehr wohl sagen, daß die naturhaften Gegebenheiten, die dieser Einheit zugrundeliegen, eingeschlossen der zyklische Charakter der menschlichen Fruchtbarkeit, eine "gottgewollte Ordnung" darstellen. Denn wir erkennen den Willen Gottes aufgrund der Erkenntnis des natürlichen moralischen Gesetzes, dem das menschliche Handeln unterliegt und das ein Gesetz der praktischen Vernunft ist. Gerade durch die Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Naturordnung und Vernunftordnung als "praesuppositio", wird die Naturordnung in diesem konkreten Fall - rückblickend - als Bestandteil der "lex aeterna" erkannt, als Bestandteil jener passiven "impressio" des Ewigen Gesetzes im Menschen, die Grundlage und als solche Bestandteil der "lex naturalis" als Gesetz der praktischen Vernunft darstellt, - und damit auch der Ordnung der Tugend und der sittlichen Vollkommmenheit, in der das "bonum huma-num" besteht. (Fs)


Fußnote:
22 "Non enim Deus a nobis offenditur nisi ex eo quod contra nostrum bonum agimus" (C. G. II, c. 122).

138a Nachdem die natürliche Grundlage der Tugend einmal als solche erkannt ist, ist sie auch als "bonum humanum" erkannt, - und folglich als göttliches Gesetz im Sinne der "lex aeterna", und ebenso auch als Wille Gottes; gemäß der bekannten Aussage des hl. Thomas, daß das göttliche Gesetz nichts anderes anordne, als was der Vernunft entspricht, und Gott von uns nur durch das beleidigt werde, was wir gegen unser eigenes Wohl tun.1 Und das ist gleichbedeutend mit der anderen Aussage, das göttliche Gesetz schreibe vor, alle menschlichen Handlungen der Vernunft unterzuordnen.2 Jedes Gesetz ist deshalb auf Tugend ausgerichtet, und "die Tugend besteht darin, daß sowohl die inneren Affekte, wie auch der Gebrauch der materiellen Güter, durch die Vernunft geordnet werden."3 Oder noch prägnanter: "Praecepta legis sunt de actibus virtutum", die alle letztlich auf die wahre Liebe zu Gott und dem Mitmenschen hingeordnet sind. (Fs)

[...]
so hat der Mensch dennoch keine Befugnis, zur Wahrnehmung seiner moralischen Verantwortung in einem bestimmten Bereich des Handelns diesen ganzen Bereich einfach der Notwendigkeit einer moralischen Regelung (durch Vernunft und Willen: durch sittliche Tugend) zu entziehen und damit seiner Berufung, Herr seiner Akte zu sein, durch technische Mittel zu entsagen. Diesen Mangel an Berechtigung besitzt er nicht aufgrund der Unantastbarkeit biologischer Gesetze, sondern aufgrund der Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die darin besteht, "secundum rationem" zu leben, durch willentliche und vernünftige Herrschaft über sein Handeln an der "ratio" der göttlichen Vorsehung teilzunehmen und entsprechend Herr, dominus seiner Akte zu sein. Der Mensch ist nie und nimmer berechtigt zur Lösung moralischer Probleme darauf zu verzichten, Mensch zu sein - selbst wenn die Wahrung menschlicher Würde Opfer, "Askese" und Verzicht bedeutet, die aber in der wahren Liebe immer Quelle von Freude, Erfüllung und innerem Frieden sind.26 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: lex naturalis - Gesetz der praktischen Vernunft; ordinatio rationis

Kurzinhalt: nicht ein "Seinsgesetz" im Sinne des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffes, sondern ein Gesetz im eigentlichen Sinne des Wortes: ein "praeceptum" der praktischen Vernunft

Textausschnitt: 139a Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich zunächst, daß das Naturgesetz - "lex naturalis" - wesentlich eine "ordinatio rationis ad virtutem" ist. Es handelt sich bei ihr nicht um ein "Seinsgesetz" im Sinne des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffes, sondern um ein Gesetz im eigentlichen Sinne des Wortes: ein "praeceptum" der praktischen Vernunft. Dieses Gesetz gründet in einer im Kontext des Suppositums integrierten Vielfalt von natürlichen Neigungen, die selbst noch nicht den Charakter eines Gesetzes haben, da sie selbst hinsichtlich ihrer "ordinatio" auf das "debitum" noch undeterminiert sind und deshalb auch nicht die adäquate Formulierung eines "praeceptum" ermöglichen. Es handelt sich bei diesen Neigungen um eine seinsmäßig gegebene und spontan erfahrene passive Partizipation am Ewigen Gesetz. In ihrer ursprünglichen Indetermination bezüglich des "debitum" und als integrale "Bestandteile" des Suppositums, dem ebenso die "inclinatio naturalis ad debitum actum et finem", die "ratio naturalis" zugehört, sind sie von Natur aus daraufhingeordnet, einer solchen "ordinatio rationis" durch die natürliche Vernunft, d. h. einem Gesetz zu unterliegen. Dieses Gesetz ist das Naturgesetz. (Fs) (notabene)

140a Es entspringt, wie gesagt, ebenfalls einer natürlichen Neigung, derjenigen der natürlichen Vernunft auf das "debitum", die einem Licht vergleichbar - Partizipation des Lichtes der "ratio divina" - einer Neigung zur "praktischen Wahrheit", dem "sittlich Wahren", das heißt: dem wahrhaft Guten, dem "debitum" entspricht. Die Wahrheit der natürlichen Vernunft ist eine natürliche, besteht aber gerade deshalb immer in einer fundamentalen "adaequatio" mit den "fines proprii" der natürlichen Neigungen1, muß aber ebenfalls in ihnen das "debitum" der Tugend bestimmen. Diese Bestimmung - eine "ordinatio rationis" - ist die "lex naturalis". (Fs)


[...]

140c Das Naturgesetz als "ordinatio rationis" ist demnach ein natürliches Gesetz im Menschen, weil es zum menschlichen Sein gehörenden Prinzipien ("principia indita") entspringt. Gemäß der auch in diesem Falle zutreffenden Bestimmung des Begriffes "Natur" nennt man gerade solches "natürlich". Denn: "Natura nihil aliud est quam ratio cuiusdam artis, scilicet divinae, indita rebus, qua ipsae res moventur ad finem determinatum"1. (Fs)

[...]

140d Diese "ratio artis divinae" im Menschen ist Partizipation des Ewigen Gesetzes aufgrund eines göttlichen Schöpfungsaktes. "Natur" in diesem Sinne sind sämtliche natürlichen Neigungen, aber in einem ausgezeichneten Sinne ist es die "ratio naturalis", durch die der Mensch selbst, gerade aufgrund von Partizipation, in einem gewissen Sinne auf die Ebene des "artifex Divinus" gehoben wird, und er deshalb nicht nur Gegenstand oder Instrument göttlicher Vorsehung ist, sondern selbst ein "sibi ipsi et aliis providens". (Fs)


140e "Natur" wird somit auch als eine den Dingen eingestiftete "causa ordinationis" verstanden.1 Solche Ordnungsprinzipien sind bereits die natürlichen Neigungen; sie sind also wohl "Natur", - nicht aber sind sie "Gesetz". Im Menschen gibt es überdies eine solche "causa ordinationis", die den Charakter eines Gesetzes besitzt, - jene Akte der praktischen Vernunft, die, der "ratio naturalis" entspringend, die den natürlichen Neigungen eigenen Akte auf ihr "finis debitus", das "bonum rationis" oder sittlich Gute hinordnen. (Fs)

[...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Definition: Natur

Kurzinhalt: "Natura nihil aliud est quam ratio cuiusdam artis, scilicet divinae, indita rebus, qua ipsae res moventur ad finem determinatum"

Textausschnitt: 140c Das Naturgesetz als "ordinatio rationis" ist demnach ein natürliches Gesetz im Menschen, weil es zum menschlichen Sein gehörenden Prinzipien ("principia indita") entspringt. Gemäß der auch in diesem Falle zutreffenden Bestimmung des Begriffes "Natur" nennt man gerade solches "natürlich". Denn: "Natura nihil aliud est quam ratio cuiusdam artis, scilicet divinae, indita rebus, qua ipsae res moventur ad finem determinatum"1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: objektives Naturgesetz als "Naturordnung - subjektiver Erkenntnisgrund

Kurzinhalt: objektives Naturgesetzes und Subjekt = deckungsgleich, nicht wie Naturordnung - Vernunft; Rahner (Fuchs); ... daß die Frage nach dem Naturrecht von der "lex naturalis" und nicht von der "menschlichen Natur" her beantwortet werden muß

Textausschnitt: 141a Bezüglich der anfangs kritisierten Unterscheidung eines "objektiven Naturgesetzes" als "Naturordnung" und seinem "subjektiven Erkenntnisgrund", der Vernunft als "Organ" der Erkenntnis dieser Naturordnung, läßt sich nun folgendes präzisieren: In diesem Schema wird das Verhältnis von "Naturgesetz" und seiner Erfassung als "objektive Gegebenheit" auf den Kopf gestellt. In Wirklichkeit verhält es sich gerade umgekehrt: Das "Ursprüngliche" ist die Konstituierung der "lex naturalis" durch die natürliche Vernunft; erst in zweiter Linie wird, in der Reflexion, der durch den präzeptiven Akt der "ratio naturalis" konstituierte "ordo rationis" als ein "objektives" Naturgesetz erkannt - und durch die "reditio" als ein aus dem menschlichen "Sein" sich ergebendes "Sollen"; aufgrund dieser Reflexion als Selbsterfahrung der praktischen Vernunft kann sich dann auch ein habituelles Wissen um dieses Gesetz herausbilden, das im Gewissensurteil jeweils auf das Handeln appliziert wird. Dabei stehen sich die beiden "Bereiche" des "objektiven Naturgesetzes" ("ordo rationis") und des dieses Naturgesetz objektivierenden Subjektes nicht "gegenüber" wie Vernunft und "Naturordnung"; vielmehr sind sie deckungsgleich. Denn wenn die menschliche Vernunft das Naturgesetz als "objektives Gesetz" erkennt, so tut sie dies in der Reflexion über ihren eigenen ordinativen Akt. Der Mensch findet deshalb im Naturgesetz nicht eine ihm "gegenüberstehende" Naturordnung, die er sich "aneignen" oder die er als "aufgegebene" "nachvollziehen" müßte, sondern er erkennt vielmehr im Naturgesetz sich selbst wieder und dabei auch, unabhängig und vor aller Erkenntnis der "Theonomie", den verpflichtenden Charakter dieser Ordnung, die ja diejenige seiner eigenen praktischen Vernunft ist. (Fs) (notabene)

141b Um erneut eine historische Reminiszenz einzuschalten: Es ist erstaunlich, daß Josef Fuchs seinerzeit im Hauptwerk seiner "ersten Phase"1 den Begriff "lex naturalis" kaum verwendet und ihn überhaupt nicht analysiert. Er handelt zwar von der Natur des Menschen, von Umfang, Inhalt und Erkennbarkeit des Naturgesetzes und des Naturrechtes, aber nirgends findet sich eine nähere Bestimmung dessen, was denn "Naturgesetz" eigentlich heiße. Auch Karl Rahner ist erstaunlicherweise in seiner Kritik an Fuchs damals dieser doch entscheidende Punkt entgangen; auch für ihn stellte sich als einziges Problem, wie man denn die menschliche Natur als Grundlage des Naturrechtes bestimmen könne. Dabei verfehlt man die Gelegenheit, zu erkennen, daß die Frage nach dem Naturrecht (dem "naturaliter iustem") von der "lex naturalis" und nicht von der "menschlichen Natur" her beantwortet werden muß; oder, wie man auch sagen könnte: nicht von der menschlichen Natur schlechthin, sondern von dieser Natur unter dem Gesichtspunkt ihrer operativen Entfaltung gemäß der Ordnung der "lex naturalis". (Fs) (notabene)

[...]

142b Viel zu solchen ungenauen Begriffen des Naturgesetzes hat denn auch öfters die thomistische Unterscheidung zwischen "natura" und "ratio" beigetragen. Denn im Kontext dieser Unterscheidung gehört die "lex naturalis" (oder "lex naturae") ja gerade auf die Seite der ratio" und nicht der "natura", wobei auch diese "ratio", unbeschadet der genannten Unterscheidung, selbst auch "Natur" ist, bzw. einen natürlichen Akt besitzt. Die "natura" hingegen, insofern sie von der "ratio" unterschieden wird, besitzt den Charakter eines "praesuppositum" des "ordo rationis", bzw. den einer "inchoatio" des "ordo virtutis". Und dieser "ordo rationis" (oder "virtutis") bildet den Gegenstandsbereich des Naturgesetzes, das eben - um es zu wiederholen - nicht deshalb natürliches Gesetz heißt, weil es "a natura" besteht oder mit naturhaften Gesetzmäßigkeiten identifiziert werden könnte, sondern weil es einer "ordinatio" der "ratio naturalis" entspricht und sich ordinativ auf das "proprium" der natürlichen Neigungen erstreckt und deshalb auch ein naturgemäßes Handeln, ein Handeln gemäß der menschlichen Natur, ermöglicht, das - wie Thomas ohne zu ermüden wiederholt - eine "agere secundum rationem" ist. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: spoudaios; Objektivität, sittliche

Kurzinhalt: Der Tugendhafte ist die existentielle und operative Verkörperung des Naturgesetzes und nur im Kontext der sittlichen Tugend gibt es "sittliche Objektivität" als die unumstößliche Wahrheit der Subjektivität

Textausschnitt: 143a Auch wenn noch gezeigt werden soll, daß der Begriff einer "theonomen Autonomie", wie er heute in der Moraltheologie verwendet wird, anthropomorphen Vorstellungen entspringt, so kann man doch, in aristotelischer Tradition, gerade im Zusammenhang der sittlichen Tugend von einer rechtverstandenen Autonomie des Menschen sprechen. Denn in der natürlichen Vernunft als Partizipation der "lex aeterna" besitzt der Mensch tatsächlich ein Prinzip zwar nicht "theonomer Autonomie", sondern vielmehr "partizipierter Autonomie" oder "partizipierter Theonomie" -, da ja "lex naturalis" und "lex aeterna" nicht zwei verschiedene Gesetze sind. Der Mensch ist fähig, sich selbst durch Erkennen und Wollen des Guten und das "dominium" über seine Akte ("personale Autonomie") zum Guten hinzulenken. Er ist nicht nur ein tätiges, sondern ein handelndes Wesen. Die natürliche Vernunft ist jedoch nur Prinzip, Befähigung und Anlage zu solcher Autonomie im Vollsinne. Autonom im Vollsinne des Wortes ist nur der Tugendhafte, der aristotelische "spoudaios", der sich selbst Maßstab und Regel ist1; und zwar, weil ihm nämlich immer nur das als gut erscheint, was auch wahrhaft gut ist. Der Tugendhafte ist die existentielle und operative Verkörperung des Naturgesetzes und nur im Kontext der sittlichen Tugend gibt es "sittliche Objektivität" als die unumstößliche Wahrheit der Subjektivität. Von tugendhaften Menschen sagt Thomas bekanntlich "ipsi sibi sunt lex".2 In dieser Autonomie und Freiheit - Selbstdeterminierung auf das Gute hin - der Tugendhaften besteht "der höchste Grad menschlicher Würde, weil solche nämlich nicht von anderen, sondern durch sich selbst zum Guten geführt werden".3 Maß und Regel in den menschlichen Dingen ist deshalb die im "ordo rationis" ruhende sittliche Tugend4, die ja selbst ein Werk der natürlichen Vernunft ist, wie auch jener Vernunft, die, als Klugheit, ihr entspringt. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Rahner: Naturgesetz - Existentialethik; lex naturalis: keine universale Norm, unter die Einzelfälle subsumiert werden müssten

Kurzinhalt: Da Rahner sittliche Normen nicht auf ihren wahren Ursprung zurückbezieht, ... scheint ihm auch das eigentliche sittliche "Individuationsprinzip" zu entgehen: Das menschliche Handeln selbst, ...

Textausschnitt: 143b Auf dem Boden der "ordinatio rationis" des Naturgesetzes, und deshalb auch immer im Kontext der sittlichen Tugend, gründet nun jene unübersehbare Vielfalt individueller Verwirklichungsmöglichkeiten des menschlich Guten. Das Naturgesetz ist ja nicht ein Gefüge von apersonalen "Normen" oder "Geboten", denen der Mensch gegenübersteht und die sein Handeln in vorgegebene Handlungsschemata pressen würden und dabei individueller Verwirklichung des Guten keinen Raum mehr ließen oder diesen Raum ständig gefährdeten, so daß sich die menschliche Freiheit gegenüber dem "Gesetz" behaupten müßte. Eine solche Vorstellung, durch die gewisse Richtungen der Moraltheologie seit Beginn der Neuzeit beherrscht wurden, ist schon deshalb abwegig, weil das Gute ja immer nur individuell, singulär, konkret verwirklicht werden kann. Es gibt gar kein Handeln gemäß dem Naturgesetz, das auch den Charakter der Universalität seiner Bestimmungen trüge; es muß immer individualisiert werden, damit überhaupt ein sittlicher Akt - ein "actus humanus" - zustandekommt. Insofern bereits entspringt eine Gegenüberstellung von Naturgesetz und "Existentialethik", wie sie seinerzeit von K. Rahner vorgeschlagen wurde und bis heute, in anderen Terminologien, die Vorstellungswelt vieler Moraltheologen beherrscht, einer Fehlüberlegung. (Fs) (notabene)

144a Rahner hatte dabei m. E. bereits die Ausgangsfragestellung unglücklich formuliert, und meistens provozieren falsche Fragestellungen zwar plausible, aber falsche Antworten. Rahner fragt: "Ist das sittlich Getane nur die Realisation der allgemeinen Norm, das Sittliche Gesollte im konkreten Fall nur gleichsam Schnittpunkt zwischen dem Gesetz und der vorliegenden Situation?"1 Da natürlich Rahner die "Norm" als Deduktion aus der Natur des Menschen in ihrer Spezifität verstand, also aus der universalen "species", mußte er nun nach einem sittlichen "Individuationsprinzip" und damit nach einer Art "Individualnatur" eines jeden Menschen suchen. Dabei appliziert Rahner, wie bekannt ist, die metaphysischen Konstitutionsprinzipien der Engel (die sich selbst individuierende "forma substantialis") auf den Menschen.2 Da Rahner sittliche Normen nicht auf ihren wahren Ursprung zurückbezieht, auf ihr Fundament der auf die Ordnung der sittlichen Tugend bezogenen "lex naturalis" als "ordinatio rationis", scheint ihm auch das eigentliche sittliche "Individuationsprinzip" zu entgehen: Das menschliche Handeln selbst, das ja als tugendhaftes oder der Tugend entgegengesetztes in einer weitläufigen Vielfalt der Kontingenzen menschlichen Lebens den Menschen moralisch individuiert, - eine Individuation, die nicht ontologisch, sondern operativ ist. Es handelt sich dabei überhaupt nicht um ein Problem von Normen, sondern um ein solches des der praktischen Vernunft gegenständlichen "Guten" und schließlich um das, was man "Freiheit zur Tugend" und "Freiheit in der Tugend" nennen könnte. (Fs) (notabene)

144b Zudem aber unterliegt die rahnersche Perspektive offensichtlich dem Fehler, Ursache und Wirkung, den Grund und das Gegründete zu verkehren. Letztlich werden "sittliche Norm" und "sittlicher Wert" identifiziert. Vielmehr jedoch gründet die Norm auf einem sittlichen Wert, wie er tatsächlich in einem tugendhaften Akt "realisiert" wird, und zwar als Aneignung, weil die sittliche Handlung eine "actio immanens" ist, deren Wirkung im Handelnden verbleibt. Das wäre die "Lebenswirklichkeit", die zu gestalten ist, was jedoch nur in einer Tugendethik, und nicht in einer Normenethik, mag sie auch noch so "personalistisch" oder "individualistisch" sein, einsichtig werden kann.1 (Fs)

145a Die "Norm" oder das Gesetz als "Gebot" ist ja vielmehr, wie anfangs ausreichend begründet wurde, nur der in der Reflexion formulierte normative Aussagemodus des von der Vernunft geordneten Handelns, des "ordo virtutis"; und als normative Formulierung ist sie wiederum über das Gewissen auf das Handeln applizierbar. Das Naturgesetz ist jedoch keinesfalls mit dem Gewissen zu identifizieren, noch ist es eine "Norm" in diesem Sinne, sondern es ist "das Licht der natürlichen Vernunft, in der sich das Ebenbild Gottes findet".1 Die "lex naturalis" ist nicht universale Norm, unter die dann Einzelfälle subsumiert werden müßten; sie ist in ihrem Ursprung und eigentlichen Wesen nicht ein Gesetz, das man "anwendet", sondern immer die präzeptive "ordinatio" "meiner" praktischen Vernunft. Dies zu übersehen hieße, die Systematik reflexer "Moralsysteme" fälschlicherweise als Moralphilosophie zu interpretieren, anstatt sich auf deren Grundlage zu besinnen. (Fs)

145b Wird das Naturgesetz nicht als allgemeine "Norm", unter die das konkrete Handeln einfach als "Einzelfall" zu subsumieren wäre, aufgefaßt, so wird es schließlich vielmehr als Fundament erkennbar, aufgrund dessen allein sich menschliches Handeln in seiner spezifischen Eigenart als menschliches vollziehen läßt. Als Fundament ist es weder Einengung noch Gefährdung von Freiheit oder Personalität, sondern deren Grundlage, sowie Ausgangspunkt und Träger einer selbst unbestimmten Vielfalt individueller Gestaltungsmöglichkeiten und Wertbereicherungen in der Ordnung des konkreten Handelns und der Intentionen des handelnden Menschen, die jedoch immer nur so viel an praktischer Wahrheit enthalten, als sie auf der Grundlage des Naturgesetzes aufruhen und insofern dieses in ihnen wirksam ist. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: autonome Vernunft (Alfons Auer); Weltethos; 6 Gründe: Widerspruch

Kurzinhalt: Im Konzept der autonomen Moral, wie es von Auer und anderen Autoren dargestellt wird, befindet sich ein innerer Widerspruch ...

Textausschnitt: 156c Es muß auffallen, wie Auer, immer wenn es um die Bestimmung des der autonomen Moral zugeordneten "Weltethos" geht, sittliches Handeln auf die Kategorie der "Sachproblemlösung" in den verschiedenen Lebensbereichen reduziert.1 Gleichzeitig ist die Tendenz augenfällig, das eigentliche Proprium des Sittlichen erst als "christliches Proprium", also auf der Ebene des auf Offenbarung gründenden Heilsethos, auftreten zu lassen. Die Folge ist einerseits ein "Weltethos" "autonomer Sachgesetzlichkeit", die an die Stelle der spezifisch moralischen Dimension des menschlichen Handelns gesetzt wird und ein mit moralischen Ansprüchen vollbesetztes "Heilsethos", das in dieses Ethos der Sachlichkeit theologische Letztbegründungen, Motivationen und Stimulative einbringt, selbst aber nichts zur "Sache" beiträgt. (Fs) (notabene)
157a Der entscheidende Punkt jedoch, der hier herausgehoben werden soll, ist, daß die "autonome Moral" als Ethos der Sachlichkeit die Perspektive des Sittlichen verfehlt; sie ist zwar autonom, aber keine Moral; und insofern sie zur Moral wird - durch die Integration in das Heilsethos - ist sie nicht mehr autonom. Im Konzept der autonomen Moral, wie es von Auer und anderen Autoren dargestellt wird, befindet sich ein innerer Widerspruch; es kann seinem Anspruch nicht gerecht werden, d. h. der im Begriff der Autonomie artikulierten Vorstellung, "daß der Mensch sich selbst Gesetz ist, daß sittliche Normen dem Menschen also nicht von außen im Sinne heteronomer Inpflichtnahme auferlegt, sondern von ihm selbst mit der Kraft seiner Vernunft entwickelt werden".2 (Fs)

157b Und dies aus folgenden Gründen:

1. Es fehlt der Begriff einer praktischen Vernunft als Vermögen des einzelnen Menschen, aufgrund dessen er seine Handlungen auf das menschlich Gute ausrichten könnte. (Fs)

2. Es fehlt der Begriff einer menschlichen Vernunft, die selbst Kriterium und Maßstab für das menschliche Gute wäre; in der Folge fehlt überhaupt ein Kriterium des Sittlichen; es wird aufgelöst in die jeweiligen Ergebnisse der Humanwissenschaften, der Philosophie und den Erfahrungen und Möglichkeiten der Menschheitsgeschichte. Zielvorstellungen beschränken sich auf Formeln wie Menschenwürde, Selbstentfaltung, Mitmenschlichkeit etc. (Fs)

3. Die "autonome Moral" spricht zwar von Normen, Sittlichkeit etc., besitzt jedoch keinen adäquaten Begriff der "sittlichen Handlung"; Sittlichkeit ist für sie nicht eine den Handelnden selbst vervollkommnende Qualität des menschlichen Aktes als actio immanens, deren Folgen also nicht primär in die Sachstruktur der den Handelnden umgebenden Welt hineinreichen, sondern im Handelnden selbst verbleiben; Sittlichkeit wird vielmehr als Eigenschaft von Verhaltensweisen begriffen, die sich sozial, kulturell, geschichtlich vermitteln und verändern und sich in immer wieder veränderbaren Normen artikulieren. (Fs)

4. Der Begriff der "sittlichen Verhaltensweise" und "sittlichen Norm" auf der Ebene des "Weltethos" gerät damit in das Gravitationsfeld soziologischer statt ethischer Bestimmtheit; er reflektiert nicht die dem menschlichen Handeln innewohnende Ausrichtung auf die Vollkommenheit der Tugend, auf die die Selbstgesetzlichkeit des Menschen hingeordnet ist und in der sie sich erfüllt. Normen werden zu sozialen Regulativen menschlichen Verhaltens. Sie "sind unverzichtbar aber haben ein Gefälle zum ethischen Minimum. Der 'christliche Kontext' drängt aber unweigerlich auf ein hochethisches Verständnis des Sittlichen".3

5. Damit wird das "Proprium des Sittlichen" - die Ausrichtung des menschlichen Handelns auf seine spezifische Vollkommenheit in der Tugend - mit dem "christlichen Proprium" identifiziert; das Weltethos geht dabei seiner sittlichen Eigenständigkeit verlustig. Es ist nicht ein Ethos sittlicher Eigengesetzlichkeit des Menschen, sondern wird zu einem "Ethos" der Unabhängigkeit des Weltverhaltens von den spezifischen und objektiven4 Ansprüchen der Sittlichkeit. Als solches vermag es wohl "Handlungsnormen" zu begründen; es begründet sie jedoch in ihrer "Sachgemäßheit", nicht aber in ihrer Sittlichkeit. "Sachgemäßheit" selbst löst sich damit von dem, was im eigentlichen mit "sittlicher Verantwortung" gemeint ist. (Fs)

6. Die autonome Moral rezipiert demzufolge nicht einen Autonomiebegriff, der eine der menschlichen Person immanente sittliche Eigengesetzlichkeit meint, sondern den Begriff der Autonomie als Unabhängigkeit. Damit geht die autonome Moral über das Ziel hinaus, das sie sich setzt. Denn das berechtigte Anliegen einer "autonomen Moral" bestand im Aufweis der immanenten Rationalität der menschlich-natürlichen Sittlichkeit und damit ihrer Begründungsunabhängigkeit bezüglich des Glaubens, sowie der wissenschaftlich-methodologischen Eigenständigkeit der Ethik gegenüber der Metaphysik. Durch ihren Ansatz entwickelt sich die autonome Moral jedoch unversehens zu einer Ethik der Unabhängigkeit und Souveränität einer von keinerlei materialer Gesetzlichkeit bestimmten Vernunft, die zudem das Proprium des Sittlichen aus den Augen verliert und immer mehr zu einem Organ der technischen Bewältigung von Sachfragen wird. Damit bleibt die "autonome Moral" gleichzeitig hinter ihrem Anspruch zurück, eine Begründung für die immanent-menschliche Eigengesetzlichkeit des sittlichen Anspruchs zu sein. (Fs)

158a Diese Fehlentwicklung läßt sich letztlich nur auf dem Hintergrund der überstürzten Suche nach einem neuen ethischen "Argumentationsmodell" infolge der auf moraltheologischem Unverständnis und mangelnder Geduld beruhenden Kontestation gegenüber der Enzyklika "Humanae Vitae" erklären.5 Die adäquate Rezeption und das Verständnis für die ethischen Gehalte dieser Enzyklika sind eben erst richtig in Gang gekommen und zeigen die geradezu tragischen Mißverständnisse damaliger Kritiker, die die Frage der Antikonzeption auf ein "Methodenproblem" reduzierten und damit eben gerade die ethische Dimension, das "sittliche Proprium", verfehlten, in ihrer ganzen Tragweite auf. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kant: Sollen - das Gute; Kant verkehrt das Ursprüngliche mit dem Bedingten

Kurzinhalt: Existiert die rein formale Erfahrung des "Ich soll"; tritt eine solche Erfahrung nicht immer auf als: "Ich soll dieses", bzw.: "Das ist gut"

Textausschnitt: 2.3.2 Sollenserfahrung und die Erkenntnis des Guten

175d Was ist nun aber dieses "Sollen"? Können wir es, wie Kant dies tut, sowohl in der praktischen Erfahrung wie auch in der Reflexion vom Begriff des "Guten" ablösen? In der von Thomas gebrauchten Formulierung des ersten Prinzips der praktischen Vernunft ist das "Sollen" ja an die unmittelbare praktische Erfahrung des Guten zurückgebunden ("bonum prosquendum, malum vitandum est"); gibt es überhaupt eine Erfahrung des Sollens ohne die Erfahrung, und das heißt: ohne eine praktische Erkenntnis des Guten? Existiert die rein formale Erfahrung des "Ich soll"; tritt eine solche Erfahrung nicht immer auf als: "Ich soll dieses", bzw.: "Das ist gut". Wir haben im ersten Teil analysiert, daß die Erfahrung des "Sollens" als Sollen, wie auch jene der Pflicht, der Norm etc. erst in der Reflexion über die Erfahrung der praktischen Vernunft auftritt. Das Sollen und die Pflicht sind durch unmittelbar praktische Einsicht in das Gute bedingt. Die personale Autonomie verwirklicht sich nicht, wie Kant denkt, weil man etwas tut, nur weil man es soll, und sonst aus keinem anderen Grund, also aus reiner Pflicht. Kant verkehrt das Ursprüngliche mit dem Bedingten. Personale Autonomie verwirklicht sich vielmehr, wenn man etwas tut, weil man es als gut erkannt hat; und deshalb "soll" man es. Thomas hat diese Verwirklichung personaler Autonomie prägnant folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: "(...) Frei ist, wer über sich selbst verfügt (qui est causa sui): der Sklave untersteht der Verfügungsgewalt seines Herrn (est causa domini): wer immer also aus sich selbst heraus (ex seipso) handelt, der handelt frei; wer hingegen durch einen anderen bewegt (ex alio motus) handelt, der handelt nicht frei. Derjenige also, der das Schlechte nicht deshalb meidet, weil es schlecht ist1, sondern weil Gott es so gebietet, der ist nicht frei; aber derjenige, der das Schlechte meidet, weil es schlecht ist, der ist frei".2 (Fs) (notabene)

176a Sobald man den Begriff des "Guten" ins Spiel bringt, was Kant sorgsam vermeidet und was auch die methodologische Brüchigkeit seines Ansatzes erweist, stellen sich neue Fragen: Die Frage nach der praktischen Einsicht in das Gute; nach den Bedingungen der Erkenntnis des wahrhaft Guten im Unterschied zum nur scheinbar Guten (das aristotelische phainomenen agathon). Das Gute kann nicht mehr durch einen transzendentalen Formalismus kantischer Prägung rekonstruiert werden; auch nicht durch eine Ideen- oder Wertlehre platonischer Prägung. Man muß nur die aristotelischen Ausführungen über die Unbrauchbarkeit solcher Formalismen für die philosophische Ethik einmal nachlesen, um sich bewußt zu werden, daß Kant in seinem ethischen Ansatz - in bestimmter Hinsicht - in eine vor-aristotelische Position zurückfällt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Aristoteles: Handlung - eupraxia; Kant: Ethik getrennt von Handlunglehre; transzendentaler Formalismus, Utilitarismus;

Kurzinhalt: Aristotelische "Wende": Ethik als Lehre vom "guten Handeln" (eupraxia) ; Kant, der zum klassischen Erbe keinen unmittelbaren Zugang mehr hatte: ... Ethik getrennt von Handlung

Textausschnitt: 2.3.3 Das gemeinsame Defizit: Die Anthropologie der sittlichen Handlung

176b Dieser "Archaismus" Kants zeichnet sich durch eine Ablösung der Fundierung des sittlich Guten von der Analyse des menschlichen Handelns aus. Die aristotelische "Wende" bestand darin, Ethik als Lehre vom "guten Handeln" (eupraxia) zu verstehen: als eine Untersuchung nicht über das Gute als Gegenstand der Erkenntnis, sondern als Gegenstand und insofern auch Inhalt des Handelns; seine Ethik ist deshalb weitgehend eine Theorie des sittlichen Handelns, oder des menschlichen Handelns, insofern es menschlich ist, und schließlich eine Lehre von der Tugend. Ethik als Lehre vom guten Handeln, die sich auf der Analyse der Struktur und Eigenheiten des actus humanus und seiner Struktur personaler Autonomie gründet, findet bei Thomas mit Sicherheit ihren Höhepunkt. Spätere nominalistische ("legalistische"), und dann empiristische, utilitaristische und hedonistische Verfremdungen der Lehre vom guten Handeln haben Kant, der zum klassischen Erbe keinen unmittelbaren Zugang mehr hatte, dazu verführt, Ethik wieder von der Handlungslehre abzutrennen, - und damit auch von der Anthropologie, die mit einer Theorie der menschlichen, der sittlichen Handlung untrennbar verbunden ist. (Fs)

176c Der Versuch, Ethik unabhängig von einer Anthropologie der menschlichen (sittlichen) Handlung und damit auch nicht als handlungstheoretisch fundierte Tugendlehre zu begründen, ist das charakteristische Erbe Kants, von dem viele Versuche, Ethik zu begründen, bis heute geprägt sind; der Versuch, Sollen als transzendentalen Formalismus auszuweisen, ist dabei nur eine mögliche Variante. Auch die Wertphilosophie Max Schelers zeichnet sich, trotz ihrer reichhaltigen und treffenden phänomenologischen Analysen, durch das Fehlen eines Begriffes des Guten als axiologische Dimension des menschlichen Handelns als Handeln aus. Alle Formen von Utilitarismus sind wesentlich durch die Ausklammerung dieser Frage konstituiert: Würden sie, wie Sokrates das schon tat, das Nützliche mit dem Guten identifizieren und damit eine Beziehung zwischen Nutzen und Wahrheit aufrechterhalten1, so hätte es keinen Sinn mehr von Utilitarismus zu sprechen. Auch in der analytischen Ethik fehlt eine Theorie der operativen Wahrheit oder des guten Handelns; dies aufgrund der methodologischen Beschränkung dieser Ethik auf die Analyse der sprachlich-kommunikativen Erscheinungsformen des Sollens.2 Die sog. "teleologische Ethik" ist vollends geprägt von der Ausklammerung der Analyse der menschlichen Handlung; sie erschöpft sich, worauf noch zurückgekommen werden soll, in einer Theorie von "richtigen Handlungsweisen" und entsprechenden Normenbegründungsverfahren und verdankt ihre Plausibilität schließlich der Unterstellung, das "Gute" sei schließlich nichts anderes, als ein aus der transzendentalen Analyse des "Sollens" gewonnener Formalismus. Im weiteren Verlauf unserer Untersuchung des Begriffs "autonome Moral" wird sich zeigen, wie sehr dieses "Modell" unter dem Einfluß der kantischen Wendung steht und wie sehr es deshalb eine über zweitausendjährige Tradition der Ethik als Lehre vom guten Handeln und der Tugend unversehens verläßt und beiseite schiebt.3 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote: Töten, Lügen; Handlung: in sich schlecht; intrinsece malum; finis operis - finis operantis

Kurzinhalt: Handlung ... die wir als schlecht bezeichnen unabhängig von hinzukommenden weiteren Faktoren bzw. Absichten

Textausschnitt: d) Absolute Handlungsverbote. Töten und Lügen

303a Wie bisher ausgeführt wurde, gründen normenutilitaristische und Tugendethik auf zwei grundsätzlich verschiedenen Auffassungen darüber, was menschliches und sittliches Handeln ist. Darauf wird später eingehender zurückzukommen sein (vgl. 4,c und f). Im Zusammenhang der Begründung von Handlungsnormen wird dieser Unterschied jedoch oft gar nicht sichtbar, weil - trotz unterschiedlicher Begründungsstruktur - das Ergebnis dasselbe ist. Es wurde jedoch bereits angedeutet, dass es Fälle gibt, bei denen der Unterschied deutlich zu Tage tritt, nämlich bei den absoluten Handlungsverboten, den ausnahmslos geltenden Verbotsnormen. (Fs)

303b Verbotsnormen besitzen handlungslogisch andere Eigenschaften als Normen, die positiv etwas zu tun gebieten. Als Beispiel seien zwei Normen genannt, die eigentlich identisch sind, aber in ihrer positiven bzw. negativen Formulierung die verschiedene Normierungslogik zu veranschaulichen vermögen: "Man soll immer die Wahrheit sagen!" bedeutet nicht, dass ein Unterlassen der Handlung "Die Wahrheit sagen" schon ein Verstoß gegen die Norm ist; die Norm besagt nur, dass wenn man etwas sagt, dann soll es der Wahrheit entsprechen. Man darf aber auch einfach nichts sagen. Die Norm schreibt also nicht vor, immer und unter allen Umständen die Handlung zu vollziehen, die sie gebietet; man kann sie auch unterlassen. Die Handlungsnormierung positiv formulierter Normen ist also nicht "absolut", d.h. nicht für alle Fälle einschlägig. Sie vermag als Universal-Positives noch nicht, das Handeln in einer konkreten Situation abschließend zu normieren. Eine (negativ formulierte) Verbotsnorm hingegen: "Man soll nicht lügen" (d.h. "man soll nie etwas sagen, was nicht der Wahrheit entspricht!") normiert absolut. Zu unterlassen, was diese Norm vorschreibt, d.h. die von ihr vorgeschrieben Unterlassung (des Lügens) zu "unterlassen" - also die Handlung auszuführen, die sie verbietet - ist in jedem Fall ein Verstoß gegen die Norm. Das Universal-Negative vermag also Praxis in ihrer situationsgebundenen Partikularität abschließend zu normieren, d.h. ausnahmslose Gültigkeit zu besitzen. (Fs) (notabene)

303c Unter einem absoluten Handlungsverbot verstehen wir näherhin eine Norm, die besagt, eine als intentionale Handlung beschreibbare, konkrete Handlungsweise - d.h. ein bestimmter Typ intentionaler Basis-Handlung - sei immer (unter allen Umständen) zu unterlassen, was auch formuliert werden kann mit dem Ausdruck, die betreffende Handlungsweise sei "in sich schlecht". Gebräuchlich ist auch der Ausdruck "innerlich schlecht" (intrinsece malum). Diese etwas zweideutige Formulierung besitzt den Nachteil, dass "innerlich schlecht" eigentlich im Gegensatz zu "äußerlich" oder "von außen her schlecht" (extrinsece malum) steht. So gesehen wäre der Begriff der "innerlich schlechten" Handlung identisch mit demjenigen der Handlung, die schlecht ist, nicht weil sie verboten ist, sondern die verboten ist, weil sie schlecht ist. In diesem Sinne wäre dann aber eigentlich jede sittlich schlechte Handlung auch innerlich schlecht d.h. schlecht aufgrund ihres eigenen unsittlichen Wesens, und nicht - wie linksfahren oder freitags Fleisch essen - nur aufgrund entsprechender bürgerlicher oder kirchlicher Gesetze. So verstanden erweist sich aber der Ausdruck "in sich schlechte Handlungen" für die ethische Analyse als wenig hilfreich und eigentlich überflüssig. (Fs) (notabene)

303d Sinnvollerweise ist mit dem Ausdruck intrinsece malum bzw. den "in sich" schlechten Handlungen eher eine Handlung gemeint, die wir als schlecht bezeichnen unabhängig von hinzukommenden weiteren Faktoren bzw. Absichten. Dies im Unterschied zu einer Handlung, die - um ein klassisches Beispiel zu verwenden - wie Almosengeben für sich betrachtet (und in diesem Sinne eben "in sich") gut ist, aber etwa um eitler Ruhmsucht willen betrieben zusätzlich oder nachträglich zu einer schlechten Handlung wird. In diesem Sinne würde man auch sagen, einen Unschuldigen töten sei schon "in sich" eine schlechte Handlung, unabhängig von weiteren möglichen, sogar löblichen Absichten. (Fs)

304a Irreführend wäre die Ansicht, mit dem Ausdruck "in sich schlechte Handlung" sei gemeint, die betreffende Handlung sei "in sich" im Sinne von "an sich schon, ganz unabhängig vom Willen des Handelnden" schlecht. Denn das "in sich Schlechte" definiert nicht einen Bereich subjektunabhängiger Objektivität, dem dann das subjektive Wollen oder Intendieren entgegengestellt würde (etwa im Sinne der neuzeitlich-scholastischen Unterscheidung zwischen finis operis und finis operantis, "Zweck der Handlung" und "Zweck des Handelnden"). Ohne durch die Vernunft geformte Willensintention kann eine menschliche Handlung gar nicht beschrieben werden. Vielmehr meint die Rede von der "in sich schlechten Handlung", eine Handlung sei bereits auf der Ebene der in ihr implizierten Basis-Intentionalität schlecht, unabhängig von weiter dazukommenden Absichten. (Fs) (notabene)

304b Warum aber ist das überhaupt so wichtig? Es ist wichtig, weil es bedeutet, dass es möglich ist, zumindest einige Handlungen bzw. Handlungsweisen abschließend zu beschreiben, die durch weitere Absichten nicht um-definiert bzw. neu-beschrieben werden können, dass also in solchen Fällen das Handlungsobjekt gegenüber weiteren, dazukommenden Absichten bzw. Folgenabschätzungen und entsprechende Erwartungen gleichsam resistent ist. Dies entspricht der von G. Patzig beschriebenen Common Sense-Intuition, "dass wir uns über weite Strecken in vollem Einklang mit der utilitaristischen Doktrin bewegen. Wir überlegen uns, was wohl bei einer bestimmten Handlungsweise herauskommen muss, und wenn uns das bedrohlich und unerfreulich scheint, so halten wir eine solche Verhaltensweise für moralisch unzulässig. (...) Trotzdem sind wir der Meinung, dass gewisse Handlungen auch ohne jede Berücksichtigung ihrer möglichen Folgen moralisch schlecht sind"1. Dieser Intuition kann man aber nur gerecht werden, wenn man annimmt, dass es Handlungsobjekte gibt, die gegen ein "Um-Definieren" und eine entsprechenden Neu-Beschreibung ihrer moralischen Identität durch weitere, hinzukommende löbliche Absichten bzw. das Voraussehen unerwünschter Folgen resistent bleiben. (Fs)

304c In seiner Aufzählung einiger "Laster der Tugendethik" nennt Robert Louden auch die Unfähigkeit der von ihm kritisch beleuchteten Tugendethik, "gewisse Handlungen auszuzeichnen, die absolut verboten sind", also Handlungsverbote zu begründen, "die ganz klar die Grenzen aufzeigen in Bereichen wie dem Töten Unschuldiger, sexuellen Beziehungen und der Rechtsprechung gemäß den jeweiligen Gesetzen und Bräuchen". Dabei sei an Handlungen zu denken, "die einen derartig großen Schaden anrichten können, dass sie den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören und es (zumindest zeitweise) verhindern, moralisch Gutes zu erreichen." Es geht hier also nicht nur um "schlechte", sondern um "unerträgliche" Handlungen ("intolerable actions")1. Es mag zutreffen, das gewisse Formen heutiger virtue ethics solche absoluten Handlungsverbote nicht zu begründen vermögen, da sie die Richtigkeit von Handlungen einseitig von der Motivationsstruktur des Handelnden her und nicht auf Grund der Charakteristik der Handlung selbst zu bestimmen suchen. Für klassische Tugendethik trifft das jedoch nicht zu. Aristoteles spricht sogar explizit von Handlungen, die unabhängig von ihren Umständen in sich schon schlecht sind2. Im Gegenzug zu Loudens Ansicht muss sogar gesagt werden (vgl. auch oben IV, b 2), dass gerade eine Tugendethik klassischen Zuschnitts die Existenz solcher absoluten Handlungsverbote zu begründen vermag, einer Normen- oder regelorientierten Ethik dies jedoch höchstens im Sinne der Begründung einer "prima facie"-Geltung solcher Handlungsverbote gelingen kann. Denn moralische Normen sind sprachliche Universalien; sie beziehen sich auf Handlungstypen, auf Klassen von Handlungen mit gleichen Eigenschaften. In einer auf dem Phänomen der "Norm" aufgebauten Ethik bezieht sich, gleich allen Normen, auch eine Verbotsnorm lediglich auf entsprechend typische Fälle. Umstände und Folgen, die bei der Formulierung der Norm nicht berücksichtigt wurden, können dann in einem nachfolgenden "Anwendungsdiskurs" die Absolutheit einer Verbotsnorm relativiern3. Damit ein Handlungsverbot wirklich "absolut" gilt und damit resistent gegenüber sie relativierenden Anwendungsdiskursen ist, muss ein solches Verbot bzw. eine universale Verbotsnorm als auf moralische Prinzipien bezogen begriffen werden, die wiederum auf ein "von Natur aus Vernünftiges" rückverweisen; d.h. sie sind als Ausdruck eines Widerspruchs oder der Inkompatibilität mit den Zielen bestimmter Tugenden, die jeweils einen spezifischen "ethischen Kontext" definieren, zu verstehen und nicht, wie in einer "Normenethik", einfach als Widerspruch zu einer durch typische Merkmale definierten Klasse von Handlungen4. Inkompatibilität einer konkreten Handlungsweise mit sittlichen Prinzipien, welche die Zielstruktur einer Tugend und damit einen spezifischen ethischen Kontext ausdrücken, begründet, dass eine Handlungsweise nicht nur "prima facie", sondern in allen Fällen zu unterlassen ist, weil auch eventuell "später" hinzukommende Gesichtspunkte, Umstände oder Folgenabschätzungen, nichts daran ändern, dass diese intentionale Inkompatibilität mit dem Ziel einer oder mehrerer Tugenden weiter besteht. Was sich hingegen durch "später" hinzukommende Gesichtspunkte ändern kann, ist nicht die Geltung des Unterlassungsgebotes, sondern das, was nun die veränderte Situation anstelle der zu unterlassenden Handlung zu tun erfordert. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote 2; 2 Möglichkeiten: intrinsece malum;

Kurzinhalt: Norm ... die nicht nur ut in pluribus, sondern in jedem denkbaren Fall gilt: nicht töten, nicht lügen

Textausschnitt: 305a Nun gibt es aber zwei Möglichkeiten, von immer zu unterlassenden ("in sich" oder per se schlechten) Handlungsweisen zu sprechen:
(1) "Immer zu unterlassen" ist die Wahl und der Vollzug einer Handlung, die objektiv schlecht, z.B. ungerecht ist. Eine objektiv schlechte Handlung wählen impliziert ja einen intentionalen Bezug darauf, was dem Ziel einer bestimmten Tugend entgegengesetzt ist, z.B. Missachtung dessen, was eines anderen Recht oder was ihm geschuldet ist. Deshalb muss man Geliehenes immer zurückerstatten, sofern eben hier "Zurückerstattung" objektiv eine Handlung der Gerechtigkeit ist. Das ist sie jedoch aufgrund der Kontingenz, d.h. Veränderlichkeit, der Handlungsmaterie nur in den meisten Fällen, aber nicht immer. Normen dieser Art sind also nur ut in pluribus (in den meisten Fällen) eine adäquate normative Aussage über einen Handlungsvollzug. Das heißt: Das physische Tun "Zurückerstattung von Geliehenem" besitzt nicht immer oder in allen Fällen oder unter allen Umständen die intentionale Identität eine Aktes der Gerechtigkeit (jemandem das Seine, ihm Zustehende, ihm Geschuldete, sein Recht erstatten), und deshalb fällt sie dann auch nicht unter die (intentionale) Beschreibung jener Handlungsweise, aufgrund derer die Norm "Geliehenes muss zurückerstattet werden" formuliert wurde. Analoges gilt für Diebstahl, Einhalten von Versprechen und Verträgen. (Fs)

306a Dieses "Versagen" von Normen im Einzelfall ergibt sich, wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, aus der Unvollkommenheit der normativen Formulierung, d.h. des normativen Sprechens über intentionale Handlungen. In einer Norm muss ja auch ein äußerer Handlungsvollzug mitformuliert werden, aber diese Formulierung vermag nicht zu berücksichtigen, dass aufgrund eines Umstandes dieser bestimmte äußere Handlungsvollzug eine intentionale Identität erhalten kann, die verschieden ist von derjenigen, die der Formulierung der Norm zugrundeliegt; denn diese bezieht sich ja auf eine intentionale Handlung (vgl. auch unten 4,d). (Fs) (notabene)

(2) "Immer" oder "in sich schlecht" kann aber auch heißen, dass eine konkret beschreibbare Handlungsweise unter allen Umständen ihre intentionale Identität bewahrt. Dass also in Bezug auf sie eine Norm formuliert werden kann, die nicht nur ut in pluribus, sondern in jedem denkbaren Fall gilt, weil der durch sie betroffene Handlungsvollzug gar nie infolge eines Umstandes unter eine andere intentionale Beschreibung fallen kann. Solche Normen sind z.B. im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit "nicht töten" und "nicht lügen". Diese Normen gehören zu jenen, die wir im eigentlichen Sinn absolute Handlungsverbote nennen. Gleichzeitig hindert uns diese Kennzeichnung nicht daran, Mord, Verhängung der Todesstrafe, Töten im Krieg oder "Tyrannenmord" als je andere Typen (Spezies) intentionaler Handlungen zu betrachten, weil ihr genus moris, ihre moralische Identität jeweils verschieden ist. Deshalb fallen sie auch unter verschiedene Normen. (Fs) (notabene)

306b Dies ist nun allerdings ausführlicher zu erläutern. Dabei ist von einer Analyse der intentionalen und damit objektiven Identität der Handlung "einen Menschen (X) töten" auszugehen. X-Töten heißt soviel wie "X das Leben nehmen". Dazu gehört ein entsprechendes physisches Tun, ein äußerer Handlungsvollzug (oder die bloße Zulassung eines Ereignisses, das man verhindern könnte, dessen Verhinderung man aber willentlich unterlässt). Aber das physische Tun oder das Ereignis allein macht noch nicht die Handlung "X-töten aus". Sonst müsste man ja sagen, das auch ein Erdbeben oder eine Pistole im genau gleichen Sinn "X-tötet". Ein Erdbeben vermag wohl den Tod von X zu verursachen, man kann aber nicht sagen, dass diese Verursachung identisch mit der menschlichen Handlung "X-töten" sei. (Fs)

306c Die intentionale Handlung "X-töten" (die weder ein Erdbeben noch eine Pistole vollziehen kann) impliziert zumindest einen gegen das Leben des Opfers, seine physische Existenz oder seine Anwesenheit in der menschlichen Gesellschaft gerichteten Willen (intentio) des Tötenden1. So gesehen heißt dann "X-töten":

(1) Entweder "X aus dem Weg räumen", d.h. seine Existenz wird als Übel betrachtet. Sei es schlechthin, d.h. die letzte Absicht der Tötungshandlung ist einfach, dass X "nicht mehr sei" (das dürfte wohl selten vorkommen); oder als Mittel für eine andere Absicht: Um einen Vorteil zu erhalten (z.B. eine Erbschaft); um die Frau des Getöteten heiraten zu können; um das eigene Leben zu schützen; um anderen das Leben zu retten (z.B. im Erpressungsfall). In allen Fällen lautet das Handlungsurteil: "p ist gut", wobei "p" für "Verursachung der (physischen, gesellschaftlichen) Nichtexistenz von X" steht. Immer ist hier, sei es auf der Ebene der Mittel oder der Ziele, das Urteil über die Nichterwünschtheit eines konkreten menschlichen Lebens impliziert, so dass dieses Leben von der diesem Urteil folgenden Willensentscheidung abhängt. (Fs)

307a Vorausgesetzt wir sind der Meinung, dass die Anerkennung des anderen als mir Gleicher die Grundlage aller Gerechtigkeit ist, dass der andere also ein Recht auf sein Leben hat ganz genau gleich, wie ich es habe, und dass die Anerkennung dieses Rechtes der fundamentale Akt des Wohlwollens gegenüber unserem Mitmenschen ist, so erweist sich die intentionale Handlung X-töten als ein Akt fundamentaler Ungerechtigkeit; unter Umständen kann er sogar explizit ein Akt der Nichtanerkennung des anderen als mir Gleicher sein, sofern ich nämlich nicht nur sein Recht zu leben missachte, sondern ich ihm ein solches Recht nicht einmal zugestehe (Beispiel: Abtreibung). Jedenfalls ist für X "Leben" im fundamentalsten Sinne "das für ihn Gute". Intentional ist die Handlung unmittelbar gegen das gerichtet, was wir dem anderen im grundlegenden Sinne schulden; der Handelnde erreicht durch diese Rechtsverletzung auf Kosten des anderen einen Vorteil (die Handlung ist "unfair") und zugleich ist die Tötungshandlung ein Angriff auf die Gesellschaft, deren Bestand ja auf der gegenseitigen Anerkennung der Gleichheit von Rechten beruht. Sie ist also gleichzeitig auch eine Bedrohung der Überlebenden. Das Tötungsverbot wird damit relativ zum ethischen Kontext "Gerechtigkeit" definiert. Nicht als Zerstörung eines bestimmten Gutes (das Gut des Lebens), das zwar "hochrangig", dennoch aber kein sittliches, sondern nur ein physisches, naturales Gut ist, sondern als Entzug der Anerkennung des anderen als mir Gleicher und damit als fundamentale Ungerechtigkeit. Schlecht ist Töten, weil man sich zu einer konkreten lebenden menschlichen Person durch die Zerstörung ihres Lebens (ihrer leiblichen und damit vollmenschlichen Existenz in dieser Welt) in einer fundamental ungerechten Weise verhält. Verletzt wird dabei nicht das "Gut des Lebens", sondern ein "von Natur aus vernünftiger", in der natürlichen Neigung auf Selbsterhaltung gründender Anspruch d.h. ein Recht einer menschlichen Person und damit diese Person selbst. Das sittliche Übel des Tötens liegt also allein in seiner Ungerechtigkeit. Und umgekehrt: soweit töten im genannten fundamentalen Sinne ungerecht ist, ist es auch ein sittliches Übel. (Fs) (notabene)

307b Dieses Argumentation greift nicht für den Fall aktiver Euthanasie aufgrund einer Tötungsbitte von X. Die intentionale Identität einer solchen Handlung "X-Töten" ist vielmehr Beihilfe zu Selbstmord; oder genauer: Mitvollzug eines Selbstmordes. Die Handlung erhält hier also ihre intentionale Identität von der Handlung "Selbstmord". Dieser selbst ist wiederum eine "Ungerechtigkeit" gegen sich selbst, obwohl man das nur im übertragenen Sinn sagen kann. Ganz abgesehen von schöpfungsmetaphysischen Argumenten (Leben als "Geschenk Gottes") hebt sich der Selbstmörder damit selbst als sittliches Subjekt auf. Wenn es kein Leben nach dem Tod gibt, bleibt diese Handlung für das Subjekt folgenlos, da es ja nicht mehr existiert. Andernfalls jedoch lässt sich begründen, dass Selbstmord als sittliche (immanente) Handlung, die irreparable sittliche Selbstzerstörung eines weiter existierenden menschlichen Handlungssubjekts ist, die totale Abwendung von sich selbst. Das kommt allerdings auch zum Ausdruck, wenn ein Selbstmordversuch misslingt und der Täter als sein eigenes Opfer weiterlebt. Beihilfe oder Mit-Vollzug einer solchen Handlung ist demnach eine gravierende Ungerechtigkeit. Gerecht ist allein zu versuchen, einen Menschen von dieser Handlung abzuhalten. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Partizipation: lex naturalis - lex aeterna

Kurzinhalt: Im Naturgesetz offenbart sich die ewige und universal geltende ordinatio der menschlichen Handlungen durch die Weisheit der göttlichen Vernunft auf ihr Ziel hin

Textausschnitt: 187c Aufgrund der Partizipationsstruktur der lex naturalis gibt es demnach nur eine Möglichkeit: Im Naturgesetz offenbart sich die ewige und universal geltende ordinatio der menschlichen Handlungen durch die Weisheit der göttlichen Vernunft auf ihr Ziel hin. Natürlich hilft uns das keinen Schritt weiter zur Beantwortung der Frage, was das für eine konkrete Handlungsnormierung bedeutet. Aber diese Frage hier zu stellen, bedeutet, sie zu früh zu stellen. Die nächste Frage, die sich aufdrängt, lautet ganz anders, nämlich: Wie - auf welche Weise - kommt die ordinatio des ewigen Gesetzes im Naturgesetz zum Durchbruch? Damit ist gemeint: wir müssen nicht die Frage nach der Art und Weise stellen, wie die Vernunft "Normen" begründet. Sondern: Worin die partizipierte Immanenz des ewigen Gesetzes im Menschen zum Ausdruck kommt; oder: Wie partizipiert der Mensch das Ewige Gesetz? Dies wurde bereits in Teil I im Grundriß gezeigt. Es gilt nun aber, noch genauer zu untersuchen, worin die personale Autonomie des Menschen als partizipierte Autonomie gründet. Der Schlüssel zur Antwort liegt dabei einmal mehr im Begriff der praktischen Vernunft als "ratio naturalis". (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: lex naturalis = Prinzipien der sittlichen Tugend; Begriff des natürlichen Gesetzes (lex naturalis)

Kurzinhalt: "Lex naturalis" meint also nichts anderes als die Prinzipien der praktischen Vernunft aufgrund derer das Zielstreben der sittlichen Tugend kognitiv geleitet wird

Textausschnitt: 231b Lex naturalis, "natürliches Gesetz" oder "Naturgesetz" ist ein höchst verfänglicher Terminus. Wichtig ist der Kontext, in dem er entsteht. In der scholastischen Lehre von der lex naturalis finden sich zumindest zwei verschiedene Traditionen, die zusammenlaufen: Die altrömische Tradition der Juristen und ihres ius naturale, vor allem Ulpian1 sowie die christliche Theologie des "Gesetzes", die teils biblische Vorgabe ist, teils auf der Augustinischen Lehre über die lex aeterna gründet. Diese jüdisch-christliche Tradition ist für die Terminologie "lex naturalis" ausschlaggebend2. (Fs) (notabene)

231c Erst nachdem nämlich Thomas in seiner Summa Theologiae bereits über die menschlichen Handlungen, ihre Spezifizierung und sittliche Qualifizierung durch die Vernunft, über "gut" und "schlecht" in den menschlichen Handlungen, über die Leidenschaften und die sittlichen Tugenden zumeist in Aristotelischen Kategorien alles Wesentliche gesagt hat, wendet er sich der spezifisch theologischen Frage nach dem Gesetz zu. Er rezipiert zunächst den Augustinischen Begriff des ewigen Gesetzes: Der Vernunft-Plan im göttlichen Geist, demgemäß alles geschaffene Sein auf sein Ziel hingeordnet wird. Dann ist vom "göttlichen Gesetz" (lex divina) die Rede: Der Offenbarung der im göttlichen Geist existierenden Hinordnung der Geschöpfe auf ihr über-natürliches Ziel, das als solches positive (wenn auch nicht menschliche) Satzung ist. Hier wiederum ist das Gesetz des Alten Bundes (lex vetus) von demjenigen des Neuen Bundes zu unterscheiden, der lex nova oder lex evangelica, die vor allem in der Gnade des Heiligen Geistes besteht und erst in zweiter Linie auch lex scripta ist. Weiter ist vom menschlich-positiven Gesetz (lex humana) die Rede. Immer handelt es sich dabei um Formen der "Partizipation" am ewigen Gesetz: Dem von Ewigkeit, sich mit der Vernunft Gottes selbst identifizierenden Plan, gemäß dem die Geschöpfe auf ihr Ziel hingeordnet werden. So gesehen ist auch die ganze Natur als Natur - also die "Naturordnung" - sowohl die menschliche als auch die nichtmenschliche, "Teilhabe am ewigen Gesetz", denn sie ist ja durch dieses "geregelt". "Gesetz" selbst bestimmt sich hier als Ordnung der göttlichen Vernunft (ordinatio rationis divinae) auf das Gute hin. (Fs)

232a "Gesetz" im allgemeinen wird näherhin bestimmt als "Regel und Maßstab, gemäß dem jemand zum Handeln geführt oder von ihm abgehalten wird"; es "verpflichtet zum Handeln"; es ist "Maßstab menschlicher Handlungen"; "erstes Prinzip menschlicher Handlungen"; "etwas, was zur Vernunft gehört"; "etwas, was durch den Akt der Vernunft konstituiert wird"; Gesetze sind "universale, auf Handlungen bezogene Aussprüche (propositiones) der praktischen Vernunft"; die Vernunft, die hier gemeint ist, ist jene Vernunft, die bewegt, weil sie selbst vom Willen bewegt d.h. in Streben eingebettet ist. Der Begriff des Gesetzes erfüllt also alle wesentlichen Eigenschaften einer durch praktische Vernunft erstellten Anordnung und bestimmt sich schließlich als ordinatio rationis3. (Fs)

232b Der Mensch findet sich also erstens eingespannt in eine "Naturordnung". Diese jedoch ist zwar Teilhabe am ewigen Gesetz, selbst jedoch ist sie nicht ein Gesetz, denn "Gesetz" findet sich nur dort, wo praktische Vernunft zu finden ist; jedes Gesetz ist ja ordinatio rationis. Die sinnlichen Neigungen des Menschen jedoch und alle nicht-menschlichen innerweltlichen Lebewesen erstreben das ihnen eigentümliche Gute nicht aufgrund von Vernunft; also stellen sie auch nicht ein "Gesetz" auf. (Fs)

232c Sie unterstehen freilich, als geschaffene Wirklichkeiten, dem ewigen Gesetz. Und insofern sie an diesem teilhaben, kann man sie "Gesetz" nennen; aber nicht im wesentlichen, sondern nur im abgeleiteten (teilhabenden) Sinn4. Diese Art von "Gesetz-Mäßigkeit" ist hier jedoch überhaupt nicht von Interesse. Denn wenn es überhaupt ein für sittliches Handeln und Moral relevantes "natürliches Gesetz" gibt, dann muss es eine Wirklichkeit sein, das der inneren Struktur menschlichen Handelns als freiem, vernunftgeleitetem, willentlichem Handeln entspricht. (Fs)

232d Zweitens findet der Mensch die offenbarte Weisung zum Guten hin (als göttliches Gesetz). Dieses entspringt jedoch nicht seiner Vernunft; es wird von ihr nur anerkannt und aufgenommen. Drittens schließlich ist das menschliche Leben eingebunden in die Weisungen menschlicher Gesetze. Und nun erhebt sich die Frage: Gibt es denn nicht auch eine ordinatio rationis, eine Anordnung oder Weisung der Vernunft zum Guten, die dem Menschen "natürlich" - ihm von Natur aus eigen - ist, und in diesem Sinne ein natürliches Gesetz genannt werden kann? Das heißt: Eine von Natur aus im Menschen bestehende praktische Vernünftigkeit, die im Sinne einer Anordnung der Vernunft unabhängig von göttlicher oder menschlicher Satzung den Weg zum Guten weisen kann? Ein solches "Gesetz" wäre dann weder göttliche noch menschliche positive Weisung und auch nicht "Natur" (denn diese konstituiert als solche keine ordinatio rationis); es wäre nicht ein "Gesetz der Natur" und keine "Naturgesetzlichkeit". Sondern vielmehr etwas, was "von Natur aus" den Charakter eines Gesetzes, d.h. einer Anordnung der Vernunft auf das Gute hin besitzt. Ja, solches gibt es, sagt Thomas: Es ist nichts anderes als die Ordnung, welche die praktische Vernunft des Handlungssubjekts "von Natur aus" durch ihre präzeptiven Akte in den menschlichen Neigungen und Handlungen erstellt. (Fs)

232e Sobald einmal gesagt ist, dass das "natürliche Gesetz" die in den menschlichen Neigungen und Handlungen Ordnung [sic! Fehler im Buch] erstellende praktische Vernunft des Menschen ist, so wird einleuchtend, das im Kontext einer rein philosophischen Ethik der Terminus "Gesetz", zumindest in diesem Zusammenhang, genau genommen redundant ist. Die Kategorie der lex naturalis ist eigentlich nicht etwas Neues, was zur Lehre über die maßstäbliche Rolle der Vernunft hinzukommt, sondern sie weist bei Thomas gerade zurück auf die Lehre von der praktischen Vernunft, auf die Lehre über die menschlichen Handlungen, die Bestimmung von gut und schlecht durch die Vernunft, die Anthropologie von Vernunft, Wille und sinnlichem Streben und die Lehre über die sittliche Tugend5. Neu ist hier lediglich die Einordnung dieser Lehre in den Kontext einer christlichen Gesetzestheologie, eine Einordnung, die Thomas allerdings an anderer Stelle selbst wiederum biblisch zu begründen vermag6, und die im Rahmen einer Philosophie des ewigen Gesetzes vorgenommene Zurückführung menschlicher praktischer Vernunft auf göttliche Vernunft, den Aufweis des theonomen Ursprungs und der theonomen Gründung praktischer Vernunft also (s. unten V. 2 c). (Fs)

233a "Lex naturalis" meint also nichts anderes als die Prinzipien der praktischen Vernunft aufgrund derer das Zielstreben der sittlichen Tugend kognitiv geleitet wird. Die "lex naturalis" ist ein "Gesetz" der praktischen Vernunft, und das heißt: sie ist eine bezüglich menschlicher Strebungen und Handlungen und der Unterscheidung zwischen "gut" und " schlecht" in ihnen maßstäbliche Regelung durch die praktische Vernunft des Menschen und damit auch das Ensemble der kognitiven Prinzipen der sittlichen Tugend. Deshalb genügt es, von nun an, anstatt von "natürlichem Gesetz" oder "Naturgesetz" von praktischen Prinzipien oder den natürlichen Prinzipien der sittlichen Tugend zu sprechen. (Fs) (notabene)

233b Genau dann, wenn man diesen ursprünglichen Kontext einer "Theologie des Gesetzes" vergisst, wird der Begriff "Naturgesetz" problematisch, verfänglich, ja geradezu irreführend. Es entsteht dann aus einer ursprünglich rein theologisch gemeinten Einordnung der Lehre von der praktischen Vernunft und menschlicher personaler Autonomie in den biblischen Kontext des "Gesetzes" eine philosophisch verselbständigte Kategorie, in welcher anstelle der Perspektive der Vernunft dann jene der "Natur" in den Vordergrund tritt. Verstärkt wird dies durch den neuzeitlichen, naturwissenschaftlichen Begriff von "Naturgesetzen" und die Vermischung mit der neuzeitlich-naturrechtlichen Tradition ("Jusnaturalismus"). Das ius naturale, das "von Natur aus Rechte" ist eben gerade nicht "Naturgesetz", sondern wird vielmehr erst durch den praktischen, ordnenden Akt der Vernunft als ein solches "von Natur Rechtes" erfasst. Wenn deshalb Thomas von einer dem menschlich-positiven Gesetz vorgeordneten "lex naturalis" spricht, so vergleicht er dieses wiederum mit ersten Prinzipien der praktischen Vernunft, unter deren Leitung das menschliche Gesetz partikulare Konkretionen "hinzufindet"7. (Fs) (notabene)

233c Damit enthüllt nun die oben angeführte Aussage von Thomas, dass uns die Ziele der Tugenden "von Natur aus bestimmt" sind, erst ihren eigentlichen Sinn: Diese Ziele sind nicht eigentlich Naturfinalitäten oder eine Naturordnung, die von der Vernunft erkannt, auf Grund der Erfassung ihres theonomen Ursprungs als verpflichtendes Sollen anerkannt und entsprechend angewandt oder befolgt werden. Vielmehr sind diese Ziele ein naturaliter cognitum, etwas, was die menschliche Vernunft auf eine naturhafte Weise und unabhängig von der Erkenntnis eines hinter der Naturordnung stehenden Schöpfergottes erfasst. Das heißt auf eine Weise, die zwar eben "vernünftig" ist, aber nicht jener Vernünftigkeit entspricht, mit der wir über "Mittel zu einem Ziel" beratschlagen, also überlegen, sondern einer Art von Vernünftigkeit, die selbst wiederum "Natur" ist: "Natur" heißt aber jenes, das "auf Eines hin determiniert ist". Es handelt sich hier um einen eigenen Akt des prinzipienerfassenden Intellektes, durch den mit naturhafter Spontaneität oder Unmittelbarkeit all jenes erkannt wird, was für jedes weitere praktische Erkennen Ausgangspunkt und Grundlage bildet. Wir entdecken jetzt also praktische Vernunft insofern sie "Natur "ist, oder die natürliche Vernunft (ratio naturalis) und auch einen entsprechenden Willen "als Natur" (voluntas ut natura)8. (Fs)

234a Gäbe es keine "Vernunft als Natur" oder "naturhafte Vernunft", kein "von Natur aus Vernünftiges", gäbe es also in Vernunft und Vernünftigkeit nichts, was von Natur aus bestimmt und aller nachfolgenden Vernünftigkeit vorgeordnet und dessen Grundlage wäre, so gäbe es überhaupt keine Vernünftigkeit, sondern nur blindes Streben, affektive Konditionierung, soziale Konventionen, internalisierte gesellschaftliche Zwänge, das Recht des Stärkeren, die Macht der Experten; es gäbe keine Autorität, die nicht auch immer Bedrohung der Freiheit wäre; es gäbe keine praktische Wahrheit. Es gäbe keine Unterscheidung zwischen "gut" und "schlecht" außer derjenigen dessen, der die Macht besitzt, diese Unterscheidung gegenüber anderen durchzusetzen. Eine Vernunft ohne "Natur" wäre grundlose, orientierungslose Vernunft. Sie wäre reines Instrument für irgendwelche Zwecke. Wir alle wissen natürlich, das sie dies nicht ist und nicht sein darf. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Vorsehung, providentia; imago; theonome Autonomie

Kurzinhalt: ... keine "theonome Autonomie" in dem Sinne: göttliche Vorsehung als eine "transzendental" umgreifende Rahmenordnung, innerhalb derer der Mensch in "schöpferischer" Weise die Ordnung des guten Handelns selbst gestaltet ...

Textausschnitt: 196a Die Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott ist nicht nur eine Abhängigkeit in ihrer seinsmäßigen Konstituiertheit, zu der auch die Erhaltung (conservatio) im Sein gehört; denn zudem ordnet Gott alle Geschöpfe auf ihr Ziel hin. Die ratio, der "Plan", dieser Hinordnung ist die Vorsehung oder providentia.1 Das Unterworfensein unter dieser Ordnung der göttlichen Vorsehung ist selbst ein bonum, denn es bedeutet, über die seinsmäßige Teilhabe hinaus, auch eine operative Partizipation an der divina bonitas, welcher die Geschöpfe durch ihre Tätigkeit im Vollsinne teilhaftig werden. (Fs)

196b Es ist ohne weiteres einsichtig, daß der imago-Charakter der personalen Autonomie des Menschen selbst eine besondere Weise der Teilhabe an dieser ratio ordinis in finem begründen muß. Deshalb kann es nicht erstaunen, daß Thomas aus der "imago Dei" im Menschen gerade auch auf eine besondere, menschliche Art des Unterworfenseins unter die "providentia" schließt: Der Mensch ist als geistiges Geschöpf der göttlichen Vorsehung nicht als "provisus" unterworfen, sondern er ist selbst ein "providens", er hat also an ihr aktiv teil.2 Thomas sagt nicht: Der Mensch ist nur in einer bestimmten Hinsicht der Vorsehung unterworfen, und in anderer Hinsicht autonom. Das eigene, personal-autonome providere des Menschen ist selbst ein bestimmter Modus des Unterworfenseins unter die göttliche Vorsehung; indem der Mensch elektive Freiheit besitzt3 und so seine Handlungen selbst regiert und leitet, ist dies "Selbstregierung", insofern sie personale Akte betrifft, selbst Bestandteil der göttlichen Vorsehung.4 Thomas meint nicht: Die Selbstleitung der menschlichen Akte als personale Akte gehört zu einem Bereich theonom abgesteckter Autonomie oder "nur" menschlicher Vorsehung. Unbeschadet der Tatsache, daß diese Akte auch Akte der menschlichen providentia sind, ist vielmehr gesagt, daß sie, als solche, gerade auch immer Akte der göttlichen Vorsehung sind - eine Aussage, die mit der Autonomievorstellung nicht mehr zu vereinbaren ist. (Fs) (notabene)

197a Tatsächlich liegt hier ja das entscheidende Verständnisproblem; Thomas denkt eben nicht anthropomorph. Er wahrt voll und ganz die radikale Verschiedenheit der göttlichen von der menschlichen Kausalität, so weit diese Verschiedenheit menschlichem Sprechen überhaupt zugänglich ist. Die "causa secunda" ist nicht als autonomes Ausführungsorgan eines als Rahmenordnung gedachten Regierungsplanes gedacht; Gott konzipiert den Plan seiner Vorsehung vielmehr aufgrund seiner Allmacht selbst. Dessen Ausführung ("executio") überläßt er zwar nicht einfach den vernünftigen Geschöpfen, aber er läßt diese an der Ausführung dieses Planes dadurch teilhaben, daß er ihnen die Fähigkeit der Teilhabe an der providentia vermittelt; die ordinatio divina erstreckt sich dabei jedoch weiterhin auf alle Akte des Geschöpfes. Die menschliche Vorsehung, seine personale Autonomie, verhält sich zur göttlichen Vorsehung wie eine partikulare Ursache zur Universalursache.5 Mit diesem Verhältnis ist gemeint: Die Kausalität der menschlichen Vorsehung ist in der Kausalität der göttlichen Vorsehung selbst enthalten; die Partikularursache bezieht sich dabei auf einen Teil, während die Universalursache nicht einen anderen, wenn auch übergeordneten Teil zum Gegenstand hätte, sondern die ganze Wirkung. Die universale Ursache ist also in jeder partikularen Ursächlichkeit anwesend, wirksam, ja ermöglicht diese zweite erst. Die zweite ist ebenfalls wirkliche Ursächlichkeit, aufgrund eingestifteter Fähigkeit, aber nicht in unabhängiger Weise, sondern partizipativ, begründet und getragen von der Erstursache, deren Wirksamkeit zugleich im Innersten der Zweitursache präsent ist.6 (Fs) (notabene)

197b Damit ist vorderhand noch nicht mehr gewonnen, als die Verhinderung falscher, weil anthropomorpher, Vorstellungen. Ich kenne nur eine Stelle, in der Thomas explizit gegen ein anthropomorphes Mißverständnis Stellung bezieht, und zwar in seinem "Compendium Theologiae ad fratrem Reginaldum". Dort heißt es: "Obwohl die göttliche Leitung der Dinge bezüglich der Ausführung der Vorsehung vermittels Zweitursachen geschieht, ist aufgrund des Gesagten klar, daß dennoch die Disposition oder ordinatio der göttlichen Vorsehung sich unmittelbar auf alles bezieht. Denn er ordnet das Erste und Letzte nicht, indem er andere mit der Ordnung des Konkreten (ultima) und Einzelnen beauftragt; so geschieht es unter Menschen, wegen der Schwachheit ihrer Erkenntniskraft (.. .)."7 Und deshalb kann Thomas sagen: "Oportet quod ordinatio providentiae ipsius se extendat usque ad minimos effectus"8; Gott, betont der hl. Thomas, kennt und ordnet auch die Wirkungen der die ordinatio seiner Vorsehung vermittelnden Zweitursachen, denn "andernfalls würden sie aus der Ordnung seiner Vorsehung herausfallen".9 (Fs) (notabene)

198a Die ordinatio der göttlichen Vorsehung erstreckt sich also auch auf die in personaler Autonomie vollzogenen Handlungen des Menschen; sie sind in der göttlichen Vorsehung enthalten, unterliegen ihr und sind Bestandteil der göttlichen Hinordnung des Menschen auf sein Ziel. (Fs)

198b Selbstverständlich lassen sich aus dieser Erkenntnis keine Schlüsse zur Beantwortung der Frage gwinnen: "Was soll ich tun?". Wie schon gesagt, wäre diese Frage zu früh gestellt. Jedenfalls sollte klar geworden sein, daß der Bereich der personalen Autonomie des Menschen und ihre sich aus ihrem imago-Charakter ergebende potestative Eigenart nicht als "theonome Autonomie" in dem Sinne begreifen läßt, daß die göttliche Vorsehung nur eine "transzendental" umgreifende Rahmenordnung wäre, innerhalb derer der Mensch in "schöpferischer" Weise die Ordnung des guten Handelns selbst gestaltet - gewissermaßen also innerhalb eines "kategorialen" Freiraums, in den Gott selbst nicht eingreift und den er zur inhaltlichen Determination dem Menschen überlassen hätte. Diese Ansicht ist angesichts des partizipativen Charakters der imago sinnlos. Sie erweist sich als eine Art "Linsengericht"; als Abtausch der wirklichen, in der wahren Gottebenbildlichkeit bestehenden Größe und Würde des Menschen mit einer "schöpferischen" Autonomie, die den Menschen auf sich selbst und seine Endlichkeit zurückwirft. (Fs)

198c Wenn wir berücksichtigen, daß der göttlichen "Weltregierung" ein Plan (ein ratio) unterliegt, und daß diese ratio gubernationis Ewiges Gesetz genannt wird, dann können wir verstehen, was es unter Voraussetzung des bisher Gesagten, bedeutet, daß das Naturgesetz eine Partizipation des Ewigen Gesetzes im vernünftigen Geschöpf ist. Es wird vor allem einsichtig, daß die lex naturalis nicht einfach einen normativen Freiraum schöpferisch-vernünftiger Regelung durch den Menschen begründen kann - eine solche Auffassung wäre im metaphysischen Kontext uneinsichtig und, wie gesagt, anthropomorph -; das Naturgesetz ist im Menschen vielmehr Teilnahme an der ordinatio der göttlichen Vernunft, eine Teilnahme per modum cognitionis (durch Erkenntnis) und eine solche per modum principii motivi (durch ein bewegendes Prinzip, d. h. natürliche Neigung).10 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: lex naturalis - Partizipation der lex aeterna im Menschen; impressio; ratio naturalis als natürliche Neigung zum actus debitus

Kurzinhalt: Beides, sowohl die inclinatio naturalis wie auch die ratio gehören jedoch zur lex naturalis; die ratio ist dabei aber das ordnungsstiftende Element

Textausschnitt: 198d Fassen wir zunächst kurz die früheren Ergebnisse von Teil I, Kap. 2.3 zusammen: Das Naturgesetz ist die Partizipation des Ewigen Gesetzes im Menschen. Am Maßstab oder der Regel der ordinatio rationis der göttlichen Vorsehung hat der Mensch in doppelter Weise teil: Einmal durch eine seinsmäßige impressio verschiedener natürlicher Neigungen, die alle auf ihnen eigene Akte und Ziele factus et finis proprius) hintendieren; zweitens durch eine impressio des Lichtes der natürlichen Vernunft - eine impressio divini luminis in nobis -, auf Grund derer wir unterscheiden, was gut und schlecht ist. Die ratio naturalis ist eine natürliche Neigung zum actus debitus; aufgrund derer die menschliche Vernunft in den übrigen Neigungen der Natur, indem sie diese ordnet, das Naturgesetz, d. h. die der "lex aeterna" entsprechende ordinatio zu konstituieren vermag. Beides, sowohl die inclinatio naturalis wie auch die ratio gehören jedoch zur lex naturalis; die ratio ist dabei aber das ordnungsstiftende Element; durch sie wird formell und eigentlich das Naturgesetz konstituiert. Diese ratio ist selbst eine mensura, aber eine mensura mensurata: Sie enthält in sich natürlicherweise eine Regel, die sie sich nicht selbst gegeben, sondern die sie empfangen hat. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: lex aeterna, lex naturalis, Partizipation: per modum principii motivi, per modum cognitionis; Tugend - natürliche Neigung

Kurzinhalt: ... schaut man also diese Partizipation gewissermaßen "von oben" an - so muß man sagen: Das Ewige Gesetz befindet sich im Menschen sowohl in den natürlichen Neigungen ...

Textausschnitt: 202b Es ist also festzuhalten, daß der Mensch den "motiven" (bewegenden) Charakter der lex aeterna in den natürlichen Neigungen, den kognitiven Aspekt dieses Gesetzes jedoch durch seine Vernunft partizipiert. Stellt man sich auf den Standpunkt des Ewigen Gesetzes - schaut man also diese Partizipation gewissermaßen "von oben" an - so muß man sagen: Das Ewige Gesetz befindet sich im Menschen sowohl in den natürlichen Neigungen (per modum principii motivi) wie auch in der Vernunft (per modum cognitionis). Insofern die natürlichen Neigungen zum Ewigen Gesetz gehören - also "von oben her" und in Verbindung mit der göttlichen ordinatio - sind sie tatsächlich Gesetz; insofern man sie jedoch als Partizipation am Ewigen Gesetz - d. h. als etwas in der Natur Bestehendes, Geschaffenes - betrachtet, sind sie nicht Gesetz (d. h.: sie sind nicht lex naturalis), sondern nur, der divina ordinatio entsprechendes, praesuppositum für das Gesetz. Sie enthalten nicht in sich die ordinatio ad debitum. Um dieser "ordinatio" einsichtig werden zu können, müßte man die "lex aeterna" in Gott schauen; aber eine solche Schau besitzen wir nicht. Dies wird, als Mangel, in der unvernünftigen Kreatur dadurch ausgeglichen, indem diese ordinatio durch eine operative Determination geschieht; diese Geschöpfe und Naturdinge non agunt sed magis aguntur; sie sind deshalb wie Instrumente der ordinatio des Ewigen Gesetzes untergeordnet. (Fs) (notabene)

203a Da jedoch der Mensch als imago Gottes - aufgrund seiner Geistigkeit - das Ewige Gesetz auch auf kognitive Weise partizipiert und damit die "ratio ordinationis" in sich enthält (personale Autonomie), handelt es sich hierbei nicht eigentlich um einen "Mangel", denn er bedarf weder einer Determination seiner natürlichen Neigungen auf das debitum, noch muß er durch die göttliche "ratio" wie ein Instrument auf sein Ziel hingelenkt werden; er vermag dies selbst, indem er kraft seiner Vernunft die natürlichen Neigungen - das empfangene Bewegungsprinzip - ordnet; die ordinatio rationis ist deshalb eine vollkommenere Teilnahme am Ewigen Gesetz und besitzt selbst den Charakter eines Gesetzes: sie ist lex naturalis, natürliches Gesetz. (Fs)

203b Soll allerdings dabei der ordnende und gesetzgebende Akt der praktischen Vernunft als kognitive Partizipation am Ewigen Gesetz nicht verfälscht werden, so kann die menschliche Vernunft sich niemals von ihrem principium motivum, dem actus proprius der natürlichen Neigungen "emanzipieren". Die "ordinatio rationis" des Naturgesetzes ist eine "ordinatio", die nicht über diese natürlichen Neigungen verfügt, sondern sie ist eine "ordinatio" in den natürlichen Neigungen, denn diese selbst sind ja auf der Ebene der Seinsstruktur Ausdruck des Planes der göttlichen Vorsehung, partizipieren also an der vis directiva des Ewigen Gesetzes. (Fs)

203c Was also im Menschen eigentlich a natura besteht - die praesupposita -, ist somit nicht nur ebenfalls Partizipation am Ewigen Gesetz, sondern gehört auch unverfügbar zum Naturgesetz, wenn es auch als solches selbst noch nicht Gesetz ist. (Fs)

[...]

204a Der Mensch ist ein komplexes, fundamental neigungsmäßig konstituiertes Körperwesen; Neigungen, die er vernünftig - in angemessener Weise - zu verfolgen hat, was, zum Habitus geworden, die sittliche Tugend ausmacht. Die natürliche Neigung als Ausdruck des ewigen Gesetzes und Grundlage der "ordinatio rationis" verleiht dem Naturgesetz, der Tugend, dem die göttliche bonitas und Weisheit wiederspiegelnden sittlichen Handeln des Menschen jene fundamentale Konnaturalität, Spontaneität, die durch die Tugend potenziert, durch das Laster jedoch zerstört wird. (Fs)

204b Diese durch die Partizipation am Ewigen Gesetz konstituierte innere Zuordnung von natürlicher Neigung, Vernunft, Tugend und Sittlichkeit, diese komplexe Struktur, die durch die ordnende Funktion der praktischen Vernunft auf ihr Ziel ausgerichtet wird, zeigt die große Würde der menschlichen Freiheit, der nichts weniger anvertraut ist, als den Plan der göttlichen Vorsehung teilhabend zu verwirklichen. (Fs)

204c An diesem Punkt angelangt zeigt sich erneut, wie wenig Thomas mit der Interpretation, für ihn bedeute das Naturgesetz lediglich eine natürliche Neigung der Vernunft zur normsetzenden Aktivität, erfaßt wird; oder: das Naturgesetz beinhalte lediglich die rein formale Bedeutung, "vernünftig zu handeln", ohne jegliche inhaltliche Bestimmtheit. Ich glaube es sollte einsichtig sein, daß auf der Grundlage einer solchen Interpretation kaum mehr verständlich sein kann, worin der Zusammenhang von Naturgesetz und Tugend besteht, ja was überhaupt eine sittliche Tugend ist. Vor allem aber erscheint die Natur der menschlichen Vernunft als Teilnahme an der ratio divina und ihr imago-Charakter verkannt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: lumen intellectuale; nous poietikos;

Kurzinhalt: daß der menschliche Intellekt als lumen naturale nicht einfach nur eine Befähigung zum Denken ist, sondern daß er in einem gewissen Sinne "Wahrheit enthält" ...

Textausschnitt: 4.1.4 "Lumen intellectuale"

210b Während schon Platon die Quelle aller Erkenntnis von Wahrheit - für ihn die substistierende Idee des Guten - mit der Sonne verglichen hatte, war es ja vor allem Aristoteles, der seinen nous poietikos, den thomistischen intellectus agens, mit dem Licht verglich. Thomas schöpft in diesem Zusammenhang die Metapher des lumen intellectuale voll aus. (Fs)

210c Diese Lichtfunktion des Intellektes war für einen Philosophen wie Aristoteles zunächst eine metaphysisch interpretierte Erfahrungstatsache: Anders schien ihm die Leistungskraft und Eigenart menschlicher Erkenntnis nicht erklärbar. Aber auch Aristoteles war sich, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner platonischen Herkunft, dabei bewußt, der Intellekt im Menschen müße etwas Göttliches sein; er nennt ihn den "Gott in uns".1 Nicht nur in der Eudemischen, auch in der Nikomachischen Ethik bleibt dieses Thema, allerdings ohne frühere dualistische Anklänge, präsent: Verstand (nous) und Vernunft (logos) sind etwas "Göttliches in uns", "unser wahres Selbst", "unser vornehmster und bester Teil".2 Die intellektuelle Schau ist die den Göttern eigentümliche Tätigkeit, und wer das Leben des Geistes, den "Gott in sich" pflegt, den verbinden besondere Freundschaftsbande mit den Göttern und er darf auch ihrer besonderen Belohnung sicher sein.3 (Fs)

211a Diese vorchristlichen Anklänge an den imago-Charakter des Intellektes finden bei Thomas, wie es kaum verwundern kann, ihre volle Entfaltung, potenziert durch seine Rezeption und gleichzeitige Korrektur der platonisch-augustinischen Illuminationslehre: Was bei Augustinus noch aktuelle Erleuchtung durch den göttlichen Intellekt war, wird bei Thomas zu einer am göttlichen Intellekt als imago partizipierenden, im Menschen als causa secunda seinsmäßig verankerten Erkenntnispotenz. Nichts fehlt allerdings dieser Potenz, was nicht auch nach augustinischer Lehre der Kraft göttlicher Illumination zugesprochen werden könnte. Der menschliche Intellekt ist tatsächlich eine Teilhabe am göttlichen Erkenntnislicht, sodaß Thomas, mit Augustinus, sogar sagen kann, "daß die Seele alles in den ewigen Erkenntnisgründen (in rationibus aeternis) erkennt; denn durch die Partizipation an ihnen erkennen wir alles. Das intellektuelle Licht selbst, das sich in uns befindet, ist nichts anderes als eine bestimmte partizipierte Ähnlichkeit" - d. h. die imago - "des ungeschaffenen Lichtes, in welchem die ewigen Erkenntnisgründe enthalten sind".4 Nicht zufällig folgt wiederum das Zitat aus Psalm 4, das Thomas hier mit den Worten paraphrasiert: "Quasi dicat: Per ipsam sigillationem divini luminis in nobis, omnia demonstrantur", "Durch die Einprägung selbst des göttlichen Lichtes in uns wird alle Wahrheit aufgewiesen".5 (Fs)

211b Es zeigt sich bereits hier, daß der menschliche Intellekt als lumen naturale nicht einfach nur eine Befähigung zum Denken ist, sondern daß er in einem gewissen Sinne "Wahrheit enthält"; dies nicht im Sinne angeborener Ideen, sondern weil er Partizipation an jenem göttlichen Licht ist, in dem alle Wahrheit enthalten und nach dem alle Dinge geschaffen sind und ihre Wahrheit, das heißt Übereinstimmung mit dem göttlichen Intellekt, besitzen. Der menschliche Intellekt ist also in seiner wahrheitsaufweisenden Lichtfunktion gerade nur aufgrund seines partizipierten Charakters verständlich, besitzt aber deshalb, als imago, eine eindeutige inhaltliche Relevanz. Deshalb finden wir auch die Formulierung, das lumen intellectus nostri sei eine "impressio veritatis primae", vermittels derer wir erkennen.6 (Fs)

211c Die wohl eindrücklichste Formulierung findet sich in den "Quaestiones Quodlibetales", wo Thomas, wiederum in Auseinandersetzung mit der augustinischen Position, daß wir alle Wahrheit in der Ersten Wahrheit erkennen, die Partizipation des göttlichen Intellektes eine resultatio der göttlichen Wahrheit in uns nennt, sodaß "ab una prima veritate multae veritates in mentibus hominum resultant." Diese resultatio zeigt sich in doppelter Weise: Im lumen intellectuale selbst (es fehlt auch hier nicht das Zitat aus Psalm 4) und, zweitens, "quantum ad prima principia naturaliter notae". Aus diesen könne ausschließlich deshalb Wahrheit hervorgehen, weil sie eine "similitudo illius primae veritatis" sind; aufgrund dieser Tatsache haben sie auch Unveränderlichkeit und Unfehlbarkeit. Und Thomas schließt: Wir erkennen also alle Wahrheit in Gott, aber nicht, weil wir sie unmittelbar in ihm selbst sehen; sondern "in der ratio selbst seiner imago" ("in ipsa ratione suae imaginis"), d. h., fügt der Text bei, "der von ihm vorgebildeten Wahrheit" ("veritatis ab ea exemplatae") "erkennen wir alle Wahrheit".1 Somit ist die natürliche Erkenntnis der Vernunft - sie geht auf das lumen intellectuale zurück - "eine Aehnlichkeit der göttlichen Wahrheit, die unserem Geist (mens) eingeprägt ist", - wobei auch hier die Referenz zu Psalm 4 nicht fehlt.2 (Fs)

212a Im Kommentar zur "Elementatio Theologica" (Liber de Causis) von Proclus wird die causa prima selbst als lumen bezeichnet3, ganz in Übereinstimmung mit jener anderen von Thomas kommentierten und überaus häufig zitierten Schrift "De Divinis Nominibus" von Dionysius (Pseudo-)Areopagita. Die Ursächlichkeit des Lichtes (causalitas luminis) vertreibt aus den Seelen alle Unwissenheit und jeden Irrtum4; Gott, das supersubstantiale Bonum, ist lumen intelligibile inquantum est quidam "radius" et fons omnis intellectualis luminis.5 Als solches besitzt es einen doppelten Effekt: Es erleuchtet den Geist von Anbeginn an, d. h.: verleiht ihm seine natürliche Erkenntnis (naturalis cognitio); zweitens gibt er ihm, über das Natürliche hinaus, das lumen gratiae und das lumen gloriae, gemäß der bereits besprochenen Dreistufung der Entwicklung der imago6 Ziel und Wirkung der Ursächlichkeit des Lichtes besteht darin, alle intellektuellen und rationalen Wesen in der Wahrheit zu vereinen.7

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: lumen naturale; Johannesevangelium - Prolog

Kurzinhalt: ... wird diese Partizipation oder Illumination durch das Verbum mit dem lumen naturalis rationis identifiziert: was auch immer von dieser erkannt wird, stammt aus der Partizipation an dem wahren Licht des Verbum

Textausschnitt: 213c Nur wenig später wird diese Partizipation oder Illumination durch das Verbum mit dem lumen naturalis rationis identifiziert: was auch immer von dieser erkannt wird, stammt aus der Partizipation an dem wahren Licht des Verbum.1 Die Worte des Johannesevangeliums "Erat lux vera, qui illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum", veranlassen Thomas zu sagen, daß der Mensch, aufgrund seines Intellektes, der göttlich ist, gewissermaßen "in diese Welt kommt" und nicht "aus ihr ist". Obwohl der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit, die ebenso zu seiner Natur gehört, ganz in diese Welt eingelassen ist, Teil von ihr ist, so besitzt er aufgrund seiner Spiritualität ein Seinsprinzip, das die Körperlichkeit des mundus sensibilis transzendiert; während die Körperwelt nur ein vestigium des Schöpfers zu sein vermag, ist der intellectus seine imago. Die Pointe besteht in der Aussage, der Mensch werde von Gott gerade durch den Intellekt erleuchtet, der zwar im Menschen, gleichzeitig aber nicht von dieser Welt ist.2 (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Lichtmetapher; ratio naturalis (Intellekt); intellectus agens

Kurzinhalt: Wir haben früher im Sinne dieses Verhältnisses zwischen intellectus agens und sinnlicher Materie der Erkenntnis auch die Beziehung der ratio naturalis zu den inclinationes naturales gedeutet ...

Textausschnitt: 213a Das natürliche Licht des Intellektes erweist sich damit für Thomas als eine "Kraft" der Wahrheitserfassung. Der menschliche Intellekt besitzt auf partizipierte Weise die Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit seines Ursprunges. (Fs)

213b Am deutlichsten kommt dies, erwartungsgemäß, im Kommentar zum Johannesevangelium, hier in einer christologischen Perspektive, zum Ausdruck. Dabei wird, für uns interessant, mit der Partizipation des lumen intellectuale auch das Thema der personalen Autonomie verbunden.1 Das Verbum Divinum - es ist vita perfecta - das, wie im Prolog zum Johannesevangelium gesagt, in Christus zu den Menschen gekommen ist, wird hier als lux hominum bezeichnet. Das Verbum kann Licht im Sinne des Objektes sein; insofern vermag es nur von den Menschen, und zwar aufgrund des Lichtes der Gnade, erkannt zu werden; denn allein der Mensch besitzt die Fähigkeit zur visio divina. Das Verbum kann aber auch partizipiertes Licht der Menschen genannt werden: Thomas - das ist für die Theologie von Bedeutung - unterscheidet dabei auch im christologischen Kontext strikte eine natürliche und eine übernatürliche Partizipation am Verbum divinum.2 Natürlicherweise wird der Mensch dieses Lichtes durch das Licht des Intellektes, das im Menschen selbst, im höheren Teil unserer Seele ist, teilhaft. Es folgt das obligate Zitat aus Psalm 4, wobei nun das Licht des göttlichen Antlitzes der "Sohn" ist, die vollkommene imago Gottes.3 (Fs)

[...]

214a Der Intellekt oder die ratio naturalis besitzt deshalb jene Eigenschaften untrüglicher Unfehlbarkeit und Wahrheitsbezogenheit, die jedem Intellekt aufgrund seiner partizipativen Natur zukommt. Dieses Licht bestrahlt immer alle6; ohne es ist nur Finsternis. Daß einige in der Finsternis bleiben - in der Unwissenheit oder im Irrtum - ist nicht auf die Unvollkommenheit des Lichtes7, sondern auf einen amor inordinatus im Menschen zurückzuführen.8 Wenn auch einige mentes finster sind, so gibt es keinen, der nicht in irgend einer Weise am göttlichen Licht teilhat. Denn was auch immer man an Wahrheit erkennt, alles erfolgt aufgrund der Partizipation an diesem Licht.9 (Fs) (notabene)

214b Wenn auch Thomas daran festhält, daß alle Erkenntnis bei den Sinnen anhebt, ja daß überhaupt nichts erkannt werden könne, ohne daß es zuvor über die sinnliche Perzeption dem Intellekt vergegenständlicht worden wäre, und daß auch bei jedem Erkenntnisakt eine "conversio ad phantasmata" stattfinde, so reduziert jedoch Thomas nie und in keiner Weise in empiristischer oder sensualistischer Weise, die Leistung des Intellektes auf eine rein rationale "Verarbeitung" von Sinnesdaten; die spezifische Eigenleistung des Sichtbarmachens intelligibler Wahrheit durch das Licht des intellectus agens, "durch welches wir auf feststehende Weise die Wahrheit in den veränderlichen Dingen erkennen"10, wird dabei in keiner Weise geschmälert. Wenn man deshalb sagt, die intellektive Erkenntnis werde durch die sinnliche Perzeption verursacht, so heißt dies nicht, letztere sei etwa eine vollständige oder vollkommene Ursache, sondern eher die Materie der Ursache11; die Ursache in formeller Hinsicht ist jedoch vielmehr der Intellekt12; und das heißt: er verhält sich zur sinnlichen Erfahrung nicht nur wie ein "Empfänger"; aber auch nicht wie einer, der etwas "hinzu gibt", und schon gar nicht "schöpferisch", sondern eben wie das Licht, das sichtbar macht, was - in verborgener Weise und der sinnlichen Perzeption selbst nicht gegenständlichh - bereits "vorhanden" ist. Wir haben früher im Sinne dieses Verhältnisses zwischen intellectus agens und sinnlicher Materie der Erkenntnis auch die Beziehung der ratio naturalis zu den inclinationes naturales gedeutet, was sich nun erneut als sinnvoll erweist; es ist auch daran zu erinnern, daß dabei der Begriff der "Materie" - die materia circa quam als das obiectum, aber hinsichtlich seiner Materialität - analog zur materia der Kausalität des intellectus agens zu verstehen ist; hatte doch Thomas die Beziehung zwischen formeller und materieller Bestimmtheit des Objektes gerade mit der Metapher der Beziehung zwischen Farbe und Körper erläutert: die Farbe ist die "ratio visibilitatis" des Körpers; zugleich aber nicht etwas vom Körper Verschiedenes, sondern der ganze Körper "in tantum visibile est".13 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: ratio naturalis - intellectus imperfectus ist -> zweifacher Erkenntnismodus: einen strikt natürlichen (bezogen auf das naturaliter cognitum) und einen diskursiv-inventiven

Kurzinhalt: Der doppelte Erkenntnismodus der natürlichen Vernunft; ... der zweite [diskursiv] ist eine Entfaltung des lumen naturale selbst... entsprechend erklärt sich nach Thomas auch die Entfaltung der lex naturalis:

Textausschnitt: 215a Es bleibt nun allerdings die gewichtige, wenn nicht entscheidende Frage, welche Erkenntnisse dieses Lichtes der natürlichen Vernunft - der Intellekt - dem Menschen zu erschließen vermag. Handelt es sich dabei wirklich nur um die allerersten Prinzipien, wie die autonomistische Thomasexegese behauptet? Und heißt das dann auch, daß das Naturgesetz wirklich nur ein rein formaler Imperativ ist, das Gute zu tun, und zwar aufgrund vernünftiger Einsicht, eine Vernünftigkeit, die allerdings mit dem "naturaliter cognitum" keinen inhaltlichen Zusammenhang besitzt, sondern der "Freiheit des vernünftigen 'Erfindens'"1 überlassen bleibt?

215b Daß Thomas das nicht gemeint hat, wird sofort deutlich, wenn man den Zweiten Teil der Secunda Pars liest, die spezielle Moral oder Tugendlehre. Böckle behauptet zwar - im Zusammenhang mit der Behandlung der Lüge -, daß Thomas hier offenbar neothomistisch-essentialistisch argumentiert, seinen eigenen Ansatz also offenbar selbst nicht verstanden oder ihn nicht durchgehalten hat; es lasse sich aber "aus der Gesamtlehre des Aquinaten" doch zeigen, "daß der Rückgriff auf die Natur im Rahmen der Vernunftordnung verstanden werden muß".2 Diese Schwierigkeiten und scheinbaren Fehlargumentationen von Thomas beruhen aber vermutlich doch eher auf Fehlinterpretationen der Thomasexegeten, als auf Schwierigkeiten des hl. Thomas, seinen eigenen Ansatz durchzuhalten. (Fs) (notabene)

216a Die Frage, was denn nun eigentlich das Naturgesetz beinhalte oder: welche inhaltliche Extension dem dictamen der ratio naturalis zukomme, hat die Interpreten wiederholt intensiv beschäftigt.3 In der Tat scheinen die Äußerungen von Thomas darüber, was denn nun eigentlich zum Naturgesetz gehöre, nicht immer alle wünschenswerte Klarheit zu besitzen. Die Schwierigkeiten beruhen darauf, daß Thomas, wie so oft, gerade im Gesetzestraktat, einiges voraussetzt, was innerhalb dieses Traktates nicht mehr besonders expliziert wird: Es handelt sich dabei um die Lehre der Entfaltung der intellektiven Erkenntnis durch den Prozeß der inquisitio oder inventio der ratio naturalis. Übergeht man die diesbezügliche Lehre Thomas', so übersieht man auch die wichtige Tatsache, daß die ratio naturalis - weil sie ein intellectus imperfectus ist -, einen zweifachen Erkenntnismodus besitzt: einen strikt natürlichen (bezogen auf das naturaliter cognitum) und einen diskursiv-inventiven. Wenn Thomas deshalb oft von einem invenire spricht, so meint er damit nicht ein "Erfinden" schöpferischer Art, sondern ein durch das Licht der natürlichen Vernunft ermöglichtes "Finden", ein "Entdecken" oder Erfassen von Wahrheit; und dies sowohl in der spekulativen wie auch in der praktischen Vernunft.4 Die Berücksichtigung der via inventionis als diskursiver Prozeß der ratio naturalis ist entscheidend für das Verständnis der Extension des Naturgesetzes; denn, wie gezeigt werden soll, unterscheidet dort Thomas einen doppelten Akt der ratio naturalis: einen natürlichen und einen diskursiv-inventiven. Der zweite ist eine Entfaltung des lumen naturale selbst. Und entsprechend erklärt sich nach Thomas auch die Entfaltung der lex naturalis: Diese ist zunächst - und darin liegt ihre ganze Kraft als natürliches Gesetz der praktischen Vernunft - eine naturalis conceptio oder ein naturaliter cognitum, entfaltet sich jedoch diskursiv-inventiv in den sogenannten sekundären Präzepten. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Einheit: intellectus - ratio; inventio mit iudicium als Abschluss; apprehensio der Konklusionen in den Prinzipien; Engel

Kurzinhalt: Der rationale Diskurs ist terminativ ... ebenfalls ein Akt des intellectus. Die rationale inventio kommt nur durch und im intellectus zu einem abschließenden Urteil ...

Textausschnitt: 217a Der inventive Akt der ratio naturalis erklärt sich, wie gesagt, als Entfaltung der Wahrheitserfassung eines intellectus imperfectus, wie er dem Menschen eigen ist. Wenn wir sagten, der menschliche Akt als partizipiertes lumen naturale sei eine Fähigkeit der Wahrheitserfassung, so muß nun gezeigt werden, daß, nach Thomas, zu dieser Fähigkeit ebenfalls ein diskursiver Akt dieses Intellektes gehört. Dazu genügt es, die wichtigsten der diesen Zusammenhang erörternden Texte darzulegen. (Fs)

217b Thomas begreift den rationalen Diskurs generell als einen Prozeß, der eine Explikation dessen ist, was im naturaliter cognitum der Prinzipien bereits implizit enthalten ist, aber aufgrund der Schwäche des menschlichen Intellektes nicht auf spontan-natürliche Weise erkannt werden kann, sondern nur vermittels einer diskursiven inventio des Intellektes. Dieser diskurse Akt ist ebenfalls ein Akt des Intellektes, also derselben Potenz1, die -beim Menschen - durch den diskursiven Prozeß erst zur Entfaltung oder Aktualisierung ihrer ganzen Potentialität gelangt. (Fs) (notabene)

217c Der rationale Diskurs geht dabei jeweils von simpliciter intellecta aus; es sind die ersten Prinzipien: Auf ihnen beruht der Weg der inquisitio oder - ein Synonym - der inventio. Der Diskurs endet mit einer resolutio oder reditio zu den ersten Prinzipien, in denen das Gefundene durch ein iudicium geprüft wird.2 (Fs)
217d Entscheidend ist hier: Der rationale Diskurs ist terminativ, d. h. in via iudicii, ebenfalls ein Akt des intellectus. Die rationale inventio kommt nur durch und im intellectus zu einem abschließenden Urteil, das wiederum eine intellektive Wahrheitserkenntnis ist; die inventio selbst ist ein Durchgangsstadium der Erkenntnis; sie ist nicht die Erkenntnis selbst: Denn diese ist immer ein Akt der apprehensio des Intellektes, ein intellectus, im Wortsinne eines Aktes und nicht einer Potenz. (Fs)

217d Entscheidend ist hier: Der rationale Diskurs ist terminativ, d. h. in via iudicii, ebenfalls ein Akt des intellectus. Die rationale inventio kommt nur durch und im intellectus zu einem abschließenden Urteil, das wiederum eine intellektive Wahrheitserkenntnis ist; die inventio selbst ist ein Durchgangsstadium der Erkenntnis; sie ist nicht die Erkenntnis selbst: Denn diese ist immer ein Akt der apprehensio des Intellektes, ein intellectus, im Wortsinne eines Aktes und nicht einer Potenz. (Fs)

218a Thomas betont in diesem Zusammenhang, daß die Konklusionen im Grunde genommen bereits in den Prinzipien potentiell enthalten sind, durch den rationalen Prozeß also lediglich expliziert werden. Der rationale Diskurs zeichnet sich zwar dadurch aus, daß von einem Bekannten zu einem Unbekannten fortgeschritten wird; und das ist deshalb so, weil wir das noch Unbekannte nicht in den Prinzipien selbst zu erfassen vermögen, sondern wir es durch die Explikation des Diskurses aus den Prinzipien erkennen müssen.1 Nun ist aber, wie eben noch gesagt werden wird, der rationale Diskurs selbst nicht die Erkenntnis, sondern Bewegung auf Erkenntnis hin. Die Erkenntnis, in die der Diskurs mündet, ist selbst nicht mehr inventio, sondern ein iudicium des Intellektes, das heißt sie kommt genau dann zustande, wenn die Konklusionen in den Prinzipien erfaßt werden; dann endet der Diskurs in einer abschließenden intellektiven "apprehensio" der Wahrheit, die nun wiederum ein, allerdings verfeinerter und expliziter, intellectus ist.2 Das heißt: Auch beim Menschen ist jede Erkenntnis intellektive "apprehensio" der Konklusionen in den Prinzipien; aber damit es dazu kommt, genügt nicht der natürliche Akt der Prinzipienerfassung; es bedarf der Vermittlung durch die diskursive Bewegung des Intellektes, des ratiocinari. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: simplex intelligentia veritatis; Intellekt - ratio; intelligere - ratiocinari;

Kurzinhalt: Explikation) des "intellectus" durch die "ratio"; das intelligere im strengen Sinn [als] die apprehensio naturalis der ersten Prinzipien; das Verhältnis zwischen intelligere und ratiocinari ist deshalb dasjenige zwischen Ruhen und Bewegung

Textausschnitt: 218c Die menschliche rationalitas ist somit also tatsächlich ein Derivat der göttlichen Weisheit1, und zwar ad imaginem Dei. Und zwar deshalb, weil sie ihren Erfüllungspunkt oder Terminus in der "simplex intelligentia veritatis" besitzt, von der sie ausgeht, um kreisförmig zu ihr, vertieft und expliziter zurückzukehren.2 Durch seine Rationalität kompensiert somit der menschliche Intellekt, was ihm als Intellekt an sich naturgemäß zusteht, was er aber ebenfalls naturgemäß - als Intellekt einer menschlichen Seele, die substantielle Form eines Körpers ist - nur vermittels einer diskursiven Bewegung zu erreichen vermag, die übrigens, was hier nur erwähnt sei, der ständigen "Gefährdung" durch täuschende Einflüsse aus dem Bereich der sinnlichen Perzeption (Imagination, Täuschungen des Gemeinsinnes etc.) ausgesetzt ist; im praktischen Bereich: der Gefährdung einer "interceptio" oder "ligatio" der Vernunft durch die ungeordneten Leidenschaften.3 (Fs) (notabene)

219a So wird auch verständlich, daß mit diesem potentiellen Enthaltensein nicht einfach die bloße Tatsache gemeint ist, aufgrund der Prinzipien könne neue Wahrheit rational erschlossen werden; denn die Prinzipien, als Gegenstand des intellectus, sind bereits Erfassung der ganzen Wahrheit. Das ist gerade, was einen "intellectus imperfectus", von einem "intellectus perfectus" unterscheidet: Dieser würde quasi intuitiv, d. h. ohne Diskurs, sämtliche möglichen "conclusiones" in den, auf natürliche Weise erkannten, Prinzipien erfassen.4 (Fs)

219b Deshalb nennt Thomas das intelligere im strengen Sinn die apprehensio naturalis der ersten Prinzipien; aufgrund der Schwäche des lumen naturale im Menschen hat dieser natürliche Erkenntnisakt nicht die Kraft, die nötig wäre, um durch dieses intelligere der Prinzipien auch zugleich die conclusiones zu erfassen.5 Mit dieser Auffassung vom menschlichen Intellekt zeigt Thomas, daß er den rationalen Diskurs keinesfalls als eine schöpferische Tätigkeit begreift, sondern eben als inventio oder, wie es an anderer Stelle heißt: explicatio dessen, was implizit in den Prinzipien bereits enthalten ist.6 (Fs)

220a Das Verhältnis zwischen intelligere und ratiocinari ist deshalb dasjenige zwischen Ruhen und Bewegung; die Bewegung ist der Akt einer Potenz insofern sie Potenz ist. Der rationale Diskurs ist also eine bestimmte, prozeßhafte Form der Aktualisierung des intelligere selbst und endet deshalb wiederum, durch das iudicium, in einem intellectus. Thomas betont nun jedoch, daß die scientia conclusionum in der intellektiven Potenz nicht passiv bestehe; letztere ist also nicht einfach ein Empfangen, sondern aktive Erschließung: denn sonst könnte der Mensch gar nicht durch sich selbst, d. h. durch "inventio", zum Wissen gelangen.1 Oder noch genauer: Die natürliche Erkenntnis der Prinzipien verhält sich zu den conclusiones nicht nur in potentia accidentali, sondern auch in potentia essentiali2: es besteht zwischen ihnen ein innerlich-"sachlicher" Zusammenhang, eben derjenige zwischen implicatum und explicatum. (Fs)

220b Deshalb bedarf der menschliche Intellekt des "Motors" des rationalen Diskurses, einer inventio. Prinzipien und Konklusionen verhalten sich dabei, und das ist entscheidend, wie Ursache und Wirkung.3 Die Kausalität des "intellectus imperfectus" entfaltet sich dabei jedoch nicht nur durch den natürlichen Akt des intelligere selbst, sondern sie bedarf des Motors des ratiocinari, das einen diskursiven Prozeß darstellt, der aus den Prinzipien per inventionem fortschreitet, um schließlich durch das abschließende iudicium die Konklusionen in einem Akt verfeinerter und expliziterer apprehensio intellectualis, wie sie ohne Diskurs nicht möglich war, die Konklusionen in den Prinzipien zu erfassen.4 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: naturaliter cognitum - cognitum per inventionem; doctrina; Lehrer- inventio; Maieutik;

Kurzinhalt: Der rationale Diskurs ist ein Akt der "ratio naturalis", in dem die ganze Potentialität des "lumen intelligibile" zur Entfaltung gelangt, explizit wird, und zwar dadurch, daß die ersten Prinzipien auf bestimmte, ...

Textausschnitt: 4.2.3 Die "inventio", - ein Akt der "ratio naturalis"

221a In diesem eben erläuterten Prozeß existiert nun also ein naturaliter cognitum (durch eine intelligere), sowie ein im abschließenden iudicium erfaßtes cognitum per inventionem, durch den rationalen Diskurs.1 Eine andere Möglichkeit, diese Bewegung der Kausalität im Menschen hervorzurufen, ist die doctrina, das heißt: das Lehren: Thomas stellt dem naturaliter cognitum jeweils ein Erkennen durch inventio vel doctrina gegenüber, gerade auch im Zusammenhang mit den Präzepten des Naturgesetzes.2 (Fs) (notabene)

221b Nun gibt es bei Thomas keine systematische Abhandlung über die inventio, wohl aber über die doctrina: nämlich den ersten Artikel der Quaestio 117 der Prima Pars ("Utrum unus homo possit alium docere") sowie die bereits angeführte Queastio 11 von De Veritate ("De Magistro")3; hier ist das Wesentliche über die inventio gesagt, vor allem auch, daß es sich bei ihr zwar nicht um eine cognitio naturalis handelt, wohl aber um einen Akt oder Prozeß der ratio naturalis. (Fs)

221c Da Thomas die Lehr- (bzw. Lern-)tätigkeit nicht als reine Vermittlung von Wissensbeständen an ein passiv aufnehmendes Subjekt, aber auch nicht als reine Maieutik, im platonischen Sinn als Bewußtmachung eines immer schon latent Gewußten, begreift, sondern als die Aktualisierung eines zur "scientia conclusionum" in aktiver Potenz stehenden Intellektes, so daß auch im Lernprozeß die Kausalität der ersten Prinzipien bezüglich der Konklusionen und ihr implizites Enthaltensein in den Prinzipien gewahrt bleibt, so kann der Prozeß des Lehrens und Lernens, der ebenfalls inventiv ist, aber durch die motio eines äußeren Bewegers, des Lehrers, veranlaßt wird, am besten auf dem Hintergrund des Begriffes der inventio selbst erklärt werden.1 (Fs)

[...]

222b Nachdem Thomas gezeigt hat, daß diese Potentialität des Intellektes nicht eine rein passive, sondern eine aktive ist, bemerkt er anhand einer hier sehr aufschlußreichen Metapher, daß man auf zwei Arten zu Wissen kommen könne: Denn so wie einer entweder ausschließlich durch die operatio naturae selbst oder aber, auf andere Weise, zwar durch die Natur, aber mit äußerer Beihilfe einer Arznei, geheilt werden könne, so gebe es auch einen doppelten Modus des Wissenserwerbes: die inventio propria - in der Metapher die operatio naturae tantum - und die disciplina. Thomas behauptet also, die inventio sei, trotz ihrer Unterschiedenheit vom naturaliter cognitum der Prinzipien, ein natürlicher Prozeß. Und tatsächlich nennt hier Thomas den inventiven Modus des Wissenserwerbes auch einem Akt der ratio naturalis: "ita etiam est duplex modus acquirendi scientiam: unus, quando naturalis ratio per seipsam devenit in cognitionem ignotorum; et hic modus dicitur inventio; alius, quando rationi naturali aliquis exterius adminiculatur, et hic modus dicitur disciplina". (Fs)

223a Also nicht nur die "inventio propria", sondern auch das "Lernen" - immer im Bereich der "scientia", d. h. der notwendigen und auch universalen Konklusionen - ist ein Prozeß der ratio naturalis. Thomas sagt es ohne Unterbruch: Der rationale Diskurs ist ein Akt der "ratio naturalis", in dem die ganze Potentialität des "lumen intelligibile" zur Entfaltung gelangt, explizit wird, und zwar dadurch, daß die ersten Prinzipien auf bestimmte, partikularere Materien appliziert werden.1 Die ganze erkenntnistheoretische Substruktur von I-II, q.94, a.2 wird hier nun transparent. (Fs)

223b So erklärt sich dann auch das Phänomen jeder An der Vermittlung von Wissen, die zu wahrhaftem, auf Einsicht und "Verstehen" ("intellectus") gründendem Wissensbesitz, also zum Habitus der "scientia" führen kann: durch die, im Lehren, explikative Nachvollziehung (durch Worte, Bilder oder andere signa) dieses Diskurses der natürlichen Vernunft.2 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: bonum est quod omnia appetunt; Rückbezug der Sittlichkeit auf die Tatsache des Strebens; Vernunft: telos, regula; pondus animae

Kurzinhalt: Der Begriff der Sittlichkeit ... ist also konstitutiv zurückbezogen auf den in der elementaren praktischen Erfahrung des Strebens aufscheinenden Begriff des Guten...

Textausschnitt: 248a Wir ersehen, daß der Begriff der "Sittlichkeit" zurückbezogen werden muß auf den fundamentaleren Begriff des "bonum hominis in quantum est homo": Er ergibt sich aus der Frage, worin das Gute für den Menschen bestehe, das Gute, das ja das ist, wonach alles strebt, wobei wir die sich selbst genügende Erfüllung dieses Strebens "Glück" nennen. Daß wir alle in unserem Tun und Wollen auf ein "Gutes" streben und die auf dieser Grundlage reflex formulierbare "ratio boni" ("bonum est quod omnia appetunt") ist ja gerade jene Tatsache, bei der die praktische Erfahrung anhebt und die Ethik ihren Ausgangspunkt besitzt. Und da das Gute immer ein gut-Scheinendes ist - alles was man erstrebt, erstrebt man unter dem Gesichtspunkt des Guten - so gilt es nun auszumachen, worin sich das nur gut Erscheinende vom wahrhaften Gut des Menschen unterscheidet; oder: unter welchen Bedingungen das in Wahrheit Gute auch als Gutes erscheint, oder umgekehrt: das als gut Erscheinende auch wahrhaft gut ist. (Fs) (notabene)

248b Der Begriff der Sittlichkeit, und dann auch der sittlichen Norm, ist also konstitutiv zurückbezogen auf den in der elementaren praktischen Erfahrung des Strebens aufscheinenden Begriff des Guten. Und zwar noch konkreter: auf den Begriff des "bonum hominis inquantum est homo", auf den Begriff des spezifisch menschlichen Guten und für den Menschen Guten. Weiter zurückfragen können wir nicht: denn es ist unmöglich für die Begründung einer Wissenschaft hinter die elementaren Erfahrungsbestände zurückzugehen oder diese begründen zu wollen. Ausgangspunkt auch der Ethik als Analyse des "in Wahrheit guten Strebens" (Sittlichkeit) ist die Tatsache, daß wir alle nach dem Guten, und näherhin dem wahrhaft Guten, dem Glück streben.1 Wer dies bestreitet, versucht, gegen Evidenzen anzudenken. (Fs)

249a Die Vernunft ist also sowohl Telos als auch regula; d. h.: sie ist Regel, Norm, gerade und nur aufgrund der Tatsache, daß sie Telos ist. Das Ziel liefert den Maßstab, ist der Maßstab, und dieser vermittelt sich durch die Entfaltung der praktischen Vernunft dem menschlichen Handeln sowohl in seiner operativ-äußeren, wie auch in seiner inneren Form als Akte der Affekte (Sinnlichkeit) und des Willens. (Fs)

249b Mit dem Aufweis des Telos-Charakters der Vernunft wird nicht eine Ethik begründet, die einziges Ziel oder sittlichen Inhalt des menschlichen Lebens in der Erkenntnis von Wahrheit erblickte. Der anthropologische und ethische Gehalt dieser Lehre ist viel tiefer und umfassender. Denn der Mensch ist ja fundamental ein strebendes Wesen: Er besitzt in seinem Willen eine naturhafte Hinneigung auf ein dieses Streben erfüllendes und sättigendes Gut. Zudem ist er in seiner Leiblichkeit von Neigungen erfüllt, die ihrerseits ihre Erfüllung suchen und als "Leidenschaften" die Seele affizieren. Der Mensch ist damit fundamental ein Wesen, das einen "pondus animae" auf das Gute hin in allen seinen möglichen Spielarten besitzt; er besitzt in seinen intellektiven und sinnlichen Neigungen einen "amor naturalis", der jedem Geschöpf in seiner Art zukommt. Der Mensch ist nun aber im strengsten Sinne ein Wesen, das auf Lieben hin angelegt ist. Nur handelt es sich dabei um eine Form von Liebe, die ad imaginem Dei geschaffen ist; sie ist geistiger Natur und geprägt von jenen Anforderungen der Partizipation am göttlichen Intellekt, durch die die imago konstituiert wird. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: malitia, theologisch - philosophisch; Erbsünde, Wille; personale Autonomie des Menschen - Intellekt

Kurzinhalt: ... Fehlen einer habituellen Hinordnung des Willens auf das Gut des Nächsten und das Gut Gottes, wodurch der Mensch eine natürliche Bereitschaft und Leichtigkeit zur Bevorzugung des eigenen Gutes besitzt

Textausschnitt: 250e Einerseits und vor allem ist es der Wille, der den natürlichen Erkenntnisprozeß des menschlichen Intellektes an seiner Entfaltung oder praktischen Wirksamkeit hindern kann; denn der Wille besitzt auch über die Vernunft ein Imperium ("Ich erkenne, weil ich will"1), sowie über sich selbst: er kann selbst das Wollen eines durch die Vernunft erkannten Guten nicht wollen. Da der Wille von Natur aus nur auf das eigene Gut ausgerichtet ist, bedarf er zu seiner Ausrichtung auf das "bonum divinum" und das "bonum proximi" (das Gut des Nächsten) einer habituellen Vervollkommnung, der Tugend der Gerechtigkeit2; und zwar der eigentlichen Gerechtigkeit, wie sie unter Menschen, aufgrund ihrer fundamentalen Gleichheit, möglich ist, sowie einer nur uneigentlichen, wie sie die "ungleiche" Beziehung des Menschen zu Gott auszeichnet, d. h. der Tugend der religio, die Gott das an Dankbarkeit, Verehrung und Liebe entgegenbringt, was ihm als Schöpfer zusteht, aber so, wie es der Mensch aufgrund seiner inferioren Stellung als Geschöpf vermag.3 Fehlt diese habituelle Vervollkommnung des Willens, so wird der Mensch nur gegen das naturhafte Wollen und Vorziehen des eigenen Gutes den von der Vernunft erkannten Forderungen der Gerechtigkeit folgen und sich früher oder später eine habituelle Unordnung in seinem Willen aneignen: Die Bosheit - malitia - des Willens oder das Laster der Ungerechtigkeit.4 (Fs)

Fußnote:
24 Während der philosophisch-ethische Begriff der "malitia" einem Habitus des Willens, also einem Laster oder habituellen Hinneigung zum Bösen, entspricht, so meint der theologische Terminus der "malitia" als eine der vier als Folge der Erbsünde im Menschen bestehenden vulnus naturae den Zustand der auf sich selbst zurückgefallenen oder sich selbst überlassenen Natur (natura sibi relicta). Diese malitia, insofern sie als "Wunde der Natur" infolge der Erbsünde betrachtet wird, meint nicht die habituelle Bosheit des Willens aufgrund eines Lasters, sondern vielmehr gerade das, philosophisch analysierbare, ursprüngliche und natürliche Fehlen einer habituellen Hinordnung des Willens auf das Gut des Nächsten und das Gut Gottes, wodurch der Mensch eine natürliche Bereitschaft und Leichtigkeit zur Bevorzugung des eigenen Gutes besitzt; diese Bereitschaft ist, was wir die grundlegende Tendenz des Menschen zu Hochmut und schlechter Eigenliebe nennen. Sie kann aber nur theologisch als "Wunde" der Natur bezeichnet werden, das heißt, hinsichtlich des historisch ursprünglichen Zustandes einer durch außernatürliche Gaben vervollkommneten natura integra, die sich durch den als Gabe verliehenen Besitz aller Tugenden kennzeichnet. Die Hilfskonstruktion einer natura pura ist dabei überflüssig und verwirrend (vgl. auch unten, 5.1.9).

252a Somit besteht also das Kriterium für das sittlich Gute bezüglich den Akten des Willens und denjenigen der sinnlichen Antriebe, die, insofern sie menschliche Akte sind, immer einem Imperium des Willens unterliegen, darin, daß diese Akte der Vernunft entsprechen, und das heißt: Den Akt der Vernunft nicht behindern oder zerstören, ja ihn unterstützen, und dem, was die Vernunft als das von ihr erkannte Gute vorlegt, folgen.1 Das secundum rationem vivere impliziert also eine ganze Anthropologie und Erkenntnismetaphysik und kann überhaupt nur auf deren Hintergrund verstanden werden. (Fs)

252b Es handelt sich dabei näherhin um eine Anthropologie, die den Menschen in seiner unvergleichlichen Würde als intellektives Wesen ad imaginem Dei sieht, und versteht, was das in allen Konsequenzen bedeutet. Die personale Autonomie des Menschen ist gebunden, steht und fällt, mit der Freiheit, in der die Vernunft ihre Funktion als intellektives Licht auszuüben und ihre Ansprüche in allen Handlungen und Affekten des Menschen geltend zu machen vermag. Durch dieses Licht der Vernunft, eine formelle Teilhabe am Ewigen Gesetz, vermag der Mensch in allen seinen Handlungen und Strebungen, und letztlich also in allen Formen der von ihm vollzogenen Liebe, der Wahrheit seines eigenen personalen Seins zu entsprechen und sich damit selbst als Mensch und in seiner Menschlichkeit zu verwirklichen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Erbsünde: gefallene Natur, natura pura; fomes peccati; Urzustand: integritas; malum poenae - Strafübel; praeternaturale - nicht übernatürliche Gabe

Kurzinhalt: Dieser anthropologische Tatbestand, der ganz einfach zur conditio humana gehört, wird jedoch in theologischer, und d. h. heilsgeschichtlicher Perspektive als der Zustand einer gefallenen Natur betrachtet ...

Textausschnitt: 259a Dasselbe läßt sich, wie hier nur kurz aufgezeigt werden soll, bezüglich des Begriffes "fomes peccati" sagen: Für Thomas ist dieses Gesetz der Sinnlichkeit, dem die Menschheit als Strafe für die Ursünde anheimgefallen ist, eine Folge des Verlustes der ursprünglichen Vollkommenheit des Urzustandes, der, was die Naturvollkommenheit des Menschen, also unter Absehung der "gratia elevans", betrifft, gerade in der außernatürlichen Urstandsgabe der "integritas" bestand; diese Integrität war, wie Thomas erklärt, nichts anderes als der geschenkhaft verliehene Besitz der Tugend, d. h. die Unterordnung der Vernunft unter Gott (Gerechtigkeit) - diejenige des Willens unter die Vernunft nach sich ziehend - sowie die Unterordnung der sinnlichen Strebungen unter die Vernunft.1 Dieser Zustand der "natura integra" als Vollbesitz der sittlichen Tugend, ist zugleich jener Zustand, in dem die lex naturalis als Gesetz der praktischen Vernunft ihre volle Wirksamkeit und ungetrübte Gültigkeit besaß. (Fs)

259b Der Verlust dieser Integrität zerstört diese Vollkommenheit, aber nicht durch eine Zerstörung der Natur, sondern durch den Verlust der Gabe der "integritas", d.h. der die Natur vervollkommnenden Tugend, die dem Menschen ja wohl der Natur gemäß zukommt, die er aber nicht von Natur aus besitzt, sondern durch seine Akte erwirbt; gerade darin liegt ihr Charakter als "außernatürliche" ("praeternaturale"), aber nicht "übernatürliche" Gabe begründet. Durch ihren Verlust fällt die Natur auf sich selbst und die ihr als leib-seelische Natur zukommenden "defectus naturae" zurück. Der Begriff "fomes peccati" reflektiert diese "natura sibi relicta"2 in der theologisch-heilsgeschichtlichen Perspektive einer "privatio" und damit eines "malum poenae", eines Strafübels.3 Die Rebellion des Willens und insbesondere der Sinnlichkeit gegen die Vernunft ist demnach einerseits, philosophisch-anthropologisch betrachtet, ganz einfach Bestandteil der conditio humana: denn der Wille ist, wie wir sahen, nicht von Natur aus habituell auf das Gut des anderen, bzw. auf das Gut Gottes bezogen; und ebensowenig sind es die sinnlichen Strebungen bezüglich des bonum rationis; die Sinnlichkeit zielt von Natur aus auf ein bonum sensibile. Wille und sinnliche Strebungen sind aber von Natur aus dazu angelegt, der Vernunft gemäß zu streben; darin liegt ihre Vollkommenheit bzw. die sittliche Tugend.4 (Fs)

260a Dieser anthropologische Tatbestand, der ganz einfach zur conditio humana gehört, wird jedoch in theologischer, und d. h. heilsgeschichtlicher Perspektive als der Zustand einer gefallenen Natur betrachtet, und zwar nur und ausschließlich deshalb, weil es "am Anfang", aufgrund einer von Gott verliehenen, die Kräfte der bloßen Natur übersteigenden Gabe, nicht so war.5 Die platonische Philosophie hat aus der anthropologischen Erfahrung einer inneren Widersprüchlichkeit in der menschlichen Natur, des Widerstreites zwischen Leib und Geist, dualistische Konsequenzen gezogen und sie, schöpfungstheologisch, mit Hilfe des Mythos vom Demiurgen gedeutet. Beim jungen Aristoteles finden sich noch Anklänge an jenen "Spruch der Alten", der besage, "daß die Seele Buße zu zahlen habe und daß wir zur Strafe für irgendwelche großen Verfehlungen leben".6 Später wird Aristoteles, nach Aufgabe der dualistischen Anthropologie, nur noch konstatieren, daß "unserer Natur eine Art Schlechtigkeit anklebt"7; historische Erklärungen in der Art des platonischen Mythos sind hier nicht mehr möglich, wohl aber ergibt sich daraus ein gewisser Pessimismus bezüglich der sittlichen Möglichkeiten "der Vielen"; das wahre Glück scheint nur auf einige Wenige, die Elite der Philosophen und "Spoudaioi" beschränkt zu sein. Die Stoa wird das Problem durch ein kosmologisches Harmonisierungsmodell lösen, die Neuzeit durch ein geschichtsphilosophisches Evolutionsmodell, das seinerseits aus den mißglückten Versuchen einer neuzeitlichen Theodizee hervorgegangen ist, dem Versuch die Güte und Weisheit des Schöpfergottes angesichts der offenbaren Unzulänglichkeit der menschlichen Natur zu rechtfertigen. Die aristotelische Anthropologie und Ethik bleibt das einzige Paradigma einer realistischen rein philosophischen Anthropologie der "gefallenen Natur", die zugleich das Geheimnis des Ursprungs dieses Zustandes als Mysterium intakt läßt. Sie beschreibt die menschliche Natur so, wie sie ist; aber sie vermag nicht zu deuten, weshalb sie so ist; d. h.: daß sie eine "gefallene Natur" ist. Keine menschliche Wissenschaft jedoch vermöchte das je zu erklären. Der antike Mythos besaß die Weisheit der Intuition, daß nur eine historische Erklärung möglich sei. Aber dieser Mythos war nicht die wahre Geschichte. Die wahre Geschichte ist von dem, der weiß, warum und wie er den Menschen erschaffen hat, offenbart worden, um dem Menschen seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen zu stellen. (Fs) (notabene)

261a Spricht man deshalb vom Naturgesetz in dieser theologisch-heilsgeschichtlichen Perspektive, so kann man den jetzigen Zustand als seine "Zerstörung" reflektieren, d. h. als die Zerstörung seiner unter den Bedingungen der ursprünglichen Integrität, der Tugend, einstmals bestehenden Vollkommenheit, wie sie jetzt vom Menschen nur mit Mühe und Anfechtung wiedergewonnen werden kann.8 Insofern dieser Zustand der auf sich selbst zurückgeworfenen Natur als "Strafübel" betrachtet wird, kann man es auch als "Gesetz" betrachten; d. h. als ordinatio der ratio der göttlichen Vorsehung, die über die Menschheit eine Strafe verhängt.9 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: lex naturalis, Naturgesetz: Verdunkelung; Verdunkelung in ganzen Kulturen

Kurzinhalt: Allgemein läßt sich sagen, daß die lex naturalis in dem Maße im Menschen zum Tragen kommt ... in dem sich in einem Menschen die Tugenden entwickeln, d. h. das Streben der Vernunft gemäß geordnet ist

Textausschnitt: 58a Die Einordnung der Lehre vom Naturgesetz in die allgemeinere Bestimmung des sittlichen Handelns als vernunftgemäßes Handeln verschafft auch Klärung darüber, was Thomas meint, wenn er von einer "Zerstörung" des Naturgesetzes oder seiner Verdunkelung spricht. (Fs)
258b Allgemein läßt sich sagen, daß die lex naturalis in dem Maße im Menschen zum Tragen kommt, und d. h. auch ihre ganz präzeptive, handlungsleitende Kraft zur Entfaltung zu bringen vermag, in dem sich in einem Menschen die Tugenden entwickeln, d. h. das Streben der Vernunft gemäß geordnet ist. Im Falle des Tugendhaften nehmen ja die sinnlichen Strebepotenzen und der Wille an der ordinatio rationis teil, unterstützen diese und lassen die natürliche Vernunft ihre ganze praktisch-kognitive Wirksamkeit entwickeln. In umgekehrter Weise ist es das Laster, die habituelle Unordnung und Verkehrung der Strebungen also, welches die "lex naturalis" im Menschen zum Verdunkeln bringt. (Fs) (notabene)

258c Thomas behandelt diese Frage bekanntlich im Artikel 6 der Quaestio 94 von I - II: Die ersten und allgemeinsten "principia communia" können, in ihrer universalen Geltung, niemals aus dem "Herzen" des Menschen ausgelöscht werden; wohl sei es aber möglich, daß ihre Anwendung im konkreten Fall durch appetitive Einflüsse oder eine Leidenschaft gehindert werde. Was die übrigen, die aufgrund von "inventio" gefundenen sekundären Prinzipien betrifft, so können sie, d. h. ihre kognitive Präsenz, tatsächlich aus dem Herzen des Menschen ausgelöscht werden. Sei es durch falsche, aber rein intellektuelle Überzeugungen, also kognitive Fehlhaltungen, wie sie auch in der spektulativen Erkenntnis vorkommen können; oder aber durch schlechte Sitten, Gewohnheiten oder Laster.1 (Fs) (notabene)

258d Damit erweist sich, daß es sich bei der Verdunkelung oder Zerstörung der lex naturalis im Menschen um dasselbe Geschehen handelt, das sich in der habituellen Zerstörung des "ordo rationis" durch das Laster vollzieht. Beide Themenkreise behandeln denselben Gegenstand aus einem je anderen Blickwinkel; es zeigt sich einmal mehr, daß die Themen "Naturgesetz", "sittliche Tugend" und "recta ratio" bei Thomas eine sachliche Einheit bilden. (Fs)

258e Ebenfalls kann das Naturgesetz im verschiedenen kulturellen Kontext in verschiedenem Grade wirksam sein. Das gesellschaftliche Umfeld, historisch gewachsene Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können einen solchen Einfluß ausüben. Gerade wenn man verstanden hat, worin die lex naturalis besteht, wird man auch das Phänomen seiner teilweisen Verdunkelung in ganzen Kulturen verstehen können. Partielle Nichtübereinstimmung moralischer Normen in verschiedenen Kulturen ist jedenfalls kein Argument gegen die Existenz und die Einheit des Naturgesetzes; sie ist nur ein Argument für die Existenz der menschlichen Freiheit und ihre Gefährdetheit. Ebenso ist eine mögliche, und tatsächlich vorhandende, Entwicklung bzw. Dekadenz des moralischen Bewußtseins ganzer Kulturen auf diese Weise zu verstehen.2 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Erbsünde: natura pura - gefallene Natur; heilsgeschichtlich orientierte Moraltheologie - Rahner; Menschliche Natur als "Restbegriff"

Kurzinhalt: ... daß die "gefallene Natur" in sich selbst betrachtet und damit als Gegenstand der philosophisch-anthropologischen und auch ethischen Analyse nichts anderes als die menschliche Natur schlechthin ist,

Textausschnitt: 261b Die Präzisierung und der Aufweis des philosophisch-anthropologischen Äquivalentes des theologischen Begriffs einer "gefallenen Natur" scheint mir für die Integration der Lehre vom Naturgesetz in die Moraltheologie von allergrößter Wichtigkeit. Ich bin der Überzeugung, daß die Zusammenhänge in der Vergangenheit nur ungenügend reflektiert wurden und daß dies mit ein Grund für die Schwierigkeiten ist, die die heutige heilsgeschichtlich orientierte Moraltheologie mit dem Begriff "Naturgesetz" und "menschliche Natur" überhaupt hat. (Fs)

262a Viele Moraltheologen, und auch Dogmatiker, haben lange Zeit, wie mir scheint "gegen" den hl. Thomas, mit einer künstlichen Unterscheidung zwischen einer "reinen Natur" ("natura pura") und einer, bezüglich der ersteren in sich selbst weniger vollkommenen "gefallenen Natur" gearbeitet, ohne zu bemerken, daß die "gefallene Natur" in sich selbst betrachtet und damit als Gegenstand der philosophisch-anthropologischen und auch ethischen Analyse nichts anderes als die menschliche Natur schlechthin ist, und daß ihr "Gefallensein" lediglich eine heilsgeschichtliche, nicht aber eine metaphysisch-anthropologische Aussage über sie darstellt.1 Die Tragweite dieser Unterscheidung zeigt sich darin, daß mit ihrer Leugnung schon implizit gesagt ist, was viele heute auch explizit behaupten: Daß nämlich eine Analyse der menschlichen Natur überhaupt nur als theologisch-heilsgeschichtliche möglich sei. Karl Rahner hat dieser Auffassung vorgearbeitet, mit seiner, wie mir scheint, unzutreffenden Meinung, philosophische Anthropologie (d. h. die Kenntnis der menschlichen Natur) beruhe auf einer Verallgemeinerung empirischer Daten; in der Empirie finde sich aber nur der heilsgeschichtlich situierte Mensch, so daß man gar nicht ausmachen könne, was eigentlich zur menschlichen Natur unabhängig vom Einwirken der heilsgeschichtlich bedeutsamen Gnade bzw. der "Übernatur" gehöre. "Menschliche Natur" sei deshalb ein "Restbegriff" und was nun zur "Natur" des Menschen als Natur gehöre, sei gar nicht auszumachen. Deshalb wollte Rahner auch zwischen einer "reinen", von den Philosophen vergegenständlichten, aber de facto gar nicht existierenden, Natur und einem "faktischen Wesen" unterscheiden; Rahner erhebt also, in der Tradition von Baius, die heilsgeschichtliche Situation des Menschen zu einer (metaphysisch-anthropologischen) Aussage über die menschliche Natur.2 (Fs)

[...]

263b Die von Rahner eingeleitete Entwicklung führte schließlich zu einem völligen Zusammenbruch des Verständnisses des Natur-Begriffes, wie dies zum Beispiel in vielen heilsgeschichtlich orientierten moraltheologischen Ansätzen greifbar wird.1 Dies hat auch entsprechende Auswirkungen auf den Begriff der sittlichen Handlung und des ethischen Propriums: Dieses wird immer mehr mit jener "christlichen Moralität" überhaupt identifiziert, letztere geht dabei ihres Spezifikums verlustig und wird schlußendlich zu einer in theologische Begrifflichkeit gekleideten, rein menschlichen Moral. Die angebliche Christozentrik dieser Moral wird dann dazu verwandt, um überhaupt nur noch über den Menschen als Menschen zu sprechen.2[56] (Fs)


Fußnote 56:
D. h. die christologische "Kenosis" ersetzt die Wirklichkeit der in Christus realisierten "assumptio" der menschlichen Natur in die göttliche Natur; vgl. z. B. bei F. FURGER, 'Kenosis' und das Christliche einer christlichen Ethik. Eine christologische Rückfrage, in: K. DEMMER und B. SCHÜLLER (Hsg.), Christlich glauben und handeln, a. a. O. S. 96-111. Daß die Inkarnation, gemäß dem sog. athanasischen Glaubensbekenntnis, nicht eine "conversio Divinitatis in carnem", sondern eine "assumptio humanitatis in Deum" bedeutet, wird von Furger zwar nicht geleugnet, aber auch nicht berücksichtigt. Die Folge ist eine Reduktion des Christlichen auf das Menschliche. Als spezifisch christlich verbliebe nur noch das explizite Bewußtsein, daß diese reine Menschlichkeit sich in Jesus Christus geoffenbart habe. - In ihrer ganzen Radikalität offenbaren sich die Konsequenzen dieses christologisch mangelhaften Ansatzes dann in gewissen Formen von Befreiungstheologie.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Thomas; Definition: Tugend; teleologische Ethik

Kurzinhalt: Die [sittliche] Tugend ist ein elektiver Habitus, der in der von der Vernunft bestimmten Mitte in bezug auf uns besteht, so wie der Kluge sie zu bestimmen pflegt; Verkehrung von Gegründetem und Gründendem

Textausschnitt: 266b Wenn dann die sittliche Tugend spezifischer von der intellektuellen abgegrenzt wird, dann darf zwar der Bezug auf die grundlegend-allgemeine Bestimmung des "genus" als "habitus operativus bonus" nicht verloren gehen. Die Bestimmung der Tugend muß aber ergänzt werden hinsichtlich des Spezifikums der sittlichen Tugend als jenes operativen Habitus, der das menschliche Handeln oder den actus humanus vervollkommnet. Thomas gelangt dadurch, die Formulierung von Aristoteles aus der Nikomachischen Ethik übernehmend, zur vollständen, das "ethische Proprium" berücksichtigenden Definition der sittlichen Tugend: "Virtus est habitus electivus existens in medietate quoad nos determinata ratione ut utique sapiens determinabit" ("Die [sittliche] Tugend ist ein elektiver Habitus, der in der von der Vernunft bestimmten Mitte in bezug auf uns besteht, so wie der Kluge sie zu bestimmen pflegt").1 Von I-II, q.58 an, wo die Behandlung der sittlichen Tugend beginnt, zeigt Thomas, daß das "recte operari" ein "recte eligere" bedeutet; das Verständnis der sittlichen Tugend als habitus electivus (habitus des richtigen "Wählens" und damit des richtigen Handelns) wird dabei bestimmend. (Fs)

267a Die sittliche Tugend verursacht also die "rectitudo" der electio, jenes wählenden Willensaktes, der unmittelbar handlungsauslösend und als solcher nicht den Gehalt einer Gesinnung, sondern den Gehalt einer Handlung formt.1 Diese "electio" ist gemäß einer von der Vernunft bestimmten Mitte "in bezug auf den Handelnden" geprägt; diese Mitte ist jene, wie sie der Klugheit entspricht; sie ist die recta ratio. (Fs)

267b Es würde hier viel zu weit führen, alle Implikationen dieser überaus reichen Definition darzulegen. Im vorliegenden Zusammenhang ist nur folgendes von Bedeutung: Der Begriff der sittlichen Tugend bezieht sich bereits schon auf eine wohlausgearbeitete Psychologie des menschlichen Handelns; auf seine elektive Struktur, was heißt: auf die Tatsache, daß das Handeln in einem wählenden Streben liegt, das von einer durch die Vernunft bestimmten Richtigkeit geprägt ist und schließlich, daß wir sittlich "gut" oder "schlecht" sind, entsprechend den Handlungen, die wir, aufgrund der Disposition unserer Strebepotenzen, im Akt des Wählens wollen. Das entscheidend Neue am Begriff der Tugend als sittlicher Tugend, im Unterschied zur "reinen" "recta ratio", ist die vernunftkonforme Disposition der Strebungen, eine Disposition die habituell ist genau deshalb, weil sie eine den Strebungen eingeprägte stabile Disposition bedeutet, vernunftgemäß, d. h. gemäß der Regel der Vernunft zu streben. Das heißt: die "ratio virtutis", was die sittliche Tugend zur Tugend macht, ist nicht nur die "Habitualität", wie etwa Schüller unterstellt; diese ist jeder Tugend eigen, auch der intellektuellen; und auch nicht die "freie Entschlossenheit", denn diese prägt überhaupt jedes sittliche Handeln als actus humanus. Spezifisch für die sittliche Tugend ist vielmehr die Übereinstimmung des Strebens mit der Vernunft.2 Der Begriff der sittlichen Tugend bezieht sich also wesentlich und konstitutiv auf die Lehre von der maßstäblichen Telos-Funktion der Vernunft, und nicht einfach auf die "habituelle freie Entschlossenheit" zur richtigen Handlungsweise. Der Begriff der "richtigen Handlungsweise" als Handlung, die einer Tugend zugehört, impliziert, weil an den Begriff der Tugend zurückgebunden, bereits die normative Grundlage dieser Richtigkeit der richtigen Handlungsweise: Die Vernunftgemäßheit, so wie sie im Begriff der sittlichen Tugend bestimmt wurde.3 (Fs) (notabene)

267c Nur durch die Unterstellung einer für das Verständnis des Phänomens "Sittlichkeit" analytisch ungenügenden und deshalb praktisch inhaltslosen Definition der sittlichen Tugend, gelingt es also Schüller, seine Behauptung plausibel zu machen, zur Bestimmung der tugendhaften Handlung genüge es, "Handlungsweisen" auf ihre Richtigkeit oder Falschheit hin zu analysieren. Durch die Verkehrung von Gegründetem und Gründendem verliert er dabei, wie alle teleologischen Ethiker, das normative Fundament des menschlichen Handelns, so wie es im Begriff der sittlichen Tugend als Tugend erfaßt ist, aus den Augen. Was zurückbleibt ist eine Abstraktion, die irrtümlicherweise als Ausgangspunkt der diskursiven Begründung von Normen angesehen wird. Die Normativität muß aufgrund dieses "Kadavers" der sittlichen Handlung, aufgeteilt in "Güter" und "Werte", rekonstruiert werden. Das Instrument dieser Rekonstruktion ist die Vernunft als diskursive Vernünftigkeit: eine Technik der Normenbegründung, die man Güterabwägung nennt. Die Vernunft als Maßstab geht dabei jedoch verloren. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Tugend; Telos-Charakter; der Tugendhafte, spoudaios

Kurzinhalt: Der Tugendhafte ... dem also dieses Gute jeweils "attraktiv", angenehm, lustvoll erscheint und es deshalb mit Leichtigkeit und Freude vollbringt ... der "sich selbst Gesetz ist

Textausschnitt: 268b Der Begriff der sittlichen Handlung (bzw. der "richtigen Handlungsweise") wird also gerade durch die Analyse des Begriffes der sittlichen Tugend überhaupt erst durchsichtig. Es geht bei einer sittlichen Handlung immer darum, die an der Vernunft als Telos gemessene Ordnung der Seele zu wahren bzw. zu schaffen. Eine sittliche Handlung ist also eine solche, durch die die menschlichen Strebungen und äußeren Handlungen, insofern sie diesen Strebungen entspringen, auf das "Gut" der Vernunft ausgerichtet werden, jenes Gut also, das ja im Prozeß der natürlichen Vernunft auf praktische, d. h. präzeptive Weise erkannt wird. Zugleich ist die sittliche Tugend selbst wiederum Bedingung dafür, daß dieses sittliche Gute - das "bonum rationis" - wirklich auch im konkreten Streben und Handeln zum Tragen kommt. Deshalb gerade besteht die sittliche Vollkommenheit - die Vollkommenheit der personalen Autonomie - in der Tugend, durch die die natürliche Vernunft in ihrer gesetzgeberischen Aufgabe voll zum Durchbruch gelangt und die Strebepotenzen des Menschen, Wille und Sinnlichkeit, das "Siegel der Vernunft" in sich tragen, sodaß sie habituell nach dem Guten streben, das der Vernunft, der imago Dei im Menschen, entspricht. Der Tugendhafte ist eben derjenige, der sein Wollen [sic; eg: mit seinem Wollen] und auch mit seinen sinnlichen Strebungen das vernunftgemäß-Gute erstrebt; dem also dieses Gute jeweils "attraktiv", angenehm, lustvoll erscheint und es deshalb mit Leichtigkeit und Freude vollbringt. Der Tugendhafte ist auch derjenige, dem das wahrhaft Gute, das Vernunftgemäße, jeweils auch als das Gute erscheint, und der deshalb auf quasi spontane Weise gut handelt, ohne große Überlegung und vor allem ohne dabei gegen sich selbst ankämpfen zu müssen. Er ist der Kluge oder der spoudaios, von dem Aristoteles spricht und den er als Maß und Regel des sittlich Guten bezeichnet1; der Tugendhafte ist schließlich derjenige, den Thomas mit Paulus jenen nennt, der "sich selbst Gesetz ist2". (Fs)

269a Dies klingt zunächst reichlich abstrakt und wenig "lebensnah". Man braucht jedoch nur die "Secunda Secundae", die spezielle Moral also, zu Hand zu nehmen, um die Lebensnähe und zugleich die große Tragweite und Tiefe dieser Bestimmung der sittlichen Handlung zu erfassen. Entscheidend dafür ist aber immer, daß man sich der Natur, Bedeutung und des Ursprungs der menschlichen Vernunft als imago Dei und natürliches Licht, sowie ihrer darauf beruhenden Telos-Funktion und Maßstäblichkeit bewußt bleibt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Gerechtigkeit, Tugend - imago; Lüge, Abtreibung: Verkehrung des Willens; goldene Regel

Kurzinhalt: Denn insofern dieser die Ordnung der Vernunft in seinem Streben und Handeln verläßt, zerstört er die Grundlage der zwischenmenschlichen Ordnung und aller Gerechtigkeit, ...

Textausschnitt: 270a Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Thomas gewisse Argumentationen im Bereich der Gerechtigkeit vorträgt, beruht auf seiner tiefen Einsicht in die Struktur der imago im Menschen und der Tatsache, daß wir sie im "Du" genau gleich achten und lieben müssen, wie in uns selbst. Dieses Verhältnis der aequalitas, der Gleichheit, in den Strebungen des Willens, den äußeren Handlungen, gerade auch insofern sie auf äußere Güter bezogen sind, von Mensch zu Mensch herzustellen oder zu wahren, ist die eigentliche "ratio iustitiae". Sie wird, als erstes Prinzip des Naturgesetzes, durch die Erfahrung des anderen als, insofern er Mensch ist, mir Gleicher, schlagartig, intuitiv einsichtig, weil ich in ihm, aufgrund von vitaler, vor allem sprachlicher Kommunikation, dieselbe imago entdecke.1 (Fs)

270b Nur die Vernunft vermag die "proportio unius ad alterum", in der die Gerechtigkeit besteht, zu erfassen: "Ratio ordinat in alterum", sodaß die Gerechtigkeit in der Konformität des Willens mit dieser "ordinatio rationis" besteht.2 (Fs) (notabene)

270c Ungerechtes Handeln ist deshalb, gerade weil sich dadurch der Wille des Ungerechten von der Vernunft entfernt und also schlecht wird, der Grund für die Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft und Kommunikation. Das sittliche Übel der Tötung Unschuldiger, wie z. B. bei der Abtreibung, oder der Lüge, liegt, insofern die ungerechte Handlung betrachtet wird, nicht primär im Tod des Unschuldigen oder der "Falschaussage" als solcher. Sondern in der Ungerechtigkeit oder der Verkehrung des Willens dessen, der so handelt. Denn insofern dieser die Ordnung der Vernunft in seinem Streben und Handeln verläßt, zerstört er die Grundlage der zwischenmenschlichen Ordnung und aller Gerechtigkeit, nämlich die Anerkennung und Liebe zur imago oder zur Herrschaft der Vernunft in sich selbst, was allein dem Menschen auch ermöglicht, diese imago im anderen zu entdecken, zu achten und zu lieben, und d. h.: der "ratio iustitiae" und der "proportio ad alterum" einsichtig zu werden und gerecht zu handeln. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Utilitarismus: Name - irreführend; John Stuart Mill; eudämonistische Ethik; das Nützliche, to sympheron, actio debita, conveniens, prportionata fini

Kurzinhalt: ... daß das Problem einer solchen Aussage weder im Begriff der "Nützlichkeit" ... sondern vielmehr darin, nach welchem Kriterium man bestimmen könne, was "Glück" ist.

Textausschnitt: 6.2 Der klassische Utilitarismus
6.2.1 "Utilitarismus": Ein irreführender Name

274a Nach John Stuart Mill kommt "Nützlichkeit" (utility) jenen Handlungen zu, die dem Glück förderlich sind.1 Handlungen sind also moralisch gut oder schlecht, je nach dem ob sie zur Folge haben, das Glück zu fördern oder ihm entgegenzustehen. Man sieht sofort, und Kritiker des Utilitarismus haben das auch immer gesehen, daß das Problem einer solchen Aussage weder im Begriff der "Nützlichkeit", noch in jenem der "Folge" liegt, sondern vielmehr darin, nach welchem Kriterium man bestimmen könne, was "Glück" ist. Der Name Utilitarismus ist tatsächlich in einem gewissen Sinne verwirrend, denn er lenkt von der Grundthese dieser Art von Ethik ab. Als "utiilitaristisch" wollte sich die utilitaristische Ethik im Gegensatz zu einer rein intuitionistischen oder sentimentalistischen Ethik verstehen, die behauptete, die Erfassung dessen, was man tun müsse, sei Sache des Gefühles, eines untrüglichen "moral sense". Die Utilitaristen hingegen wollten darauf hinweisen, daß man, um zu erkennen, welche Handlungen moralisch gut seien, Überlegungen anstellen, d. h. das zwischen Handlung und Ziel ("Glück") bestehende Ursache-Wirkungs-Verhältnis bedenken müsse, also die "Utility" eine Handlung zur Erreichung des Endzieles: des Glücks. (Fs)

274b Insofern ist das "Nützliche" zunächst einmal nichts anderes, als was bei Aristoteles "to sympheron" heißt, und bei Thomas etwa "actio debita", "conveniens" oder "proportionata fini" etc.: Die Angebrachtheit der Mittel (Handlungen) zur Erreichung des Zieles.1 "Nützlichkeit" als sittliches Kriterium ist insofern keine Eigenheit des Utilitarismus. (Fs)

274c Das Problem des "utilitaristischen" Begriffs der Nützlichkeit - und das scheint heutigen "teleologischen Ethikern" generell entgangen zu sein - besteht vielmehr darin, daß die utilitaristische Ethik eine eudämonistische Ethik ist, aber als solche gerade keine Theorie des Glücks erarbeitet hat, d. h. kein Kriterium dafür kennt, worin denn nun das Glück des Menschen bestehe. Dieser Mangel besitzt historisch gesehen seinen Ursprung im sogenannten "Benthamismus" und wirkt sich vor allem auf die Frage nach dem Zusammenhang von "Nutzen" und "praktischer Wahrheit" aus. Für die Erläuterung dieses Mangels ist nun gerade J. St. Mill selbst der beste Zeuge; und zwar nicht, weil sich der britische Philosoph dieser Problematik etwa nicht bewußt gewesen wäre; sondern gerade weil seine Versuche einer Verteidigung des Utilitätsprinzips von der Bemühung getragen sind, eine solche Beziehung zwischen Nutzen und Wahrheit herzustellen, also den Begriff des Nutzens als "objektives" Moralprinzip zu begründen, und zwar ohne dabei dem ursprünglichen utilitaristischen Ansatz seines Lehrers Bentham dabei untreu werden zu wollen. Es lohnt sich, mit einigen Pinselstrichen diese Problematik von Nutzen und praktischer Wahrheit in der utilitaristischen Ethik darzustellen, weil auf ihrem Hintergrund die Mängel heutiger teleologischer Moralbegründung einerseits, und die Stärke der aristotelischen Ethik andererseits ins volle Licht gerückt werden können. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Utilitarismus; Bentham, Sozialeudämonismus; Schmerz - Lust; Vernunft als Mittel; vier Prinzipien: Lustprinzip, Nutzenprinzip, Folgeprinzip, Sozialprinzip

Kurzinhalt: Die Vernunft ist hier ein bloßes Mittel oder Instrument, zur Bestimmung des für das Glück Nützlichen.

Textausschnitt: 275a J. Bentham beginnt seine "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" mit der lapidaren Feststellung, daß der Mensch unter der Herrschaft zweier Souveräne stehe: Schmerz (pain) und Lust (pleasure). Diese beiden empirisch unleugbaren Prinzipien bestimmen, was wir tun sollen.1 Da jeder Mensch nach Lust, d. h. nach Glück strebt und dem Schmerz flieht, so gibt es nur eine vernünftige Haltung: Die naturale Bedingtheit oder Unterordnung unter dieses Gesetz anzuerkennen und es mit den Mitteln der Vernunft und des Gesetzes zum Wohl des Menschen zu befolgen.2 So ergibt sich als "gut", was dem Glück (der Lust) förderlich ist, als schlecht, was ihm entgegensteht. Das "Gute" ist also, angesichts des empirischen Lustprinzipes, das "Vernünftige", da es das "Nützliche", d. h. dem Glück Förderliche ist. Die Vernunft ist hier ein bloßes Mittel oder Instrument, zur Bestimmung des für das Glück Nützlichen. Das eigentliche Kriterium für die Sittlichkeit einer Handlung ist die Nutzenrelation zwischen Handlung und Glück. (Fs)

275b Bentham geht also von einem "naturalen" Faktum, einer empirischen Feststellung aus: Der Mensch steht unter der Herrschaft einer naturalen Tendenz zur Lustbefriedigung (wobei damit natürlich keineswegs nur "sinnliche" Lust, sondern auch jene, die geistige Güter hervorzubringen vermögen, gemeint ist). Der Utilitarismus sucht nun also nach dem Kriterium für die Richtigkeit des Handelns unter der Bedingung der Lust-Unbefriedigtheit. Dieses Kriterium ist das Utilitätsprinzip: gut ist, was nützt, um das Wohlergehen (Lustbefriedigung) zu fördern. Eine Handlung ist also gut, wenn ihre Folge das Wohlergehen ist, aber, wie Bentham betont, nicht das Wohlergehen des Individuums, sondern dasjenige der größtmöglichen Zahl von Menschen in einer Gesellschaft. Es finden sich also im Benthamismus vier Prinzipien: Das Lustprinzip, das Nutzenprinzip, das Folgeprinzip und das Sozialprinzip.1 (Fs) (notabene)

276a Die Frage stellt sich nun: Wie kann ich aufgrund dieser Prinzipien unterscheiden zwischen "das will ich tun" (bzw. "das gefällt mir", "das ist mir nützlich") und "das soll ich tun"? Ist es möglich, auf dieser Grundlage den Begriff einer Nützlichkeit zu gewinnen, unabhängig von der Befangenheit meiner Subjektivität? Ist jeweils, was mir als lustvoll erscheint, auch das, was dem Glück förderlich ist, d. h. das "wahrhaft Lustvolle?" Oder kommt es darauf gar nicht an? Genügt es, das empirische Luststreben einfach zu befriedigen, um glücklich zu sein? (Fs)

276b Tatsache ist, daß sich Bentham solche Fragen gar nicht stellte. Denn es sind Fragen, die in einer Ethik aufgeworfen werden, in der es darum geht zu bestimmen, worin das Glück des Menschen, die Verwirklichung des Menschseins als solchem besteht. Bentham beschäftigte sich jedoch damit, moralische Kriterien für die Gesetzgebung, vor allem im Sozialbereich, zu finden. Der Benthamism, und damit der Utilitarismus generell, ist in seiner ursprünglichen Form wesentlich eine Sozialethik, bzw. eine Ethik der Sozialreform und Gesetzgebungspraxis und formuliert sich als sogenannter "Sozialeudämonismus". (Fs)

276c Genau aus diesem Grunde wird im ursprünglichen Utilitarismus die Frage nach dem grundlegenden Moralprinzip, dem "Maßstab" des Sittlichen, noch gar nicht gestellt, bzw. ausgeklammert. Tatsächlich besitzt ja bei Bentham die Vernunft nur instrumenteilen Charakter; aber sie kann in dieser Instrumentalität niemals "Maßstab" des Sittlichen sein: Sie bleibt, als reine "Vernünftigkeit" ein bloßes Organ, der es obliegt, Handlungen bezüglich ihrer Folgen hinsichtlich des Telos (Glück) zu beurteilen. Nur dem Telos selbst kann im Handlungsbereich auch maßstäbliche Bedeutung zukommen. Dieses Telos ist jedoch in diesem Falle ein solches (die Lust und deren Befriedigung), das in dieser Aufgabe notwendigerweise versagen muß: Denn jede Lust, sowie das Streben nach ihr bzw. ihrer Befriedigung ist ein subjektives Empfinden; jede Moral, auch die utilitaristische, sucht jedoch nach einem Prinzip, das unabhängig von "je meinem Empfinden" ist, bzw. das "mein Empfinden" mit dem wahrhaft Guten oder Nützlichen in Übereinstimmung bringt; sonst brauchte man nämlich gar keine Ethik, sondern nur wirksame Gesetze, um die nach dem "Glück" strebenden Menschen voreinander zu schützen. (Fs) (notabene)

276d Es ist jedoch einleuchtend, daß bei Bentham weder die Vernunft noch das Telos (Befriedigung des Lustverlangens) maßstäbliche Funktion auszuüben vermögen. Die Lust ist eine relational-subjektive Größe; objektiv ist sie nur in ihrer natural-empirischen Faktizität, nicht jedoch in ihrem axiologischen Charakter; und die Nützlichkeit ist ebenfalls eine relationale Größe: der Nutzen konstituiert sich vom Telos her. Damit haben wir aber eine Gleichung mit zwei Unbekannten und nur einer einzigen faßbaren Konstante: dem naturalen Faktum des Luststrebens. Deshalb ist der Utilitarismus in seinem Ursprung zunächst einmal naturalistisch und vermag aber auch keine Gründe dafür anzugeben, weshalb von einem "dazu habe ich Lust" auf ein "das soll ich tun" geschlossen werden kann. (Fs) (notabene)

277a Nun will aber auch die benthamistische Ethik eine "objektive" Ethik sein; das heißt; sie beansprucht objektive Kriterien für gutes und schlechtes Handeln zu liefern. Dies vermag sie einzig und allein aufgrund des Sozialprinzips: das Kriterium, der Maßstab ist das Wohlergehen oder (subjektive) Lustempfinden der größten Zahl, der Allgemeinheit. Die Objektivität der benthamistischen Moral ist also eine Objektivität der "Mehrheit", und somit auch immer eine nur "soziologische" und "geschichtliche" Objektivität; die Frage nach dem Glück, worin denn das Glück "in Wahrheit" bestehe, wird dabei überflüssig; glücklich sein heißt sich glücklich fühlen; und zu erreichen, daß dies für die größtmögliche Zahl der Fall ist, ist das Kriterium für die "Nützlichkeit", d. h. sittliche Richtigkeit einer Verhaltensweise, bzw. eines Gesetzes. (Fs)

277b Es scheint ziemlich offensichtlich, daß in einer solchen
Begründung der Objektivität des Guten die eigentliche Grundfrage der Ethik umgangen wird: nämlich die Frage nach dem Zusammenhang von Nutzen (einer Handlung) und Wahrheit; oder genauer: worauf beruht das Gut-Sein des Nützlichen? Daß das Gute, in einem ethischen Sinne, "nützlich" ist, bestreitet niemand; ja das ist gerade der klassische Sinn der "utilitas". Aber damit das Nützliche auch gut sei, und eben deshalb wahrhaft nützlich, dazu muß zunächst das Telos in seinem Charakter als "Gutes" ausgemacht werden; erst dann ist es möglich, einen Begriff des "Nützlichen" auszumachen, der jeweils auf das "Gute" bezogen ist, also in Übereinstimmung mit dem richtigen Telos-Streben besteht, d. h. praktisch wahr ist. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: J. St. Mill - Benatham - Aristoteles; Verhältnis: Tugend - Lust; kein Unterschied zw. dem Guten und Lust

Kurzinhalt: Was also für Aristoteles nur Ausgangspunkt für die Suche nach dem sittlichen Maßstab war - die Tatsache, daß alle nach dem Glück streben - wird für Mill selbst zum Maßstab.

Textausschnitt: 277d Das Problem der Beziehung zwischen Nutzen und Wahrheit wurde genau dann virulent, als J. St. Mill versuchte, auf utilitaristischer Grundlage eine wirkliche Ethik zu begründen. Gegenüber dem Vorwurf, es sei ja unmöglich, immer im Hinblick auf die allgemeinen Interessen der Gesellschaft zu handeln, erklärt nun Mill, die benthamistische Moralbegründung aus den Angeln hebend, daß dieses "Sozialprinzip" für das Handeln nur ein Motiv, aber nicht die "Regel" (rule) oder der Maßstab sei. Die Ethik müsse lehren, welches unsere Pflichten seien und wie wir sie erkennen können.1 In seinem Bemühen aufgrund der benthamistischen Prinzipien eine Ethik zu begründen, erklärt Mill, daß das Motiv (der Nutzen der größten Zahl) nichts mit der Moralität einer Handlung zu tun habe, sondern nur über den Wert des Handelnden etwas besage.2 In der Tat: Mill sucht nach einem Kriterium für die sittliche Qualität von menschlichen Handlungen unabhängig von den gesamtgesellschaftlichen Folgen, und unabhängig von den Motiven und Intentionen des Handelnden. Es scheint jedoch, daß sich Mill der Tragweite dieser Fragestellung überhaupt nicht bewußt war. (Fs)

278a Die Aufgabe, die Mill sich stellte, war nämlich jene, für den Begriff des Nutzens ein Wahrheitskriterium zu erarbeiten. D. h. das Feld jener "Nützlichkeiten" abzustecken, die eine Handlung unabhängig von anderen möglichen Folgen als "gut" definieren lassen. Zu diesem Zweck muß er auch das von Bentham in seiner rein empirisch-naturalen Faktizität als Prinzip behauptete Lustprinzip teilweise beiseite schieben. Mill beginnt von natürlichen Gefühlen und Neigungen des Menschen zu sprechen, ja überhaupt davon, was der Natur des Menschen entspreche.3 Wir finden bei ihm eine ganze Pallette natürlicher Neigungen aufgezählt, von denen gesagt wird, sie müßten schließlich alle den höheren Instinkten oder Neigungen der menschlichen Intelligenz untergeordnet werden.4 Mill begründet die Ausformung dieser Neigungen bis hin zum Begriff der Tugend mit seiner assoziativen Psychologie. (Fs) (notabene)

278b So mündet das Lustprinzip in den Begriff der Tugend, die zum Inbegriff von "Glück" wird. Das Glück, keine abstrakte Idee, sondern ein "konkretes Ganzes"5, ist das formale Prinzip, aufgrund dessen alles gewünscht wird; was man will, will man nicht nur als Mittel zum Glück, sondern auch als dessen Bestandteil. Darin sieht nun Mill den letzten Beweis für das Nützlichkeitsprinzip: Die Tatsache, daß alle Menschen notwendigerweise nach einem Ziel streben, und daß dieses Ziel das Glück ist.6 Das sei eine Erfahrungstatsache, die sich auf Evidenz gründe und nur durch Reflexion, Selbstbeobachtung und die Beobachtung von anderen zu erfassen sei. (Fs)

278c Was also für Aristoteles nur Ausgangspunkt für die Suche nach dem sittlichen Maßstab war - die Tatsache, daß alle nach dem Glück streben - wird für Mill selbst zum Maßstab. Dieses Glücksstreben zeigt sich empirisch als Luststreben; über diese Bestimmung kommt Mill nicht hinaus, wobei er jedoch, um dem reinen subjektiven Schein dieses Strebens zu entrinnen, nach objektiven Kriterien für die "Natürlichkeit" und damit Angemessenheit dieses Strebens sucht. Dabei rekurriert er auf eine empiristische, assoziativ-psychologische 'Anthropologie. (Fs)

279a Hätte Mill etwas von Metaphysik und auf ihr begründeter philosophischer Anthropologie verstanden, so hätte er vielleicht den benthamistischen Utilitarismus überwinden und auf einen aristotelischen Weg gelangen können. Vieles, was der britische Philosoph sagt, ist gesunder Menschenverstand, - und vieles tönt nicht nur aristotelisch, sondern ist zweifellos auch aristotelisch inspiriert. Denn im Gegensatz zu Bentham, (der geschrieben hat: "It is not necessary to consult Plato, nor Aristotle"), hat Mill Aristoteles gelesen und ist seine Form der utilitaristischen Ethik voller aristotelischer Anleihen. Aber die Beibehaltung einiger benthamistischer Prinzipien verunmöglichen eine Korrektur. So bleibt die Ethik Mills zweigleisig und inkonsistent. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: J. St. Mill - Utilitarismus: keine Analyse des Telos; Lust - das Gute (bonum rationis); Hedonismus - bonum humanum

Kurzinhalt: "pleasure is what every man desires" contra "bonum est quod omnia appetunt"; katholische Moraltheologen -> Utilitaristen

Textausschnitt: 279b Mill ist es insbesondere nicht gelungen, den Begriff des Guten als den Aspekt, unter dem alles erstrebt wird, von jenem der "Lust" zu differenzieren: das "Gute", als formeller Gegenstand (Ziel) jeden Strebens, bleibt, in der Tradition des Hedonismus, identifiziert mit jenem des "Lustbringenden".1 Daß das "Gute", als Gegenstand der Vernunft (bonum rationis), sich empirisch und psychologisch auch nicht unter dem Gesichtspunkt des "Lustbringenden" zeigen kann, fällt hierbei außer Betracht; und auch, daß das Lustbringende ("delectabile"), obwohl dem Guten zugehörig, nicht notwendigerweise intentionaler Gegenstand, sondern oft gerade nur ein Folgephänomen ist. Mill bleibt letztlich in der Idee befangen, daß die Vernunft ein reines Instrument ist und er übersieht ihren Telos-Charakter. Damit erhält das "praktisch Gute" und die sittliche Handlung selbst einen nur instrumentellen Charakter. Es kann Mill nicht gelingen, die sittliche Handlung als konsumtiven Bestandteil des Glücks zu begründen, obwohl er das versucht. (Fs)


279c Damit das hätte gelingen können, hätte der Utilitarismus den Begriff des sittlich Guten aufgrund einer anthropologischen Analyse des Telos definieren müssen; es wäre also darum gegangen, das wahrhaft Lustvolle vom nur scheinbar Lustvollen abzugrenzen. Dadurch wäre man auf einen anthropologisch fundierten Begriff des Glücks und der Tugend gekommen, und es wäre auch möglich geworden, Handlungen und ihren "Nutzen" anthropologisch, d. h. in ihrer konstitutiven Funktion bezüglich des Zieles, zu deuten. Dadurch wäre es gelungen zu erkennen, daß nicht das empirische Faktum "pleasure is what every man desires" das erste Prinzip ist, sondern "bonum est quod omnia appetunt". Dabei hätte sich der Begriff des wahrhaft Guten, von jenem des nur scheinbar Guten abgegrenzt, als spezifischer und praktischer Gegenstand der Vernunft, als "bonum rationis" gezeigt. Dann wäre der Utilitarismus allerdings nicht mehr "Utilitarismus"; denn er ist dies ja nicht aufgrund des Prinzips der "Utility", sondern wegen seines Begriffs des Glückes und der Identifizierung des Guten schlechthin mit dem "Lustvollen". (Fs)

279d Aristoteles war sich durchaus bewußt, daß das Phänomen der Lust (hedone) für die Ethik von entscheidender Bedeutung ist. Er erkannte mit aller Deutlichkeit, daß er das gute Handeln, und die Tugend insbesondere, mit Lust und Unlust zu tun hat. Das Gute, das immer auch ein "gut Scheinendes" ist, erscheint eben gerade auch als "Lustbringendes", "Angenehmes" oder "Nützliches", wobei dabei allerdings nur der Tugendhafte richtig urteilt.1 Die beiden Gefühle der Lust und Unlust "sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie. Denn es ist für das Handeln von größter Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet."2 (Fs)

280a Die Frage nach der Richtigkeit des Lustempfindens ist genau jene, die im klassichen Utilitarismus unbeachtet bleibt. Dieser verbleibt in einem naturalistisch-empiristischen Phänomenismus stecken; das Gleiche gilt für die Begriffe der "Folge" und des "Nützlichen": Was ist das wahrhaft Nützliche, weil wahrhaft Gute? Und welches sind die für das Glück konstitutiven Folgen einer Handlung im Unterschied zu anderen Folgen? Was ist überhaupt eine "sittliche", bzw. "menschliche Handlung"? Diese Fragen hat eine utilitaristische Ethik noch nie zu beantworten vermocht, und dies vermag auch die heutige "teleologische Ethik" nicht, die eben genau deshalb militaristisch ist. (Fs)

280b Als entscheidend kennzeichnend für jede Form von Utilitarismus erweist sich dabei das Fehlen eines metaphysisch und anthropologisch begründeten und aller "Nützlichkeit" selbst ein Kriterium anlegenden Begriffes des bonum humanum als das durch die sittliche Handlung im Menschen selbst erwirkten Guten. Deshalb ist die sogenannte "teleologische Ethik", wie sie von vielen katholischen Moraltheologen heute vertreten wird, eine "utilitaristische" Ethik. Man kann das leicht durch eine detaillierte Analyse verifizieren. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Deontologie - Teleologie: falsche Disjunktion; x ist gut, es soll getan werden (deontologisch), weil ... (teleologisch)

Kurzinhalt: Jede Ethik, insofern sie überhaupt mit diskursiven Begründungen arbeitet, ist notwendig "teleologisch"; und sie ist zugleich deontologisch, insofern sie ...

Textausschnitt: 280c Es hat sich unterdessen eingebürgert, ethische Theorien in "deontologische" und "teleologische" einzuteilen. Ein deontologischer Typ von Ethik, so heißt es, beurteile die sittliche Qualität von Handlungen unabhängig von ihren Folgen; teleologische Ethik hingegen aufgrund ihrer Folgen, weshalb man im angelsächsischen Raum auch von "Consequentialism" spricht. (Fs) (notabene)

280d Es gibt wohl niemanden, der behaupten wollte, es gebe eine teleologische Ethik in "Reinkultur", d. h. ohne deontologische Elemente. Wenn wir uns auf die Teleologen unter den katholischen Moraltheologen beschränken, so vertreten sie allgemein die Meinung, daß das letzte Ziel allen menschlichen Handelns selbst nicht teleologisch begründet werden kann und daß, zweitens, auch teleologische Begründungen schließlich deontologisch (als "Pflicht") formuliert werden können. (Fs)

281a Ebenso wird jedoch behauptet, es gebe neben einer "milderen" Form von Deontologie, die auch beschränkt den Folgegesichtspunkt berücksichtige, eine "strengere" Form, die zumindest eine Zahl von Handlungen vollständig unabhängig von ihren Folgen sittlich qualifiziere; eine solche Theorie liege der traditionellen katholischen Moraltheologie, mit ihren absoluten Verboten, z. B. der Empfängnisverhütung, der Abtreibung, der Lüge u. a. m. zugrunde. (Fs) (notabene)

281b Die Unterscheidung von "teleologisch" und "deontologisch" scheint mir jedoch eine falsche Unterscheidung zu sein; und zwar nicht nur, wenn sie als vollständige Disjunktion gemeint ist, was ja nun wiederum eigentlich auch kein teleologischer Ehtiker unterstellen will. Sondern sie ist falsch als Unterscheidung zweier Typen der Normenbegründung. Denn "teleologisch" und "deontologisch" begründet nicht zwei Typen der Begründung von normativen Aussagen, sondern es handelt sich dabei um zwei verschiedene Ebenen des Umgangs mit solchen Aussagen, die sich sehr wohl auf ein und denselben Begründungstyp beziehen können. Zugespitzt formuliert: Jede Ethik, insofern sie überhaupt mit diskursiven Begründungen arbeitet, ist notwendig "teleologisch"; und sie ist zugleich deontologisch, insofern sie die Ergebnisse ihres Begründungs-Diskurses in normativen Aussagen als "das, was nun zu tun ist", festhält und dann auch in vielen Fällen für die Unbedingtheit dieses Sollens noch weitere Gründe anführt. (Fs) (notabene)

281c Ein "teleologischer" Ethiker würde sagen: Die Handlungsweise x ist gut, d. h. "soll getan werden", "ist meine Pflicht" (deontologische Formulierung), weil ... etc. (teleologische Begründung). Wie könnte man sich, im Unterschied dazu, einen sogenannten "deontologischen" Ethiker vorstellen, der sagt: "Handlung x ist immer, unter allen Unständen schlecht", ohne hinzuzufügen: "weil etc. ..."? (Fs)

281d Jene die behaupten, es gebe einen deontologischen Typ der Normenbegründung, unterstellen jedoch, der Deontologe spreche nur in Tautologien; er sage also: "x ist immer schlecht, weil man x nicht darf"; oder "weil x verboten ist"; oder "weil x dem Willen Gottes widerspricht", oder "weil ich zu x nicht berechtigt bin" usw. Zu behaupten, es gebe einen deontologischen Typ von Normenbegründung, bedeutet also, es gebe einen Typ der Normenbegründung, der lautet: "man darf x nie, weil x immer verboten ist"; das wäre jedoch, wie sicher klar ist, gar keine Begründung des Verbotes, sondern nur seine Darlegung in der Formulierung einer normativen Aussage. Auf dieser Ebene wäre dann aber auch eine "teleologische" Ethik deontologisch, denn teleologisch kann man ja Sätze bilden wie: "x ist immer schlecht, wenn x für alle Betroffenen immer schlechte Folgen hat". (Fs)

281e Genau letzteres ist nämlich mit einem "deontologischen" absoluten Verbotssatz gemeint: Wenn gilt: "x ist immer schlecht", so ist gemeint: "mit x ist eine Folge verbunden, die immer schlecht ist", oder: "Handlung x definiert sich geradezu durch eine (ihr immanente) Folge, die immer schlecht ist." Die sogenannten "Deontologen" unterscheiden sich von den sogenannten Teleologen nicht darin, daß sie die Folgen einer Handlung nicht berücksichtigen, sondern erstens darin, was sie überhaupt zu den "Folgen" einer Handlung rechnen, und zweitens in den Kriterien, gemäß denen sie die Folgen einer Handlung beurteilen. Genauer gesagt: Ein "Deontologe" argumentiert genau gleich teleologisch, aber er besitzt ein Kriterium für die Unterscheidung von Folgen, die für den sittlichen Wert einer Handlung konstitutiv sind und deshalb immer eintreten, und jenen anderen Folgen, für die dies nicht zutrifft. Und er besitzt dieses Kriterium deshalb, weil sein Begriff der Handlungsfolge einen anthropologischen Rückbezug besitzt. Der sogenannte Deontologe vermag, im Unterschied zum sogenannten Teleologen jene Folgen auszumachen, die für die sittlichen Qualifizierung, die "Definition" oder "Spezifizierung" einer Handlung konstitutiv sind. Er gelangt dadurch zum Aufweis von objektiv-sittlichen, d. h. den menschlichen Sinngehalt einzelner Akte überhaupt konstituierenden Folgezusammenhängen, die er von nicht-konstitutiven Folgen unterscheidet, in deren Gefüge solche Akte eingebettet sein können, sie aber nicht in ihrem fundamental menschlichen Sinngehalt konstituieren. (Fs) (notabene)

282a Wenn also behauptet wird, die Formulierung "x ist immer sittlich schlecht" sei spezifisch deontologisch, so unterstellt man dabei, wer das behaupte, meine damit, "x-Tun" sei folgenlos, - denn der "Deontologe" beurteile ja Handlungen unabhängig von ihren Folgen. Eine solche Behauptung ist jedoch absurd. Wer behauptet, "x ist immer schlecht" meint in Wirklichkeit nicht, "x-Tun" sei folgenlos, aber dennoch schlecht, und zwar aufgrund anderer Kriterien, sondern: x-Tun hat zur Folge, was durch die Berücksichtigung keiner anderen Folge in Kauf genommen werden kann: Nämlich die Zerstörung der konstitutiven Bedingungen für den fundamental menschlichen, bzw. sittlichen Sinngehalt des entsprechenden menschlichen Aktes. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Utilitarismus, teleologische Ethik - Aristoteles: Kriterium -> Bewertung der Folgen (ein vorsittliches Gut als Kriterium des Kriteriums?); naturalistischer Fehlschluss

Kurzinhalt: Eine "teleologische" Ethik ... muß das "Handlungsobjekt" deshalb notwendigerweise auf einer nur naturalen, physizistischen Ebene definieren; "Indifferenz" menschlicher Handlungen ...

Textausschnitt: 282b Die sogenannte "deontologische" Normenbegründung existiert folglich zumindest dort, wo man sie vermutet, überhaupt nicht; jenen ethischen Theorien, die als "deontologisch" qualifiziert werden, liegt vielmehr eine differenziertere, weil anthropologisch fundierte, Teleologie zugrunde, während die sogenannte "teleologische Ethik" mit einem anthropologisch undifferenzierten Begriff der "Folge" arbeitet.1 Oder noch genauer gesagt: Die sogenannt "deontologischen" Theorien besitzen selbst ein Kriterium für die sittliche Qualifizierung oder Einstufung von "Folgen", während teleologische Theorien, in der Tradition des Utilitarismus, jede Folge ausschließlich im Kontext aller möglichen Folgen zu beurteilen vermögen. Für den sogenannten Deontologen gibt es Folgen, die eine Handhing unabhängig von anderen Folgen sittlich qualifizieren; während für den "teleologischen" Ethiker prinzipiell jede Folge eine "vorsittliche" Größe ist. Der sogenannte Deontologe bringt in den Begriff der Folge das Kriterium der "moralischen Differenz" ein, während der sogenannte Teleologe physizistisch argumentiert.2 (Fs) (notabene)

283a Gerade an der Enzyklika Humanae Vitae, immer wieder fälschlicherweise als Paradebeispiel einer deontologischen Argumentation zitiert, kann dies nachgewiesen werden: Ihre Argumentation ist ausgesprochen teleologisch, aber es handelt sich um eine Teleologie, die einen Rückbezug auf die Anthropologie der ehelichen Liebe besitzt, näherhin die anthropologische Verknüpfung von "liebender Vereinigung" und "Fortpflanzung". Wie bereits ausgeführt (vgl. oben Teil I, 2.8), besteht das Hauptargument von HV darin, daß die Kontrazeption deshalb schlecht ist, weil sie zur Folge hat, daß diese Verknüpfung und damit der ganze Sinngehalt der ehelichen Liebe zerstört wird.3 Kann gegenüber der grundlegenden Zerstörung des Sinnes ehelicher Liebe eine andere Folge ins Gewicht fallen? Erhalten sie nicht selbst, durch jene grundlegende Qualifizierung der Folge kontrazeptiven Verhaltens jene Qualität als "Nebenfolgen", die bewirkt, daß sie selbst wiederum, durch die Erhaltung des grundlegenden Sinnes von ehelicher Liebe, ganz anders beurteilt werden müssen, als wenn man diese Unterscheidung von handlungs-konstitutiven bzw. -spezifizierenden und anderen Folgen nicht trifft?

283b Es ist offensichtlich: Jede aristotelische Ethik ist ausgesprochen teleologisch; das wird allgemein zugegeben. Dennoch spricht Aristoteles von Handlungen, die in sich schlecht (auta phaula) und immer gefehlt sind. "Demnach gibt es hier nie ein richtiges Verhalten, sondern immer und lediglich ein verkehrtes, und das Gute und Schlechte, liegt bei solchen Dingen nicht in den Umständen, wie wenn man sich z. B. beim Ehebruch darum fragte, mit wem und wann und wie er erlaubt sei, sondern es ist überhaupt gefehlt, irgend etwas derartiges zu tun."4 (Fs)

/home/roland/arbeit/Aristo/Ethik.doc_1107a

283c Thomas argumentiert ebenfalls teleologisch, wenn er behauptet, die Ehe sei unauflöslich, weil ihre Auflösbarkeit zur Folge hätte, daß die Frau keine gleichwertige Gefährtin, sondern nur eine Sklavin des Mannes wäre; die Lüge sei schlecht, weil sonst die menschliche Kommunikation, das Zusammenleben usw. verunmöglicht würde. Die Trunkenheit sei sittlich verwerflich, weil durch sie der Mensch seine Würde als ein Wesen verliert, das aufgrund der Vernunft handelt; Fortpflanzung sei nur innerhalb der Ehe erlaubt, weil alles andere eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Kind wäre, denn ein anderer Modus menschlicher Prokreation hätte zur Folge, daß das Kind der menschlich-spezifischen Grundlage seiner Entfaltung entbehren würde; usw. All diesen "Folgen" ist jedoch eigen, daß sie nicht irgendwelche, kontingente, Folgen sind, sondern jene Folgen, die für die betreffende Handlungsweise als spezifisch menschlicher selbst konstitutiv sind, d. h. ihren objektiven Gehalt aufzeigen. Den Zusammenhang von Handlungen mit dieser Art von Folgen nicht zu beachten, bedeutet, den menschlichen Sinn dieser Handlungsweisen (Fortpflanzung, Sprechen etc.) selbst nicht mehr zu beachten.5 Alle andern möglichen Folgen müssen hingegen aufgrund des genuin menschlich-sittlichen Sinnes von Handlungen gewichtet werden. Ihr effektives Eintreten kann gerade aufgrund der konstitutiven, "objektiven" Folgeeigenschaften von Handlungen neue Typen sittlichen Verhaltens begründen, z. B. Verzicht und Opfer. Sie können gerade auch in ihrem Charakter als "unangenehme" Folgen zu einer Vertiefung des objektiven, konstitutiven Sinnes menschlicher Handlungen führen. So wird z. B. die Tugend der Wahrhaftigkeit, durch den Verzicht auf Lüge in einer Notsituation vertieft und bestärkt; und das gereicht nicht nur zum vollmenschlichen Wohl des Handelnden, sondern auch zum Wohl der Gesellschaft (das Erleiden von Ungerechtigkeit kann selbst zum sittlichen Wert werden; was wäre aus der abendländischen Philosophie geworden, wenn Sokrates die "Folgen" seiner Liebe zur Wahrheit in die Waagschale geworfen hätte?). Ein anderes Beispiel: Das sogenannte "unerwünschte Kind" wird auf dem Hintergrund einer unverfälschten ehelichen Liebe gerade zu einem Prüfstein dieser Liebe und zu einer Chance für ihre Vertiefung. All dies kann selbst "teleologisch" begründet werden, aber nur aufgrund der Festlegung einer anthropologisch verankerten Hierarchie von Folgen. (Fs; Fußnote)

284a Eine "teleologische" Ethik, die eine qualitative, sittliche Differenzierung von im sittlichen Sinne handlungskonstitutiven (bzw. Handlungen als menschliche, sittliche Handlungen spezifizierenden) und solchen Handlungen nur zufallenden, "umstehenden", kontingent situationsbedingten, sie eventuell erschwerenden oder belastenden Folgen nicht kennt, muß das "Handlungsobjekt" deshalb notwendigerweise auf einer nur naturalen, physizistischen Ebene definieren. Die möglichen Inhalte von menschlichen Handlungen sind dann sämtliche nur "vorsittliche Güter", deren moralische Qualifizierung einzig und allein durch das in einer Güterabwägung gewichtete Ensemble der Folgen bestimmt wird. Obwohl die handlungskonstitutiven Folgen wirkliche Folgen sind, bezeichnet man sie jedoch für gewöhnlich nicht mit diesem Namen. Diese Tatsache führt zu einem scheinbaren Deontologismus. Sowohl in der Umgangssprache, der die moralwissenschaftliche Terminologie folgt, meint man mit Folgen die kontingenten, situationsbedingten Auswirkungen einer Handlung. Das Gefüge der konstitutiven, den objektiv-menschlichen oder sittlichen Gehalt einer Handlung spezifizerenden Folgen oder Wirkungszusammenhänge werden eher mit Begriffen wie "die Natur einer Handlung" usw. ausgedrückt. Die "Natur" der Sprache wird in diesem Sinne im Ensemble jener durch die auf menschliche Geistigkeit bezogenen menschliche Sprachfähigkeit und durch die Soziabilität des Menschen bestehenden Wirkungszusammenhänge oder Folgen bestimmt, die bestimmte Sprechakte als Lüge qualifizieren lassen; die "Natur des ehelichen Aktes" ist das Ensemble jener im Kontext des menschlichen Suppositums stehenden Wirkungszusammenhänge und Folgen, die ausmachen, daß es sich um einen Akt ehelicher und vollmenschlicher Liebe handelt usw. (Fs)

285a Deshalb erweist sich die sogenannte "teleologische Ethik" als eine Theorie, die prinzipiell alle Folgen nur als kontingente, umstandsbedingte, und demnach sittlich nicht-konstitutive Folgen betrachtet. Sie geht aus von der radikalen sittlichen Gehaltlosigkeit oder "Indifferenz" menschlicher Handlungen um diesen sittlichen Gehalt durch die Abwägung der von diesen Folgen betroffenen Güter zu rekonstruieren. (Fs)

285b Dabei drängen sich folgende Fragen auf: Welches ist das Kriterium, gemäß dem diese Güterabwägung vorgenommen wird? Muß es nicht selbst wiederum ein in sich selbst "vorsittliches" Gut sein? Und wenn nicht, wenn es sich also um Wertkriterien handelt: Woher stammen diese Werte? Sie können ja nicht selbst teleologisch begründet sein. Und drittens: Wie kann man aus einer abwägenden Kombination von "vorsittlichen Gütern" einen sittlichen Wert rekonstruieren? Der Verdacht erhärtet sich, daß in der teleologi-schen Ethik ein versteckter naturalistischer Fehlschluß enthalten ist, bzw., um diesem Fehlschluß zu entgehen, ein ebenso verborgener wie radikaler Deontologismus bzw. Wertidealismus. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Deontologie - Teleologie; kein Zirkel: gut; Wille Gottes; Unterschied: deontologische Formulierung - teleologische Begründung

Kurzinhalt: Teleologie und Deontologie sind also nicht zwei verschiedene Formen der Begründung von Normen, sondern sie entsprechen zwei unterschiedlichen Ebenen oder Aspekten des Umgangs mit normativen Aussagen.

Textausschnitt: 285c Schüller nennt jede Ethik, die dem Begriff des Guten eine Priorität gegenüber dem Begriff des Sollens zuschreibt "teleologisch".1 Diese Charakterisierung halte ich für zutreffend: Denn das Gute hat Zielcharakter, und wird das Sollen im Guten begründet, so bedeutet das, jegliches Sollen als den imperativen Anspruch dessen zu betrachten, was dieses Gut bewirkt. Je nach dem, ob die das Gute bewirkende Handlungsweise (bzw. deren Unterlassung) mit dem betreffenden Gut in einem notwendigen oder aber nur in einem kontingenten Bedinungs- oder Folgezusammenhang steht, formuliert sich ein solcher Imperativ im Modus "Ich soll" (bzw. "ich darf nicht") oder "Ich darf" (bzw. "ich muß nicht"). Es handelt sich dann also um deontologische Formulierungen (normative Aussagen) teleologisch begründeter praktischer Urteile. (Fs)
6.5.1 Zwei Ebenen des Umgangs mit normativen Aussagen
286a Ein "strenger Deontologismus", wie ihn, nach Schüller, die katholische Moraltheologie vertreten haben soll, würde also behaupten, das "Gutsein" einer Handlungsweise begründe sich, umgekehrt, auf dem "Gesolltsein" derselben. Daß dieser Vorwurf inkonsistent ist, wurde bereits gezeigt. Am Ende würde man sich in einem Streit um Worte verlieren: Denn auch im Rahmen einer teleologischen Ethik, die also das Sollen auf dem Guten gründet, gilt natürlich: Die Handlung x ist gut, weil sie gesollt ist, d. h., weil sie dem entspricht, was man hier und jetzt tun soll. Denn man soll hier und jetzt x tun, weil x dazu führt, ein bestimmtes Gut zu erwirken, weil also x gut ist. Kurz: x-Tun ist genau deshalb gut, weil man x tun soll; und man soll x tun, weil x-Tun gut ist. (Fs)

286b Das ist kein Zirkel, denn das Wort "gut" ist hier zweimal in verschiedenem Sinne gebraucht; zuerst deontologisch, d. h. zur Formulierung und Darlegung (nicht Begründung) einer normativen Aussage. Das heißt, um zu sagen: Genau das ist gut, was man tun soll. Wenn man nicht das tut, was man tun soll, dann handelt man schlecht; d. h. man handelt entgegen dem, was man als "Sollen" erkannt hat. Man kann auch sagen: Man handelt gegen das Gewissen. (Fs)

286c Im zweiten Fall ist "gut" zur teleologischen Begründung des Sollens gebraucht: Was man tun soll, soll man tun, weil es gut ist, d. h., weil es das ist, was das Gute bewirkt. "Gut handeln", heißt also zweierlei: Tun, was man soll (sonst handelte man gegen das Gewissen); und: was man tun soll, soll man tun, weil es gut ist (sonst würde man sittlich falsch handeln). (Fs)

286d Man kann das auch anders formulieren, und zwar vorausgesetzt, daß, was man "soll", weil es gut ist, jeweils auch, im sittlichen Sinne, der Natur des Menschen entspricht; bzw. dem Willen Gottes. Oder weil man nicht berechtigt ist, das, was man soll, weil es gut ist, nicht zu tun, denn alles was man soll, weil es gut ist, entspricht dem Willen Gottes, usw. (Fs)

286e Wenn man deshalb deontologisch formuliert (nicht begründet), daß man etwas soll, weil es dem Willen Gottes oder der Natur entspricht, oder weil man nicht berechtigt ist, anders zu handeln, und daß ein solches Verhalten also sittlich "gut" ist, so setzt man die teleologische Begründung voraus: Man soll es, es entspricht dem Willen Gottes oder der Natur, oder man ist nicht berechtigt, anders zu handeln, weil es so, teleologisch begründet, gut ist. (Fs)

286f Teleologie und Deontologie sind also nicht zwei verschiedene Formen der Begründung von Normen, sondern sie entsprechen zwei unterschiedlichen Ebenen oder Aspekten des Umgangs mit normativen Aussagen. Deontologisch ist die Formulierung einer normativen Aussage als ein Sollen; z. B.: man darf nicht tun, was man nicht soll, d. h., was nicht gut ist. Sonst würde man gegen das Gewissen handeln; bzw. gegen den Willen Gottes, den man ja gerade aufgrund dessen erkennt, was gut ist; oder, aus dem gleichen Grund, gegen die Natur; oder aber unberechtigt. Der Rekurs auf die Natur, auf den Willen Gottes oder die mangelnde Berechtigung ist also nur eine Intensivierung und Einordnung der deontologischen Formulierung, aber keine Begründung des Sollens. Nur in einer anderen Hinsicht haben solche deontologischen Formulierungen auch eine Begründungsfunktion: Nämlich, was ja im Prinzip auch Schüller richtig sieht, zur Ermahnung, d. h. zur Begründüng, weshalb man das, "was man tun soll", d. h., was man in einem Gewissensurteil als Tun-Sollen erkannt hat, auch tatsächlich tun soll; oder wieso das Sollen einen unbedingten Anspruch besitzt, und zwar unabhängig von Folgen oder anderen Umständen. D. h.: der deontologische "Umgang" mit normativen Aussagen dient zur Begründung, weshalb nur ein solches Handeln sittlich "gut" (im ersten Sinne) ist, das dem entspricht, was man als Tun-Sollen erkannt hat. Solche deontologische Formulierungen sind deshalb gerade in Texten, die der Unterweisung, der Ermahnung und, wie im Falle des kirchlichen Lehramtes, der autoritativen Exposition von sittlichen Normen dienen, besonders häufig. Etwa in der Figur: Niemand solle meinen, daß man das, was man soll, weil es gut ist, nicht auch etwa im [eg: Fehler im Text] immer tun soll; man würde damit der menschlichen Natur oder dem Willen Gottes entgegen oder aber unberechtigterweise handeln. Ein solches Tun könnte niemals sittlich gut sein.1 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: objektiv-sittlich - subjektiv-sittlich; sittlich-objekiv - naturhaft-objektiv; Rahner, Rotter; Objektivität = Wahrheit der Subjektivität

Kurzinhalt: Das Gegensatzpaar "objektiv" - "subjektiv" ist in der Moral eine Falschmünze; Gegenbegriffe zum sittlich-Objektiven sind z. B. das naturhaft-Objektive (genus naturae) oder ...

Textausschnitt: 343a Mit "Objekt" oder "objektivem Sinn" ist also nicht eine dingliche, naturhafte, unabhängig vom Handelnden bestehende "Wirklichkeit" oder ein "objektives Geschehen" gemeint, die dann von einer "subjektiven" Willentlichkeit durchformt würde, auch wenn diese als "Wollen" des naturhaften Geschehens gefordert wird; überhaupt nicht etwas, was im Gegensatz zum "Subjektiven" stünde. Das Gegensatzpaar "objektiv" - "subjektiv" ist in der Moral eine Falschmünze. Denn das objektiv-Sittliche ist das dem Willen des handelnden Subjektes durch die praktische Erkenntnis der Vernunft gegenständliche und als actus humanus (personal) vollzogene Handeln. "Objektiv gut" heißt, wie wir früher formulierten, soviel wie in die natürliche Intentionalität der "ratio naturalis" integriert und durch diese geordnet, gemessen, reguliert; oder auch: in den Kontext der Gesamt-Person, des Suppositums, und damit auch in die Finalitätsstruktur des menschlichen Seins integriert. "Subjektive" sittliche Intentionen müssen, um "gute Intention" zu sein, immer auch objektiv gut, d. h. vernunftgemäß, sein. Und das Objekt einer Handlung konstituiert sich nicht ohne den Bezug der Handlung zum handelnden Subjekt, seiner Vernunft und seinem Willen, - obwohl man es auch "abstrakt" als "Handlungstyp" oder "Handlungsweise" vergegenständlichen kann, dies jedoch nie unabhängig von seinem konstitutiven Bezug zur praktischen Vernunft; denn die abstrakte Vergegenständlichung einer Handlung und ihres "finis operis" (oder Objektes) ist nie die Vergegenständlichung eines rein "äußeren Faktums", sondern ihre Betrachtung "secundum quod est in ordinatione et apprehensione rationis"1; alles andere hieße, nur noch den Kadaver der sittlichen Handlung zu untersuchen, der ebensowenig eine sittliche Handlung ist, wie der Leichnam eines Menschen ein zusammenhängender Organismus ist. An einem Kadaver kann man nur noch die einzelnen Teile "sub ratione partis" studieren, aber nicht mehr den Gesamtorganismus. (Fs)

343b Das "Objektive" am menschlichen Handeln stellt sich also nicht dem "Subjektiven" gegenüber. Gegenbegriffe zum sittlich-Objektiven sind z. B. das naturhaft-Objektive (genus naturae) oder das nicht durch die Vernunft Geordnete, d. h. das, was nicht dem Willen durch die Vernunft gegenständlich ist. Das "Subjektive" - insofern man es als Gegensatz zum "Objektiven" begreift - ist der bloße Schein (das aristotelische nur "phainomenen agathon" oder nur "scheinbar Gute" im Gegensatz zum "wahrhaft Guten") oder die bloße "Meinung" (doxa), die sich noch nicht der Objektivität der Wahrheit vergewissert hat. Identifiziert man jedoch das "Subjektive" mit dem Sittlichen oder Personalen schlechthin, so ist es kein Gegenbegriff mehr zum sittlich-Objektiven, sondern stellt es sich einer anderen Art von Objektivität gegenüber: Der dinglichen Objektivität der den Menschen umgebenden Welt, Natur oder Gesellschaft. Diesen zweiten, nicht-ethischen Begriff des Objektiven mit demjenigen sittlicher Objektivität zu verwechseln und ihn dann einer sittlichen "Subjetivität" gegenüberzustellen, ist nicht nur ein folgenreicher Fehler vieler "traditionell" orientierter Moraltheologen; er findet sich insbesondere auch bei K. Rahner1, sowie seinen Schülern B. Schüller2 und H. Rotter3, ebenso bei F. Böckle, zunächst bezüglich des Begriffes des Handlungsobjektes4, und dann auch hinsichtlich der Beziehung des "Objektiven" zum "Subjektiven" (Objekt-Intention)5; nicht weniger deutlich treffen wir das Mißverständnis bei F. Scholz61, J. Fuchs82 und vielen anderen. (Fs)

Fußnote Rotter:
78 "Die Fähigkeit des Menschen, zur Welt in eine innere Distanz zu treten und die Dinge als Objekte zu begreifen, bedingt gleichzeitig die Fähigkeit zur Subjektivität." - "Der Begriff 'objektiv' wird in sehr verschiedenem Sinne gebraucht. Hier sei er als Gegensatz zu jenen subjektiven Dimensionen des menschlichen Aktes verstanden, die durch Gefühl und Freiheit charakterisiert sind. Objektive Momente im sittlichen Anspruch sind also jene Gegebenheiten, die unabhängig von personaler Stellungnahme vorgegeben sind" (H. ROTTER, Subjektivität und Objektivität des sittlichen Anspruchs, in: Christlich glauben und handeln, a. a. O., S. 196 u. 203). Man versteht, daß sich viele Moraltheologen aus einem solcherart entstellten Begriff des "Objektiven" zu befreien suchen. Man beachte: Das "Objekt" ist auch hier wiederum das, was vom eigentlich Menschlichen, Personalen absieht und ihm "vorausliegt". Sein Gegenbegriff ist "Freiheit". In Wirklichkeit sind jedoch das "Objektive" die durch die praktische Vernunft des Menschen im Kontext der Person konstituierten spezifisch-menschlichen Sinngehalte des Handelns. Das Vernünftig-Objektive ist nicht Gegensatz zur Freiheit oder deren Einschränkung und Bedrohung, sondern vielmehr ihr Fundament, "radix libertatis", wie Thomas sagt.

345a Die Vernunft, so sei es einmal gesagt, ist genau in dem Maße objektiv, wie sie subjektiv ist, d. h., wie sie meine Vernunft ist, aufgrund derer ich erkenne und unterscheide, was gut und schlecht ist. Objektivität im sittlichen Sinne ist letztlich nichts anderes als die Wahrheit der Subjektivität, eine Wahrheit, die sich der "ordinatio" der praktischen Vernunft verdankt und sich fundamental und in universaler Weise als "lex naturalis" zeigt. Eine Unterscheidung zwischen "subjektiver" und "objektiver" Sittlichkeit zu machen hat gerade deshalb, aber auch nur deshalb einen Sinn, weil die Vernunft und damit auch das Gewissen unter bestimmten Umständen ohne eigene Schuld irren kann. Aber sogar diese Art von Subjektivität besitzt in einem gewissen Sinn (per accidens, würde Thomas sagen) den Charakter von Objektivität: Nämlich der unaufgebbaren Tatsache, daß der Mensch, will er Mensch bleiben, gemäß den Diktaten seiner Vernunft handeln muß. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Objekt der Vernunft: das Intelligible (Wahre); Vernunft -> reflexionsfähiges Vermögen (Reflexivität); Beispiel: Auge; Freiheit

Kurzinhalt: Reflexivität indiziert Unabhängigkeit von Körperorganen, und das heißt: Geistigkeit ... Die Vernunft als Vernunft trifft das ihr eigene Gute, und dieses Gute ist das Kriterium für das Gut-sein menschlicher Handlungen

Textausschnitt: 148a Das adäquate Objekt der Vernunft ist das Intelligible. Pathologische Störungen der Vernunft als Vernunft sind nicht möglich, da der Akt der Vernunft als Akt der Vernunft nicht von Körperorganen abhängig ist. Der Beweis dieses Satzes gehört nicht in die Ethik. Sein Fundament sei dennoch genannt: Vernunft und auch Wille sind reflexionsfähige Vermögen. Dass ein Vermögen über sich selbst reflektieren kann, heißt, dass es fähig ist, sich seine eigenen Akte wiederum gegenständlich zu machen. Das Auge kann sich nicht sehen (außer in nicht-reflexiver Weise, d.h. in einem Spiegel); ein sinnliches Begehren kann sich nicht begehrend zu sich selbst verhalten oder seinen Akt selbst wiederum nicht-begehren (auch deshalb besitzen Tiere keine Freiheit). Der Intellekt bzw. die Vernunft kann seine Akte selbst erkennen und Urteile über seine Urteile fällen, der Wille kann ein Wollen wiederum zum Gegenstand des Wollens machen und es nicht wollen. Reflexivität indiziert Unabhängigkeit von Körperorganen, und das heißt: Geistigkeit1. Die Vernunft kann nicht "krank" sein oder fehlgehen, wie die Sinne; sie kann nur "gehindert", "gestört" usw. werden, und dies, weil menschliche Vernunft die Vernunft eines Sinnenwesens ist; weil strenggenommen nicht die Vernunft erkennt, sondern der Mensch als leib-geistige Einheit. (Fs) (notabene)

148b Das heißt nun: Die Vernunft (oder der Intellekt) ist - wie jedes Vermögen - naturhaft darauf hingeordnet, das ihr adäquate Objekt zu erkennen. "Der Intellekt" - erklärt Aristoteles -"ist immer richtig, nur das Streben und die (sinnliche) Vorstellung können auch nicht richtig sein"1 - nicht "richtig" bezüglich der Anforderungen der Vernunft, und deshalb müssen sie gemäß dem von der Vernunft erkannten Richtigen geordnet werden. (Fs)

148c Was wir das "wahrhaft Gute" nennen ist nun eben nichts anderes als gerade das, was natürliches Objekt der Vernunft ist. Das heißt: Wahre Erkenntnis, auch im Bereich des Praktischen, nennen wir jene Erkenntnis, die von der Vernunft geleistet wird. Wir brauchen nicht noch darüber hinaus zu fragen: wie können wir garantieren, dass die Erkenntnis der Vernunft als Vernunft "wahr" ist? Die Frage ist deshalb überflüssig, weil gilt: Sofern die Vernunft wirklich den ihr eigenen Akt ungehindert vollziehen kann, so ist dieser unter den Bedingungen ihrer eigenen Natur nach vollzogene Akt "Erkenntnis des Erkennbaren" (Intelligiblen), - so wie der entsprechende Akt des Sehsinnes "Sehen des Sichtbaren" und der des Tastsinnes "Fühlen des Tastbaren" ist. Und das Treffen des für den Intellekt Erkennbaren nennen wir ein wahre Erkenntnis. Anders könnten wir ja gar nicht sinnvoll von einem Unterschied zwischen wahrer und falscher Erkenntnis sprechen. (Fs)

148e Nun ist jedoch entscheidend: Wenn wir sagen: Die Vernunft trifft unfehlbar das Wahre, bzw. wahrhaft gut ist, was die Vernunft als gut beurteilt, so ist zu berücksichtigen, dass dies eine Aussage über die Vernunft des Menschen ist (d.h. über das Vermögen als solches), nicht aber eine Aussage über den Menschen, insofern er Vernunft-Urteile vollzieht. Der Mensch ist ja nicht nur Vernunft. Und Akte werden nicht von einzelnen Vermögen vollzogen, sondern immer vom ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Komplexität vermittels seiner Vermögen2. Vernunfturteile eines Menschen koexistieren in Interaktion und auch in einem Bedingungeverhältnis mit Akten sinnlicher Perzeption und sinnlichen Strebungen. Wenn ein Mensch vermittels seiner Vernunft urteilt "p ist gut", so ist das noch keine Garantie dafür, dass dieses Urteil vernünftig und eben "wahr" ist. Es ist vernünftig, d.h. es trifft das wahrhaft Gute, sofern in diesem Urteil auch wirklich die Ansprüche der Vernunft, und nicht andere, damit konkurrierende Ansprüche zur Geltung kommen. (Fs) (notabene)

149a Das könnte nun "rationalistisch" oder "stoisch" klingen, braucht aber nicht so verstanden zu werden. Es ist jedoch unumgänglich schrittweise vorzugehen. Erst nach und nach werden sich die Dinge klären. (Fs)

149b Die eben angesprochene "Unfehlbarkeit" der Vernunft bzw. des Intellektes bedeutet demnach nicht, dass der Mensch nicht irren kann. Gesagt ist nur: Der Irrtum erfolgt nicht auf Grund eines Defektes des intellektiven Vermögens, sondern aufgrund anderer Einflüsse. Der Intellekt abstrahiert intelligible Inhalte aus der Sinnesperzeption3. Hier spielt Veranlagung, physiologische Disposition, Übung u.a.m. eine große Rolle. Zudem, und das gilt besonders für den praktischen Intellekt, beeinflussen die affektiven Dispositionen das Urteil der Vernunft. Darüber wird noch zu sprechen sein. Angemerkt werden soll hier nur, dass aus diesen Gründen auch der Intellekt einer habituellen Ausrichtung auf den ihm eigenen Akt bedarf. Das geschieht durch die sogenannten "dianoetisehen" oder "intellektuellen" Tugenden (Verstandestugenden), von denen noch die Rede sein wird. (Fs; Fußnote)

149c Wir können festhalten: Die Vernunft besitzt im "Wahren" oder "Intelligiblen" das ihr adäquate Objekt, auf das sie naturhaft hingeordnet ist, von dem sie aber auch abgelenkt werden kann. Die Vernunft als Vernunft trifft das ihr eigene Gute, und dieses Gute ist das Kriterium für das Gut-sein menschlicher Handlungen. Deshalb ist es geradezu selbstverständlich, dass die Vernunft Maßstab für gut und schlecht in den menschlichen Handlungen ist. Ein anderer Maßstab ist, aus anthropologischen Gründen, gar nicht denkbar. Zweitens können wir sagen: Die Vernunft beurteilt alles andere, d.h. was nicht ursprünglich der Vernunft entspringt, in bezug auf sich selbst, gleichsam "in ihrem eigenen Interesse", ordnet es der ihr eigenen Erkenntnisweise ein und unter. Dies Interesse der Vernunft ist ein doppeltes: sich selbst als Vernunft zu bewahren, und alles andere gemäß dem der Vernunft gegenständlichen Guten zu ordnen. Deshalb sei - meint Thomas - für die nichtvernünftigen Strebungen gerade jene Verfassung "natürlicherweise richtig", durch die "der Akt der Vernunft und das Gut der Vernunft in keiner Weise gestört, sondern vielmehr unterstützt" wird. Im gegenteiligen Fall liegt vor, was "von Natur aus eine Verfehlung ist": So z.B. Beispiel Akte der Unmäßigkeit, "wodurch die Vernunft in ihrem Akt gehindert wird" und allgemein "sich den Leidenschaften unterwerfen, die das Urteil der Vernunft nicht in seiner Freiheit belassen: all dies ist ist natürlicherweise schlecht"1. (Fs)

150a Diese Forderung nach "Freiheit der Vernunft" beruht auf dem Prinzip: Die Vernunft ist der Garant dafür, das für den Menschen als Menschen Gute zu treffen. Eine "verdorbene" Vernunft ist nicht eine "falsch gebrauchte" Vernunft. Die Vernunft selbst kann nicht im eigentlichen Sinne missbraucht werden, aber sie kann ins Schlepptau nicht-vernünftiger Strebungen geraten, - zu denen, wie wir sehen werden, auch der Wille gehören kann. "Falsche" oder "verdorbene" Vernunft ist gar keine Vernunft: "Ratio corrupta non est ratio"2. (Fs)

150b Mehr als ein "Organ", das zu diesem oder zu jenem gebraucht werden kann, ist der Akt der Vernunft und des Intellektes insgesamt mit der Metapher des Lichtes beschreibbar. Das Licht kann nicht zum Verdunkeln gebraucht werden. Sofern es Licht ist, leuchtet es, erhellt es, macht es sichtbar, lässt es das Verborgene zum Vorschein kommen. Das Licht kann schwächer oder intensiver sein, seine Strahlen können auf Hindernisse stoßen, verdunkelt, gefiltert oder abgelenkt werden. Das intellektive Vermögen ist mit der Lichtquelle vergleichbar, sein Akt mit dem Lichtstrahl. Alles, was ihren Akt verfälscht, ist nicht aus ihr, sondern Hindernis für den ihr eigenen Akt. Intellektivität ist die dem Menschen eigene und spezifische Öffnung auf Wirklichkeit hin, auf das was ist in seiner ganzen für ihn relevanten Sinnfülle. Ein "Leben gemäß der Vernunft" oder "vernunftgemäßes Leben" heißt: In der Wahrheit leben, in dem und gemäß dem, was für den Menschen im eigentlichsten und tiefsten Sinne - eben vernünftigerweise - gilt und ihm entspricht. Und wiederum: Es gilt nicht zu fragen, wie wir wissen können, was denn nun vernünftig ist. Zuerst müssen wir festhalten: "Gut" für den Menschen ist, was der Vernunft als "gut" gegenständlich und in diesem Sinn "vernünftig" ist. Erst dann können wir fragen: Unter welchen Bedingungen sind wir denn vernünftig und leben auch tatsächlich gemäß der Vernunft? Unter welchen Bedingungen streben wir vernünftig nach dem Guten und erstreben als Letztes, was allein vernünftigerweise als Letztes erstrebt werden kann? Das ist das Thema jener Tradition von Ethik, wie sie durch Sokrates, Platon und Aristoteles, aber auch durch die epikureische und stoische Schule inauguriert wurde und wie sie spätestens bei Kant eine tiefgreifende Umgestaltung erfährt und in gewissem Sinne auch an ihr Ende gekommen ist, weil dort nicht mehr die Frage nach den Bedingungen von Vernünftigkeit, sondern - subjektivitätsphilosophisch - jene nach den Bedingungen von Freiheit als Autonomie des Willens ins Zentrum der Moral gerückt wird. Allerdings verbindet beide Traditionen, dass sie Freiheit nur unter der Bedingung von Vernünftigkeit zu denken vermögen3. (Fs) (notabene)

151a Die Frage nach den Bedingungen von Vernünftigkeit ist, mindestens zum Teil, identisch mit der folgenden: Was vermag die Vernunft zu "stören", sie von dem ihr in eigentümlicher Weise gegenständlichen Guten abzulenken und damit "Unvernünftigkeit" zu provozieren? Zweierlei ist hier zu nennen: Die Leidenschaften und der Wille. Und in einem anderen Sinne auch Mängel der Vorstellungskraft (Phantasie) und anderer für die Organisation der sinnlichen Perzeption verantwortlicher innerer Sinne, und schließlich falsche Meinungen (irrige Vorurteile) bzw. Unwissenheit. (Fs) (notabene)

151b Zugleich muss jedoch betont werden: Leidenschaften und Wille sind nicht nur jene menschlichen Gegebenheiten, die Vernunft "behindern" können. Sie sind auch jene Strebungen, durch die allein Vernunft praktisch und menschliches Handeln auch wirklich gutes Handeln zu werden vermag. Es geht hier, und dies sei bereits betont, nicht um eine Vernunftmoral im Sinne einer Moral der Leidenschaftslosigkeit. Viel eher besteht das sittliche Ideal einer Tugendethik darin, das Gute, d.h. das Vernunftgemäße leidenschaftlich zu tun, oder: mit Leidenschaft vernünftig zu handeln, bzw. mit Vernunft den sinnlichen Strebungen und der Dynamik des Willens zu folgen. Was aber sind "Leidenschaften" und wie ist das Verhältnis zwischen Vernunft und Wille zu verstehen?

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zuordnung: Handlung - sittlicher Wert; das sittliche Gute: Aristoteles - Platon (teleologische Ethik); Trennung: Handlungsanalyse und Wertanalyse

Kurzinhalt: Aristoteles ...: Die Metaphysik des Guten sei für die Ethik irrelevant; Durch die Trennung, das Auseinanderreißen von Handlungsanalyse und Wertanalyse, fällt der Begriff der menschlichen Handlung auf die Ebene ...

Textausschnitt: 300a Damit sind wir am entscheidenden Punkt unserer Analyse angelangt, nämlich bei der alten Frage philosophischer Ethik: Was ist Gerechtigkeit, Liebe, Wohlwollen (Freundschaft), Starkmut, Mäßigkeit, Keuschheit usw., also: was ist das sittlich Gute? Die Teleologen behaupten, es handle sich dabei um Wertmaßstäbe, anhand derer die Güterabwägung, also die Beurteilung von Handlungsfolgen vorgenommen werden müße. Damit vertreten sie eine platonische Position: Denn diese besagt, daß jedes Handeln in sich betrachtet bedeutungslos ist; nur dadurch, daß es ein Gut intendiere, erhalte es seinen Sinngehalt. Die Ethik handle also vom Guten, sei also wesentlich eine "Wertmetaphysik", konkret: eine Metaphysik des Guten. (Fs) (notabene)

300b Aristoteles hat diese Bestimmung der Ethik verworfen: Die Metaphysik des Guten sei für die Ethik irrelevant. Nicht weil die Metaphysik des Guten irrelevant sei. Sondern weil die Ethik nicht das Gute an sich, sondern die "Herstellung" oder "Bewirkung" des Guten durch das Handeln (das, im aristotelischen Sinne, "Nützliche") untersuche. Die Ethik handelt nicht von der "Gerechtigkeit", sondern vom "gerechten Menschen", bzw. vom "gerechten Handeln". Ja, mit Gerechtigkeit ist überhaupt eine Eigenschaft von menschlichen Handlungen gemeint, und nicht ein "Gut" oder "Wert", der vor allem Handeln und unabhängig von ihm bestehen würde. Die Ethik hat es vielmehr mit dem "praktisch Guten" zu tun, d. h. jenem Guten, das der Mensch in seinem Handeln und - in diesem Sinne - auch durch das Handeln erwirkt. Das gesuchte praktische (sittliche) Gute ist nicht eine Idee, aufgrund derer man beurteilen könnte, welche Handlungen nun "gut" seien, "wie ein Muster, mit dessen Hilfe wir auch das für uns Gute besser erkennen und, wenn wir es erkannt, erlangen könnten". Dies werde, wie Aristoteles mit einem Vergleich ausführt, bereits durch das herstellende Schaffen widerlegt: Denn wenn auch jeder Künstler oder Handwerker ein Gut zu erzielen beabsichtige, so würde es ihm nichts nützen, die "Idee" des Guten zu schauen. "Auch wäre es sonderbar, was es einem Weber oder Zimmermann für sein Gewerbe nützten sollte, das Gute an sich zu kennen, oder wie einer ein besserer Arzt oder Stratege werden sollte, wenn er die Idee des Guten geschaut hat. Auch der Arzt faßt offenbar nicht die Gesundheit an sich in's Auge, sondern die des Menschen, oder vielmehr die dieses konkreten Menschen. Denn er heilt immer nur den und den."1 (Fs) (notabene)

301a Aristoteles meint damit: Das praktisch Gute ist eine Eigenschaft von Handlungen; sittliche Werte ergeben sich aus der Analyse der dem Menschen gemäßen Handlungsweise, bzw.: aus der, in einer Anthropologie gegründeten, Analyse jener Handlungsweisen, die der Tugend entsprechen und sie hervorbringen. Denn die sittliche Tugend ist das im Menschen als "hexis prohairetike" ("habitus electivus", Habitus der Handlungswahl) erwirkte sittlich Gute. (Fs)

301b Jede in der aristotelischen Tradition stehende Ethik betrachtet sittliche Werte als eine Eigenschaft von menschlichen Handlungen. Werte sind nicht intuierte Ideen oder gesellschaftlich, durch "Sozialisation" vermittelte Handlungsmaßstäbe. Sie können als ideale Gebilde aufgrund einer Abstraktion vergegenständlicht werden; sie können auch sozial vermittelt und angeeignet werden. Aber so erklärt sich nicht ihr Ursprung. Dieser findet sich vielmehr im menschlichen Handeln als menschlichem. Werterkenntnis ist demnach auch nur im Rahmen einer philosophischen Anthropologie möglich. (Fs) (notabene)

301c Die sogenannte "teleologische Ethik" gehört zum platonischen Typ der Ethik. Somit zeigt sich nun in aller Klarheit, worin der eigentliche Unterschied zwischen der sogenannten traditionellen "streng-deontologischen" und der sogenannten "teleologischen Ethik" besteht: Darin, daß die sogenannte "deontologische Ethik" sittliche Werte als Eigenschaften von Handlungen betrachtet, und demnach, als Tugendethik, eine Analyse von Handlungsweisen vornehmen kann, die zugleich eine Analyse sittlicher Werte ist. Sie kann damit auch konkreten Handlungsweisen sittliche Wertprädikate zusprechen; und da man nie ungerecht handeln darf, was alle zugeben, aber bestimmte Handlungsweisen sich als "ungerecht" beschreiben lassen, so gibt es eben gewisse Handlungen, die immer sittlich schlecht sind. Unbeschadet der Tatsache, daß die Qualifizierung solcher Handlungen teleologisch vorgenommen wird, aber in einer Teleologie, die eine, anthropologisch begründete, fundamentale Verknüpfung von Handlungsanalyse und Wertanalyse behauptet, d. h.: letztere in der ersteren begründet. Diese Verknüpfung vollzieht sich in der Lehre von der Vernunft als Telos und Maßstab menschlichen Handelns, wie sie bereits dargestellt wurde. (Fs) (notabene)

301d Die sogenannte teleologische Ethik ist weder "teleologischer" noch weniger "deontologisch" als die sogenannte "deontologische Ethik". Ja, die sogenannte "teleologische Ethik" ist in einem gewissen Sinne, auf der Ebene der Begründung sittlicher Werte, sogar ausschließlich deontologisch; teleologisch argumentiert sie nur auf der Ebene der Handlungsanalyse ("Richtigkeit von Handlungen"), die aber keine Analyse menschlicher Sittlichkeit ist, sondern eine Analyse der Folgen menschlichen Handelns auf der Ebene vor-sittlicher Güter. Durch die Trennung, das Auseinanderreißen von Handlungsanalyse und Wertanalyse, fällt der Begriff der menschlichen Handlung auf die Ebene einer vor-sittlichen, physizistischen Bestimmung zurück (Bereich der vor-sittlichen Güter); die Sittlichkeit von Handlungen muß im Nachhinein rekonstruiert werden, und zwar durch Wertmaßstäbe, die der Güterabwägung angelegt werden. Diese Wertmaßstäbe können dann nur noch ausschließlich deontologisch begründet werden. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: teleologische Ethik; Schwierigkeit der Begründung einer Handlung als sittlich; Ausweg: naturalistischer Fehlschluß; Utilitarismus; gute Gesinnung (Liebesethik)

Kurzinhalt: Die Rekonstruktion des Begriffes der sittlichen Handlung im Rahmen der sogenannten "teleologischen Ethik" kann nicht gelingen, weil diese Ethik auf einer physizistischen Theorie des Handlungsobjektes gründet.

Textausschnitt: 301d Die sogenannte teleologische Ethik ist weder "teleologischer" noch weniger "deontologisch" als die sogenannte "deontologische Ethik". Ja, die sogenannte "teleologische Ethik" ist in einem gewissen Sinne, auf der Ebene der Begründung sittlicher Werte, sogar ausschließlich deontologisch; teleologisch argumentiert sie nur auf der Ebene der Handlungsanalyse ("Richtigkeit von Handlungen"), die aber keine Analyse menschlicher Sittlichkeit ist, sondern eine Analyse der Folgen menschlichen Handelns auf der Ebene vor-sittlicher Güter. Durch die Trennung, das Auseinanderreißen von Handlungsanalyse und Wertanalyse, fällt der Begriff der menschlichen Handlung auf die Ebene einer vor-sittlichen, physizistischen Bestimmung zurück (Bereich der vor-sittlichen Güter); die Sittlichkeit von Handlungen muß im Nachhinein rekonstruiert werden, und zwar durch Wertmaßstäbe, die der Güterabwägung angelegt werden. Diese Wertmaßstäbe können dann nur noch ausschließlich deontologisch begründet werden. (Fs) (notabene)

302a Daß dies der Fall ist, soll kurz gezeigt werden. Gezeigt werden soll aber auch, daß diese Rekonstruktion des Begriffes der sittlichen Handlung durch die an deontologisch begründeten Wertmaßstäben bemessene Güterabwägung ein Ding der Unmöglichkeit ist und daß deshalb einem teleologischen Ethiker, will er eine konkrete Handlungsweise als die nun sittlich geforderte, also sittlich richtige, ausweisen, allein übrig bleibt entweder 1. mit einem naturalistischen Fehlschluß zu operieren, oder 2. utilitaristisch zu argumentieren, oder 3. das sittlich Gute überhaupt nur noch in die "gute Gesinnung" zu verlegen, und zwar einer Gesinnung, die unabhängig davon gut ist, "was" man nun tut, wenn man nur verantwortlich, d. h. güterabwägend, zu seiner Entscheidung gekommen ist. Handlungen haben dann nur noch Ausdrucks- oder Zeichenfunktion für die sittliche Gesinnung, eine Lösung, die sich natürlich vor allem bei jenen findet, die eine teleologische Ethik mit einer christlichen Glaubens-, Liebes- und Hoffnungsmoral oder mit einem sogenannten "Ethos der Nachfolge" verbinden. In allen Fällen kann man eine, offenbar für alle diese Varianten wesentliche Aussage aufrechterhalten: Es gibt keine menschlichen Handlungen, denen eine malitia intrinseca zukommt, d. h.: es kann von keiner Handlungsweise gesagt werden, sie sei in sich und immer sittlich schlecht. Wenn auch nicht jedes Handeln prinzipiell indifferent oder gut ist, so ist doch prinzipiell jedes Handeln sittlich möglich und vertretbar, unter der Bedingung, daß man glaubt, liebt, hofft und zudem die vom Handeln tangierten "Güter" einer Abwägung unterzieht. (Fs) (notabene)

302b Die Rekonstruktion des Begriffes der sittlichen Handlung aufgrund deontologisch begründeter, und teleologischer Güterabwägung als Maßstab und Kriterium angelegter Wertmaßstäbe könne nicht geleistet werden: So lautet die zu erläuternde These, die identisch ist mit der Aussage: Es gibt zwischen der physizistischen Betrachtung von Handlungen (in ihrem genus naturae) und ihrer sittlichen Betrachtung (im genus moris) keine unmittelbare Ableitbarkeit. Sittliche Werte und " vorsittliche " Güter sind zwei gegenseitig nicht aufeinander zurückführbare Größen. "Fines autem morales accidunt rei naturali; et e converso ratio naturalis finis accidit morali."1 Will man einer Handlungsweise das Prädikat "sittlich" zusprechen, so muß man über eine Theorie verfügen, die es erlaubt, den axiologischen, sittlichen Wert-Gehalt von Handlungsweisen als menschliche (personale) Handlungen zu erfaßen; d. h.: man muß wie Thomas von Aquin, in aristotelischer Tradition, einen moralischen Begriff des Handlungsobjektes (obiectum morale) kennen, im Gegensatz zu den nur natural-"physischen" Gegenstandsbezügen des menschlichen Handelns. Die These ist also: Die Rekonstruktion des Begriffes der sittlichen Handlung im Rahmen der sogenannten "teleologischen Ethik" kann nicht gelingen, weil diese Ethik auf einer physizistischen Theorie des Handlungsobjektes gründet. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: teleologische Ethik; actio immanens; Herz (Mt 5.8); Zusammenhang zwischen Handeln und "Gesinnung"

Kurzinhalt: ... der gute Wille oder die gute Gesinnung, wird gerade in erster Linie, fundamental und "objektiv" durch das geprägt, was der Mensch tut

Textausschnitt: 312a Die sogenannte "teleologische Ethik" beruht auf physizistischer Grundlage. Deshalb zerstückelt sie das ganze Feld des sittlichen Handelns in "Güter", die wechselseitig in Konkurrenz stehen. Es fehlt jedoch eine Theorie darüber, welche Güter in einem solchen Konflikt "absolut", d. h. unantastbar sind, unbedingt berücksichtigt werden müssen, damit der menschlich-personale Sinn des Handelns überhaupt gewahrt bleibt. Dieser Sinn des menschlichen Handelns wird in der sogenannten teleologischen Ethik nirgends mit den Methoden einer philosophischen Ethik begründet. Begründungsfunktion übernimmt eine Theologie des "christlichen Propriums", theologische Positionen also, die - wie mir scheint: in illegitimer Weise - zur Lösung philosophischer Probleme herangezogen werden. (Fs)

312b Die Ethik ist jedoch eine eigenständige, von der Theologie und vom Glauben unabhängige philosophische Disziplin. Ihr Gegenstand ist der handelnde Mensch, seine innere Würde und operative Verwirklichung; es geht dabei nicht um die Realisierung von "Gütern", sondern um die Erwirkung des Gut-Seins des Menschen, um das gerecht-, starkmütig-, maßvoll-, treu-Sein usw. des Menschen. Es geht nicht darum, "Güter" zu bewirken, sondern zu bewirken, daß man im Vollsinne Mensch ist. (Fs)

312c Die sogenannte "teleologische Ethik" mißachtet diesen Primat des Menschen, denn es fehlt ihr der dazu nötige Rückbezug ihrer ethischen Methoden, Analysen und Aussagen auf eine Anthropologie. Aus diesem Rückbezug ergäbe sich die Zuordnung von menschlichen Handlungen und sittlichen Werten, und nur unter der Bedingung einer solchen anthropologisch fundierten Zuordnung, wie sie in der Ethik als Lehre von der sittlichen Tugend geleistet wird, existiert auch ein Begriff der menschlichen Handlung nicht als "natural event", sondern als sittliche Handlung. (Fs)

312d Im Begriff der sittlichen Handlung ist die wechselseitige Interdependenz und gegenseitige Durchdringung von "richtiger Handlungsweise" und "gutem Willen" (Gesinnung) eingeschlossen. Dies ist Ausdruck der Tatsache, daß sittliches Handeln eine actio immanens darstellt, ein Tun also, dem es spezifisch ist, daß seine Wirkung im Handelnden verbleibt. Handlungen sind immer auch Äußerungen innerer Gesinnung; sie sind aber nicht nur, im Sinne Schelers, "Träger" von sittlichen Werten, sondern sie sind selbst sittlicher Wert und damit auch gesinnungsprägend: Die Gesinnung wird von den Handlungsweisen mitgeprägt, hat aber selbst wiederum auf die Wahrung des genuinen sittlichen Sinnes menschlicher Handlungen prägende Kraft. Es besteht damit ein wechselseitig konstituierendes Verhältnis von innerem Willensakt und äußerem Handeln.1 (Fs)

312e Gerade in dieser Perspektive zeigt sich, daß es beim menschlichen Handeln um das Gut-Sein des Menschen geht. Es geht bei der Moral um das Innere, das Herz des Menschen. Dieses Innere, der gute Wille oder die gute Gesinnung, wird gerade in erster Linie, fundamental und "objektiv" durch das geprägt, was der Mensch tut. Gerade die Heilige Schrift erinnert an dieses grundlegende Proprium des sittlichen Handelns: Aus dem Herzen kommen nicht die "Werte", sondern ganz bestimmte Handlungen: "Aus dem Herzen kommen die schlechten Eingebungen: Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. Das ist es, was den Menschen unrein macht" (Mt 15,19). Und es ist ja ebenfalls Matthäus, der uns in der sechsten Seligpreisung die tiefste, gerade teleologische Perspektive des solchermaßen verstandenen sittlichen Handelns aufzeigt: "Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Mt 5.8).2 (Fs)

Fußnote 62:
In diesem Zusammenhang ist die Reduktion aller praktischen Güter auf vorsittliche Güter die ausschlaggebende Vor- (und Fehl-)Entscheidung; denn alle diese Güter werden damit als "kontingent" und damit sittlich "relativ" betrachtet. Darin sieht F. BÖCKLE (Fundamentalmoral, a. a. O. S. 307) geradezu das "Hauptargument" für eine "teleologische Begründung" sittlicher Normen: "Ihr Hauptargument liegt im Hinweis, daß die unserem Handeln aufgegebenen Güter und Werte ausschließlich bedingte, geschaffene und damit begrenzte Güter oder Werte sind. Dann aber kann die sittliche Beurteilung des Handelns nur unter Berücksichtigung dieser Bedingtheit sowie unter Abwägung der eventuell konkurrierenden Güter erfolgen. Zwar ist der Mensch vom absoluten Grund des Sittlichen unbedingt gefordert, doch als kontingentes Wesen in einer kontingenten Welt kann er das ihn absolut anfordernde 'bonum' immer nur an und in den 'bona' verwirklichen, die als kontingente Güter oder Werte eben 'relative' Werte sind und als solche niemals a priori als der je größte Wert, der überhaupt nicht mit einem höheren konkurrieren könnte, ausgewiesen sind. Im Hinblick auf die bona bleibt daher je nur die Frage nach dem vorzugswürdigeren bonum möglich, und das heißt, jede konkrete kategoriale Entscheidung muß - um nichts fälschlich Kontingentes zu verabsolutieren - letztlich auf einer Vorzugswahl beruhen, in der nach Güter- und Wertprioritäten entschieden werden muß." In dieser Aussage wird die ganze Problematik, Schwäche und Inkonsistenz der sogenannten "teleologischen Ethik" deutlich; Inkonsistenz, weil jetzt plötzlich Güter und Werte (letztere sind ja auch für Teleologen nicht vor-sittlich) auf dieselbe Stufe des Kontingenten und Relativen gestellt werden. Die Schwäche des Arguments liegt darin, daß in jeder sittlichen Handlung das sittliche Gutsein der Person auf dem Spiele steht, und daß dieses Gutsein immer auch davon abhängt, was ich tue. Praktische Güter, die in einer sittlichen Handlung gewählt und verfolgt werden, sind nicht einfach "Dinge", mit denen man hantiert und kalkuliert. Die Sittlichkeit einer Handlung, in der die ganze Person involviert ist, ist jedoch immer ein absolutes und unbedingtes Gut, auch wenn es sich bei der Person um ein nichtabsolutes, sondern geschöpfliches Wesen handelt. Das ist deshalb so, weil der Mensch gerade im sittlichen Gutsein seine Beziehung zum Unbedingten und absoluten Grund jeder sittlichen Forderung - Gott - herstellt. In Bezug auf das im konkreten Handeln involvierte Gut-Sein kann es niemals ein eventuell "höheres" oder "konkurrierendes" Gut geben. Wer jedoch die Vorannahme akzeptiert, in unserem Handeln gehe es nur um vor-sittliche Güter, dem wird dieses Argument kaum plausibel erscheinen, weil er von Anfang an die Perspektive des Sittlichen, das "ethische Proprium", aus den Augen verloren hat.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung 2: teleologische Ethik; Tun - Gesinnung (Intention);

Kurzinhalt: ... untrennbare Verschmelzung von Tun und Gesinnung, von Vernunft und Wille, von objektivem Handlungssinn und Subjektivität.

Textausschnitt: 313b Menschliches Handeln ist wesentlich elektives, oder aristotelisch gesagt: prohairetisches Handeln. Jedes Handeln ist wesentlich ein Wollen, und auch Handlungsobjekte sind immer Gegenstände eines Wollens, sei dies nun auf der Ebene der konkreten Handlungswahl oder auf jener der diese Wahl (electio) mitprägenden Intention, die ja selbst sich immer auf Handlungsobjekte bezieht, aber solche, die nicht unmittelbar, sondern nur über anderes (ea quae sunt ad finem, die sog. "Mittel") erreichen läßt. Die Intention ist nicht die zum objektiven Element des Tuns hinzutretende "subjektive" Gesinnung, sondern sie besitzt ebenfalls immer einen objektiven, vernunftgeprägten Charakter; und als Willensakt ist die Intention ebenso wie die konkrete Handlungswahl Bestandteil meines Innern, meiner Subjektivität: Sowohl, was ich tue, wie auch, was ich mit diesem Tun intendiere, formt die Gesinnung. Gleichzeitig kommt auch beiden eine objektive Bedeutung zu: Sowohl, was ich tue, als auch was ich intendiere, besitzt einen objektiven Gehalt, der von der Vernunft in einem praktischen Uneil (präzeptiv) ausgesprochen und geprägt ist. Das in der sogenannten "teleologischen Ethik" supponierte "Nebeneinander", "Übereinander" bzw. "Nacheinander" von 'guter Gesinnung' und nichtiger Handlungsweise" ist handlungstheoretisch verfehlt und verpaßt die Eigenheit des sittlichen Handelns: Die untrennbare Verschmelzung von Tun und Gesinnung, von Vernunft und Wille, von objektivem Handlungssinn und Subjektivität. (Fs) (notabene)

314a Es verpaßt auch die Möglichkeit, jene Akte, die nur im Inneren des Menschen vollzogen werden, als sittliche Handlungen aufzufassen, und letztlich also gerade die "Gesinnung des Herzens" in die ethische Analyse einzubeziehen.1 Denn wie könnte man "teleologisch" ein Urteil bilden: Die Folge der Tötung eines Unschuldigen (auch nur schon des Willens zu einer solchen Tötung) ist die "Verunreinigung des Herzens", die Bosheit der Gesinnung? Ein "Teleologe" kann aufgrund seines Ansatzes sich nur auf die äußeren, letztlich inter-personalen, Folgen seines Handelns beschränken, muß allerdings die "inner-personalen" unberücksichtigt lassen.2 Mir ist kein teleologisches Kalkül bekannt, das die "gute Gesinnung" oder die "Reinheit des Herzens" selbst in die Güterabwägung einbezogen hätte. Das wäre auch aus dem Blickwinkel dieser Ethik bedeutungslos, denn sie behauptet ja, die durch Güterabwägung festgestellte "Richtigkeit" von Handlungsweisen konstituiere sich unabhängig und von und vor aller Gesinnung; denn die Gesinnung ist ein sittliches Gut, die abzuwägenden Güter jedoch sind vor-sittliche Güter. (Fs)
314b Im Rahmen einer Ethik hingegen, die den objektiv-werthaften Charakter des menschlichen Handelns zu bestimmen und zu analysieren vermag, können dann auch deontologische Formulierungen jener Handlungsbedingungen vorgenommen werden, die unabhängig von allen Umständen oder Folgen immer gewahrt sein müssen, damit Wert und Sinngehalt des Handelns als menschliches Handeln überhaupt gewahrt bleiben. Solchen deontologischen Formulierungen liegen immer anthropologisch fundierte teleologische Begründungen zugrunde, auch wenn diese in bestimmten Zusammenhängen (z. B. Lehramtsäußerungen) nicht unbedingt aufgeführt zu werden brauchen. Sie fallen spezifisch in die Kompetenz der philosophischen Ethik. (Fs)

315a Damit vermag die Ethik über den "objektiven Sinn" des menschlichen Handelns zu sprechen, womit mit "objektiv" nicht die Zielhaftigkeit einzelner Akte auf der naturalen Ebene (genus naturae) gemeint ist, sondern der menschlich-personale und damit auch sittliche Gehalt bestimmter Handlungsweisen; dieser objektive Gehalt (das sogenannte "moralische Objekt") entspricht jeweils einer spezifischen sittlichen Tugend. (Fs)

315b In der sogenannten teleologischen Ethik fehlt die Möglichkeit zu einer solchen Analyse der objektiven Struktur (Wertstruktur) des menschlichen Handelns als spezifisch menschliches. Handlungen werden auf der Ebene vorsittlicher Güter spezifiziert, Werte unabhängig davon auf einer "transzendentalen" Ebene, die durch einen versteckten Deontologismus begründet wird. Damit wird es unmöglich, konkrete Handlungsweisen sittlichen Werten zuzuordnen. Letztlich wird versucht, den sittlichen Sinn des Handelns durch Güterabwägung zu rekonstruieren, ein Verfahren, das allerdings der Struktur des naturalistischen Fehlschlußes entspricht. Durch den Hiatus von sittlichen Werten und Handlungen wird dem Menschen eine praktisch unbeschränkte Verfügungsgewalt über sein eigenes Sein zugesprochen. (Fs) (notabene)

315c Die natürliche Vernunft, die ad imaginem Dei geschaffen ist, fällt dabei in ihrer Telos-funktion und maßstäblichen Aufgabe völlig außer Betracht. Es ist jedoch gerade die Vernunft, die in ihrer Stellung im menschlichen Suppositum, ihrer personalen Bedeutung also, überhaupt menschliche Handlungen in ihrem genus moris konstituiert. Ihre Akte als praktische Vernunft bilden ein natürliches Gesetz, das Gesetz der praktischen Vernunft, das das menschliche Handeln normativ prägt und es als sittliches konstituiert. (Fs)

315d Daß über dies hinaus, ist einmal der menschliche Gehalt des menschlichen Handelns gewahrt, eine Fülle anderer Gesichtspunkte für die Setzung einer sittlich richtigen Handlung hinzutreten, dabei auch Umstände, Folgen usw. berücksichtigt werden müssen, steht hierbei gar nicht zur Diskussion. Das ist immer schon klar gewesen. Was hingegen in der teleologischen Ethik nicht mehr klar zu sein scheint, ist, daß der spezifisch menschliche Sinngehalt des Handelns, sein sittlicher Gehalt also, nicht von der Situationsbezogenheit des Handelns abhängt und nur insofern von den Folgen, als zu diesen Folgen auch jene gezählt werden, die sich in einem anthropologischen Rückbezug für menschliches Handeln als menschliches eben als konstitutiv erweisen. (Fs)

315e Deshalb kann man bei der sogenannten "teleologischen Ethik" auch von "Utilitarismus" sprechen. Diese Ethik ist utilitaristisch, weil sie behauptet, daß grundsätzlich jede Handlungsweise gut, bzw. keine Handlungsweise grundsätzlich sittlich schlecht sein kann. Denn unter "Utilitarismus" versteht man ja genau das: Daß sich prinzipiell jede Handlung erst innerhalb eines Nutzenkalküls in ihrem sittlichen Wert formuliert und entsprechend auch jeweils neu bewertet werden kann; daß ihre sittliche Bewertung also grundsätzlich zur Disposition des Handelnden steht. (Fs)

[...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: actus humanus; Objekt des Handelns - Gesinnung; finis operis

Kurzinhalt: Als "menschliche Handlungen" - ein Synonym für "sittliche Handlung"1 - werden Akte bezeichnet, über die der Mensch ein "dominium" besitzt,

Textausschnitt: 317c Der sehr präzise, aber etwas trockene technische Terminus "Objekt" läßt leicht vergessen, daß damit eigentlich die einzelnen Handlungen zukommende sittliche Finalität, die zugleich den sittlichen Gehalt oder Sinn solcher Handlungen ausmacht, gemeint ist.1 Gerade der Begriff des Objektes, und der mit diesem sachlich identische des "finis operis", ist immer wieder naturalistisch fehlgedeutet worden. Und man hat wohl auch nicht mit genügender Klarheit den Zusammenhang zwischen diesem "objektiven Sinn" des menschlichen Handelns und dem Naturgesetz als Gesetz der praktischen Vernunft durchscheinen lassen. Im folgenden sollen diese Zusammenhänge - ohne Anspruch auf eine vollständige und erschöpfende Darstellung - im Sinne einer abschließenden Synthese der bisherigen Analysen im Grundriß aufgezeigt werden. (Fs) [...]


318a Beim "Tun", dessen objektiver Sinngehalt hier zur Debatte steht, geht es nicht um irgend ein Tun, sondern um jenes, das der hl. Thomas "actus humanus" nennt. Als "menschliche Handlungen" - ein Synonym für "sittliche Handlung"1 - werden Akte bezeichnet, über die der Mensch ein "dominium" besitzt, bzw. insofern er über sie ein solches besitzt. Es sind also Akte, die der Mensch in personaler Autonomie, aus Freiheit, willentlich und mit vernünftiger Überlegung vollzieht: Denn durch die Vernunft und den Willen ist der Mensch Herr seines Tuns.2 (Fs)

318b Deshalb gibt es Tätigkeiten, die der Mensch vollzieht, die als solche noch nicht eine "menschliche (bzw. sittliche) Handlung" genannt werden können: Beispielsweise reine Erkenntnisakte (als solche) oder Akte des Herstellens (Technik, Kunst), "Menschliche Handlungen" gehören immer dem Bereich einer sittlichen Tugend an, bzw. stellen sich einer solchen, als Laster, entgegen. Die Herstellung eines Schuhs oder eines Gebäudes, der Vollzug einer wissenschaftlichen Erkenntnis oder das Malen eines Gemäldes können jedoch als solche keiner (sittlichen) Tugend zugeordnet werden. Wenn wir also sagen würden, das "Objekt" der Schuhfabrikation ist der Schuh, das der Bautätigkeit das Haus, dasjenige der wissenschafltichen Erkenntnis z. B. das Gehirn einer weißen Maus und jenes des Malens eine bestimmte Landschaft, so sprechen wir nicht von "Objekten" als Gehalten von sittlichen Handlungen. Auch wenn wir diese Objekte als Ziele der entsprechenden Tätigkeiten betrachten (Ziel der Schuhfabrikation ist der Schuh, [...]

318d Damit will nun nicht gesagt sein, daß diese Art von Handlungen (menschliches Schaffen, Herstellen, Forschen, künstlerische Tätigkeit) nicht auch "sittliche Handlungen" sein können; ja es muß sogar gesagt sein, daß sie dies notwendigerweise de facto immer sind. Wer Schuhe fabriziert, Häuser baut, Gehirnfunktionen von weißen Mäusen untersucht oder Bilder malt, tut dies immer auch, weil er darin ein bestimmtes praktisches Gut verfolgt; Häuser baut man nicht, um der Häuser willen, [...]

319a So gelangen wir, auf einer anderen Ebene, zu einem zweiten Begriff von "Objekt" des Handelns: Auch wenn der Architekt "Häuser" baut (der materiale Aspekt seines Tuns) so ist das, was er tut formell und im sittlichen Sinne wesentlich ein Akt, der über das faktische "Gebäude-Errichten" hinausweist (etwa ein Akt der Gerechtigkeit, sofern die Häuser tatsächlich dazu taugen, um darin wohnen zu können). Denn er verfolgt ein menschliches Gut, und zwar in der Regel für andere. Würde er das nicht, so wäre er zwar vielleicht kein schlechter Architekt, aber sein Tun wäre im sittlichen Sinne objektiv verschieden; etwa wenn er, anstatt im Hinblick auf das gemeine Wohl menschliche Wohn-, Arbeits- und Kulturstätten, allgemein: menschlich "Nützliches" zu schaffen, sein Können dafür verwenden würde, andere Menschen "gekonnt" zu hintergehen und sich dabei zu bereichern.1 (Fs)

320a Es scheint mir wichtig darauf hinzuweisen, daß dabei noch nicht die Frage der "Intention" angeschnitten ist.2 Dies wäre der Fall, wenn wir, über das Gesagte hinaus, noch die Möglichkeit in Betracht ziehen würden, daß der Architekt seine Tätigkeit vollzieht, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, einen Wettbewerbspreis zu gewinnen oder berühmt und bestaunt zu werden; solche über den objektiven Sinn des Tuns hinausweisende Intentionen liegen in der Regel vor und sie sind sittlich höchst bedeutsam,ja letztlich sogar ausschlaggebend. Das Objekt jedoch, von dem hier die Rede ist, ist jenes Ziel, das mit einem Tun in sich, also "objektiv" verfolgt wird und das diesem Tun zuallererst überhaupt einmal Charakter und Spezifität einer "menschlichen" bzw. "sittlichen Handlung", also seine "moralische Differenz" verleiht.1 (Fs)

320b Die genannten Beispiele beziehen sich auf Handlungen, die ja nun zunächst einmal nicht die typischsten und elementarsten für "sittliche Handlungen" sind, weil sie ursprünglich auch gar nicht aus dem Bereich des sittlichen Handelns stammen. Analogien aus dem nicht-sittlichen Bereich sind jedoch, wenn man sie nicht mißbraucht, äußerst hilfreich, weil man gerade an ihnen mit besonderer Klarheit jene spezifischen Bedingungen auszumachen vermag, die zu einer sittlichen Handlung gehören. In anderen Handlungsbereichen ist dies oft schwieriger. Akte wie "essen" ("sich ernähren"), "ein Kind zeugen", "sprechen" (wenn wir einmal von der rhetorischen "Kunst des Überzeugens" absehen), "einen Menschen töten" usw. besitzen die Eigenart, daß sie ursprünglich dem Bereich des sittlichen Handelns zugehören; d. h., sie können überhaupt nur als sittliche Handlungen, als actus humanus als Gegenstand eines Tuns betrachtet werden. Es ist sinnvoll, den Architekten als Architekten vom Architekten als Menschen zu unterscheiden; es wäre aber nicht sinnvoll, denjenigen, der sich ernährt als solchen, von einem, der sich ernährt, als Mensch zu unterscheiden; und so auch in den anderen Fällen. Natürlich können wir den Prozeß der Ernährung, [...]

321a Oder anders gesagt: Ein Architekt, der ein guter, d. h. kompetenter Architekt ist, handelt als guter und kompetenter Architekt auch unter Absehung der sittlichen Komponente seines Handelns als menschliches Handeln. Jemanden uns den Akt der Zeugung unter Absehung seiner Qualität als actus humanus vorzustellen zu versuchen, dürfte uns kaum gelingen; wir betrachten ja als einen schlechten ("inkompetenten") "Erzeuger" oder "Vermittler" menschlichen Lebens gerade denjenigen, der die moralische Dimension seines Handelns nicht oder falsch berücksichtigt. (Fs)
321b Im Bereich des menschlichen Handelns sind in den meisten Fällen die Sphären des "Kunsthandels" und jene des genuin sittlichen Handelns vermengt. Verschiedenste Arten von Fertigkeiten, technisches Können und Hilfsmittel geraten in den Bereich menschlichen Handelns. Das macht es uns vielleicht heute gerade schwer, besonders zwei menschliche Handlungssphären, die genuin sittlicher Art sind, als solche zu erkennen und sie in ihrer Eigenart vom bloßen Kunsthandeln, der Fertigkeit, dem "Können" usw. zu unterscheiden: die menschliche Sprache und die menschliche Sexualität. Das zeigt sich nicht zuletzt in der so gängigen Reduktion sittlicher Handlungsobjekte auf vor-sittliche Güter.1 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Wille: Form - Materie

Kurzinhalt: ... daß jede sittliche Handlung formell ein Willensakt ist, in dem das, was man tut, sich wie die Materie zur Form (dem Willen) verhäl

Textausschnitt: 313a Der Zusammenhang zwischen Handeln und "Gesinnung" läßt sich nur verstehen, wenn berücksichtigt wird, daß jede sittliche Handlung formell ein Willensakt ist, in dem das, was man tut, sich wie die Materie zur Form (dem Willen) verhält; eine Materie allerdings, die dem menschlichen Willen ein angemessenes Objekt ist, was nun wiederum nur die Vernunft zu leisten vermag. Nicht "Dinge" zerstören die Gesinnung und verunreinigen das Herz; sondern Handlungen, die das Licht der Vernunft mißachten.1 (Fs; Fußnote!) (notabene)

Fußnote:
62 In diesem Zusammenhang ist die Reduktion aller praktischen Güter auf vorsittliche Güter die ausschlaggebende Vor- (und Fehl-)Entscheidung; denn alle diese Güter werden damit als "kontingent" und damit sittlich "relativ" betrachtet. Darin sieht F. BÖCKLE (Fundamentalmoral, a. a. O. S. 307) geradezu das "Hauptargument" für eine "teleologische Begründung" sittlicher Normen: "Ihr Hauptargument liegt im Hinweis, daß die unserem Handeln aufgegebenen Güter und Werte ausschließlich bedingte, geschaffene und damit begrenzte Güter oder Werte sind. Dann aber kann die sittliche Beurteilung des Handelns nur unter Berücksichtigung dieser Bedingtheit sowie unter Abwägung der eventuell konkurrierenden Güter erfolgen. Zwar ist der Mensch vom absoluten Grund des Sittlichen unbedingt gefordert, doch als kontingentes Wesen in einer kontingenten Welt kann er das ihn absolut anfordernde 'bonum' immer nur an und in den 'bona' verwirklichen, die als kontingente Güter oder Werte eben 'relative' Werte sind und als solche niemals a priori als der je größte Wert, der überhaupt nicht mit einem höheren konkurrieren könnte, ausgewiesen sind. Im Hinblick auf die bona bleibt daher je nur die Frage nach dem vorzugswürdigeren bonum möglich, und das heißt, jede konkrete kategoriale Entscheidung muß - um nichts fälschlich Kontingentes zu verabsolutieren - letztlich auf einer Vorzugswahl beruhen, in der nach Güter- und Wertprioritäten entschieden werden muß." In dieser Aussage wird die ganze Problematik, Schwäche und Inkonsistenz der sogenannten "teleologischen Ethik" deutlich; Inkonsistenz, weil jetzt plötzlich Güter und Werte (letztere sind ja auch für Teleologen nicht vor-sittlich) auf dieselbe Stufe des Kontingenten und Relativen gestellt werden. Die Schwäche des Arguments liegt darin, daß in jeder sittlichen Handlung das sittliche Gutsein der Person auf dem Spiele steht, und daß dieses Gutsein immer auch davon abhängt, was ich tue. Praktische Güter, die in einer sittlichen Handlung gewählt und verfolgt werden, sind nicht einfach "Dinge", mit denen man hantiert und kalkuliert. Die Sittlichkeit einer Handlung, in der die ganze Person involviert ist, ist jedoch immer ein absolutes und unbedingtes Gut, auch wenn es sich bei der Person um ein nichtabsolutes, sondern geschöpfliches Wesen handelt. Das ist deshalb so, weil der Mensch gerade im sittlichen Gutsein seine Beziehung zum Unbedingten und absoluten Grund jeder sittlichen Forderung - Gott - herstellt. In Bezug auf das im konkreten Handeln involvierte Gut-Sein kann es niemals ein eventuell "höheres" oder "konkurrierendes" Gut geben. Wer jedoch die Vorannahme akzeptiert, in unserem Handeln gehe es nur um vor-sittliche Güter, dem wird dieses Argument kaum plausibel erscheinen, weil er von Anfang an die Perspektive des Sittlichen, das "ethische Proprium", aus den Augen verloren hat.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: actus humanus; Objekt des Willens: Ziel; finis operis - finis operantis; Objekt erster und zweiter Ordnung; Zeugung -> Objekt; materia circa quam

Kurzinhalt: Die Bestimmung des Handlungsobjektes als "Ziel" des Willens ist bei Thomas fundamental

Textausschnitt: 322a Die Bestimmung des Begriffes des "actus humanus" steht bei Thomas in einem Artikel, der die Überschrift trägt "Ob es dem Menschen eigen ist, wegen eines Zieles zu handeln". Die Lösung der Frage verläuft über die Bestimmung der "actus humani" als jene Art von Tätigkeiten, "quae ex voluntate deliberata procedunt". Was aber willentlichen Ursprung besitzt, wird um eines Zieles oder Guten willen verfolgt; denn das Objekt des Willens ist das Ziel oder das Gute. Und gerade deshalb handelt der Mensch, wenn er als Mensch, und d. h. "sittlich" handelt, immer um eines Zieles oder eines Guten willen. Es ist also das Ziel oder das Gute, das der Wille verfolgt, welches dem menschlichen Handeln seinen objektiven Gehalt verleiht, es also zunächst einmal sittlich qualifiziert und spezifiziert.1

322b Die Bestimmung des Handlungsobjektes als "Ziel" des Willens ist bei Thomas fundamental. Die neoscholastische "Normalsprache" einer disjunktiven Unterscheidung zwischen Objekten und Zielen, sowie zwischen "finis operis" und "finis operantis", hat diesen Tatbestand oft in Vergessenheit geraten lassen, obwohl diese Sprechweise aus praktischen Gründen als zweckmäßig bezeichnet werden muß und sich auch der hl. Thomas ihrer durchaus bedient; ihr gegenüber ist nur in dem Maße Vorsicht geboten, als sie übersehen lassen könnte, daß natürlich auch das "Objekt" immer ein Ziel (ein Gut) für den Willen, und das Ziel der Intention jeweils ebenfalls ein "Objekt" darstellt.1 Es ist unsinnig, das "Objektive" dem "Subjektiven" gegenüberzustellen. Eine solche Gegenüberstellung besitzt meist physizistische Implikationen. Im Zusammenspiel von Handeln und Intention gibt es ein Objekt erster und ein Objekt zweiter Ordnung. "Subjektiv" ist vielfach lediglich die Zuordnung von konkreten Handlungen und Intentionen. Wer, um das bereits von Aristoteles angeführte Beispiel zu verwenden, stiehlt, mit der Intention einen Ehebruch zu verüben, der tut und intendiert etwas objektiv Schlechtes. Die Intention ist nur insofern subjektiv, und also ein "finis operantis", als eben die Ausrichtung des Diebstahls auf den Ehebruch keineswegs bereits zum objektiven Sinngehalt eines Diebstahls gehört2; die intentionale Zuordnung ist eine solche des handelnden Subjekts, aber dies unbeschadet der Tatsache, daß die Sittlichkeit einer solchen Intention genau gleich nach objektiven Maßstäben beurteilt werden muß. (Fs) (notabene)
323a Festgehalten werden soll hier zunächst dies: Der Begriff des Handlungsobjektes im sittlichen Sinn beruht auf dem Begriff der "menschlichen Handlung". Objekt einer sittlichen Handlung ist demnach keinesfalls der Gegenstand irgendeiner Potenz oder menschlichen Kunstfertigkeit: sondern nur und ausschließlich ein Objekt des Willens, und d. h. ein "Ziel" oder ein vom Willen verfolgtes "Gut". Natürlich können in diese sittlichen Objekte des Willens objektive Elemente anderer Potenzen und Fertigkeiten integriert sein; das ist auch in der Regel der Fall. Sie bilden dann, als materiale Bestandteile des sittlichen Objektes, die sogenannte "materia circa quam", aber sie sind diese bereits als Bestandteile des sittlichen Objektes: Um nämlich als solche überhaupt dem Willen als ein Gut (oder Objekt) erscheinen zu können, müssen sie von der praktischen Vernunft geordnet und geprägt sein.1 (Fs)

323b Ein Beispiel: Das "Gut der Zeugung", das nach F. Böckle das Objekt des menschlichen Zeugungsaktes ist, ist, als solches, gar nicht das (sittliche) Objekt dieses Aktes; das "Gut der Zeugung" ist vielmehr das Gut (oder Objekt oder "finis naturalis") der menschlichen Zeugungspotenz, d. h. seine natürlich-biologische Zielhaftigkeit. Wenn wir jedoch das "Objekt" des menschlichen Zeugungsaktes als "sittliches Objekt" betrachten, d. h. als Objekt eines "actus humanus", was er ja in Wirklichkeit ist, und nicht eines "actus potentiae generativae", dann ist dieses Objekt nicht einfach das "Gut der Zeugung"; dieses wird zwar dieses Objekt material bestimmen, letzteres erschöpft sich jedoch keineswegs darin. Das Objekt des menschlichen Zeugungsaktes (als "actus humanus", personaler Akt) ist das menschliche Gut der Weitergabe menschlichen Lebens. Denn daß das (naturale) Objekt des rein physisch betrachteten Zeugungsaktes ein menschliches Wesen ist, darum "kümmert" sich die naturale Intentionalität der Zeugungspotenz überhaupt nicht; dieses Gut ist nur für den Menschen intendierbar, insofern er als Mensch handelt. Und er kann dieses Gut in all seinen Dimensionen erfassen, insofern er sich darüber im Klaren ist, was ein Mensch ist und worin die Würde und Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens besteht; daß er eine direkt von Gott erschaffene unsterbliche Seele besitzt; daß der menschliche Zeugungsakt Mitwirkung an einem göttlichen Schöpfungsakt ist und daß Weitergabe des menschlichen Lebens Weitergabe des Ebenbildes Gottes, Aufbau der menschlichen Gemeinschaft und - in christlicher Perspektive - der Kirche als mystischer Leib Christi und Volk Gottes bedeutet. All diese objektiven Gehalte sind keineswegs im "Gut der Zeugung" als "finis maturalis" der "potentia generativa" enthalten. Sie werden vielmehr dadurch konstituiert, daß dieser generative Akt der Akt eines Menschen ist, daß er im Rahmen des menschlichen Suppositums (und dann auch in der übernatürlichen Ordnung der Gnade) einen umfassenderen, als den nur naturalen Sinngehalt besitzt und daß er, wird er vollzogen, ein "actus humanus" ist. Diese objektiv-sittlichen Gehalte sind nur dem Menschen als menschlich handelndem Wesen gegenständlich und werden so zum Objekt seines Tuns {"menschliche Zeugung"). (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Handlungsobjekt, Wille: actus interior oder elicitus - actus exterior (der imperatus; imperium - bonum rationis

Kurzinhalt: Wenn von einem "inneren" und von einem "äußeren" Akt die Rede ist, so ist mit "äußerem" Akt nicht primär das "äußere", d. h. sich nach außen hin manifestierende und sichtbare Tun gemeint; sondern ...

Textausschnitt: 325a Abgesehen von jenen menschlichen Handlungen, die vom Willen allein vollzogen werden (ein innerer Akt der Gottesliebe, ein bloßer "Wunsch"), zeigt ein actus humanus eine "zusammengesetzte" Struktur auf: Er ist, als vom Willen bewegter und "befohlener" Akt ein Kompositum aus einem inneren Akt des Willens (actus interior oder elicitus) und einem äußeren Akt (actus exterior oder imperatus). Die überwiegende Mehrzahl menschlicher Handlungen vollziehen sich ja vermittels (durch den usus) einer anderen Seelenpotenz oder/und eines oder mehrerer Körperorgane. Der Wille beherrscht oder "regiert" diese Akte anderer Potenzen bzw. Organe durch sein Imperium. Der innere Willensakt und der äußere actus imperatus verhalten sich zueinander wie Form und Materie und bilden einen einzigen actus humanus.1 (Fs) (notabene)

325b Menschliche Akte sind also immer personale Akte; d. h., sie werden nicht von einer Potenz oder einem Organ vollzogen, sondern vom erkennenden und wollenden Menschen, vermittels anderer Potenzen. Es ist der Mensch, der einen anderen Menschen zeugt, und nicht die menschliche Zeugungspotenz.1 Die Einheit zwischen innerem und äußerem Akt, von Imperium und actus imperatus drückt also letztlich diese personale Struktur menschlichen Akte aus: Es vollzieht sich im menschlichen Handeln eine personale Integration aller Ebenen des menschlichen Seins. (Fs)

325c Zur terminologischen Klarheit: Wenn von einem "inneren" und von einem "äußeren" Akt die Rede ist, so ist mit "äußerem" Akt nicht primär das "äußere", d. h. sich nach außen hin manifestierende und sichtbare Tun gemeint; sondern ein jeder Akt einer Seelenpotenz, insofern er dem Imperium des Willens unterliegt. So ist beispielsweise in einem willentlichen Akt des sinnlichen Begehrens der "äußere Akt" (actus exterior) der Akt der sinnlichen "vis concupiscibilis", insofern er einem Imperium des Willens unterliegt, auch wenn dieser Akt sich in keiner Weise "nach außen hin" manifestiert und man nichts "tut"; der "innere Akt" ist der Akt des Willens, der diesen äußeren Akt zum Gegenstand oder zum Ziel hat, der also dieses Begehren "will".2 (Fs) (notabene)
325d Der sogenannte "äußere Akt" ist also ebenfalls ein Willensakt, aber nicht ein solcher, den der Wille "aus sich selbst" hervorbringt (dies wäre ein "actus elicitus"), sondern ein Akt, den der Wille vermittels eines Imperium über andere Potenzen und Körperorgane vollzieht. Es wäre deshalb sinnvoll, zwischen "actus exterior" und "actus externus" zu unterscheiden: Letzterer wäre das nach außen sichtbare, das "äußere Tun", im Gegensatz zu rein inneren Wünschen, Gefühlen usw. Wenn Thomas, dies sei einmal festgehalten, den "actus exterior" als Objekt bezeichnet, so meint er eben gerade nicht den Gegenstand des "äußeren Tuns", sondern denjenigen des Willens, insofern er sich durch ein Imperium auf den Akt einer von ihm verschiedenen Potenz erstreckt. (Fs) (notabene)

326a Damit wäre zunächst einmal folgendes geklärt: Das Objekt von sittlichen Handlungen ist immer ein Gegenstand des Willens. Insofern ein actus humanus, was der Normalfall ist, durch das Imperium über den Akt einer anderen Potenz vollzogen wird, so ist das "Objekt" dieser menschlichen Handlung nicht der Gegenstand dieses Aktes der anderen Potenz, sondern vielmehr deren Akt selbst, insofern er dem Imperium des Willens unterliegt, - und das heißt auch: insofern er von der Vernunft geordnet ist, also als bonum rationis. (Fs)

326b Denn das "imperium", das der Wille über andere Potenzen und deren Akte ausübt, ist ja wesentlich ein Akt der ordnenden Vernunft, also eine "ordinatio rationis"1, die allerdings vom Willen bewegt und in dessen appetitive Dynamik eingebettet ist.2 Das imperium entspricht demnach, wie bereits im ersten Teil ausgeführt wurde, präzis der präzeptiven Struktur der praktischen Vernunft. (Fs)
326c Deshalb können wir dasselbe Handlungsobjekt jeweils unter zwei Gesichtspunkten betrachten: Abstrahiert von seinem "Gewollt-Sein" als der im Imperium durch die ratio geordnete "actus exterior", d. h. als Objekt der (praktischen) Vernunft; und zweitens: als Gegenstand des diesem imperium unterliegenden inneren Aktes des Willens. Handlungsobjekte sind immer Objekte der praktischen Vernunft und des Willens, und nur insofern sind sie Objekte eines actus humanus, d. h. sogenannte "moralische Objekte". (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: actus exterior: Qualifizierung -> materia circa quam; Beispiel: Zeugungsakt; genus naturae - genus moris; debitum; Beispiel: Zeugungsakt

Kurzinhalt: ... der sittlich-objektive Sinngehalt menschlicher Handlungen konstituiert sich durch die Erfassung der "convenientia", der "debita proportio", der "debita materia" oder einfach des "debitum" bestimmter "actiones exteriores". Das heißt: ...

Textausschnitt: 326d Wenden wir uns zunnächst der sittlichen Qualifizierung und Spezifizierung des "äußeren Aktes" zu. Thomas sagt, daß sein "Objekt" das ist, "circa quod est actio exterior"1; oder: das Objekt, welches dem äußeren Akt seine sittliche Spezies ("gut" oder "schlecht" bzw. "gerecht" oder "ungerecht" usw.) verleiht, ist die "materia circa quam".2 (Fs) (notabene)

326e Denken wir daran, daß mit diesem äußeren Akt gerade nicht der Akt des Willens, sondern derjenige einer anderen Potenz gemeint ist, so könnte es nun ja zunächst den Anschein haben, als sei mit diesem Objekt des äußeren Aktes ganz einfach das Objekt der jeweiligen Potenz gemeint, also die jeweiligen "fines naturales" dieser Potenzen, oder aber "Dinge", die wir gebrauchen, erstreben, nehmen, stehlen oder verteilen usw. (Fs)

327a Diese Sicht würde nun aber durch die Thomas-Texte nicht gedeckt. Denn Thomas betont ja, daß die Akte der einzelnen Potenzen das menschliche Handeln nicht in ihrer naturalen Eigenart (ihrem "genus naturae"), sondern in ihrer moralischen Spezifität (genus moris) spezifizieren. Das klassische Beispiel dafür ist wiederum der Zeugungsakt: In seiner naturalen Bestimmtheit als Akt der "potentia generativa" spezifiziert er das menschliche Handeln nicht in sittlicher Weise und ist er auch gar nicht (sittliches) Objekt; nur insofern dieser Akt von der Vernunft vergegenständlicht und auch entsprechend durch die Vernunft geordnet wird, ist er ein Handlungsobjekt im sittlichen Sinne; und auf dieser Ebene seiner Vernunftbestimmtheit unterscheiden sich dann die natural identischen Zeugungsakte zwischen Ehepartnern und zwischen solchen, die es nicht sind (z. B. in einer ehebrecherischen Beziehung) auf sittliche Weise. Im genus naturae betrachtet sind "actus coniugalis" und "adulterium" identische Akte; als Objekte eines "actus humanus", d. h. als durch die Vernunft geordnete sittliche Handlungsgegenstände betrachtet, befinden wir uns vor zwei moralisch objektiv radikal verschiedenen Handlungsweisen.3 Ebenfalls sind (sittlich) objektiv verschieden und natural identisch die "Tötung eines Unschuldigen durch einen Pistolenschuß"; und die "Ausführung einer legitim verhängten Todesstrafe durch einen Pistolenschuß"; oder: Lüge schlechthin und Lüge beim "Lügenspiel" im Familienkreis. (Fs) (notabene)

[...]

328b Thomas zeigt damit, daß mit der Spezifizierung von Handlungen durch das Objekt nicht einfach gemeint ist: Wenn das "Objekt" gut ist, ist die Handlung gut. Denn "Geld", überhaupt "Dinge", aber auch Akte wie der Zeugungsakt, sind in ihrer naturalen Beschaffenheit immer Güter, - dies jedoch auf einer vor-sittlichen, "ontischen" Ebene ihres "genus naturae", - sofern das Geld nicht gefälschtes Geld ist (wobei es dann immer noch das Gut-sein einer gekonnten Fälschung oder des Materialwertes besitzt) und sofern der Zeugungsakt physiologisch normal verläuft ("Unfruchtbarkeit" wäre in diesem Sinne ein physisches Übel). (Fs)
328c Nicht in diesem Sinne jedoch sind "Güter" bzw. Handlungen, die sich auf diese Güter erstrecken, sittliche Handlungsobjekte; sondern sie sind es, wie Thomas sagt, durch eine "debita proportio ad hanc vel illam actionem"1, insofern sie also ein "obiectum conveniens" sind. (Fs)

328d Eine dritte, dasselbe meinende, Formulierungen können wir De Malo entnehmen: Auf den Hinweis, daß sich die menschlichen Akte durch das Objekt in seiner Beziehung zur Vernunft spezifizieren, folgt die Präzisierung: Eine gute Handlung ist eine solche, die sich auf eine "angemessene" oder "gesollte Materie" bezieht ("actus cadens supra debitam mate-riam"), wie z. B. "einem Hungernden zu essen geben"; eine schlechte Handlung ist ein Akt, der sich auf eine "materia indebita" bezieht, wie z. B. "fremdes Eigentum entwenden". Es handelt sich hier um eine "materia circa quam", die einmal "debita", ein anderes Mal "indebita" ist; diese "materia circa quam", wie wir bereits früher betonten, ist also nicht einfach der materiale Aspekt des Handelns in seinem "genus naturae" (dies wäre eine "materia ex qua"), sondern bereits eine "materia debita"; diese "besitzt, insofern sie die Spezies verleiht, gewissermaßen die Eigenheit einer Form"2; sie ist deshalb dasselbe wie das (sittliche) Handlungsobjekt.3 (Fs)

329a Sowohl im Begriff des Objektes wie auch in demjenigen der "materia circa quam" ist also bereits das durch eine "comparatio ad rationem" konzipierte Element der "convenientia", der "debita proportio" oder schlicht des "debitum", der Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und "Gesolltheit" eingeschlossen. Erneut erweist sich: Handlungsobjekte sind "formae prout sunt a ratione conceptae." Diese Perspektive bestätigt sich in der Quaestio, in der Thomas ex professo über die "bonitas et malitia" des "actus exterior" spricht: diese sittliche Qualifizierung rührt weder vom Willen her noch von der Materie oder den Umständen als solchen (unabhängig von ihrer Beziehung zur Vernunft). Sondern: "Bonitas autem vel malitia quam habet actus exterior secundum se, propter debitam materiam et debitas circumstantias, non derivatur a voluntate, sed magis a ratione. "4 (Fs)

329b Damit kommen wir zum Schluß: Das sittliche Objekt, bzw. der sittlich-objektive Sinngehalt menschlicher Handlungen konstituiert sich durch die Erfassung der "convenientia", der "debita proportio", der "debita materia" oder einfach des "debitum" bestimmter "actiones exteriores". Das heißt: Die Erfassung des Handlungsobjektes oder des objektiv-sittlichen Gehaltes oder Sinnes einer Handlung ist ein Werk der (praktischen) Vernunft. Dieses "debitum" liegt weder in den "Dingen", noch in der im "genus naturae" vergegenständlichten "natura actus"; diese müssen vielmehr durch die Vernunft geordnet werden, und zwar fundamental in Akten, die wir ja bereits ausreichend analysiert haben: es handelt sich um (praezeptive) Akte der "lex naturalis", denn diese entspringen ja, durch die "ratio naturalis" und als Partizipation des Ewigen Gesetzes gerade einer "naturalis inclinatio ad debitum actum etfinem".5 (Fs)

[...]

331c Damit kommen wir zum zunächst paradox scheinenden Ergebnis, daß das Objekt des Diebstahls eben der "Diebstahl" ist. Wenn ich sage: Objekt des Diebstahls ist die "Entwendung fremden Eigentums", dann sage ich ja nicht, worauf sich die Handlung "Diebstahl" bezieht, sondern was die Handlung "Diebstahl" ist, d. h. ich definiere sie. Berücksichtigt man das nicht, so muß man zur Bestimmung des Objektes gewissermaßen sogleich eine Stufe "tiefer" steigen, nämlich auf die Ebene des "genus naturae" oder der "Dinge". Deshalb sind wohl so viele auf die Idee gekommen, etwa das Objekt des ehelichen Aktes im "Objekt" der "potentia generativa" als solcher zu suchen, also einer naturalistischen Betrachtung zu verfallen. In einem gewissen Sinne wäre es deshalb besser, anstatt vom "Objekt des äußeren Aktes" vom "objektiven Gehalt" oder "Sinn des äußeren Aktes" zu sprechen, - weil eben das "Objekt" die durch die Vernunft geordnete äußere Handlung selbst ist, bzw. deren "materia circa quam", also die "materia debita".1 (Fs)

332a Das scheinbare Paradoxon einer Handlung, die Objekt ihrer selbst ist, löst sich auf, wenn wir bedenken, daß die bisherige Betrachtungsweise einer Abstraktion entspringt. Denn wir haben bisher das Handlungsobjekt als ein in einem actus humanus integriertes Objekt "isoliert" in seinem Bezug zur Vernunft betrachtet, noch nicht aber als Gegenstand des Willens. Der "actus exterior", von dessen Spezifizierung durch das Objekt bisher die Rede war, ist ja ein "actus imperatus"; er ist, als "actus humanus", wesentlich ein gewollter Akt und nur als solcher tritt er in die Sphäre des Praktischen, der Vernunft als praktische, ein und wird er ja überhaupt vollzogen. Das Objekt eines solchen "actus humanus", der einer "voluntas deliberata" entspringt, ist nun eben gerade der "actus exterior", den wir bisher isoliert vom Willen betrachtet haben.1 Wenn wir jedoch vom Objekt menschlicher Handlungen sprechen, dann meinen wir immer Objekte von Willensakten. Und erst in dieser Perspektive gelangt man zur vollen Einsicht in das, was mit dem Begriff des Handlungsobjektes gemeint ist. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Wille - Handlung - das Gute; Thomas: Antwort auf Einwand: Wille wird durch Objekt spezifiziert; Objekt = Vernunft; Vernunftvergessenheit der telelogischen Ethik

Kurzinhalt: ... Antwort darauf, weshalb der Wille von "Objekten" moralisch qualifiziert werden kann, d. h. weshalb Objekte anderer Potenzen, insofern sie Objekte des Willens sind, bereits in die Dimension des "esse morale" ...

Textausschnitt: Siehe unten:
334c Die Aussage: "Die sittliche Qualifizierung des Willens hängt vom Objekt ab", ist also identisch mit der Aussage, "sie hängt von der Vernunft ab" ...


332b Handlungen als Gegenstände von Willensakten zu begreifen bedeutet nicht, einen anderen oder zusätzlichen Aspekt herauszugreifen, sondern vielmehr in die Perspektive der Gesamtschau menschlichen Handelns einzutreten. Vergessen wir nicht, welches der Gegenstand der philosophisch-ethischen Untersuchung ist: Die Ordnung, welche die Vernunft in den Akten des Willens schafft; bzw. die Ordnung der willentlichen Akte oder der Mensch, insofern er willentlich um seines Zieles - des Guten - willen handelt.1 Auf diese Perspektive der Willentlichkeit wird man verwiesen, sobald man sich der Tatsache gewahr wird, daß wir "menschliche Akte", Akte von Personen, und nicht solche von Potenzen und Organen untersuchen. Der personal-integrative Faktor ist dabei eben der Wille und sein Imperium, das allerdings nur insofern moralisch bedeutsam ist, wie es von der ordinatio der praktischen Vernunft abhängt. (Fs)

333a Das zu zeigen ist Inhalt von I-II, q.19; er handelt von der sittlichen Qualifizierung des inneren Aktes des Willens.2 Thomas stellt dabei zunächst klar, daß im Falle des Willens sich "genus naturae" und "genus moris" identifizieren: Der Wille ist die einzige Potenz, deren Objekt per se die moralische Dimension besitzt; denn Gegenstand des Willens ist das sittlich Gute; sofern etwas gewollt wird, wird es auch immer gemäß seinem "esse morale" gewollt.3 Insofern sich der Wille auf das "Gut" (Objekt oder finis) anderer Potenzen erstreckt, so will er diese nicht auf der ihnen entsprechenden naturalen Ebene, sondern bereits als (sittlicher) Wille. Der Wille erstreckt sich also nie auf vor-sittliche Güter; oder genauer: vor-sittliche (ontische) Güter sind, insofern sie Objekte des Willens sind, bereits in der Dimension der Moralität. (Fs) (notabene)

333b [..] Das heißt: Die teleologische Ethik negiert, daß das "Gut" oder "finis" anderer Potenzen (z. B. der potentia generativa oder der Sprachfähigkeit) insofern sie Objekte des Willens sind, bereits unter dem Aspekt eines ihnen zukommenden "esse morale" gewollt werden. Der teleologischen Ethik gemäß bleiben sie vor-sittliche Güter, und die sittliche Qualität ihrer Beachtung oder Nicht-Beachtung hinge allein und ursprünglich vom inneren Akt des Willens als "Wert-Intention" ab. (Fs)

333c Wie sehr in einer solchen Position wiederum ein radikaler Naturalismus oder Physizismus auf der Objektseite mit einem Wertidealismus auf der Seite der Intention verbunden ist und damit die personale Struktur des actus humanus dualistisch in zwei Sphären (Wille - übrige Potenzen und ihre "fines naturales" bzw. vor-sittliche Güter) zerrissen wird, scheint offenkundig. Interessant ist dies jedoch vor allem deshalb, weil Thomas auf diese Position explizit Bezug nimmt. Er antwortet nämlich auf einen Einwand, der lautet, es sei unmöglich, daß der Wille vom Objekt moralisch spezifiziert würde, denn solche Objekte seien ja Güter, die nur eine "bonitas naturae" besäßen, also vor-sittliche Güter seien1; das habe aber zur Konsequenz, daß der innere Akt des Willens seine moralische Qualität aus sich selbst schöpft. (Fs)

334a Die Entgegnung auf diesen Einwand ist die Antwort darauf, weshalb der Wille von "Objekten" moralisch qualifiziert werden kann, d. h. weshalb Objekte anderer Potenzen, insofern sie Objekte des Willens sind, bereits in die Dimension des "esse morale", "genus moris", der Moralität also, eingetreten sind. Der Grund liegt auf der Hand, ist aber nicht weniger bedeutsam und bestätigt unsere vorhergehenden Analysen: "Das Gute wird dem Willen durch die Vernunft vergegenständlicht; und insofern es der Ordnung der Vernunft untersteht, gehört es zum Bereich des Sittlichen (genus moris) und verursacht es sittliche Güte im Akt des Willens. Denn die Vernunft ist das Prinzip der menschlichen und sittlichen Akte."1 (Fs)

334b Dies wird nun im dritten Artikel bestätigt; denn während der eben zitierte danach fragte, ob das Gutsein des Willens vom Objekt abhänge, klärt der letztere die Abhängigkeit des Willens von der Vernunft; und es zeigt sich, daß es sich dabei um ein und dieselbe Abhängigkeit handelt, denn "das Gutsein des Willens hängt von der Vernunft in derselben Weise ab, wie es vom Objekt abhängt".2 Das ist deshalb so - es wurde früher bereits darauf hingewiesen - weil die Objekte der anderen Potenzen dem Willen gar keine adäquaten Gegenstände sind. Der Wille kann gar nicht das "Gut" einer anderen Potenz (ein bonum sensibile oder imaginarium) als solches erstreben; diese besitzen nur eine adäquate "proportio" zu den ihnen entsprechenden Strebungen, d. h. dem "appetitus sensibilis". Die universale "ratio boni", auf die sich der Wille erstreckt, ist dem jeweiligen partikularen Gut anderer Potenzen gar noch nicht präsent. Erst vermittels der Erfassung und "ordinatio" solcher Güter durch die praktische Vernunft werden sie, aber dann bereits, weil vernunftbestimmt, in der Dimension der Moralität (als bona intellecta), zu Objekten des Willens.3 Den Willen vermag allein ein "praktisches Gut" wie es von der Vernunft vergegenständlicht wird zu bewegen, und keine "vorsittlichen-Güter". (Fs) (notabene)

334c Die Aussage: "Die sittliche Qualifizierung des Willens hängt vom Objekt ab", ist also identisch mit der Aussage, "sie hängt von der Vernunft ab". Wobei Thomas präzisiert: Die "ratio boni" dieses Objektes konstituiert sich durch den Bezug zum Willen; die "ratio veri" (praktische Wahrheit) jedoch durch die Vernunft.1 Und deshalb formuliert Thomas lapidar, aber ebenso bedeutungsschwer: "Appetitus voluntatis non potest esse de bono, nisi prius a ratione apprehendatur" ("Das Streben des Willens kann sich nicht auf ein Gut richten, ohne daß dieses vorher durch die Vernunft erfaßt worden wäre").2 Hierin ist eine klare Antwort auf den Naturalismus und die "Vernunftvergessenheit" der "telelogischen Ethik" enthalten; denn diese übergeht die Konstituierung der Objekte des Willens durch die praktische Vernunft und muß deshalb alle "Güter", auf die sich der Wille erstreckt, als "vor-sittliche Güter" behaupten, um die Dimension der Moralität durch einen Wertidealismus der reinen Willensintentionen oder Grundhaltungen zu rekonstruieren.3 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Wille - Vernunft - lex naturalis - lex aeterna (Ewiges Gesetz); materia debita = actus exterior;

Kurzinhalt: Die Vernunft besitzt in der Konstituierung des Objektes eine tatsächliche sittlich-maßstäbliche Funktion durch ihre Partizipation am Ewigen Gesetz

Textausschnitt: 335a Das also allein die Vernunft den Willen "ex parte obiecti" zu bewegen vermag1, rührt allein daher, daß diese Objekte - Objekte menschlicher, personaler Akte - eine "conceptio rationis" sind. Die Vernunft besitzt in der Konstituierung des Objektes eine tatsächliche sittlich-maßstäbliche Funktion durch ihre Partizipation am Ewigen Gesetz, wie Thomas im nachfolgenden Artikel ausführt. Das sittliche Gutsein des Willens hängt also, vermittels der praktischen Vernunft, vom Ewigen Gesetz ab, wie dies bereits ausgeführt wurde. Die ordnende Kraft der praktischen Vernunft, als Partizipation am Ewigen Gesetz, ist aber nichts anderes als die "lex naturalis". Diese ist es also letztlich, die den objektiven Sinn des menschlichen Handelns in fundamentaler und universaler - d. h. spezifisch menschlicher - Weise bestimmt. (Fs)

335b Dieses von der Vernunft dem Willen vorgelegte Objekt - eine "materia debita" - ist nun nichts anderes als der "actus exterior", die sogenannte äußere Handlung. Wir waren vorhin zum etwas paradox scheinenden Schluß gelangt, daß das Objekt eines "actus exterior" dieser "actus exterior" selbst ist. Die scheinbare Paradoxie beruht auf einer abstrahierenden Sichtweise. Wenn ich frage: Was ist das Objekt des Diebstahles, so frage ich eigentlich: Was ist das Objekt des inneren Willensaktes (sei es nun eine "intentio" oder eine "electio"), bzw.: Was hat dieser actus humanus, also ein vorüberlegter Willensakt, für ein Objekt? Das Objekt ist nun gerade die äußere Handlung "Entwendung fremden Eigentums". Es handelt sich dabei um eine Handlung, die bereits durch die Vernunft in der Dimension der Moralität - bezüglich des debitum - spezifiziert ist, und in diesem Fall müßte man von ihm sagen "non est vestitus debitis circumstantiis"; oder er ist "privatus debito modo, specie et ordine".1 (Fs)
335c Das bedeutet: Wenn wir eine Handlung "abstrakt" oder "in sich" betrachten, dann betrachten wir sie nur in ihrem Bezug auf die Vernunft. Das heißt jedoch: Wenn wir in dieser Betrachtungsweise nach ihrem "Objekt" fragen, so fragen wir nicht nach dem "finis naturalis", der in diesem äußeren Tun engagierten Potenzen oder Seelenkräfte, und auch nicht nach natürlichen Eigenschaften von diesem Tun zugrundeliegenden "Dingen", sondern nach dem "modus" oder "ordo debitus", und zwar in Bezug auf die "ordinatio" der praktischen Vernunft. Anders formuliert: Wir fragen nach dem spezifisch menschlichen und personalen, nicht nach dem "naturalen" Sinn dieses Aktes. Deshalb ist der Ausdruck "Objekt des äußeren Aktes" verfänglich und es haben sich offenbar auch viele in ihm verfangen. Wenn wir, wie Thomas, unter dem "Objekt", das hier gesucht ist, von Anfang an eine "conceptio rationis" verstehen, dann heißt "Objekt des äußeren Aktes" (oder seine "materia circa quam") so viel wie: der menschlich-personale Sinngehalt des äußeren Aktes oder: die in Bezug auf die Ordnung der Vernunft konstituierte "ratio debiti" des äußeren Aktes; wir meinen also in jedem Fall gerade die sittliche Dimension dieses Tuns. Deshalb scheint es klarer anstatt von "Objekt des äußeren Aktes" vom "objektiven Sinngehalt" (sittlichen Wertgehalt) des äußeren Aktes zu sprechen.1 (Fs)

336a Betrachten wir das menschliche Handeln jedoch in seiner Gesamtschau als willentliches Handeln, als ein Tun also, das einem intentionalen und elektiven Imperium des inneren Willensaktes entspringt, und sprechen wir dann vom "Objekt" einer solchen Handlung, dann ist mit diesem Objekt gerade der "actus exterior" gemeint, so wie er eben von der Vernunft dem Willen "präsentiert" wird. Während, wie Thomas ausführt2, der äußere Akt in der Ordnung der Ausführung (ordo executionis) dieselbe sittliche Qualität besitzt, wie der dieser "executio" zugrundeliegende innere Willensakt, so rührt doch die "bonitas" dieses inneren Willensaktes in der Ordnung der sittlichen Spezifizierung oder der "apprehensio" von der Vernunft her. Das Objekt des Willens ist also der "actus exterior" "secundum quod est in ordinatione et apprehensione rationis".3 Wenn wir also vom Objekt einer menschlichen Handlung sprechen, so meinen wir fundamental und eigentlich den äußeren Akt, "insofern er dem Willen von der Vernunft als ein bestimmtes durch die Vernunft erkanntes und geordnetes Gut vorgelegt wird".4 Mit dem Objekt ist auch der äußere Akt als Ziel des Willens gemeint5; denn, was man will, ist eben - ganz unabhängig von einer zusätzlichen Intention - Ziel des Wollens: das Objekt selbst besitzt, unter dem Gesichtspunkt seiner Vergegenständlichung durch den inneren Akt des Willens, eine "ratio finis".6 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Lüge: Objekt -> zwischenmenschliche Kommunikation

Kurzinhalt: ... besteht in zweierlei: Zunächst und vor allem in der Ordnung des menschlichen Willens hinsichtlich des Gutes menschlichen Zusammenlebens; und damit, zweitens, im vertrauensvollen Zusammenleben ...

Textausschnitt: 347a Der spezifische Akt dieser Tugend ist die "manifestatio veritatis"; der objektive Sinngehalt (das "Objekt") dieses Aktes könnten wir auch "zwischenmenschliche Kommunikation" nennen, oder selbst "manifestare veritatem", bzw. "dicere verum": "quia hoc ipsum quod est dicere verum est bonus actus."1 Diese "manifestatio" ist genau insofern ein "debitum morale", als sie für die Tugend der Wahrhaftigkeit konstitutiv ist; insofern sie also die Ordnung der Kommunikation erstellt. Und diese Ordnung der Kommunikation, so können wir hinzufügen, besteht in zweierlei: Zunächst und vor allem in der Ordnung des menschlichen Willens hinsichtlich des Gutes menschlichen Zusammenlebens; und damit, zweitens, im vertrauensvollen Zusammenleben der Menschen selbst, auf das ja Kommunikation auf allen Ebenen sich bezieht. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Moral - Grenzfall (Grenzfälle, borderline cases); petitio principii: teleologische Ethik; bona fide; Kasuistik; logisch inkonsistent

Kurzinhalt: Man findet einen Fall, in dem das Einhalten eines bestimmten sittlichen Verbotes zu schwerwiegenden oder, wie man gleich hinzufügt: "unmenschlichen" ... Konsequenzen führt. Folglich, so schließt man, ...

Textausschnitt: 362a Damit drängt sich auch eine weitere Bemerkung auf, und zwar über den Mißbrauch mit Grenzfällen, sog. borderline cases: hypothetische, meist konstruierte oder zumindest zurechtgestutzte und die Vielfalt der Randbedingungen und Handlungsalternativen des konkreten Lebens außer Acht lassende Situationen, die oft zum Nachweis dafür verwendet werden, daß gewisse sittliche Verbote oder Gebote eben doch nicht ausnahmslos gelten, weil man einen Fall finden kann, in dem dies zu scheinbar absurden Konsequenzen rühren würde, - wie z. B., den Fall, in dem "einen Unschuldigen nicht zum Tode verurteilen" zur Folge hätte, daß deshalb viele Menschen das Leben verlieren würden. Meiner Ansicht nach handelt es sich jedoch bei solchen Grenzfall- und Randzonendiskussionen (bei F. Scholz und auch B. Schüller geradezu methodologisches Prinzip) weniger um ein analytisch hilfreiches Instrument, als eher um einen dialektischen Kunstgriff, der, genau besehen, zu analytischen Zwecken unbrauchbar ist und nur durch die Zuhilfenahme eines Trugschlußes zu (scheinbaren) Ergebnissen führt. Normalerweise wird dabei folgendermaßen vorgegangen: Man findet einen Fall, in dem das Einhalten eines bestimmten sittlichen Verbotes zu schwerwiegenden oder, wie man gleich hinzufügt: "unmenschlichen" (bei Schüller auch: "katastrophalen", "verheerenden") Konsequenzen führt. Folglich, so schließt man, kann ein absolutes (Natur-)Prohibitiv hier nicht gelten. Daraus wiederum wird gefolgert, daß das Verbot nicht ausnahmslos gilt. Und zuletzt ergibt sich dann: Jede Norm kann prinzipiell in einer konkreten Situation auch nicht gelten; man muß ihre konkrete Geltung hie et nunc vielmehr aufgrund der jeweiligen Handlungsfolgen (durch Güterabwägung, bzw. "teleologisch") bemessen. (Fs) (notabene)

362b Diese Argumentationsstrategie beruht jedoch auf einer petitio principii, einem Zirkelschluß: einer Schlußfigur, die bereits voraussetzt, was eigentlich zu beweisen wäre. Zu beweisen ist hier: "Handlungen können nur aufgrund ihrer Folgen, durch Güterabwägung bzw. ('teleologisch' sittlich beurteilt werden, und nicht aufgrund absoluter, von den konkreten Folgen absehender Kriterien", so daß ausgeschlossen ist: "x-Tun ist unter allen Umständen sittlich schlecht." Gerade dies wurde jedoch bereits stillschweigend vorausgesetzt als man sagte: "In der angegebenen (durch das Grenzfall-Beispiel erläuterten) Situation führt die Einhaltung der als absolut betrachteten Norm zu schwerwiegend-üblen Konsequenzen; folglich kann diese Norm hier nicht gelten". Gerade dieses "folglich" wäre jedoch zu beweisen gewesen; d. h. es wäre zu beweisen gewesen, weshalb "schwerwiegend"-üble Konsequenzen, die sich aus der Befolgung einer bestimmten sittlichen Norm ergeben, überhaupt darüber entscheiden können, daß diese Norm in diesem Falle nicht gilt. Oder (was dasselbe ist): Weshalb die Vermeidung schwerwiegender Konsequenzen durch Nicht-Befolgung einer sittlichen Norm "menschlicher" ist, als die Befolgung einer sittlichen Norm mit der Voraussicht schwerwiegender Konsequenzen. Genau das wird hier jedoch nicht bewiesen, denn die Schlußfolgerung: "Ein Verbot kann nicht absolut gelten (seine Einhaltung kann nicht menschlich sein), wenn sich aus seiner Befolgung schwerwiegende Konsequenzen ergeben" wurde hier bereits als Prämisse vorausgesetzt. Eine Frage wie die folgende: "Wenn eine Mutter das Austragen ihres Kindes voraussichtlich nicht lebend überstehen wird, ist es dann für die Mutter selbst, ihren Ehemann, ihre Familie, ja sogar für das Wohl der Gesellschaft nicht schlicht besser, menschlicher und deshalb sittlich richtig, die Geburt ihres Kindes mit dem Opfer ihres eigenen Lebens zu erkaufen, als die Leibesfrucht zur Vermeidung der auch für die Familie schwerwiegenden Folge des eigenen Todes abzutreiben?" - eine solche Frage wird dann aufgrund der genannten "petitio principii" von vielen Moraltheologen nicht einmal mehr der Erwähnung würdig befunden und schließlich unterschlagen. Solche Fragen darf man jedoch nicht einfach aus dem Wege räumen. Denn in ihnen findet sich einmal mehr die sokratische Grundfrage der Moral impliziert: "Was ist schlimmer: Unrecht erleiden oder Unrecht tun?", d. h. genau jene Frage, deren richtige Beantwortung es ist, die schlußendlich über die Existenz von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit in dieser Welt entscheidet. (Fs)

[...]

365a Die intentionalen Bedingungen dafür, daß die Entfernung der Gebärmutter hier als sinnvolle Handlung und zudem - weil indirekt - als erlaubte Tötung erscheint, sind in der vorliegenden Situation nicht gegeben. Deshalb ist es hier auch nicht möglich, eine intentional, bzw. moralisch konsistente Handlungsalternative anzugeben. Man muß sich auch - etwa für die "erleichterte" kasuistische Diskussion des Falles - davor hüten, die Handlungsstruktur "Entfernung des Fötus zwecks Stillung der Blutung" aus dem Gesamtkontext der ursprünglichen intentionalen Handlungsstruktur "Entfernung des Tumors zwecks Heilung der Mutter" herauszulösen; denn dadurch würde man die intentionale Struktur der Situation verfälschen. Aus diesen Gründen scheint mir dieser Fall kasuistisch schlicht undiskutierbar. D. h., rebus sic stantibus ist es nicht möglich, ein normatives Urteil darüber zu fällen, was der Arzt in dieser Situation hätte tun sollen. Das Einzige, was man hier - allerdings nicht-kasuistisch - beurteilen kann, ist die konkrete Handlungsweise des Arztes in dieser Situation (d. h., ohne daß man sie unter eine allgemeine Regel, auch nicht jene der Güterabwägung, zu subsumieren versucht); d. h.: es geht wiederum nicht um die Frage der "Erlaubtheit", sondern um jene der Verantwortlichkeit. Dabei würde ich zu dem Urteil neigen: Die Tötung des Fötus erfolgte hier, aufgrund der intentionalen Struktur der Situation, praeter intentionem; denn der Wille des Handelnden verhält sich hier zum Gegenstand der Handlung "Tötung des Fötus" nicht als wählender Wille, (d. h. ganz anders, als wenn jemand in einer rationalen Entscheidungssituation eine direkte Abtreibung als Mittel zur Lebensrettung der Mutter wählt). Ist allerdings aufgrund gemachter Erfahrung diese Situation voraussehbar und vermeidbar und sollte demselben Arzt das Gleiche wiederholt passieren, dann würde ich für fahrlässige Tötung plädieren (Tötung als "voluntarium in causa"). (Fs)


365b Jedenfalls ist es unsinnig und bloße Verblüffungstaktik, aufgrund solcher Beispiele zu folgern: Es gibt also Fälle, in denen man, um größeres Übel zu vermeiden, einen Unschuldigen direkt töten darf. Dieser Schluß stimmt ganz einfach deshalb nicht, weil der Arzt dies auch in diesem Fall nicht "durfte". Aber es gibt Handlungssituationen, die sich jeglicher Kasuistik und damit auch der Alternative "dürfen oder nicht dürfen" im Sinne der Subsumtion unter eine allgemeine Norm entziehen. Und die Tradition hat das auch berücksichtigt, wenn sie in einem solchen Fall dafür plädierte: Der Arzt hat bona fide gehandelt, weil er in einer rational unentscheidbaren Situation, eine rationale Entscheidung getroffen hat. D. h.: Man kann ihm keinen Vorwurf machen, und dennoch bleibt die Norm, daß man niemals die Tötung eines Unschuldigen als Mittel wählen darf, unangetastet. Aus solchen Situationen hingegen Konsequenzen für die normative Ethik abzuleiten, bedeutet erstens: sich der Pflicht zu einer sauberen Argumentation zu entziehen, zweitens: einen Fehlschluß vom Ausnahme- auf den Normfall vorzunehmen, und drittens: Mißbrauch mit der Kasuistik zu betreiben und zu unterstellen, es gebe für jede Handlungssituation eine kasuistisch eindeutige normative Lösung. Die Kasuistik, man scheint es oft zu vergessen, ist ein Hilfsmittel normativer Beurteilungspraxis und nicht deren Maßstab. (Fs)

365c Die Methode, von Grenzfällen auf (normative) Ausnahmen zu schließen, erscheint mir zudem auch logisch inkonsistent. Denn man kann nicht (erstens) behaupten: Grenzfälle zeigen, daß auch eine für absolut gehaltene Norm Ausnahmen zuläßt; und (zweitens) zugleich dafür halten: Die Möglichkeit solcher Ausnahmen zeigt damit, daß Handlungen aufgrund ihrer Folgen beurteilt werden müssen. Wenn nämlich diese zweite Behauptung gilt, dann kann man auch nicht mehr von "Ausnahmen" sprechen, da diese ja eine allgemeingültige Norm voraussetzen. Diese gibt es jedoch, gemäß der zweiten Behauptung, nicht. Sodaß die zweite Behauptung ihre eigene Voraussetzung (die erste Behauptung), mit der sie jedoch gerade begründet wurde, negiert; ein Syllogismus, dessen Konklusion eine seiner Prämissen aufhebt, muß jedoch als inkonsistent bezeichnet werden. Das Ergebnis ist also in sich widersprüchlich. Grenzfälle (im Bereich des "indirekten Handelns") weisen in Wirklichkeit nicht auf (normative) Ausnahmesituationen hin, sondern vielmehr darauf, daß man in gewissen Fällen für "Freispruch" plädieren muß, ohne jedoch dadurch veranlaßt zu sein, das "Gesetz" zu ändern. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: voluntarium indirectum - teleologische Ethik; theologischen Absolutismus

Kurzinhalt: Die traditionelle Lösung scheint hier zugleich sachlich konsistenter wie auch menschlicher und realistischer. Menschlicher, ...

Textausschnitt: 366a Die Frage nach dem "voluntarium indirectum" ist also letztlich die Frage, wie weit der Mensch für die Folgen seines Handelns die Verantwortung trägt, inwiefern also diese den moralisch-objektiven Gehalt seines Handelns prägen. Der Begriff der "Verantwortung" ist nun eben eng verbunden mit jenem der Willentlichkeit. Und während teleologische Ethiker dazu neigen, den Menschen für alle Folgen seines Tuns verantwortlich zu erklären, müssen sie diesen Anspruch mit dem Preis bezahlen, alle wählbaren Handlungsinhalte prinzipiell und in sich nur als vor-sittliche Güter zu betrachten. Damit, so scheint mir, fällt mit dem Begriff des indirekt Gewollten auch jener der sittlichen Verantwortlichkeit in seinem moralisch-objektiven und personalen Sinn. Denn wenn ich, aus entsprechend "schwerwiegenden Gründen", prinzipiell alles wollen (also auch eine im allgemeinen als schlecht zu bezeichnende Handlung "ausnahmsweise" als Mittel zu einem guten Zweck wählen) darf, dann hat der Gegenstand meines Wollens auch keine sittliche Bedeutsamkeit mehr. Eine solche käme nur noch den "Gründen" zu. Welches ist dann aber das Kriterium für deren sittliche Verantwortbarkeit? (In Kap. 6 wurde bereits gezeigt, daß ein solches in konsistenter Weise nicht angegeben werden kann, vielmehr im Kontext "teleologischer Ethik" höchstens "deontologisch" postuliert zu werden vermag). Die traditionelle Lösung scheint hier zugleich sachlich konsistenter wie auch menschlicher und realistischer. Menschlicher, nicht weil sie "angenehmer" ist, sondern weil sie den Menschen als ein Wesen respektiert, das in seinem eigenen Sein einen sittlich bedeutsamen, durch das Handeln zur Entfaltung gebrachten Sinn trägt und das nicht dazu verurteilt ist, das, was es ist und auch sein soll, dauernd mit entsprechenden "Gründen" konstruieren zu müssen. Realistischer, weil eine solche universale Verantwortlichkeit entweder der totalen Unverantwortlichkeit, dem "Recht zur Amoralität" oder dem normativen Diktat von Fachleuten, Politikern und Gesetzen verfällt. Theologisch wird das dann in eine Theorie des "theologischen Absolutismus" gefaßt, demgemäß man prinzipiell alles tun darf - anything goes - weil es ja doch nur "eine einzige innerlich böse Handlung gibt, nämlich die Abwendung von Gott".1 Das hieße soviel wie: Abdankung der Moral zugunsten der Gottesliebe, - eine Haltung, die offenbar vergißt, was immerhin die Heilige Schrift uns lehrt, daß nämlich Gott des Menschen Liebe zu Ihm aufgrund seiner Taten beurteilt, und daß nicht jeder, der "Herr, Herr!" ruft, ins Himmelreich eingehen wird. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: intrinsece malum - petitio principii

Kurzinhalt: ... daß die heute gängige Kritik der Kategorie des intrinsece malum nichts anderem als einer petitio principii entspringt. Denn wer dafür hält, ...

Textausschnitt: 374a Deshalb sei nochmals gesagt: Handlungen, die deshalb sittlich anders beurteilt werden müssen, weil sie in einem verschiedenen ethischen Kontext stehen, erscheinen nur dann als "Ausnahmen", wenn man dafür hält, menschliche Handlungen seien "in physischen Begriffen", d. h. auf der Ebene ihres genus naturae zu beschreiben. Womit, wie mir scheint, erneut erwiesen ist, daß die heute gängige Kritik der Kategorie des intrinsece malum nichts anderem als einer petitio principii entspringt. Denn wer dafür hält, Handlungen könnten zum Zwecke ihrer moralischen Beurteilung allein in "physischen Begriffen" und nicht in ihrem sittlich-objektiven Gehalt beschrieben werden, der sagt damit nichts anderes als: Der der praktischen Vernunft gegenständliche Inhalt einer Handlung ist niemals ein sittlicher, sondern immer nur ein vor-sittlicher Inhalt. Er negiert also nur (ohne es zu beweisen), was mit guten Gründen unterstellt, wer dafür hält, daß menschliche Handlungen eine für die praktische Vernunft spezifische sittlich-gegenständliche Dimension besitzen. Eine ethische Theorie, die auf dieser Negation beruht und deshalb die Existenz von in sich und immer schlechten Handlungen ablehnt, können wir "physizistisch" nennen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

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Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: 1a2ae q. 94; Non est eadem rectitudo apud omnes; ut in pluribus; Gebote - Ausname; deposita sunt reddenda

Kurzinhalt: Begreift Thomas diesen "defectus" (das Versagen), der sich in einigen Fällen einstellt, als eine "Ausnahme" vom Gebot?

Textausschnitt: 378c Im vierten Artikel von I-II, q. 94 stellt sich Thomas die Frage, "utrum lex naturae sit una apud omnes", ob das Naturgesetz für alle Menschen ein und dasselbe sei. Es geht Thomas natürlich darum, diese Frage zu bejahen, und gerade deshalb werden im Corpus des Artikels zwei Phänomene analysiert, die scheinbar das Gegenteil besagen: Erstens die Tatsache, daß es unter Umständen unvernünftig und geradezu ungeboten ist, bestimmte Präzepte des Naturgesetzes auf der Ebene der "principia propria" oder "praecepta secundaria" einzuhalten; so z. B. das Gebot der Gerechtigkeit, "Hinterlegtes muß man zurückerstatten" ("deposita sunt reddenda"); solche Gebote verpflichten deshalb nur "ut in pluribus", in der Mehrzahl der Fälle und bewirken demnach eine scheinbare Variabilität des Naturgesetzes: Was in einem konkreten Fall gilt, gilt unter Umständen nicht für alle Fälle, sondern nur in den meisten. Zweitens spricht Thomas auch von einer nicht-identischen "rectitudo" des Naturgesetzes aufgrund einer mangelnden, d. h. verderbten Kenntnis ("notitia depravata") desselben, wegen der Leidenschaften, schlechten Gewohnheiten oder Naturanlagen. "So wie unter den Germanen, wie Julius Cäsar in seinem 'De bello Gallico' berichtet, einst die Räuberei nicht als Unrecht galt, obwohl sie ausdrücklich gegen das Naturgesetz verstößt".1 (Fs)

[...]

380b Die wichtigsten Aussagen im genannten Artikel 4 von I-II, q.94 sind die folgenden: Die praktische Vernunft schreitet, wie auch die spekulative, vom Allgemeinen zum Besonderen (ex communibus ad propria). Im Unterschied zur theoretischen bezieht sich die praktische Vernunft jedoch auf menschliche Handlungen, und das heißt immer auf Kontingentes, auf eine Materie, die nicht aus Naturnotwendigkeit immer gleich ist, sondern sich "auch anders verhalten kann".1 Je mehr man zum Besonderen hinabsteigt, umso mehr findet man das Moment der Defizienz (defectus)2; d. h. das Phänomen, daß die Handlungsmaterie sich verändert, bzw. nicht mehr mit jener Materie identisch ist aufgrund derer das allgemeine Prinzip formuliert wurde. Im angeführten Beispiel: Es scheint, daß aufgrund der konkreten Umstände das Prinzip "deposita sunt reddenda" der vorliegenden Situation nicht mehr angemessen ist. Deshalb ist "secundum rectitudinem" das Naturgesetz nur bezüglich der "principia communia" dasselbe; aber bezüglich einiger partikularer Prinzipien (secundum quaedam propria), die sich wie Konklusionen zu den allgemeinen Prinzipien verhalten, existiert lediglich eine "rectitudo ut in pluribus"; "in paucioribus" jedoch können sie auch versagen (potest deficere), und zwar "wegen einigen partikularen Hinderungsgründen" (propter aliqua particularia impedimenta).3 (Fs) (notabene)

380c Aus dem Text geht hervor, daß Thomas annimmt, dieses Phänomen finde sich nur bei einigen "propria"; man kann es also nicht ohne weiteres prinzipiell auf alle "principia propria" anwenden. Das lassen wir vorderhand dahingestellt. Ein Zweites ist interessanter: Begreift Thomas diesen "defectus" (das Versagen), der sich in einigen Fällen einstellt, als eine "Ausnahme" vom Gebot? Meint er also, daß in bestimmten Fällen ein Gebot nicht "gilt" oder nicht "verpflichtet"? Oder besteht seine Ansicht vielmehr darin, daß die Formulierung des Gebotes bestimmten Situationen nicht adäquat ist? Bzw., daß es Handlungsweisen gibt, die beim Auftreten bestimmter Umstände ihren objektiven Sinngehalt dermaßen verändern, daß sie nicht mehr unter das betreffende Gebot fallen, dieses also gar nicht mehr zum Ausdruck bringen kann, was in dieser Situation getan werden muß?

381a [...] Der Grund für die (nur scheinbare) "Ausnahme" liegt also nicht im Gebot, das hier nicht mehr "gelten" würde, weil es zu "allgemein" oder zu "abstrakt" ist und den Einzelfall nicht zu erfassen vermag. Sondern umgekehrt, in einem "defectus" der Handlungsmaterie, einem "impedimentum", das bewirkt, das die Ordnung der Gerechtigkeit auf die Weise, wie es diesem Gebot des Naturgesetzes entspricht, nicht mehr gewahrt werden kann. (Fs)

381b Der "Defekt" oder die Veränderung der "rectitudo" scheint also seinen Ursprung nicht im Gebot zu haben, sondern vielmehr in der "Materie", auf welche sich das Gebot beziehen sollte. Man könnte sagen: Die vorliegende Situation - der Ehemann, der sein ausgeliehenes Gewehr zurückverlangt, weil er sich an seiner Frau rächen will - diese Situation ist keine "materia debita" mehr, um durch das Gebot "deposita sunt reddenda" geregelt zu werden; eine "redditio depositi" wäre in diesem Fall kein Akt der Gerechtigkeit, sondern Beihilfe zum Mord. (Fs)

381c Vorderhand kommen wir zum Schluß: Während die "praecepta communia" in allen Fällen anwendbar sind (z. B. "man muß die Ordnung der Gerechtigkeit wahren"), so gilt das nicht für alle "principia propria", welche Konkretisierungen des allgemeinen Gebotes bezüglich bestimmter menschlicher Handlungsweisen darstellen. Und es gilt nicht, weil sich, was "in paucioribus" geschehen kann, die in der Formulierung dieses Gebotes unterstellten moralisch ausschlaggebenden Bedingungen verändert haben. (Fs)

381d Es handelt sich dabei um Bedingungen bezüglich einer in dieser Handlung implizierten Person. Das Prinzip "deposita sunt reddenda" unterstellt, daß der Entleiher der rechtmäßige Eigentümer [eg: Verleiher] des entliehenen Gegenstandes ist. Die Rechtsbeziehung (Ordnung der Gerechtigkeit) zwischen dem Eigentümer und dem "depositum" konstituiert die sittliche Pflicht der "redditio" des Entliehenen. Sollte sich nun jedoch in der Rechtmäßigkeit des Besitzanspruches etwas ändern, so würde sich auch der Verpflichtungscharakter der "redditio depositi" ändern. Genau das ist in unserem Beispiel der Fall: Die ursprüngliche "rectitudo" der Beziehung Eigentümer-Entliehenes hat sich verändert. Der Besitzanspruch auf ein Jagdgewehr, mit dem man seine eigene Ehefrau erschießen will, entspricht nicht mehr der Ordnung der Gerechtigkeit. Deshalb besteht ein partikulares "impedimentum" für die Anwendung des Prinzips "deposita sunt reddenda" auf diese Situation. Die entsprechende Handlung "fiele" auf eine "materia indebita" und wäre objektiv keine Handlung der Gerechtigkeit mehr. (Fs)

382a Zu I-II, q.94, a.4 gibt es eine aufschlußreiche Parallelstelle, aus der hervorgeht, daß genau dies die Meinung des hl. Thomas ist. Es handelt sich um II-II, q.57, a.2, ad 1: [...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Epikie; mutatio materiae

Kurzinhalt: ... Mißverständnis bezüglich des Begriffes des Naturgesetzes. Es wird fälschlicherweise gemäß dem Muster eines menschlich-positiven Gesetzes behandelt

Textausschnitt: 390a Man muß also sorgsam unterscheiden zwischen den Auswirkungen einer "mutatio materiae" bezüglich dem Naturgesetz einerseits und dem positiven Gesetz andererseits. Im ersten Fall bewirkt diese "mutatio", daß sich der objektive Sinn der Handlung verändert und daß damit die entsprechende Handlungsweise sich der Regelung durch das entsprechende Gebot des Naturgesetzes entzieht. Im zweiten Fall jedoch, der derselben "mutatio materiae" entspringt, bewirkt diese gerade nicht, daß sich die Handlungsweise dem entsprechenden Gesetz, was seinen Wortlaut betrifft, entzieht. Sie entzieht sich indessen seiner Intention, die im Wortlaut nur ungenügend, nicht für alle Fälle zutreffend, zum Ausdruck kommt. Deshalb muß man in solchen Fällen dem Wortlaut des Gesetzes zuwider handeln. (Fs)

390b Die Anwendung des Modelles der Epikie im Fall der mutatio materiae auf das Naturgesetz, zu dem heute viele Moraltheologen neigen, entspringt deshalb einem fundamentalen Mißverständnis bezüglich des Begriffes des Naturgesetzes. Es wird fälschlicherweise gemäß dem Muster eines menschlich-positiven Gesetzes behandelt. Man achtet auf den Wortlaut von Geboten und Normen und stellt fest, daß dieser nicht alle Fälle abdeckt. - Von da aus kommt man zum Schluß, daß das Naturgesetz nicht immer gilt, daß es also Ausnahmen zuläßt. Aber das Naturgesetz besteht nicht ursprünglich aus (sprachlich) formulierten Geboten und Normen, sondern ist eine "ordinatio rationis", ein ordinativer Akt der praktischen Vernunft; diese ordinatio deckt alle möglichen "Fälle" ab und ihm gegenüber gibt es keine Epikie. (Fs)

390c Auch hier könnte es wiederum scheinen, es handle sich lediglich um einen Streit um Worte. Dem ist aber nicht so. Wenn ich nämlich behaupte, das Naturgesetz, das wesentlich eine "ordinatio rationis" ist, unterliege der Epikie, dann behaupte ich eben, es gebe Fälle, in denen die "ordinatio" im Bereiche der Gerechtigkeit "deposita sunt reddenda" einer bestimmten Situation inadäquat sei und eine Forderung der Gerechtigkeit in bestimmten Fällen einem "höheren Gut" zu weichen habe. Daß also, um das obige Beispiel wieder aufzugreifen, die Intention des Gebotes gewahrt bleibe, wenn ich das, was "an sich" oder "abstrakt" einer Forderung der Gerechtigkeit entspricht, zugunsten eines höheren Gutes unterlasse, d. h. in diesem Falle das geliehene Kapital nicht zurückzahle. Denn es sei ja gerechter - und Gerechtigkeit intendiere ja dieses Gebot - nur zehn Arbeiter anstellte von hundert auf die Straße zu stellen und dazu noch die Existenz einer kinderreichen Familie aufs Spiel zu setzen. Das Gebot des Naturgesetzes habe diesen Fall nicht voraussehen können. (Fs)

390d Das Prinzip "deposita sunt reddenda" ist jedoch nicht nur eine idealtypische Annäherung an die Gerechtigkeit; es drückt vielmehr handlungsspezifisch die "ratio iustitiae" aus und kann deshalb nicht aufgrund von Umständen oder Folgen außer Kraft gesetzt werden. (Fs)
390e Die beiden, im Grunde identischen, Behauptungen, das Naturgesetz lasse aufgrund der Umstände oder Folgen einer Handlung Ausnahmen zu und diejenige, auch bezüglich des Naturgesetzes sei Epikie denkbar, es sei also in seiner Formulierung von absoluten Verboten bezüglich des Einzelfalles defizient, will dann natürlich besagen, daß dies prinzipiell für alle möglichen Handlungsweisen gilt. Nun stellt sich, abschließend, ganz einfach die Frage: Ist eine "mutatio materiae" denn wirklich prinzipiell in allen Handlungsbereichen denkbar, oder nur in einigen? (Fs)

391a Diese Frage ist deshalb entscheidend, weil ja die angeführte Argumentation für ein Naturgesetz mit Ausnahmen schließlich begründen will, weshalb auch Abtreibung, aktive Euthanasie, künstliche Empfängnisverhütung ebenfalls nur "ut in pluribus" unmoralisch sei; sie will also begründen, daß es prinzipiell keine Handlungen gibt, die man als "intrinsece mala" bezeichnen könnte und die immer und unter allen Umständen unmoralisch sind. (Fs)

391b Die Frage ist relativ einfach zu beantworten. Um die Argumentation des hl. Thomas z. B. auf die Empfängnisverhütung anzuwenden, müßte es Fälle oder Situationen geben, in denen der objektive Sinngehalt des ehelichen Aktes sich änderte. Da sich jedoch der Sinngehalt dieses Aktes im Kontext des menschlichen Suppositums (der menschlichen Natur) und der Sinn- und Zielhaftigkeit des menschlichen Lebens überhaupt konstituiert, genau deshalb würde eine solche "mutatio materiae" eine Veränderung der menschlichen Natur voraussetzen. Und zwar nicht eine "mutabilitas naturae", von der Thomas spricht, also eine Schwankung oder "depravatio" in der "vis electiva" des menschlichen Willens; sondern eine Veränderung im ontologischen Strukturgefüge der menschlichen Person. (Fs) (notabene)
391c Die menschliche Natur oder Person ist kein kontingentes Gefüge, das sich je nach Umständen neu definiert. Eine "mutatio materiae" ist lediglich bei solchen Handlungen denkbar, deren objektiver Sinn sich im Kontext eines kontigenten Handlungsgefüges konstituiert. Wie eben die Beziehung des Entleihers eines Jagdgewehres zu seinem Eigentümer; oder allgemein: Im Bereich des wesentlich auf das Gemeinwohl bezogenen "usus" äußerer Güter, den die Tugend der Gerechtigkeit ordnet. (Fs)

391d Die unterschiedslose Anwendung des Prinzips "non est eadem rectitudo apud omnes" und der sich daraus ergebenden Tatsache, daß einige "principia propria" nur "ut in pluribus" einschlägig sind, auf alle Bereiche des menschlichen Handelns, scheint also ungerechtfertigt, und sich dabei auf Thomas zu berufen, entspringt zumindest einer höchst oberflächlichen Exegese der entsprechenden Texte. Immerhin hat etwa J. Th. C. Arntz eine solche Interpretation mit einigem Geschick vorgetragen1, und es lohnt sich, ein wenig näher auf seine Begründung einzugehen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Naturrecht, lex naturalis - Geschichte, Geschichtlichkeit

Kurzinhalt: Insofern ändert sich dann auch das Naturrecht, wobei eben dabei immer das historisch-kulturell "inkarnierte" Naturrecht gemeint ist

Textausschnitt: 401a Es geht also nicht um die Veränderung der Auffassung über das Naturrecht, sondern um die Veränderbarkeit des Naturrechtes selbst, d. h. um die Frage: Ist es möglich, daß eine bestimmte Forderung der Gerechtigkeit heute mit naturrechtlichem Anspruch gilt, morgen jedoch nicht mehr - oder umgekehrt? Bzw., daß sie in einem bestimmten kulturellen, zivilisatorischen Kontext gilt, in einem anderen jedoch nicht? (Fs) (notabene)
401b Wenn wir die vorhergehenden Ausführungen über die Kontingenz der Handlungsmaterie berücksichtigen, so wird einsichtig, daß und weshalb solches möglich ist. Nicht weil das Naturgesetz sich ändert, sondern weil die Konfiguration der Handlungsmaterie in dem Sinne kontingent ist, daß bestimmte konkrete Forderungen (bzw. Gesetze) zu einer Zeit naturrechtlich begründet werden können, in einer anderen Zeit jedoch nicht mehr; und dies deshalb, weil bestimmte gesetzliche Regelungen nur unter bestimmten Umständen notwendig sind, um den immer geltenden Präzepten des Naturgesetzes Folge zu leisten. (Fs) (notabene)

Kommentar (29.05.07): Das Naturgesetz als ordo rationis ist eine Invariable wie das "Gesetz" der Relation bei Lonergan.

401c So läßt sich verstehen, weshalb aufgrund des gesellschaftlichen Kontextes gewisse menschliche Rechte und Gesetze als naturrechtliche Forderungen auftreten können, die vorher (oder anderswo) nicht als solche gegolten hatten. Daß zum Beispiel heute der Staat eine naturrechtlich begründbare Gerechtigkeitspflicht besitzt, das Schulwesen zu ordnen, wird niemand bestreiten. Dennoch besaß der Staat diese Pflicht nicht immer: Denn sie ergibt sich aus Existenz und Struktur des modernen Bildungswesens. Ein klassisches Beispiel ist auch das Zinsverbot: Im Mittelalter hatte Kapital und Zins eine völlig andere wirtschaftliche Bedeutung. Kredit auf Zins zu geben war, aufgrund dieser Umstände, eine sittlich völlig andere Handlung, als sie dies im heutigen Wirtschaftsleben darstellt. (Fs) (notabene)

401d Das zeigt wohl deutlich, daß eine Naturrechtsauffassung verfehlt wäre, die ein überzeitliches und unabhängig von aller kultureller Bedingtheit feststehendes "System" detaillierter, "immer" und "überall" gültiger naturrechtlicher Gerechtigkeitsforderungen aufstellte: Etwa die eine dem Naturrecht entsprechende Staatsform, Wirtschaftsordnung, Steuergesetzgebung usw. Ein Beispiel für die Verbindung der überzeitlich gleichbleibenden sittlichen Grundforderungen des Naturrechtes mit ihrer jeweiligen Verwirklichung in einer bestimmten Zeit bildet gerade die kirchliche Soziallehre, deren Entwicklung man wohl nur auf diesem Hintergrund adäquat verstehen und beurteilen kann. Gewiß: es gibt Fortschritte in der Einsicht in die Struktur und die Erfordernisse der politischen, wirtschaftlichen, sozialen Gerechtigkeit. Aber es gibt auch Umstände, die sich ändern. So lehrte eben die Kirche seit Leo XIII., daß der Staat die Aufgabe besitze, zum Schütze der Arbeiter in das Wirtschaftsleben einzugreifen. Aber diese Forderung ist erst aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts entstanden, in deren Kontext die Enzyklika Rerum Novarum unveränderliche Prinzipien des Naturrechtes zur Geltung gebracht hat. (Fs)

401e Thomas reflektiert diese Zusammenhänge an einigen wenigen Stellen; so unterscheidet er in De Malo den formellen Aspekt der Gerechtigkeit positiver menschlicher Gesetze von einem materiellen Aspekt. Die formelle Gerechtigkeit dieser Gesetze gründet in ihrer Übereinstimmung mit den "Prinzipien des Rechtes, die sich in der natürlichen Vernunft" befinden; diese Prinzipien sind unveränderlich (und enthalten, gemäß der Extension der "ratio naturalis", sowohl primäre wie sekundäre Präzepte). Auf der anderen Seite ist die materielle Richtigkeit zu betrachten: "Und in dieser Hinsicht ist nicht dasselbe überall und bei allen gerecht und gut, vielmehr muß dies durch Gesetze festgesetzt werden. Dies ergibt sich aus der Veränderlichkeit der menschlichen Natur und aus verschiedenen Bedingtheiten der Menschen und der Dinge gemäß örtlicher und zeitlicher Verschieden-heit".1 (Fs)

402a Thomas begründet hier also gerade die Notwendigkeit menschlicher Gesetze aufgrund der Kontingenz der Handlungsmaterie, die auch eine örtliche (kulturelle, zivilisatorische) und geschichtliche Kontingenz sein kann; sowie auch aufgrund der "Veränderlichkeit der menschlichen Natur", womit ja, wie bereits gezeigt, nur gemeint ist, daß der Mensch von Natur aus in seinem Wollen veränderlich ist. Eine Drogengesetzgebung wird ja kaum nötig sein, wo nicht in gemeinwohlgefährdendem Ausmaße Drogen konsumiert und mit ihnen gehandelt wird; das kann aber, aufgrund der Gewohnheiten der Menschen - der "mutabilitas" der "rectitudo" ihres Wollens - sich ändern; und dann braucht es eben als unbedingte Forderung der Gemeinwohlgerechtigkeit auch entsprechende Gesetze. (Fs)

402b In der Summa Theologiae stellt Thomas direkt die Frage, ob das Naturgesetz wandelbar sei.2 Dies könne in zweierlei Weise verstanden werden: Erstens als Veränderung durch Hinzufügung; und dies sei ohne weiteres möglich, "denn vieles ist dem Naturgesetz hinzugefügt, was zum menschlichen Leben nützlich ist, sei es durch göttliches, sei es durch menschliches Gesetz." Der zweite Fall (Veränderung durch Wegnahme, per modum subtractionis) reduziert sich auf die bereits besprochene Struktur der Geltung der Präzepte des Naturgesetzes "ut in pluribus": Thomas verweist dabei selbst auf seine früheren Ausführungen. (Fs)

402c Interessant ist dabei jedoch vor allem, daß Thomas die Hinzufügung durch positive Gesetze, die ein "zum menschlichen Leben Nützliches" statuieren, als eine Veränderung des Naturgesetzes selbst bezeichnet. Wie ist das gemeint? Gemeint ist damit, daß das Naturgesetz (oder das Naturrecht) in jedem geschichtlichen und kulturellen Kontext immer in diesen Kontext gleichsam "inkarniert" auftritt. Ein oft angeführtes Beispiel: Es entspricht dem Naturrecht, daß ein Übeltäter bestraft wird. Kein menschliches Gesetzbuch beschränkt sich jedoch auf diese Forderung, sondern es setzt für bestimmte Straftaten bestimmte Strafen fest. Dieses positive menschliche Gesetz ist eine Ableitung per modum determinationis aus dem Naturgesetz, und in ihr ist das Präzept "Übeltäter sind zu bestrafen" (selbst ein sekundäres Gebot des Naturgesetzes) "inkarniert": Seine Geltungskraft lebt aufgrund des Naturgesetzes und insofern gehört dieses konkrete positive Gesetz auch zu ihm (bzw. ist es eine "derivatio per modum determinationis aus ihm); die Konkretion dieses Gesetzes selbst unterliegt jedoch historischer und kultureller Bedingtheit. Ein Staat, der diese Konkretisierung hingegen nicht vornehmen würde, verstieße gegen das Naturgesetz. Das Gesetz, das bestimmte Straftaten mit bestimmten Strafen belegt, entspricht also dem Naturgesetz und ist gleichzeitig, in seiner konkreten Ausgestaltung wandelbar. Genau in diesem Sinne kann das Naturgesetz selbst veränderbar genannt werden. (Fs) (notabene)

403a Es sind nun aber auch solche Konkretisierungen denkbar, die in einem gegebenen historisch-zivilisatorischen Kontext die einzig mögliche, also eine notwendige, Weise darstellen, um einem bestimmten Gebot des Naturgesetzes Geltung zu verschaffen. In diesem Falle kann man im strengen Sinne sagen: Dieses Gesetz ist (hic et nunc) ein naturrechtliches Gebot, ohne dabei außer Acht zu lassen, daß sich die Umstände ändern können und damit auch die positiv-gesetzlichen Bestimmungen. Insofern ändert sich dann auch das Naturrecht, wobei eben dabei immer das historisch-kulturell "inkarnierte" Naturrecht gemeint ist. Der Fehler weiter Strömungen der Naturrechtslehre - vor allem unter dem Einfluß des neuzeitlichen Rationalismus - bestand ja gerade darin, dieses "inkarnierte" Naturrecht nicht von den immer geltenden Prinzipien zu unterscheiden. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Natursetz (lex naturalis), Tugend, Klugheit

Kurzinhalt: Die fundamentale Regel der praktischen Vernunft als "recta ratio agibilium" ist eine ihr vorausliegende und ihre normative Kraft konstituierende natürliche Regel, ...

Textausschnitt: 403b Wir haben gesehen: Die oftmalige Komplexität vieler Situationen erschwert in vielen Fällen die Erkenntnis dessen, was zu tun ist. Die Regelung des konkreten Handelns durch das natürliche Gesetz der praktischen Vernunft verliert an Evidenz und Eindeutigkeit, je näher man sich bei der Ebene des konkreten "operabile" befindet. In vielen Fällen sind mehrere Handlungsweisen sittlich gerechtfertigt, oder es scheint zumindest so. Die simple Orientierung an universal formulierten Handlungsnormen versagt oft oder erweist sich als ungenügend, nicht weil diese Handlungsnormen ungenügend sind, sondern weil wir, aufgrund der materialen Kontingenz des Handelns in bestimmten Zusammenhängen (vor allem im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit) oft Schwierigkeiten haben, auszumachen, welcher der objektive Gehalt der betreffenden Handlung ist, bzw., im Bereich der Gesetzgebung, welche Gesetze den objektiven sittlichen Ansprüchen Genüge zu tun vermögen. (Fs)

403c Es gehört gerade zur Klugheit (auch zur gesetzgeberischen Klugheit) und zu den mit ihr unlösbar verknüpften sittlichen Tugenden, konkrete Situationen in ihrer objektiven Bedeutung richtig einzuschätzen1, also das menschliche Handeln gemäß der Ordnung der Vernunft auf das Ziel, das Gute hinzuordnen. Der Akt der Klugheit ist jedoch fundamental und ursprünglich nicht durch "Normen" geregelt. Die Klugheit steht damit weder mit diesen noch mit dem "Gewissen" in Konflikt oder brauchte diese zu modifizieren. Die Klugheit hängt vielmehr ab vom intentionalen Akt der sittlichen Tugenden und damit zugleich von der universalen "ordinatio" der natürlichen Vernunft sowie deren Habitus der ersten Prinzipien, den die Tradition, aus welchen Gründen auch immer, "Synderesis" genannt hat. (Fs)
404a Die fundamentale Regel der praktischen Vernunft als "recta ratio agibilium" ist eine ihr vorausliegende und ihre normative Kraft konstituierende natürliche Regel, die dieser selben praktischen Vernunft auf der Ebene der "ratio naturalis" entspringt. Diese Regel ist das Naturgesetz, und nicht "sittliche Normen", die ja nur eine nachträgliche Formulierung der "ordinatio rationis" auf der Ebene der Reflexion darstellen. Es ist der heutigen Moraltheologie in den hier kritisierten Ausgestaltungen vorzuwerfen, daß es ihr nicht gelungen ist, eine Jahrhunderte alte Perspektive zu überwinden, die sittliche "Normen" und damit auch die reflexe Formulierung des Naturgesetzes fälschlicherweise als das grundlegende Phänomen zu betrachten pflegte. Die ganze Argumentation der in der vorliegenden Untersuchung kritisierten moraltheologischen Neuansätze verläuft noch auf der Ebene einer Normenethik, die den Ausgangspunkt des moralischen Diskurses im Phänomen des "Gebotes" und des "Gesetzes" als reflex-formulierte Handlungsnormen erblickt, um diesen Normen dann das Gewissen, die Freiheit, die Einmaligkeit der Situation, die Intention des Subjektes usw. entgegenzuhalten. (Fs) (notabene)

404b Diese abstrakte Ausgangsposition konstruiert damit unweigerlich eine von der Sache her gar nicht bestehende "Spannung" "zwischen den notwendig erforderlichen und allgemein formulierten Normen und dem konkreten Anspruch des einzelnen".1 Und das Geschäft des Moraltheologen beginnt dann darin zu bestehen, Argumente zu suchen, um diese Spannung erträglich zu machen.2 In gewissen Traditionen legalistischer Moraltheologie, die solchermaßen vorzugehen pflegte, wurde die "Spannung" zugunsten der Norm entschieden. Die Argumentationsfiguren, die entstanden, um Sonderfälle zu erklären, konnten so leicht als "Auswege" oder "Notlösungen" erscheinen. Die Plausibilität dieser Argumentationsfiguren begründete sich oft mehr intuitiv als diskursiv, jedenfalls aber erfüllten sie ihren praktischen Zweck, mit dem Nachteil allerdings, daß der "legalistisch" argumentierende Moraltheologe der Gefahr verfiel, sich als bloßen "Gesetzesgelehrten" zu betrachten. (Fs)

404c Daran scheint sich bis heute nicht viel geändert zu haben. Nur, daß man sich jetzt für die "Freiheit des einzelnen" entscheiden möchte. Der Moraltheologe ist weiter ein Gesetzesgelehrter, lehrt nun aber wie, wann und weshalb gewisse Normen nicht verpflichten und man auch anders handeln könne. Man scheint die Freiheit neu zu entdecken, und zwar als die Möglichkeit, sich im Raum "begründeter Ausnahmen" bewegen zu können. (Fs)

405a Dabei bleibt die Ordnung zwischen dem Grundlegenden und dem Gegründeten auf den Kopf gestellt. Die Freiheit des Menschen ist viel mehr, und zugleich aber sind auch die Ansprüche des Menschseins viel höher. Manchmal scheinen sie den Menschen zu überfordern. Das wäre in der Tat der Fall, wenn der Mensch jene Art von Autonomie besitzen würde, die ihn ganz auf sich selbst stellte. Der Mensch ist jedoch nicht nur Geschöpf Gottes, sondern, durch das Werk der Gnade, auch Kind Gottes. Der christliche Moraltheologe darf das nie vergessen und etwa behaupten, die "christliche Moral" hätte dem Menschen nichts spezifisch Neues zu sagen. Sie hat ihm nämlich, unter vielem anderem, zu sagen, daß er diesen Anforderungen seines Menschseins nicht ohne jene Gnade, d. h. göttliche Hilfe, gerecht werden kann, die uns durch und in Christus, sowie vermittelt durch seine Kirche, zuteil wird. Die Erlösung ist nicht Erlösung von den sittlichen Ansprüchen des Menschseins oder vom "moralischen Gesetz", sondern sie ist Erlösung vom menschlichen Unvermögen, diesen Ansprüchen voll und ganz zu entsprechen und das heißt auch: von der Unfähigkeit, der wirklichen menschlichen Würde gemäß zu leben. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: Naturgesetz, lex naturalis; Stoa

Kurzinhalt: Die Vernunft besitzt demnach bezüglich aller von der Vernunft unterscheidbaren "Natur" Telos-Charakter; ihre praktische Tätigkeit kann keinesfalls darauf reduziert werden, natürliche Neigungen in sittliche Gebote "umzuformulieren"

Textausschnitt: 1. Das Naturgesetz, wie es in seinen grundlegenden Strukturlinien dargestellt wurde, ist Ausdruck personaler Autonomie. Diese Autonomie umschließt eine Reihe von grundlegenden Elementen, deren organische Einheit letztlich darauf beruht, daß die menschliche Person ein nach dem Ebenbild Gottes (ad imaginem Dei) geschaffenes Lebewesen, ein freies und geistbeseeltes Wesen der Körperwelt ist, das in seinem Erkennen und Streben das ewige Gesetz partizipiert und auf Gott hin angelegt ist, die "sichtbare", körperliche Welt also zugleich auch transzendiert. Das Naturgesetz ist nicht ein gewöhnliches "Naturphänomen", denn es besitzt nicht eine "naturale", sondern eine personale Struktur, die menschlichem Person-Sein entspricht. Person-Sein ist in der durch die natürliche Vernunft kognitiv und operativ vermittelten Einheit des Suppositums selbst eine besondere, ausgezeichnete, weil rational durchformte, Art von "Natürlichkeit", in deren Konstituierung die Vernunft als ratio naturalis eine maßstäbliche Ordnungsfunktion ausübt. Sich zur Begründung moralischer Normativität auf die Natur beziehen oder "naturrechtlich" argumentieren heißt immer, an diese der vernünftig-personalen Struktur des Naturgesetzes entsprechend geprägte Natur zu appellieren, an eine "natürliche Ordnung" also, die sich in der Reflexion über die spontane, teils intuitive und vorwissenschaftliche, aber auch von persönlichen Dispositionen (sittlichen Tugenden) abhängende sittliche Erfahrung als ordo rationis zeigt. (Fs) (notabene)

406c Das Naturgesetz ist demnach weder mit der "natürlichen Ordnung" im rein metaphysischen Sinne noch mit der (Vernunft-)Natur des Menschen zu identifizieren. Das natürliche Gesetz ist vielmehr ein Gesetz der praktischen Vernunft, d. h. eine ordinatio der praktischen Vernunft als natürliche Vernunft, welche die den natürlichen Neigungen gemäßen Akte auf das dem Menschen als Person eigene Ziel hinordnet. Damit ist nicht gemeint, das Naturgesetz könne nur insofern es als Präzept auftritt, "Gesetz der praktischen Vernunft" genannt werden, ansonsten (in inhaltlicher Hinsicht) verleihe jedoch die praktische Vernunft lediglich der "Stimme" einer ihr gegenständlichen Naturordnung Gehör. Die praktische Vernunft konstituiert nicht einfach nur die "ratio praecepti", formt also nicht einfach natürliche Neigungen oder Aktgefüge in sittliche Gebote um; vielmehr besitzt die menschliche Vernunft auch in ihrer praktischen Wirkweise eine axiologische Eigenkonsistenz und konstituiert deshalb das sittliche Sollen (den ordo ad finem) auch in inhaltlicher Hinsicht. Sie tut dies jedoch nicht in "schöpferischer" Weise: Auch praktische Erkenntnis ist immer Erkenntnis und als solche konstituiert sie zwar in einem ordinativen Akt das sittliche Sollen, ohne jedoch in schöpferischer (oder "eigenkompetenter") Weise die Wahrheit dieses Sollens zu konstituieren. Genauer gesagt: Sie konstituiert zwar (kognitiv) diese Wahrheit, aber nicht in einer Weise, die einer Verfügbarkeit über diese Wahrheit entspricht, sondern partizipativ. Denn die ordinatio der praktischen Vernunft, die Naturgesetz heißt, ist eine "Partizipation des ewigen Gesetzes im vernünftigen Geschöpf". (Fs) (notabene)

407a Im Naturgesetz entfaltet sich somit im Kontext der Autonomie der sittlichen Erfahrung des Subjektes das ewige Gesetz. Das Naturgesetz ist nicht "abbildhafter" Reflex einer "Naturordnung", sondern praktisch-kognitiver Mitvollzug der ordinatio des ewigen Gesetzes, welches in Bezug auf jede Ordnung, die insofern nur "Natur" ist, als sie von "Vernunft" unterschieden werden kann, selbst ordnende Funktion besitzt. (Fs)

407b Während dem stoischen Modell des Naturgesetzes die Identität von physis und logos zugrundeliegt, die Vernunft hier also als der Natur immanent und deshalb als normativ angesehen und der diese natürliche Ordnung des Kosmos durchwaltende logos mit dem "ewigen Gesetz" identifiziert wird (eine Auffassung, die schließlich zu einem formell zirkulären Begriff des "Naturgemäßen" als "Vernunftgemäßen", und umgekehrt, führt), so ist bei Thomas die sittlich maßgebende Vernunft nicht "logos" (Strukturprinzip) einer natürlichen Ordnung, sondern eine bezüglich des nur Natürlichen ordnende Kraft, die den logos eines transzendenten ewigen Gesetzes, wie es im Geist des Schöpfers besteht, zum Durchbruch bringt. Die menschliche Vernunft ist nicht ein die kosmische Ordnung konzentriert widerspiegelnder "Mikrokosmos", sondern in ihr findet sich die imago des göttlichen Geistes, deren Wahrheitsmächtigkeit und ordnende Kraft sie partizipiert und wirksam werden läßt. Die praktische Vernunft ist demnach als natürliche Vernunft ein kognitives Prinzip, das aller übrigen Natur voraus ist und sie transzendiert; das aber zugleich, als geschaffene Vernunft und einer geistigen Seele entspringend, die substantielle Form eines Körpers ist, ebenfalls Natur ist. So hat es Thomas, wie wir sahen, am deutlichsten in seinem Kommentar zum Johannesevangelium zum Ausdruck gebracht: Der Mensch ist "secundum intellectualem naturam, quae est ab extrinseco ... a Deo per creationem" (siehe oben II, 4.1.5). Die Vernunft besitzt demnach bezüglich aller von der Vernunft unterscheidbaren "Natur" Telos-Charakter; ihre praktische Tätigkeit kann keinesfalls darauf reduziert werden, natürliche Neigungen in sittliche Gebote "umzuformulieren". Wenn sie auch auf diese natürlichen Neigungen in konstitutiver Weise angewiesen ist, um überhaupt erkennen zu können und praktisch-wahre Präzepte für das menschliche Handeln zu etablieren (denn der Mensch ist ebenso sein Körper wie er Geist ist, Dualität heißt nicht Dualismus!), so besitzt sie dennoch bezüglich dieser Neigungen eine eigene axiologische Konsistenz und damit eine ordnende Aufgabe. Diese von der praktischen Vernunft in den natürlichen Neigungen geschaffene Ordnung ist die Ordnung der Tugend, in welcher sich die Integrität der Person in ihrer operativen Vollkommenheit offenbart. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Humnae Vitae, Naturrecht, lex naturalis; Licht des Verstandes

Kurzinhalt: Nun versteht man unter "Naturgesetz" ... eine vernünftige Regel, aufgrund derer wir unsere Handlungen in sittlich gute und schlechte Handlungsweisen einteilen

Textausschnitt: 9a Die Enzyklika "Humanae vitae" (HV) lehrt, daß Empfängnisverhütung gegen das Naturgesetz verstößt. Nun versteht man unter "Naturgesetz" ("natürliches Sittengesetz", lex naturalis) eine vernünftige Regel, aufgrund derer wir unsere Handlungen in sittlich gute und schlechte Handlungsweisen einteilen. Es ist - wie die Kirche selbst in der Enzyklika "Veritatis splendor" (Nr. 38-44) ausdrücklich lehrt - letztlich nichts anderes als das Licht unseres Verstandes, durch das wir Gut und Böse unterscheiden. (Fs)

9b "Naturgesetz" als "moralisches Gesetz" ist also nicht "etwas", das "Gegenstand" der menschlichen Vernunfterkenntnis ist (z.B. eine "Gesetzmäßigkeit der Natur"). "Natürliches Gesetz" sind vielmehr die Erkenntnisse der Vernunft selbst, d.h. ihre praktischen Urteile hinsichtlich Gut und Böse, durch die wir unser freies Handeln verantwortlich leiten. Das "natürliche Gesetz" ist also eine Regel, die der natürlichen Vernunft des Menschen entspringt. "Natürlich" wird dieses Gesetz genannt, weil die Vernunft Teil der menschlichen Natur ist. Es formuliert - ganz unabhängig von Glaube und Offenbarung und in diesem Sinne "autonom" - die fundamentalen Erfordernisse von Sittlichkeit und Humanität, Erfordernisse, die sich aus dem Menschsein des Menschen ergeben. Deshalb gehört die Analyse "naturgesetzlicher" Ansprüche zunächst einmal zum Geschäft der philosophischen Ethik. (Fs) (notabene)

9c Um also zu zeigen, daß Empfängnisverhütung prinzipiell für jedermann eine falsche Art zu handeln ist, wird das grundlegende Argument ein solches philosophisch-ethischer Natur sein müssen. Nun war es aber die Absicht der Enzyklika "Humanae vitae", mit authentischer Lehrautorität die kirchliche Lehre über die Wahrnehmung verantwortlicher Elternschaft vorzulegen, nicht aber, dafür auch eine ausführliche und zwingende Begründung zu liefern. So weit dies die Ebene des "Naturgesetzes" betrifft, muß die Darlegung einer solchen Begründung als Aufgabe einer weiteren Analyse philosophisch-ethischer Art betrachtet werden. Es ist Ziel dieser Seiten, eine solche Analyse vorzunehmen und auf dieser Basis argumentativ zu begründen, weshalb Empfängnisverhütung als eine bestimmte Art menschlichen Handelns sittlich falsch ist (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Humane vitae; Kritik (B. Häring): biologistisches Verständnis

Kurzinhalt: ... nämlich um eine grundlegende begriffliche Unterscheidung einzuführen: die Unterscheidung zwischen willentlich verursachter und natürlich gegebener Unfruchtbarkeit

Textausschnitt: 11a Aufgrund einer solchen Interpretation von "Humanae vitae" war es für die Kritiker selbstverständlich ein leichtes, ihre Lehre in Zweifel zu ziehen. Wenn wir jedoch den Text der Enzyklika ein wenig genauer betrachten, so wird deutlich, daß sie an keiner Stelle "natürliche biologische Gesetze" mit "Naturgesetz" im moralischen Sinne identifiziert und damit das menschliche Wohl und sittliches Handeln einfach solchen "Naturgesetzen" unterordnet1. Mit dem Hinweis (Nr. 10) auf die biologischen Vorgänge, die der menschlichen Zeugungspotenz eingeschrieben sind, nennt HV lediglich das erste und grundlegendste Erfordernis verantwortlicher Elternschaft: das Erfordernis über die Vorgänge im eigenen Körper Bescheid zu wissen und sich bewußt zu sein, daß diese leiblichen Gesetze und der Sexualtrieb zum Selbst der menschlichen Person gehören. Aber im Anschluß daran werden sogleich weitere Erfordernisse verantwortlicher Elternschaft genannt: die Beherrschung von Trieb und Leidenschaft durch Vernunft und Wille; das Erfordernis, "nach klug abwägender Überlegung sich hochherzig zu einem größeren Kinderreichtum" zu entschließen, "oder bei ernsten Gründen und unter Beobachtung des Sittengesetzes zur Entscheidung" zu kommen, "zeitweise oder dauernd auf weitere Kinder zu verzichten"; schließlich das Erfordernis, solche Entscheidungen mit Bezugnahme auf die "sogenannte objektive sittliche Ordnung, die auf Gott zurückzuführen ist" zu fällen, eine Ordnung, "deren Deuterin das rechte Gewissen ist". Bis hier wurde offensichtlich noch nichts darüber gesagt, welche die Erfordernisse dieser "objektiven sittlichen Ordnung" sind (Fs)

12a In Nr. 11 erwähnt die Enzyklika dann die "natürlichen Gesetze und Zeiten der Fruchtbarkeit", die, als Zeichen von Gottes Weisheit, Abstände in der Aufeinanderfolge der Geburten garantierten. Nun aber sagt HV mit keinem Wort, daß diese "Gesetze" bereits eine sittliche Ordnung begründeten; d.h., daß man sie "Naturgesetz" in einem maralischen Sinne nennen könne ("natürliches Sittengesetz"). Eher ist anzunehmen, daß die Kritiker bis damals das (sittliche) Naturgesetz in dieser Weise verstanden hatten und deshalb die Enzyklika auch diesem Vorverständnis gemäß interpretieren2. (Fs)

12b In Wirklichkeit jedoch - wie aus dem Zusammenhang deutlich wird - erwähnt HV die Existenz biologischer Rhythmen an dieser Stelle aus einem ganz anderen Grund, nämlich um eine grundlegende begriffliche Unterscheidung einzuführen: die Unterscheidung zwischen willentlich verursachter und natürlich gegebener Unfruchtbarkeit. Während die erste ein moralisches Problem aufwirft (das Problem eben, mit dem sich die Enzyklika beschäftigt), ist das zweite in moralischer Hinsicht unproblematisch. Es wird deutlich, daß HV an dieser Stelle folgendes festhalten möchte: Der bei naturgegebener (nicht-willentlicher) Unfruchtbarkeit vollzogene eheliche Akt ist sittlich völlig einwandfrei: "Jene Akte, die eine intime und keusche Vereinigung der Gatten darstellen und die das menschliche Leben weitertragen (...) bleiben auch sittlich erlaubt bei vorauszusehender Unfruchtbarkeit, wenn deren Ursache keineswegs im Willen der Gatten liegt" (Hervorhebung von mir). Auch wenn es dann schließlich heißt, durch die "natürlichen Gesetze und Zeiten der Fruchtbarkeit" entstünden ja "schon von selbst Abstände in der Aufeinanderfolge der Geburten" und dies könne als Ausdruck der Weisheit des Schöpfers angesehen werden, so gibt es dennoch überhaupt keinen Grund anzunehmen, HV intendiere damit bereits eine Beantwortung der Frage, weshalb willentlich verursachte Unfruchtbarkeit unerlaubt sei. Was die Enzyklika hier darzulegen und zu präzisieren beabsichtigt, ist nichts anderes, als ihre grundlegende Lehre, "daß jeder eheliche Akt von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben muß" ("ut quilibet matrimonii usus ad vitam humanam procreandam per se destinatus permaneat"). Und das heißt in diesem Zusammenhang: Er darf nicht willentlich daran gehindert werden, jene prokreativen Folgen zu zeitigen, die sich aus seinen natürlicherweise gegebenen (physiologischen) Bedingungen ergeben würden (Bedingungen, denen gemäß Zeugung nicht immer möglich ist). So will die Enzyklika zeigen, daß "Hinordnung" oder "Offenheit" des ehelichen Aktes auf die Erzeugung menschlichen Lebens gerade kein physisch-biologischer, sondern eine intentionaler Begriff ist3. Noch ist aber nicht gesagt, weshalb diese "Offenheit" überhaupt sittliches Erfordernis genannt werden muß. (Fs)

13a Deshalb ist es wichtig, daraufhinzuweisen, daß die Enzyklika mit ihrer Forderung einer "per se Hinordnung auf Zeugung" ganz deutlich eine Aussage über den "ehelichen Akt" macht - das heißt über eine dem Willen entspringende frei gewählte menschliche Handlung - und nicht eine Aussage über den biologischen Akt der Zeugungspotenz1. Es muß demnach als unglücklich bezeichnet werden, wenn ein Kritiker hier vermerkt, die Lehre über die "per se Hinordnung" auf Zeugung widerspreche der Tatsache, daß "in seinen biologischen Gesetzen gesehen" ja "der Akt in concreto sowohl auf 'Zeugung' wie auf'Nicht-Zeugung' ausgerichtet" sei2. Daraus abzuleiten, man könne deshalb vom ehelichen Akt eine beständige oder wesenhafte ("per se") Offenheit auf Zeugung hin gar nicht verlangen, ist nun wirklich biologistisch argumentiert, weil man ja dabei das Wort "Akt" im Ausdruck "ehelicher Akt" mit "Akt der physischen Kopulation" (als naturalem Geschehen) gleichsetzen würde. HV macht hier aber gar keine Aussage über das physiologische Aktgeschehen, sondern eine solche über die menschliche Handlung "ehelicher Akt" und spricht dabei von einer erforderten Offenheit auf Fortpflanzung des Willens dessen, der diesen Akt vollzieht. Die Perspektive von HV scheint hier offensichüich eine andere zu sein als diejenige ihres Interpreten und Kritikers3 (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Kritik: Untrennbarkeitsprinzip

Kurzinhalt: Solange Kontrazeption im Kontext eines ehelichen Lebens praktiziert wird, das in seiner Totalität sich bezüglich des prokreativen Sinngehaltes offen hält, ihn also nicht grundsätzlich negiert und d.h.: ...

Textausschnitt: b) Das Untrennbarkeitsprinzip

15a Erst in der nun folgenden Nr. 12 beginnt die Enzyklika einen Begründungsdiskurs ("Diese vom kirchlichen Lehramt oft dargelegte Lehre gründet in ..." usw.): Das Erfordernis einer "per se"-Offenheit des ehelichen Aktes hinsichtlich der Erzeugung neuen menschlichen Lebens beruhe auf der unlösbaren, von Gott bestimmten Verknüpfung der zwei grundlegenden Sinngehalte des ehelichen Aktes "Liebesvereinigung" und "Fortpflanzung"1. Hier nun hält HV vier Dinge fest: Erstens, menschliche Sexualität besitzt zwei fundamentale Sinngehalte: den Sinngehalt der Liebesvereinigung zwischen den Ehegatten (unitiver Sinngehalt) und den Sinngehalt der Weitergabe des menschlichen Lebens (prokreativer Sinngehalt). Zweitens: Gemäß der Absicht des Schöpfers sind diese beiden Sinngehalte unlösbar miteinander verknüpft. Drittens: Der Mensch darf deshalb aus eigener Initiative diese Verknüpfung nicht auflösen. Und viertens schließlich lehrt HV: Durch Empfängnisverhütung werden diese beiden Sinngehalte tatsächlich auseinandergerissen (Fs)

16a Punkte 1-3 bilden zusammen, was ich im folgenden das Untrennbarkeitsprinzip nennen werde. Dieses Prinzip muß zunächst richtig verstanden werden, damit schließlich der vierte Punkt adäquat behandelt werden kann. Die weitverbreitete Kritik an HV bestreitet ja nicht, daß im ehelichen Akt Liebe und "Dienst an der Weitergabe menschlichen Lebens" zusammengehören. Die Kritik entzündet sich an der Behauptung, durch Empfängnisverhütung werde diese Zusammengehörigkeit notwendigerweise zerrissen. Das sei nicht der Fall, zumindest nicht in höherem Maße als bei der Praktizierung periodischer Enthaltsamkeit. Kritiker vertreten dabei die Ansicht, daß ja die Zusammengehörigkeit der beiden Sinngehalte gar nicht in jedem einzelnen ehelichen Akt gewahrt sein müsse, damit die eheliche Liebe als ganze auf Fortpflanzung und die Aufgabe, menschliches Leben weiterzugeben, hingeordnet bleibt. Damit bejahen sie allerdings eine Frage, welche die Enzyklika selbst (in Nr. 3) ausdrücklich gestellt und dann verneint hat: "Kann man nicht die Meinung vertreten, daß das Ziel des Dienstes an der Fortpflanzung mehr dem Eheleben als Ganzem aufgegeben sei als jedem einzelnen Akt?" Wie gesagt, die Kritiker bejahen diese Frage, dies aber im Widerspruch dazu, was HV ausdrücklich in Nr. 14 lehrt, wo dann diese Frage klar verneint wird. Was die Kritiker hervorheben wollten, war - um es noch deutlicher zu sagen - folgendes: Solange Kontrazeption im Kontext eines ehelichen Lebens praktiziert wird, das in seiner Totalität sich bezüglich des prokreativen Sinngehaltes offen hält, ihn also nicht grundsätzlich negiert und d.h.: solange Kontrazeption gerade nur als Mittel dient, Geburten aus Gründen der Verantwortung zu beschränken oder zu planen, ohne deshalb prinzipiell Kinder auszuschließen, sind in diesem Fall die beiden Sinngehalte des ehelichen Aktes gar nicht auseinandergerissen (eine allerdings fragwürdige Anwendung des sogenannten "Ganzheitsprinzips"10). Mehr noch, die intentionale Offenheit auf Zeugung hin würde völlig gewahrt. Der Hinweis auf das Untrennbarkeitsprinzip zum Zwecke des Erweises, daß Kontrazeption falsch sei - so die Kritiker - setze bereits voraus, was zu beweisen wäre. Er ist also ein reiner Zirkelschluß (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Irreführende Rede: "künstliche" Empfängnisverhütung; Humanae vitae Nr. 14

Kurzinhalt: Die - meiner Ansicht nach unbedingt aufzugebende - Rede von der "künstlichen Empfängnisverhütung" bzw. einer angeblichen kirchlichen Verurteilung von künstlicher Empfängnisverhütung pflegt in verhängnisvoller Weise vom Problem abzulenken ...

Textausschnitt: 17a Treu dieser Sicht der Dinge dachten deshalb die Kritiker der Enzyklika - und sie denken es immer noch -, periodische Enthaltsamkeit sei nur eine andere Methode won Empfängnisverhütung: die eine sei eine künstliche Methode, die andere eine natürliche. Wenn man auf den "willentlichen Vorbehalt" gegenüber einer Empfängnis achte, so seien doch "ein gezieltes Ausweichen und ein gezieltes Unterdrücken der Ovulation kaum zu unterscheiden"1. Das Denken in dieser Alternative "natürlich" oder "künstlich" führte nun jedoch zu einem fatalen Mißverständnis. Viele wurden so dazu verleitet, am wahren Problem vorbeizusehen und den eigenüich springenden Punkt der Frage zu verfehlen. Das Mißverständnis lief schließlich darauf hinaus zu meinen, "Humanae vitae" verurteile Empfängnisverhütung wegen ihres künstlichen Charakters, wegen mangelnder Respektierung natürlich-vorgegebener Strukturen. Leider ist dies auch oft die Meinung derer, welche die Lehre von "Humanae vitae" zu verteidigen suchen22. Andererseits erkannte ein Autor wie J.T. Noonan, der eine faire, wenn auch unkorrekte, Interpretation von "Humanae vitae" vorgelegt hat, daß ihre Verurteilung von Empfängnisverhütung nichts mit deren Künstlichkeit zu tun hat3 (Fs)

18a Die - meiner Ansicht nach unbedingt aufzugebende - Rede von der "künstlichen Empfängnisverhütung" bzw. einer angeblichen kirchlichen Verurteilung von künstlicher Empfängnisverhütung pflegt in verhängnisvoller Weise vom Problem abzulenken, denn dieses Problem ist nicht die Künstlichkeit von Empfängnisverhütung, sondern vielmehr gerade die Verhütung von Empfängnis. Zudem suggeriert diese Sprechweise, daß auch die Alternative "periodische Enthaltsamkeit" eine Art Empfängnisverhütung sei - nämlich eine "natürliche Methode" dafür -, wobei doch periodische Enthaltung in Wirklichkeit überhaupt keine Form von Empfängnisverhütung ist. Die wahre Alternative und ihre tiefgreifende sittliche Bedeutsamkeit wird uns später beschäftigen; es ist jene zwischen "Verhüten der prokreativen Folgen vollzogener sexueller Akte" und "Vermeiden prokreativer Folgen sexueller Akte durch die Enthaltung vom Vollzug dieser Akte". Jedenfalls ist daraufhinzuweisen, daß die Enzyklika bei der Formulierung der eigentlichen Norm über die Empfängnisverhütung das Wort "künstlich" überhaupt nicht verwendet (Nr. 14):

Ebenso ist jede Handlung verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluß an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel (Fs)

18b Das trifft ja beispielweise auch auf einen sogenannten "coitus interruptus" zu. Und wie wir unten (I,4) sehen werden gibt es künstliche Eingriffe kontrazeptiver Art, die nichts mit der oben beschriebenen Handlungsweise zu tun haben und deshalb auch nicht unter die Norm von "Humanae vitae" fallen können. Die Norm hat als solche eben gar nichts mit der Künstlichkeit eines Eingriffs zu tun. Man darf sich dabei nicht durch den Ausdruck "beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen" ablenken lassen; denn die entscheidenden Worte sind hier "jede Handlung, die darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern"1. Es wird darauf zurückzukommen sein (I,4) (Fs)

[...]

19b Zunächst ist zu fragen: Finden sich in der Enzyklika "Humanae vitae" selbst irgendwelche Argumente zur Widerlegung der genannten Fehlinterpretation, ihr gehe es um die Respektierung der "Natur" vor künstlichen, naturwidrigen Eingriffen? (Fs)

20a Wie ich es sehe, lag es nicht in der Absicht der Enzyklika zu zeigen, weshalb Kontrazeption das Untrennbarkeitsprinzip verletzt; sie spricht nur aus, daß dies der Fall ist. Ebenso lag es nicht in der Absicht von "Humanae vitae", philosophische (ethische) Argumente dafür vorzubringen, weshalb Kontrazeption gegen das Naturgesetz verstößt; auch in dieser Beziehung wollte sie nur festhalten, daß dies der Fall ist. Ebensowenig bezieht sich HV explizit auf einen bestimmten Begriff von Naturgesetz. Das kirchliche Lehramt appliziert ganz einfach - im Licht der Offenbarung (Heilige Schrift und Tradition) - seine beständige Lehre über dieses Thema auf neue Entwicklungen im Gebiet kontrazeptiver Methoden, ohne dabei eine eigentlich philosophische Begründung und Argumentation vorzulegen1 (Fs)

20b Dennoch liegt der Lehre von HV eine maßgebende, philosophisch relevante Perspektive zugrunde, eine Perspektive, die eine wichtige lehrmäßige Entwicklung reflektiert: Diese Perspektive besteht nun gerade nicht darin zu verlangen, man müsse natürliche Strukturen, die der biologischen oder physiologischen Konstitution des Menschen und seiner Zeugungsakte innewohnen, respektieren; vielmehr besteht diese Perspektive darin, hinsichtlich des Aktes der Empfängnisverhütung den "intentionalen Gehalt dessen, was man tut" hervorzuheben2, eine Intentionalität, die sich auf die Natur der Tugend der Keuschheit bezieht und auf deren besondere Erfordernisse im Kontext prokreativer Verantwortung (Prokreative Verantwortung = Verantwortung bezüglich der Zeugungsfolgen sexueller Akte, d.h. elterliche Verantwortung). Dies ist, wie mir scheint, der Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis der Enzyklika und führt auch zu dem wahrscheinlich einzigen Weg einer Erklärung dafür, weshalb Kontrazeption gegen das Naturgesetz verstößt. Denn dieses istja nichts anderes als das Strukturgesetz der sitüichen Tugenden (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Humanae vitae; Grundfrage, Ausgang: verantwortliche Elternschaft

Kurzinhalt: Die kontrazeptive Wahl besteht darin, ein Verhalten zu wählen, durch das die Fruchtbarkeit des Sexualverkehrs verhindert ... wird ... Die Wahl periodischer Enthaltung hingegen impliziert keinerlei Willen ...

Textausschnitt: 23a Um den kontrazeptiven Akt in seiner "Reinheit" zu identifizieren - d.h. zum Zwecke einer korrekten Analyse - sollten wir deshalb von einem anderen Fall ausgehen, der ja auch derjenige ist, mit dem sich "Humanae vitae" selbst in erster Linie auseinandersetzt: Der eigentliche Fall verantwortlicher Elternschaft. Dies ist jener Fall, in dem Eheleute, die ihre elterliche Berufung bejahen und ihr gegenüber voll offen stehen, aus ernsthaften Gründen, in denen sie Gottes Willen erblicken, zum Schluß kommen, sie sollten, zumindest vorläufig, keine weiteren Kinder bekommnen. HV hat diese Situation exakt beschrieben und stellt im Vergleich zur Möglichkeit zeitweiser Enthaltung (in Nr. 16) fest: "Zweifellos sind in beiden Fällen die Gatten sich einig, daß sie aus guten Gründen Kinder vermeiden wollen, und dabei möchten sie auch sicher sein." Gemäß der Lehre der Enzyklika wäre in diesem Fall periodische Enthaltung vollkommen erlaubt; Empfängnisverhütung hingegen wäre es nicht. Ein und dieselbe gute Absicht führt hier zu einer unterschiedlichen Handlungswahl. Ohne Zweifel besteht hier in keinem der beiden Fälle eine Absicht, den prokreativen Sinngehalt ehelicher Liebe als Dienst an der Weitergabe menschlichen Lebens zugunsten anderer, nicht elterlicher Verantwortung entspringender Präferenzen auszuschalten. Im Gegenteil: Die Einsicht der Ehegatten "Wir sollten kein weiteres Kind bekommen" oder "Sie (Ich) sollte nicht schwanger werden" basiert auf ernsthaften und gerechtfertigten Gründen, und sie ist eine voll im elterlichen und prokreativen Sinngehalt ehelicher Liebe eingebettete Einsicht. In beiden Fällen bildet sich die Intention, eine Empfängnis zu vermeiden (so lange die gegenwärtigen Umstände anhalten), eine Intention, die voll und ganz in den Kontext prokreativer Verantwortung integriert ist. (Fs) (notabene)

24a Dies vorausgesetzt, ist dann aber die Wahl des konkreten Verhaltens, d.h. das gewählte Mittel, um Empfängnis zu vermeiden, jeweils verschieden. Die kontrazeptive Wahl besteht darin, ein Verhalten zu wählen, durch das die Fruchtbarkeit des Sexualverkehrs verhindert ("verhütet") wird (d.h. sie ist die Wahl, eine voraussichtliche Empfängnis zu verhindern, um auf diese Weise das Ziel der Vermeidung einer Empfängnis zu erreichen). Die Wahl periodischer Enthaltung hingegen impliziert keinerlei Willen, die Fruchtbarkeit natürlicherweise fruchtbarer Akte zu verhindern, sondern das Ziel "Vermeidung einer Empfängnis" dadurch zu erreichen, indem man sich derjenigen Akte, die voraussichtlich Zeugungsfolgen haben werden, enthält. Weshalb nun ist die erste Wahl sittlich falsch, die zweite jedoch nicht? Genau dies und nur dies ist die zu beantwortende Frage. Alle anderen möglichen, zusätzlich vorgebrachten Argumente gegen die Empfängnisverhütung-wollen sie nicht ins Leere greifen - setzen die Beantwortung dieser grundlegenden Frage bereits voraus. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Deskriptive Definition: kontrazeptive Wahl; Empfängnisverhütung als intentionale Handlung

Kurzinhalt: Eine kontrazeptive Wahl ist die Wahl einer Handlungsweise, die darin besteht, mit willentlicher Zustimmung vollzogene Akte des Sexualverkehrs ... Sie impliziert ...

Textausschnitt: a) Empfängnisverhütung als intentionale menschliche Handlung

43a Im weiteren Verlauf der Analyse wollen wir uns auf das Problem der kontrazeptiven Wahl (=Akt des willentlichen Entschlusses, eine empfängnisverhütende Maßnahme anzuwenden) konzentrieren, und zwar insofern dies die Wahl eines bestimmten Typs menschlicher Handlung ist. Die Analyse muß sich strikt auf den angeführten, in diesem Zusammenhang allein relevanten Fall beschränken, der durch folgende Elemente beschrieben werden kann:

(1) Es existiert eine moralisch einwandfreie Intention der Eheleute, eine Empfängnis zu vermeiden. (Fs)

(2) Es handelt sich um einen Fall, in dem periodische Enthaltung eine moralisch unproblematische Alternative wäre. (Fs)

(3) Es existiert gleichzeitig eine zumindest implizite Wahl, keine periodische Enthaltung zu praktizieren, d.h. sich nicht jener Akte zu enthalten, die voraussichtlich prokreative Folgen (Zeugungsfblgen) haben werden. (Fs)

(4) Anstatt periodische Enthaltung zu wählen, wird ein Mittel gewählt, durch das die prokreativen Folgen aller Sexualakte zu jeder beliebigen Zeit verhindert werden. Dieses Mittel kann die "Pille" sein; denkbar sind aber auch andere chemische, mechanische oder operative Maßnahmen, wie Kondome, Intrauterinpessare (IUD's, "Spirale") oder Sterilisierung oder auch eine "natürliche" Maßnahme wie der sogenannte coitus interruptus (vorzeitiger Abbruch und onanistischer Abschluß des Sexualverkehrs). Auf der vorliegenden Argumentationsebene läuft all dies auf dasselbe hinaus. (Fs)

44a Wir analysieren also Empfängnisverhütung als eine bestimmte Art von menschlicher Handlung. Zum vorliegenden Zweck schlage ich die folgende Beschreibung (deskriptive Definition) der Wahl dieser menschlichen Handlung vor:

44b Eine kontrazeptive Wahl ist die Wahl einer Handlungsweise, die darin besteht, mit willentlicher Zustimmung vollzogene Akte des Sexualverkehrs, welche voraussichtlich prokreative Folgen haben, daran zu hindern, solche Folgen haben zu können, und die eine Wahl ist, die genau aus diesem Grund vollzogen wird. (Fs)

44c Es scheint mir, daß dies eine erschöpfende Beschreibung der kontrazeptiven Wahl ist und daß sie auf Empfängnisverhütung sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Ehe zutrifft. Sie impliziert

(1) die Intention (Absicht), Akte des Sexualverkehrs zu vollziehen;
(2) die Voraussicht, daß dies den Beginn neuen menschlichen Lebens (einer Schwangerschaft) verursachen kann;
(3) die Wahl einer Handlung, welche diese Folge des eigenen Sexualverhaltens verhindert;
(4) Sie impliziert, diese Handlung genau deshalb zu wählen, um das mögliche Eintreten dieser Folge zu verhindern. (Fs)

45a Wie bereits erwähnt, trifft diese Beschreibung auch auf onanistische Akte durch "coitus interruptus" zu (weil dies eine Maßnahme ist, die den Vollzug von Sexualverkehr daran hindert, prokreative Konsequenzen zu haben) und andererseits trifft sie offensichtlich am meisten auf operative Sterilisierung zu. Sie kann sich sogar auf Abtreibung beziehen, insofern eine Abtreibung als Bestandteil kontrazeptiver Strategie verstanden wird, d.h. insofern Abtreibung von Anfang an als eine Möglichkeit ins Auge gefaßt wird, um voraussichtlich mögliche prokreative Folgen von Sexualverkehr zu "neutralisieren", d.h. gleichsam rückgängig oder "ungeschehen" zu machen (in diesem Fall involviert Abtreibung sowohl die kontrazeptive Wahl wie auch die zusätzliche Wahl ein bereits lebendes menschliches Wesen zu töten). (Fs)

45b Man beachte, daß die vorgenommene Beschreibung von Empfängnisverhütung völlig unabhängig davon ist, was auf der physischen Ebene geschieht; um das zur Diskussion stehende Problem zu lösen ist es völlig einerlei, ob man z.B. den Fall einer Verhinderung der Zeugungsfolgen von Sexualverkehr durch Einnahme der "Pille" betrachtet, oder den Fall des Abbruchs des Sexualaktes und seiner onanistischen Vollendung. Es gibt hier freilich Unterschiede anderer Art, die aber im gegenwärtigen Zusammenhang bedeutungslos sind. Die vorgeschlagene Beschreibung sieht auch ab vom Unterschied zwischen "Tun" und "Unterlassen eines Tuns", denn "coitus interruptus" ist ja eine Form des Unterlassens; und weiter ist ja die Beschreibung offensichtlich nicht anwendbar für den Fall, daß jemand kontrazeptive Mittel anwendet, um die möglichen Zeugungsfolgen einer voraussichtlich eintretenden Vergewaltigung zu verhindern, denn die eine Vergewaltigung fürchtende Person wählt ja nicht, mit jemandem sexuell zu verkehren bzw. die Zeugungsfolgen des eigenen, von willentlicher Zustimmung begleiteten Sexualverhaltens zu verhindern. Dasselbe gilt von einer Sportlerin, die etwa während der Zeit Olympischer Spiele eine ovulationshemmendes Präparat einnimmt, um die Regelblutung zu vermeiden. Hier ist das, was ich den "ethischen Kontext" genannt habe - und damit das Objekt der Handlung - jeweils völlig verschieden1. Die Beschreibung kann hingegen - obwohl auch hier noch einige Differenzierung nötig wäre - angewandt werden auf aufgenötigten Sexualverkehr innerhalb der Ehe, da ja die Ehe eine grundsätzliche willentliche Zustimmung impliziert, mit dem Ehepartner sexuell zu verkehren (womit freilich nicht gemeint ist, daß aufgenötigter Sexualverkehr innerhalb der Ehe sittlich zu rechtfertigen ist2. (Fs)

46a Aufgrund dieser Beschreibung, welche, wie mir scheint, die handlungstheoretische Substanz der menschlichen Handlung "Empfängnisverhütung" adäquat zum Ausdruck bringt, wird es möglich sein auszumachen, daß der Grund für die sittliche Verkehrtheit der Kontrazeption nicht die Tatsache ist, daß sie naturgegebenen Strukturen der Zeugungspotenz oder anderen "natürlichen" Gesetzen zuwiderläuft, weil ja nicht jeder empfängnisverhütende Akt ein solches Zuwiderhandeln oder Eingriffe in natürliche Prozesse impliziert, während andere Akte (wie die Einnahme eines ovulationshemmenden Präparates aus Furcht vor den Folgen einer voraussichtlichen Vergewaltigung oder zur Vermeidung der Regelblutung während eines sportlichen Wettbewerbs), die in der Tat einen solchen "unnatürlichen" Eingriff implizieren, gar nicht unter die Beschreibung der intentionalen menschlichen Handlung "Empfängnisverhütung" fallen. (Fs)

46b Viele Fehlbeurteilungen beruhen einfach auf einer unzulänglichen Definition der menschlichen Handlung "Kontrazeption", nämlich einer Definition auf der rein medizinisch-technischen Ebene einer bestimmten Art von Maßnahme. Über "Kontrazeption" in diesem Sinne kann man aber gar kein moralisches Urteil fällen, höchstens eines über ihre technische Richtigkeit. So gibt es "bessere" und "schlechtere" kontrazeptive Mittel hinsichtlich Wirksamkeit, Nebenwirkungen usw. Um ein sittliches Urteil vollziehen zu können, müssen wir "Kontrazeption" als eine dem freien Willen entspringende Handlungsweise beschreiben (als actus humanus). Erst so wird deutlich, daß nicht jede Handlung, die medizinisch gesehen "kontrazeptiv" (z.B. ovulationshemmend) wirkt, auch die menschliche Handlung "Empfängnisverhütung" ist. Vielmehr können es objektiv ganz verschiedene Handlungen sein: Jene, die wir als "Empfängnisverhütung" definierten, oder aber z.B. die Handlung "Selbstverteidigung vor den prokreativen Folgen einer physischen Aggression" oder "Sicherung sportlicher Fitneß". (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Argument für Humanae vitae: Aufbau; natürliche Familienplanung

Kurzinhalt: Eine vorausgehende Darstellung der anthropologischen Bedeutung des Untrennbarkeitsprinzips ... Es ist gleichsam der Eckstein der Argumentation

Textausschnitt: b) Zum Aufbau der nachfolgenden Argumentation

48b Die nun darzulegende Argumentation soll in folgenden Schritten entwickelt werden:

(1) Eine vorausgehende Darstellung der anthropologischen Bedeutung des Untrennbarkeitsprinzips. Dies wird uns zur Definition des Objektes der Handlung "Sexualverkehr" führen. Es ist gleichsam der Eckstein der Argumentation. (Fs)

(2) Eine Klärung der vom Untrennbarkeitsprinzip abgeleiteten Bedeutung des Ausdrucks "prokreative Verantwortung" innerhalb einer Ethik, die auf dem Begriff der sittlichen Tugend gründet. Dieser Schritt ermöglicht es, die vorgängigen anthropologischen Einsichten auf konkrete menschliche Handlungen zu beziehen. (Fs)

(3) Die Analyse des Unterschieds zwischen kontrazeptivem Sexualverkehr und Sexualverkehr im Kontext der Praktizierung periodischer Enthaltung als zwei radikal verschiedene Arten von Sexualverhalten; in diesem Schritt wird gezeigt, daß - im Unterschied zu periodischer Enthaltung - als Folge der Empfängnisverhütung die beiden untrennbar zusammengehörenden Sinngehalte des ehelichen Aktes tatsächlich auseinandergerissen werden. Diese handlungstheoretische Analyse bildet das eigentliche Herzstück der Argumentation. (Fs)

(4) Die Darlegung einiger Implikationen von Empfängnisverhütung, vor allem der Desintegrierung von Sexualität, und deren Konsequenzen für die eheliche Liebe. Dies zeigt, daß Empfängnisverhütung in der Tat dem Wohl des Menschen widerspricht, weil die Trennung der beiden (untrennbar verknüpften) Sinngehalte gerade den unitiven Sinngehalt ehelicher Sexualität zerstört. Dies erweist die Tragweite und Ernsthaftigkeit der in die Empfängnisverhütung involvierten ethischen Problematik. (Fs)

(5) Schließlich soll noch gezeigt werden, weshalb aufgrund dieser Argumentation gesagt werden kann, Empfängnisverhütung verletze das Naturgesetz (oder "natürliche Sittengesetz"). (Fs)
49a Es liegt mir daran, auf die Wichtigkeit des methodologischen Aufbaus der folgenden Analyse hinzuweisen. Ebenso sei hervorgehoben, daß es nicht darum gehen wird, aus dem Untrennbarkeitsprinzip ein Argument gegen Empfängnisverhütung abzuleiten, sondern eher darum, die Wahrheit dieses Prinzips als ein Prinzip, das auch für den Vollzug einzelner konkreter Akte gilt, nachzuweisen. Die im Untrennbarkeitsprinzip implizierte Anthropologie ist lediglich der Ausgangspunkt und der Eckstein der Argumentation. Ihr Herzstückjedoch ist erst im dritten Schritt enthalten: der handlungstheoretischen Analyse des sittlich entscheidenden Unterschieds zwischen periodischer Enthaltsamkeit und kontrazeptivem Verhalten. (Fs)

50a Eine zusätzliche Bemerkung sei noch erlaubt: Ich werde nicht über "Natürliche Familienplanung" (NFP) sprechen und deshalb auch diesen Terminus nicht verwenden. Dafür seien hier drei Gründe genannt. Zunächst, weil das Wort "natürlich" in unserem Zusammenhang bereits in die Irre führt, insofern es sich als Gegensatz zu "künstlich" versteht, ein Gegensatz, der ja in sich betrachtet völlig nebensächlich ist. Anstatt von NFP werde ich deshalb nur von "periodischer Enthaltsamkeit" sprechen. Zweitens meint periodische Enthaltsamkeit nicht notwendigerweise eine "Planung" der Familie, sondern sie bezieht sich zunächst einmal lediglich auf eine Verhaltensweise, durch die man - aufgrund ernsthafter Gründe elterlicher Verantwortung - unter bestimmten Umständen weitere Nachkommenschaft zu vermeiden sucht. Drittens schließlich wird mit der Rede über NFP der Akzent auf bestimmte Methoden gelegt, mit denen man in der Anwendung der Zeitwahl zu grösserer Sicherheit gelangt. Das Wesentliche der periodischen Enthaltsamkeit im Gegensatz zur Empfängnisverhütung liegt nun aber gerade nicht im "Methodischen". Wenn man deshalb von NFP als Alternative zu Empfängnisverhütung spricht, verschiebt man den Akzent in einer Weise, die vom Wesentlichen ablenkt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Untrennbarkeitsprinzips, "Objekt" des ehelichen Aktes; leib-geistige Einheit, animal rationale, Seele, Wesensform - Leib; suppositum, Person; dilectio; anima mea non est ego

Kurzinhalt: Menschliche Handlungen sind immer, wenn auch in jeweils verschiedener Weise, Akte, in denen Leib und Geist zusammenwirken ... Dem Leib findet sich das Ich (als geistige Seele) nicht "gegenüber", sondern ...

Textausschnitt: 1. Die Bedeutung des Untrennbarkeitsprinzips und das "Objekt" des ehelichen Aktes

a) Die Anthropologie der leib-geistigen Einheit und die menschliche Person

51a Wie alle grundlegenden Prinzipien, so kann auch das Untrennbarkeitsprinzip nicht eigentlich bewiesen, sondern vielmehr nur aufgewiesen, umschrieben, erläutert werden. Es ist ein anthropologisches Grundprinzip, das die fundamentale innere Einheit menschlicher Personen als leib-geistige Wesen zum Ausdruck bringt. Die handelnde Person ist sich auf spontane Weise zumindest implizit dieser komplexen Einheit bewußt. Eine menschliche Person erfährt ihren Körper und Akte dieses Körpers als jeweils "meinen" Leib und "meine" Akte, die Bestandteil des personalen Selbsts sind. Eine metaphysische Anthropologie wird diese Selbsterfahrung in systematischer Weise durchleuchten, und daraus ergeben sich folgende Resultate:

51b Der Mensch ist aufgrund seiner seinsmäßigen Konstitution ein leibliches Wesen, und als ein solches gehört er zur Gattung der sinnesbegabten Lebewesen, der animalia (und darin noch genauer: zur Gattung der Säugetiere). Gleichzeitig jedoch ist der Mensch auch Geist. Gemäß aristotelischer Begrifflichkeit ist er ein durch Organe strukturierter Körper, der durch eine intellektiver Erkenntnis fähige Seele belebt ist; gemäß scholastischer, ebenfalls auf Aristoteles zurückgehender Terminologie ist der Mensch animal rationale: vernunftbegabtes Lebewesen. Die geistige Seele ist die Wesensform eines Leibes, und beide zusammen bilden deshalb eine in sich selbst subsistierende konkrete Wesenseinheit (= Substanz). Folglich ist die menschliche Leiblichkeit voll - wesenhaft - in die Struktur des geistgeformten Lebens integriert. Sie ist von diesem Leben des Geistes "informiert" (wesenhaft aktuiert und bestimmt) und wird so als menschliche Leiblichkeit gerade selbst Subjekt oder "Träger" geistiger Akte. (Fs)

51c Deshalb ist die menschliche Person auch als handelndes Subjekt stets eine leib-geistige Einheit. Menschliche Handlungen sind nicht entweder geistige oder leibliche Akte, noch sind sie Akte einer geistigen Substanz, die den Leib als ihr Werkzeug benutzt. Menschliche Handlungen sind immer, wenn auch in jeweils verschiedener Weise, Akte, in denen Leib und Geist zusammenwirken. Deshalb sind menschliche Handlungen - sogar im Falle eigentlicher innerer Akte des Verstandes und des Willens - immer Akte eines Leibes, als solche jedoch Akte eines geistig informierten Leibes. Ebenso sind menschliche Handlungen -auch im Falle spezifisch leiblicher Akte - immer auch Akte des Geistes, als solche jedoch Akte eines leiblich gebundenen Geistes, d.h. eines Geistes, der aufgrund seiner Natur die Wesensform eines Leibes ist. Deshalb gibt es auch nur ein einziges "suppositum" (real existierendes individuelles Seiendes), dessen Natur (oder "Wesen") Leib und Geist einschließt. Dieses Suppositum nennen wir menschliche Person. Deshalb sagt Thomas von Aquin, daß die anima separata, die nach dem Tod vom Leib getrennte Seele, nicht mehr "Person" genannt werden könne; sie ist nur noch die Seele dessen, der einmal war, was wir "menschliche Person" nennen: ein konkretes, leib-geistiges Individuum "Mensch"1. (Fs)

52a Dies ist völlig verschieden von der christologischen, hypostatischen Einheit zweier Naturen in einer Person. Der Mensch ist deshalb nicht "inkarnierter Geist". Er ist auch nicht "Geist in Welt" (K Rahner) oder "Vernunft in Natur" (W. Korff); denn der Mensch gehört ja nicht zur Gattung der Geister, sondern zur Gattung der animalia. Es scheint deshalb verfehlt zu sein, im Menschen das "Personale" mit dem Geistigen einfach gleichzusetzen, um dieses dann der "Natur" bzw. dem Leiblichen als "unterpersonale", bloß "dingliche" und "unter dem Menschen stehende Strukturen" entgegenzustellen1. Der Mensch ist zwar Person kraft seiner Geistigkeit (ohne Geist gibt es keine Person); aber die menschliche Person ist der ganze Mensch, weil er eine subsistierende leibgeistige Wesenseinheit, eine Substanz ist. Der pneumatische Begriff menschlicher Personalität jedoch verfälscht die innere Einheit des Menschen und tendiert dazu, den Leib als Werkzeug und "Material" des Geistes, der Freiheit oder eines pneumatischen Subjekts zu begreifen. Es muß deshalb mehr als fragwürdig erscheinen, wenn "Normen des geschlechtlichen Verhaltens" als auf reine "Sachleistungen" bezogen verstanden werden, die noch gar nicht als "Ausdruck der Struktur der Person (...) wirklich sittliche Normen" sind, sondern sich auf "Strukturen der Dinge" beziehen, von denen gesagt wird, "sie stehen unter dem Menschen" und: "Er mag sie verändern, umbiegen, soweit er nur kann, er ist ihr Herr, nicht ihr Diener. Die einzige letzte Struktur der Person, die sie adäquat ausspricht, ist das Grundvermögen der Liebe"2. Dem letzten Satz ist freilich zuzustimmen, dem zweitletzten jedoch nicht: Der Mensch ist weder Herr noch Diener seiner "Natur" und Leiblichkeit, sondern er ist gerade diese Natur und er ist Leib. Und als solche sind Natur und Leiblichkeit auch immer schon Bestandteil der Sprache menschlicher Liebe und finden deshalb, wie richtig gesagt ist, erst durch das Grundvermögen geistiger Liebe als Strukturen der Person die ihnen adäquate Erfüllung. (Fs)

54b Aufgrund dieser wesenhaften Einheit von Leib und Geist ist menschliche Liebe nicht nur ein geistiges Phänomen, sondern auch ein leibliches (das gilt sogar für die Liebe zu Gott1. Der Geist spricht deshalb auch die "Sprache des Leibes", und sie ist, im Falle des Menschen, eine dem Geist eigentümliche Sprache, da ja der menschliche Geist seiner Natur gemäß zur Wesensform (Seele) des Leibes gehört ("Geist" und "Seele" sind jedoch nicht einfach gleichzusetzen; die menschliche Seele ist auch Formprinzip aller anderen Lebensfunktionen des Menschen; aber sie ist wesentlich eine geistige Seele). Der Leib muß demnach als Subjekt und nicht als Objekt oder "Mittel" geistiger Liebe betrachtet werden. Der menschliche Leib gehört voll und ganz zur Subjektivität der handelnden Person. Er ist Teil des menschlichen "Ich": Dieses "Ich" ist nicht nur der Geist; auch der Leib konstituiert das menschliche "Ich". Dem Leib findet sich das Ich (als geistige Seele) nicht "gegenüber", sondern es ist dieser Leib. Deshalb findet sich bei Thomas von Aquin der bedeutungsschwere Satz: Anima mea non est ego: "Meine Seele ist nicht mit meinem Ich identisch"2. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Untrennbarkeitsprinzips; Wesenseinheit: Fortpflanzung und Liebe; Fortpflanzungstechnologie

Kurzinhalt: In jedem Zeugungsakt finden sich deshalb Geist und Leib aufeinander bezogen und zusammenwirkend: Sie sind - in strikter Analogie zur Materie-Form-Zusammensetzung auf der ontologischen Ebene ...

Textausschnitt: 54c Nachdem gezeigt wurde, daß menschliche Leiblichkeit Bestandteil der Subjektivität der handelnden Person ist, so ist nun ein auf dieser Leiblichkeit des Menschen gründendes simples Faktum, eine Basistatsache hervorzuheben: Die Propagierung der menschlichen Spezies geschieht nicht durch geistige Akte, sondern durch leibliche Akte der Fortpflanzung. Menschliche Fortpflanzung ist deshalb ein fundamentales menschliches Gut (und nicht nur ein "Gut" auf der physiologischen Ebene im Sinne des rein "natürlichen" Ergebnisses eines normal ablaufenden biologischen Prozesses). Fortpflanzung ist ein fundamentales menschliches Gut in demselben Ausmaß, in dem "Leben" für den Menschen überhaupt ein Gut ist, denn das Ergebnis eines Zeugungsvorganges ist ja nicht einfach ein "lebender Körper", sondern eine lebende menschliche Person1. (Fs)

55a Zweitens kann aufgrund der leib-geistigen Wesenseinheit des Menschen dieser Zeugungsakt nicht abgekoppelt von der geistigen Dimension der Seele verstanden werden: Der leibliche Akt der Zeugung eines Menschen erhält notwendigerweise auch eine geistige Dimension. D.h. der menschliche Zeugungsakt ist wesentlich auch ein geistiger Akt. Denn er ist ja nicht einfach ein Akt der Zeugungspotenz oder des Leibes, sondern Akt einer Person und damit eine willentlich vollzogene menschliche Handlung. Dieser Akt ist demnach auch keine simple "Sachleistung", zu der nicht schon, als menschlicher Handlungsvollzug, die Struktur geistiger Liebe innerlich dazu gehörte2. Vielmehr ist ein menschlicher Zeugungsakt aufgrund der wesenhaften Integration aller leiblichen Akte in die Natur der menschlichen Person selbst bereits ebenso wesenhaft ein Akt geistiger Liebe (freilich kann er auch anders vollzogen werden; aber er ist seiner Natur nach dazu bestimmt, als Akt personaler, und damit auch geistiger Liebe vollzogen zu werden: denn er ist ja Akt einer menschlichen Person). (Fs)

55b Wäre dem nicht so, so fände sich innerhalb der Struktur der Person eine tiefe Widersprüchlichkeit und ein Prinzip der Desintegrierung ihrer leib-geistigen Einheit. Wir müßten dann eine Art dualistische Anthropologie unterschreiben; nicht im Sinne eines leibfeindlichen Dualismus, aber eines solchen, der Leiblichkeit nun eben als das "Unterpersonale" versteht, das erst noch zu etwas Menschlichem gemacht und dazu emporgehoben werden müßte3. Deshalb scheint auch "Humanae vitae" in Nr. 10 korrekt daraufhinzuweisen, daß die der menschlichen Zeugungspotenz eingeschriebenen biologischen Gesetze nicht nur ein "biologisches" Faktum sind, die der Mensch in der Erfahrung seiner leiblichen Triebe antrifft, sondern daß sie menschliche Güter sind, die zur menschlichen Person gehören, d.h. Bestandteil menschlich-personaler Subjektivität sind (was auch den oft mißverstandenen Hinweis von HVNr. 10 auf Summa Theologiae, I-II, 94,2 erklärt)4. (Fs)
56a Aus dem gleichen Grund nun ist der geistige Akt (Liebe zwischen Mann und Frau und ihr Ausdruck in der "Sprache des Leibes") an die Bedingungen des Leibes selbst gebunden, weil ja, wie wir sahen, der Leib Subjekt, "Träger" geistiger Akte ist. In jedem Zeugungsakt finden sich deshalb Geist und Leib aufeinander bezogen und zusammenwirkend: Sie sind - in strikter Analogie zur Materie-Form-Zusammensetzung auf der ontologischen Ebene - kooperierende Prinzipien des Zeugungsaktes selbst. Sie sind zwei zusammenwirkende Handlungsprinzipien, aus denen jedoch in jedem Fall jeweils eine einzige menschliche Handlung entspringt. Und damit können wir sagen: Durch den Geist erhält der Leib eine neue Dimension; aber ebenso erhält der Geist durch den Leib ein neue Dimension. (Fs)

57a Daraus ergeben sich nun mehrere Folgerungen. Im Falle des Menschen sind sexuelle Akte mehr als nur Akte sexueller Kopulation, die zur Zeugung führen. Sexuelle Akte eines Menschen sind vielmehr wesentlich Akte gegenseitiger Selbsthingabe aus Freiheit zweier sich liebender Personen. Andererseits sind Akte ehelicher Liebe, die ja gerade in dieser gegenseitigen Selbsthingabe besteht, in ihrer leiblichen Dimension immer Akte "dieses" Leibes. Und das heißt: Sie besitzen einen prokreativen Sinngehalt (niemand kann dies leugnen, es sei denn er wolle eine konsumtive Eigenschaft des Leibes leugnen. Wenn dies betont wird, so heißt das allerdings nicht, daß jeder Akt sexueller Kopulation auch prokreativ wirksam ist oder sein sollte). (Fs)

57b Auf der Grundlage dieser Analyse besitzen wir nun die erforderten Elemente, um erstens genau die beiden Sinngehalte des ehelichen Aktes und zweitens das Prinzip ihrer intrinsischen und untrennbaren Verknüpfung zu verstehen. (Fs)

(A) Um im Vollsinne menschlich zu sein, setzt menschliche Fortpflanzung geistige Liebe voraus bzw. impliziert sie diese Liebe; d.h. sie setzt den Akt gegenseitiger Selbsthingabe aus Freiheit voraus. Menschliche Fortpflanzung hat ihren Ort im Kontext geistiger Liebe, welcher der Kontext einer Gemeinschaft von Personen ist, und nicht im Kontext instinktiver Triebsteuerung; und dies obwohl der Mensch Triebe und - allerdings schwach ausgeprägte und zur Triebsteuerung völlig ungenügende - Instinkte besitzt. Jene "Funktion", die bei Tieren dem Instinkt zukommt, fällt beim Menschen gerade der geistigen, vernunftgeprägten, ihre Akte aus Freiheit vollziehenden Liebe zu. Menschliche Fortpflanzungsakte sind deshalb darauf angelegt, durch diese Liebe geformt zu werden, und zwar genau in dem Maße, wie der Leib überhaupt durch das Leben des Geistes geprägt wird. Aus diesem Kontext geistiger Liebe herausgelöste Fortpflanzung wäre nicht mehr im Vollsinne menschliche Fortpflanzung. Sie wäre allerdings auch nicht einfach animalisch, weil ihr dazu eine tierischen Fortpflanzungsakten eignende spezifische Vollkommenheit fehlte: die ausreichende Triebsteuerung durch den Instinkt. Verstünde man menschlich-personale Subjektivität rein geistig, so wären die der menschlichen Person eingeschriebenen biologischen Strukturen der Fortpflanzung als bloßes Instrument, das das "geistige Subjekt" für erwünschte Zwecke "benutzt", interpretierbar. Die Grenze zur Fortpflanzungstechnologie würde dabei fliessend werden5. (Fs) (notabene)

(B) Ebenso können wir umgekehrt feststellen: Liebe zwischen Mann und Frau - insofern sie darauf tendiert, sich in Akten leiblicher Vereinigung zu vollenden, d.h. insofern sie der "naturalis inclinatio ad coniunctionem maris et feminae", der sexuellen Neigung, entspringt- besitzt aufgrund ihrer Natur eine prokreative Dimension, weil sie Liebe zwischen zwei leiblich konstituierten geistigen Wesen ist. In anderen Worten: Die leibliche Liebesvereinigung von Mann und Frau ist aufgrund ihrer spezifischen Natur Dienst an der Weitergabe menschlichen Lebens. Freilich gibt es auch andere Formen der Liebe zwischen Personen, sowie auch andere mögliche Formen der Liebe zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts (z.B. Kameradschaft, Freundschaft, Geschwisterliebe, Liebe zwischen Eltern und Kindern). Jene Liebes-Anziehung zwischen "Männlich und Weiblich", die dem Sexualtrieb entspringt und die deshalb auf leibliche Vereinigung in Sexualakten hintendiert, ist hingegen - sofern wir die leib-geistige Einheit des Menschen berücksichtigen - eine Art Liebe, die durch diese sexuelle Tendenz zur leiblichen Vereinigung als eine ganz bestimmte Art von Liebe spezifiziert ist. Das impliziert, daß diese Art Liebe durch die natürlicherweise gegebene Konstitution des Leibes selbst schon in spezifischer Weise charakterisiert ist, und zwar als "prokreative Liebe", - als Liebe, die eine "Funktion", oder besser: eine Aufgabe oder eine Sendung besitzt.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Untrennbarkeitsprinzips; Grund für Gültigkeit

Kurzinhalt: Ihre Trennung würde bedeuten, daß beide Sinngehalte, sowohl derjenige menschlicher Fortpflanzung, wie auch jener der Liebesvereinigung, sich in ihrem Wesen veränderten

Textausschnitt: 59a Was heißt nun also "untrennbare Verknüpfung" der beiden Sinngehalte "Liebesvereinigung" und "Fortpflanzung"? Sie bedeutet, daß zwischen diesen beiden Sinngehalten eine sich wechselseitig einschließende Beziehung besteht, die für beide Sinngehalte jeweils konstitutiv ist: die leibliche Wirklichkeit "Fortpflanzung" erhält ihre spezifisch menschliche Eigenart durch die sie informierende geistige Liebe, und die geistige Liebe zweier Personen, die eine Ehegemeinschaft bilden, erhält gleichzeitig ihre Spezifität als eine bestimmte Art von Liebe durch die prokreative Dimension des Leibes. (Fs)

59b Deshalb scheint für ein korrektes und unverkürztes Verständnis des Untrennbarkeitsprinzips die Einsicht entscheidend zu sein, daß diese beiden Sinngehalte weder zwei lediglich "aneinandergefügte" noch zwei einfach kombinierte oder akkumulierte "Funktionen" sind, wovon eine jede jeweils unabhängig von der anderen voll verständlich wäre. Viel eher, so ist zu sagen, erhält jeder der beiden Gehalte seine volle Intelligibilität oder Identität als menschliche Gegebenheit - seine eigenflich und spezifisch menschliche Bedeutung - gerade jeweils vom anderen. Losgelöst von geistiger Liebe betrachtete Fortpflanzung wäre nicht mehr dasselbe. Und geistige Liebe, die zur leiblichen Vereinigung zwischen Mann und Frau hinneigt, wäre - unabhängig von ihrem prokreativen Sinn betrachtet - ebenfalls nicht mehr dasselbe. Das gerade folgt aus der leib-geistigen Wesenseinheit des Menschen. (Fs)

59c Wenn wir die Dinge in dieser Perspektive einer Anthropologie betrachten, welche die Wesenseinheit von Leib und Geist ernst nimmt, dann wird der Grund, weshalb die beiden Sinngehalte des ehelichen Aktes untrennbar verknüpft sind, offensichtlich: Ihre Trennung würde bedeuten, daß beide Sinngehalte, sowohl derjenige menschlicher Fortpflanzung, wie auch jener der Liebesvereinigung, sich in ihrem Wesen veränderten. Beide Sinngehalte bilden, wie Leib und Geist überhaupt, eine Wesenseinheit. Ihre Verknüpfung ist nicht äußerlich, sondern liegt in ihrer inneren Struktur. Die Verknüpfung selbst konstituiert jeweils die spezifisch menschliche Bedeutung beider Sinngehalte. Der Horizont der Verstehbarkeit dieser Verknüpfung ist die leib-geistige Konstitution menschlicher Personalität. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Untrennbarkeitsprinzip, Humanae vitae, Unterschied: Funktion - Sinngehalt; von Gott gewollt

Kurzinhalt: Die Pointe des Untrennbarkeitsprinzips scheint damit darin zu liegen, daß dieses Prinzip gar keine Norm ausspricht ("man darf nicht ..."), sondern bereits zur Begründung der Norm gehört ...

Textausschnitt: 60a Es wird nützlich sein, das soeben Ausgeführte durch einige zusätzliche Erläuterungen zu ergänzen. "Humanae vitae" spricht in Nr 12 über die untrennbare Verknüpfung zweier Sinngehalte ("significatio"), und nicht zweier "Funktionen" des ehelichen Aktes. Nur einem fruchtbaren Sexualakt kann ja auch eine prokreative Funktion zukommen. Dennoch aber kann auch ein unfruchtbarer Sexualakt - sofern wir ihn als menschliche Handlung betrachten - durchaus einen prokreativen Sinngehalt besitzen, nämlich dann, wenn diese Handlung intentional auf die Zeugung neuen Lebens hin offen ist, auch wenn diese Handlung gleichzeitig gar keine prokreative "Funktion" haben kann. "Prokreative Funktion" eines Aktes hängt ab von aktuell gegebener (biologischer) Fruchtbarkeit, was zu einem gegebenen Zeitpunkt aus physiologischen Gründen jeweils der Fall sein kann oder auch nicht1. (Fs)

61a Deshalb wäre es auch wenig sinnvoll, von einer "Untrennbarkeit" einer prokreativen und einer unitiven Funktion zu sprechen, denn nur eine Minderzahl sexueller Akte ist fruchtbar und besitzt deshalb auch - physiologisch gesehen - eine prokreative "Funktion"51. Zudem kann ja offensichtlich diese prokreative Funktion des Sexualaktes vollständig ausgeschaltet werden und sie kann deshalb auch von der unitiven "Funktion" abgetrennt werden. "Untrennbarkeit" meint nun aber doch gerade, daß man das nicht "könne", aber damit kann ja nur gemeint sein, daß man dies nicht dürfe. Wäre das alles, was "Humanae vitae" feststellt, dann wäre freilich der Verweis auf eine "Doppelfunktion" des ehelichen Aktes völlig irrelevant, weil man durch diesen Verweis nichts für einen Nachweis dafür gewinnen würde, weshalb man denn nun das, was man ja offensichtlich tun kann, nicht auch tun darf.2 (Fs)

61b Nun meint aber das von "Humanae vitae" angeführte Untrennbarkeitsprinzip eben nicht einfach, daß man eine solche Trennung nicht vornehmen dürfe, sondern vielmehr, daß man eine solche Trennung tatsächlich nicht vornehmen könne. Die Aussage bezieht sich eben gar nicht auf "Funktionen", sondern auf Sinngehalte des ehelichen Aktes, und sie meint demnach, man könne diese beiden Sinngehalte nicht voneinander abkoppeln, ohne beide Sinngehalte des ehelichen Aktes und damit auch den Sinngehalt des Ganzen als Akt ehelicher Liebe zu zerstören. So heißt es in Nr. 12:

Wenn die beiden wesentlichen Gesichtspunkte der liebenden Vereinigung und der Fortpflanzung beachtet werden, behält der Verkehr in der Ehe voll und ganz den Sinngehalt gegenseitiger und wahrer Liebe, und seine Hinordnung auf die erhabene Aufgabe der Elternschaft. (Fs)


62a Die Pointe des Untrennbarkeitsprinzips scheint damit darin zu liegen, daß dieses Prinzip gar keine Norm ausspricht ("man darf nicht ..."), sondern bereits zur Begründung der Norm gehört (wie es dem Einleitungssatz des Abschnittes entspricht: "Diese ... Lehre gründet in ..."). Diese Begründung lautet: Die Bewahrung jeweils beider Sinngehalte ist gerade an ihre Verknüpfung gebunden (wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt wurde). HV spricht also über eine anthropologische Untrennbarkeit der beiden Sinngehalte, die eben nicht zwei - durch Eingriffe vordergründig durchaus abtrennbare - "Funktionen" sind, sondern vielmehr zwei Aspekte des einen und unteilbaren Wesens des ehelichen Aktes darstellen. Deshalb nennt "Humanae vitae" auch diese beiden Sinngehalte folgerichtig "wesentliche Gesichtspunkte" oder "Wesenseigenschaften" des ehelichen Aktes ("utraque eius essentialis ratio"). (Fs) (notabene)

62b Das Untrennbarkeitsprinzip meint also: Beide Sinngehalte bilden zusammen eine einzige mehrschichtige Sinneinheit, die wiederum wahrer Ausdruck der menschlichen Wesenseinheit von Leib und Geist ist1. Erst auf dieser Grundlage, so scheint mir, wird es möglich, der Aussage von HV Nr. 11 völlig gerecht zu werden, daß nämlich in jedem ehelichen Akt die Eigenschaft seines wesenhaften ("per se") Hingeordnetseins auf die Aufgabe der "Erzeugung menschlichen Lebens" gewahrt werden muß. Das gilt nun eben gerade auch für solche Akte, die natürlicherweise biologisch unfruchtbar sind und offensichtlich gar keine prokreative "Funktion" haben können; ihnen kann jedoch ein prokreativer Sinngehalt zukommen, d.h. sie können menschliche Handlungen sein, die als Handlungen vollzogen werden, die in und an sich, von ihrem Wesen her ("per se") auf "Erzeugung menschlichen Lebens" hingeordnet sind und deshalb durchaus einen prokreativen Sinngehalt in sich schließen. Entscheidend wird dabei nun eben gerade der intentionale Aspekt, d.h. der Wille der Eheleute, und deshalb spricht man dann auch von einer notwendigen "Offenheit" ehelicher Akte hinsichtlich der "Erzeugung menschlichen Lebens". Diese Offenheit ist, wie bereits gesagt, eine Offenheit des Willens dessen, der diesen Akt vollzieht und nur durch einen Mangel solcher Offenheit hinsichtlich der Weitergabe menschlichen Lebens würde sowohl der prokreative wie auch der unitive Sinngehalt des ehelichen Aktes, sein Liebesgehalt zerstört werden. Beide sind deshalb untrennbar miteinander verknüpft2. (Fs)

63a Damit erst erhält die Lehre von "Humanae vitae" ihr eigentliches Profil: Sie ist die Formulierung der Bedingungen dafür, daß eheliche Sexualität Ausdruck wahrer Liebe sein kann. Tatsächlich geht es bei der Frage um Empfängnisverhütung - über die wir bis jetzt allerdings noch kein Urteil fällen können - gar nicht so sehr um die "Fortpflanzung" selbst, als vielmehr um eine Verteidigung ehelicher Sexualität als wirklicher Ausdruck ehelicher, personaler Liebe. Damit steht "Humanae vitae" voll und ganz auf dem Boden der Lehre von "Gaudium et spes", und es gibt keinen Grund für die Behauptung, die Enzyklika "entspreche nicht der Forderung", daß "eine sittliche Norm nicht von Naturzwecken, sondern vom bonum humanum her zu beurteilen" ist1. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Auch wer die Lehre von "Humanae vitae" ablehnt, sollte zumindest ihre eigentliche Intention und ihr Thema zur Kenntnis nehmen. (Fs)

64a Aus den genannten Gründen - um es zu wiederholen - ist das Untrennbarkeitsprinzip nicht einfach eine andere Formulierung einer prohibitiven Norm ("man darf die Liebesfunktion nicht von der prokreativen Funktion trennen"), sondern es ist bereits ein erster und entscheidender Schritt in der Begründung einer Norm. Als solche formuliert dieses Prinzip gerade den (anthropologischen) Grund dafür, wieso man einen Sinngehalt vom anderen nicht abkoppeln kann, ohne dabei das Ganze zu zerstören. Und da man ja offensichtlich dieses Ganze, d.h. eheliche Liebe, nicht zerstören soll (darin sind sich wohl alle einig), so ist damit auch begründet, daß man eine solche Trennung nicht vornehmen darf. Philosophisch-ethisch gesprochen können wir freilich erst jetzt erschließen, was die Enzyklika einfach feststellt: Diese untrennbare Verknüpfung ist von Gott gewollt. Wir sind jedoch, das ist zu betonen, hiermit noch weit entfernt vom Nachweis, daß durch Empfängnisverhütung eine Trennung der beiden Sinngehalte tatsächlich eintritt, durch periodische Enthaltungjedoch nicht. Es ist wichtig, Schritt für Schritt vorzugehen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Objekt der Handlung; formae a ratione conceptae; Anscombe - Intention (Pferd); Objekt des ehelichen Aktes: leibliche Liebesvereinigung

Kurzinhalt: ... "formae a ratione conceptae". "Objekt" bezieht sich deshalb darauf, was man tut, wenn man hier und jetzt etwas mit einer Absicht tut ...

Textausschnitt: 64b Aufgrund des richtigen Verständnisses des Untrennbarkeitsprinzips läßt sich das Objekt des ehelichen Sexualaktes identifizieren. Das Objekt einer menschlichen Handlung (womit wir einen Akt bezeichnen, der vernunftgeleitetem Willen entspringt) ist jener Gehalt, der diese Handlung als einen bestimmten Typ von Handlung spezifiziert. Sogenannte "moralische Objekte" sind die Gegenstände der Wahl eines vernunftgeleiteten Strebens (=Wille), etwas zu tun1. Somit sind Objekte menschlicher Handlungen weder einfach naturgegebene Ziele von Trieben oder Neigungen, noch "Dinge" hinsichtlich derer wir etwas tun, auf die wir abzielen oder die in unseren Handlungen vorkommen. Vielmehr sind Handlungsobjekte, wie Thomas v. Aquin sagt, Formprinzipien von Handlungen, wie sie von der Vernunft erfaßt werden2. Oder, mit den Worten eines zeitgenössischen Autors: "Wir müssen stets im Sinn behalten, daß ein Handlungsobjekt nicht das ist, was der Gegenstand, auf den wir abzielen, ist,; die Beschreibung gemäß der wir strebend auf ihn abzielen, ist das, hinsichtlich derer das 'Worauf-wir-abzielen' Objekt genannt wird"3. Diese etwas komplizierte Formulierung meint etwas ganz Einfaches: Wenn z.B. die Person A ein Pferd der Person B stiehlt, so ist das Objekt dieser Handlung nicht "das Pferd, das rechtmäßiger Besitz von B ist" (der Gegenstand, auf den A abzielt, in seinem "was er ist"), sondern dieses Pferd, insofern es unter eine Beschreibung fällt, die uns angibt, was A, wenn er B das Pferd entwendet, eigentlich erstrebt oder wählt, d.h. was A in einem intentionalen Sinne tut: Das Pferd eines anderen entwenden oder sich aneignen. Das Objekt der Handlung "Pferdediebstahl" ist deshalb: "Ein Pferd, das ein anderer rechtmäßig besitzt, entwenden" (oder: "sich aneignen"). Deshalb sind solche Beschreibungen, unter denen Handlungen gewählt werden (ihre "Objekte"), die intentionalen Gehalte dieser Handlungen, die eben nur Gegenstand der Vernunft sein können; sie sind "formae a ratione conceptae". "Objekt" bezieht sich deshalb darauf, was man tut, wenn man hier und jetzt etwas mit einer Absicht tut4. Genau in dieser intentionalen Weise hatten wir ja früher auch die Objektstruktur der Handlung "Empfängnisverhütung" als eine bestimmte Art intentionaler Handlung beschrieben und definiert (vgl. 1,4). (Fs)

67a Nun schenken sich Eheleute gegenseitig in der Liebesvereinigung, auch ganz unabhängig davon, ob Fortpflanzung aktuell intendiert wird oder nicht. Der Grund dafür ist: Jeder Sexualverkehr - sogar wenn eine Absicht, ein Kind zu zeugen, der unmittelbare und explizite Grund dafür ist, daß man ihn vollziehen will - ist aufgrund seiner Natur ein Akt der liebenden Vereinigung leib-geistiger Personen. Fortpflanzung wird hier bewirkt gerade durch die gegenseitige liebende Selbsthingabe der Ehegatten in der Ganzheit ihrer leib-geistigen Einheit; die Entstehung neuen Lebens ist, falls sie eintritt, einfach deren natürliche Folge. Und deshalb gerade ist auch jeder prokreative Akt ein Ausdruck der Liebeseinheit: Menschliches Leben entspringt der Liebe zwischen Mann und Frau. Falls - ein eher extremer Fall - Sexualverkehr ohne irgendwelche gegenseitige Liebe vollzogen würde (z.B. ausschließlich, um ein Kind zu "machen"), dann wäre diese Handlung tiefgreifend verunstaltet. (Fs)

67b Wenn auf der anderen Seite Eheleute in bekannterweise unfruchtbaren Zeiten miteinander sexuell verkehren, dann ist der Sinngehalt oder das "Objekt" dieser Handlung ebenfalls wieder derselbe: Liebesvereinigung, gegenseitige Selbsthingabe der Ehegatten. Falls aus physiologischen Gründen eine Zeugung nicht oder sogar nie möglich ist und dies sogar vorauszusehen war, so würde der objektive Sinn dessen, was die Eheleute tun, davon nicht im geringsten betroffen sein. Der Grund dafür ist: Was sie intentional tun (was sie "wählen"), ist nichts anderes, als einen Akt der leiblichen Liebesvereinigung zu vollziehen, der an sich ("per se"), d.h. aufgrund seiner Natur ein auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordneter Akt ist. Die Handlung, die sie vollziehen, gehört zum Handlungstyp generativer Akte1 (und nicht z.B. zum Typ von Akten der Selbsterhaltung oder Ernährung). Selbst wenn dieser Akt keine prokreative Funktion besitzt (weil er unfruchtbar ist), so behält er dennoch seinen objektiven prokreativen Sinngehalt. Wenn dieser Akt, aufgrund natürlicher, außer aller Intention liegender Ursachen prokreativ unwirksam ist, so ändert dies überhaupt nichts daran, was man intentional tut (was man zu tun wählt), so lange man nichts tut (wählt), um Fortpflanzung zu verhindern. Menschliche Akte werden spezifiziert durch das Objekt des Willens des Handelnden, und nicht durch Naturgegebenheiten, die gar nicht menschlicher Wahlfreiheit unterstehen. Die beiden Sinngehalte des ehelichen Aktes sind demnach zwei voneinander untrennbare Aspekte eines einzigen Handlungsobjekte2. (Fs)

68a Folglich ist es trotz des Wissens um die gegenwärtige Unfruchtbarkeit eines ehelichen Aktes möglich, daß ein solcher Akt liebender Vereinigung, als intentionale Handlung betrachtet, dennoch objektiv ein prokreativer Akt ist, d.h. eine menschliche Handlung jener Art (Spezies) von Handlungen, die aufgrund ihres Wesens ("per se") auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet sind. Somit ist also das Objekt des ehelichen Aktes weder mit "Fortpflanzung" noch mit "Ausdrücken gegenseitiger Liebe" richtig benannt. Wir sollten dieses Objekt umschreiben mit "leibliche Liebesvereinigung" oder "gegenseitige Selbsthingabe in der Ganzheit des eigenen leib-geistigen Seins", indem wir allerdings berücksichtigen, daß "leibliche Liebesvereinigung" verstanden werden muß als Vollendung ehelicher Liebe, die nun offensichtlich sowohl die intentionale Offenheit hinsichtlich der Aufgabe der Weitergabe menschlichen Lebens einschließt (dies aufgrund der Natur menschlicher Leiblichkeit und dem wesentlichen sexuellen Charakter der Ehe) wie auch Mitarbeit mit Gottes schöpferischer Liebe (weil menschliche Fortpflanzung in Gottes schöpferische Liebe eingebunden ist)1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Ungenügen: Untrennbarkeitspinzip; Ganzheitsprinzip, Beispiel: Lüge

Kurzinhalt: Warum sollte die Ausschaltung der prokreativen Funktion einzelner Sexualakte notwendigerweise auch ihren prokreativen Sinngehalt ausschalten ...?

Textausschnitt: 72c Mit dieser Bestimmung des "Objektes" des ehelichen Aktes dürfte nun geklärt sein, was mit dem Untrennbarkeitsprinzip gemeint ist. Aber was konnte damit bis jetzt gezeigt oder gar bewiesen werden? Dargelegt wurde, wie ein intentionales (willentliches) Sich-Verschließen gegenüber der prokreativen Dimension der leiblichen Liebesvereinigung objektiv das eigentliche Wesen dieser Vereinigung in eine Art von "Liebe" verändert, die mit der anthropologischen Wahrheit des Menschen im Widerspruch steht (d.h. sie widerspricht der Wesenseinheit von Leib und Geist). Im Zusammenhang mit dem hier zugrundegelegten Fall jedoch ist dies keineswegs bereits ein genügender Beweis für die These, daß Empfängnisverhütung tatsächlich ein solches Sich-Verschließen bedeutet. Deshalb sei an dieser Stelle hervorgehoben: Bis jetzt wurde noch kein Argument dafür vorgebracht, daß Empfängnisverhütung sittlich falsch ist. (Fs)

74a Der Grund dafür besteht darin, daß unser Fall auf der Voraussetzung gründet, die Vermeidung einer Schwangerschaft sei hier durch gerechtfertigte Gründe prokreativer Verantwortung gefordert; die Eheleute seien also hier und jetzt verpflichtet, eine Empfängnis zu vermeiden. Aufgrund dieser Voraussetzung könnte man ja zu Recht fragen, ob es denn, um diesem Erfordernis zu entsprechen, nicht auch dann möglich sei, voll und ganz den prokreativen Sinngehalt ehelicher Liebe und entsprechender sexueller Akte aufs Ganze gesehen aufrechtzuerhalten, wenn man die prokreative Wirksamkeit (oder "Funktion") der Sexualität von ihrem unitiven Ausdrucksgehalt lediglich auf der Ebene singulärer Vollzüge des ehelichen Aktes (d.h. "manchmal", "gelegentlich" oder "für eine bestimmte Zeitspanne") abkoppelt. Kontrazeptiver Sexualverkehr würde dann doch wohl seinen prokreativen Sinngehalt immer noch durch die grundsätzlich vorhandene, hinsichtlich der Weitergabe menschlichen Lebens offene Intentionalität beibehalten, durch die ein solches eheliche Leben ja insgesamt geprägt ist. "Wieso nicht", so ließe sich fragen, "Empfängnisverhütung anwenden, vorausgesetzt, wir sind gerade aus Gründen prokreativer Verantwortung dazu verpflichtet, eine Empfängnis zu vermeiden?" "Warum sollte die Ausschaltung der prokreativen Funktion einzelner Sexualakte notwendigerweise auch ihren prokreativen Sinngehalt ausschalten, vorausgesetzt, Empfängnisverhütung wurde gerade mit der Intention gewählt, der Weitergabe menschlichen Lebens auf verantwortliche Weise zu dienen?" "Warum eigentlich muß man die Verknüpfung der beiden Sinngehalte auch auf der Ebene einzelner Aktvollzüge wahren?" Und schließlich: "Wieso ist gerade nur periodische Enthaltsamkeit, d.h. Enthaltsamkeit von jenen Akten, die voraussichtlich Zeugungsfolgen haben können, das einzige sittlich vertretbare Verhalten, um in den gegebenen Umständen prokreative Verantwortung zu leben? Ist von einem solchen Erfordernis zu sprechen nicht einfach subtile Haarspalterei, reine Spitzfindigkeit, wobei die dafür einzig mögliche Rechtfertigung in der doch reichlich abstrakten Forderung zu erblicken wäre, die der menschlichen Natur eingeschriebenen biologischen Strukturen müßten eben respektiert werden, eine Forderung, die in der gegebenen Situation kaum als ein sittliches Erfordernis einsichtig gemacht werden kann?" (Fs) (notabene)

75a Genau an dieser Stelle wird von Kritikern der Enzyklika das sogenannte Ganzheitsprinzip angewandt. R. Mclnerny hat gezeigt, daß eine solche Anwendung hier unstatthaft ist1: Handlungen, die als einzelne Handlungsvollzüge, d.h. als intentionale Einzelhandlungen von ihrem Objekt her unsittlich sind, können nicht durch die Gesamtheit des Lebensvollzugs gerechtfertigt werden; so wie z.B. einzelne Lügen nicht durch ein in seiner Gesamtheit der Wahrhaftigkeit verpflichtetes Leben gerechtfertigt werden: sie bleiben Lügen. Vielmehr wird der Lebensvollzug als gesamter gerade durch einzelne Handlungen aufgebaut und geprägt: Der Lebensvollzug dessen, der hie und da lügt, ist im Gesamten weniger der Wahrhaftigkeit verpflichtet, als derjenige dessen, der immer die Wahrheit sagt. Die Anwendbarkeit dieser Argumentation setzt nun aber voraus, daß man zuvor gezeigt hat, daß die entsprechende Handlung nun eben als Einzelhandlung aufgrund ihres Objektes unsittlich ist. Erst dann vermag die obige Argumentation zu greifen. (Fs)
75b Der bloße Verweis auf das Untrennbarkeitsprinzip allein vermag nun aber im Falle der Empfängnisverhütung diese grundsätzliche Frage noch keineswegs zu beantworten. Wir brauchen einen weiteren argumentativen Schritt, der zeigen kann, daß Empfängnisverhütung tatsächlich dieses Prinzip in jedem einzelnen Fall verletzt. Das heißt: Wir benötigen ein Argument, das aufzuweisen imstande ist, daß das Untrennbarkeitsprinzip auch auf der Ebene einzelner Vollzüge sexueller Akte Gültigkeit besitzt und demnach das Ganzheitsprinzip hier nicht anwendbar ist. Dazu bedarf es nun einer zusätzlichen Vertiefung der handlungstheoretischen Analyse. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Tugend: Keuschheit; verantwortliche Elternschaft

Kurzinhalt: Keuschheit meint nicht einfach Enthaltsamkeit, sondern Herrschaft über den eigenen Sexualtrieb, um ihn in die Ordnung personaler Liebe einzuordnen

Textausschnitt: 78a Diese Beschreibung von verantwortlicher Elternschaft impliziert eine sehr präzise Charakterisierung der Tugend der Keuschheit. Keuschheit meint nicht einfach Enthaltsamkeit, sondern Herrschaft über den eigenen Sexualtrieb, um ihn in die Ordnung personaler Liebe einzuordnen. Keuschheit zielt - wie jede Tugend - auf Liebe ab, auf Sich-in-Dienst-stellen, auf Verantwortung nicht nur dem Ehepartner gegenüber, sondern auch hinsichtlich der menschlichen Gemeinschaft und der menschlichen Spezies. Gemäß Thomas von Aquin widerspricht deshalb Keuschheit nicht dem, was er eine nur "scheinbare Unenthaltsamkeit" nennt, die "guter, mit der Vernunft übereinstimmender Begierlichkeit" entspringt1. Tatsächlich verkehren ja normalerweise Eheleute sexuell miteinander aufgrund spontanem sinnlichem Begehren und affektiver Zuneigung. Damit der eheliche Akt "mit der Vernunft übereinstimmt", ist nicht verlangt, daß man ihn aufgrund einer vernünftigen Überlegung vollzieht (z.B. um jetzt ein Kind zu zeugen oder um die "eheliche Pflicht" zu erfüllen). Das wäre eine recht unrealistische Sicht der Dinge (obwohl die kritisch oft abgewertete "Erfüllung der ehelichen Pflicht" durchaus für den einen der beiden Ehepartner ein wahrer Liebe, Treue und Wohlwollen entspringender Grund sein kann; etwas einfach dem anderen zuliebe tun ist auch ein Liebesakt). Glücklicherweise brauchen wir jedoch nicht die grimmig puritanische Sicht Benjamin Franklins zu teilen "rarely use venery but for health and offspring" ("mache nur selten von der Geschlechtskraft Gebrauch, es sei denn um der Gesundheit und der Zeugung von Nachkommenschaft willen"). Eheliche Liebe besitzt ihre eigene Spontaneität, die sexueller Neigung und der ihr entsprechenden Triebstruktur entspringt (was etwas ganz anderes ist, als "nur um der Lustbefriedigung willen zu handeln"; das hat nichts mehr mit Liebe zu tun). Erfordert ist habituelle oder virtuelle Integration sexueller Begierde in die Ordnung der Vernunft, die die Ordnung menschlicher Liebe ist. (Fs)

79a Abgesehen von der wichtigen und oft verschwiegenen Tatsache, daß verantwortliche Elternschaft auch meint, es könne unter Umständen angebracht sein, die eigene Familie zu vergrößern, heißt prokreative Verantwortung im allgemeinsten Sinn, die sittlich einwandfreie und der Tugend entsprechende Integration sexueller Antriebe unter die Herrschaft von Vernunft und Willen zu stellen; damit ist gemeint, der sexuellen Neigung auf vernünftige Weise zu folgen und deshalb sexuelle Akte auch in Verantwortung als menschliche Handlungen, die vernunftgeleitetem Willen entspringen, zu vollziehen. Damit ist prokreative Verantwortung nichts anderes als ein Sexualverhalten, das voll in die Erfordernisse des geistigen Lebens integriert ist, eine Art tugendgemäße Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Prokreative Verantwortung; Tugend: Keuschheit, Tugend des Maßes (temperantia); Natur

Kurzinhalt: ... sagt Thomas v. Aquin, die sinnlichen Strebungen seien "von Natur aus darauf angelegt, der Vernunft zu gehorchen":

Textausschnitt: 79b Die Rede von "Selbstkontrolle" und "Selbstbeherrschung" ist freilich mehrdeutig. Sie muß sogleich präzisiert werden: Als Teil der Tugend der Keuschheit ist nämlich prokreative Verantwortung nicht mit jeder Art solcher Integration vereinbar. Da prokreative Verantwortung ein Aspekt von Keuschheit ist, letztere jedoch die Tugend (habituelle Vollkommenheit) eines sinnlichen Strebevermögens involviert, ist diese Integration solcher Art, daß sie nun tatsächlich auch dieses Streben gemäß der anthropologischen Wahrheit des Menschen als leibgeistige Wesenseinheit vervollkommnet. (Fs)

79c Dazu zunächst folgende Bemerkung: Der Leib und seine sexuelle Triebstruktur sind nicht "Natur" im Sinne der Natur, die uns umgibt, "in der wir leben" oder "in der wir uns befinden" und "auf die wir handelnd einwirken". Die sexuelle Triebstruktur des menschlichen Leibes gehört nicht zu einer solchen Objekt-Welt oder Objekt-Natur, sondern zu jener Natur, die das wesentliche, substantielle Sein des Menschen mitkonstituiert und die deshalb zur Subjektivität des Menschen dazugehört. Wir sind ja, wie gesehen wurde, nicht einfach Geistwesen, die sich "in einer leiblichen Umwelt befinden". Wir "haben" nicht einen Leib, sondern wir sind Leib. Die sexuellen Triebe dieses Leibes sind also dazu berufen, durch das Leben des Geistes informiert zu werden, an diesem Leben teilzuhaben, das heißt: selbst Subjekt dieses geistigen Lebens zu werden. Daraus folgt: Akte prokreativer Verantwortung bestehen nicht in irgendeiner Art rationaler oder willentlicher "Kontrolle", "Leitung" oder gar "Unterdrückung" sexueller Triebe. Sexualität ist nicht einfach Objekt prokreativ verantwortlichen Handelns, sondern selbst Subjekt eines solchen Handelns und damit tragender Bestandteil desselben. Handlungen des Typs "prokreative Verantwortung" sind nicht Handlungen, die sich einfach auf Sexualität als ihren Gegenstand beziehen, sondern Handlungen, die selbst irgendwie Akte des Sexualtriebes selbst sind. Die leib-geistige Wesenseinheit des Menschen verlangt gerade, daß das Sexualverhalten - die sexuellen Akte selbst - durch die Erfordernisse der Verantwortung informiert seien. (Fs)

80a Dies gilt generell für die sittliche Tugend der temperantia (die Tugend des "Maßes"), zu der ja die Keuschheit gehört. Die Tugend der temperantia meint Modifizierung des Begehrens nach dem Maß der Vernunft; sie meint nicht, dieses Begehren zu unterdrücken, zu minimalisieren oder gar auszuschalten, sondern in dieses "das Siegel der Vernunft einzuprägen"1, - und damit auch das Siegel der Erfordernisse der Vernunft, um so das sinnliche Streben in der Weise zu vervollkommnen, daß es selbst verfolgt, was der Vernunft, d.h. was prokreativer Verantwortung entspricht. (Fs)

80b Im Anschluß an Aristoteles sagt Thomas v. Aquin, die sinnlichen Strebungen seien "von Natur aus darauf angelegt, der Vernunft zu gehorchen": "Und so können das konkupiszible und das iraszible Strebevermögen Subjekt menschlicher Tugend sein. Insofern sie nämlich an der Vernunft teilhaben, sind sie Prinzip der menschlichen Handlung"2. Der springende Punkt der Tugenden des Maßes und des Starkmutes besteht also gerade darin, daß sie das sinnliche Begehren zu vernunftgemäßen Handlungsprinzipien werden lassen, d.h. zu handlungsauslösenden und handlungsleitenden Ursachen, so daß die Anforderungen von Vernünftigkeit gerade mittels der sinnlichen Antriebe das Handeln gestalten. Das ist gleichbedeutend mit der genannten Integration dieser Antriebe in den Kontext der menschlichen Handlung, in Übereinstimmung mit ihrer grundlegenden anthropologischen Wahrheit (leib-geistige Wesenseinheit des Menschen). Dies trifft offensichtlich nicht auf jene leiblichen Funktionen zu, die nun eben nicht "von Natur aus darauf angelegt sind, der Vernunft zu gehorchen", wie das Schlagen des Herzens, der Blutkreislauf, die Funktionen der Leber, des Verdauungsapparates usw. Diese können nie Prinzipien menschlicher Handlungen sein (sondern höchstens ihr Gegenstand, z.B. Gegenstand von ärztlichen Handlungen, Eingriffen usw.), denn sie sind simple organische Funktionen des Leibes. Freilich sind auch in der Sexualität solche rein organischen Funktionen impliziert. Aber der Sexualtrieb selbst ist viel mehr als eine solche Funktion. Er ist ein der Herrschaft von Vernunft und Wille unterliegendes menschliches Streben, das zum Gegenstand hat, was wir ein menschliches Gut nennen, wie es das handelnde Subjekt in seinem freien, vernunftgeleitetem Willen entspringenden Handeln verfolgt. (Fs)

81a Sittliche Tugend besteht deshalb nie in Akten des Zurückdrängens oder Unterdrückens sinnlicher Neigungen und der diesen eigentümlichen Güter oder Ziele. Solche Akte können notwendig sein als Bestandteil des inneren Kampfes, durch den eine Tugend erworben und ihr Besitz bewahrt wird. Denn "durch Enthaltsamkeit wird der Mensch gesammelt und zurückgeführt in die Einheit, von der er entfernt ins Vielerlei zerflossen war"1. Tugend selbst jedoch in dieser Weise zu verstehen, entspräche einer eher spiritualistischen Auffassung ihrer Natur und würde deshalb letztlich anthropologischen Dualismus implizieren. Akte der temperantia und folglich solche der Keuschheit und prokreativer Verantwortung werden deshalb immer Akte sein, deren Subjekt irgendwie das in Übereinstimmung mit der Vernunft modifizierte sinnliche Streben selbst ist. Sie werden also Akte des Sexualverhaltens sein, d.h. nicht nur Akte eines Verhaltens, das Sexualität zum Gegenstand hat und das in diese durch irgend eine Maßnahme (analog zum ärztlichen Handeln) eingreift. Akte prokreativer Verantwortung als Tugend sind also Akte, in denen nicht einfach die Vernunft sich verantwortlich einsetzt, sondern Akte, in denen die ganze menschliche Person, auch in der Dimension ihrer Leiblichkeit, auf jenes Gute zielt, das der Wille gemäß dem Gebot der Vernunft verfolgt. Handlungen des Typs "prokreative Verantwortung" werden demnach Handlungen sein, in denen dem Leib und seiner Triebstruktur die Stellung eines Handlungsprinzips zukommt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Prokreativer Verantwortung als integraler Bestandteil der Tugend der Keuschheit

Kurzinhalt: Haben wir einmal verstanden, daß "prokreative Verantwortung" nicht einfach ein verantwortliches Verhalten in bezug auf die Sexualität, sondern ein bestimmtes, verantwortliches sexuelles Verhalten selbst als Subjekt ...

Textausschnitt: 82a Dieser Begriff von prokreativer Verantwortung als integraler Bestandteil der Tugend der Keuschheit ist der entscheidende Schritt zur Ermöglichung der Unterscheidung zwischen kontrazeptivem Sexualverhalten und einem in den Kontext periodischer Enthaltung integrierten Verhalten. Dieser Begriff von prokreativer Verantwortung als sittlicher Tugend entspricht voll und ganz dem Untrennbarkeitsprinzip, aber er ermöglicht es, dieses Prinzip auf die Ebene singulärer Vollzüge sexueller Akte anzuwenden, d. h. auf die Ebene des konkreten Sexualverhaltens. Haben wir einmal verstanden, daß "prokreative Verantwortung" nicht einfach ein verantwortliches Verhalten in bezug auf die Sexualität, sondern ein bestimmtes, verantwortliches sexuelles Verhalten selbst als Subjekt und deshalb operatives Prinzip von sexuellen Handlungsvollzügen ist, und daß zweitens "Offenheit hinsichtlich der Fortpflanzung" - als Teil des objektiven Gehaltes des ehelichen Aktes - "prokreative Verantwortung" meint, dann haben wir die Gültigkeit des Untrennbarkeitsprinzips nicht nur für die Ebene der sich auf die eheliche Liebe in ihrer Gesamtheit beziehenden leitenden Intentionen festgelegt, sondern auch für die Ebene singulärer Akte der leiblichen Vereinigung im ehelichen Akt. Denn Tugenden formen sich durch bzw. zielen auf die konkreten Vollzüge von Handlungen und deren entsprechenden Wahl; und einzelne Handlungen sowie die ihnen entsprechenden, sie auslösenden Wahlakte des Willens spezifizieren sich durch deren intentionalen Gehalt, welcher der Tugend entspringt, zu der diese Handlungen gehören. Dies wird deutlicher werden, wenn wir nun - immer unter der Voraussetzung des hier allein betrachteten relevanten Falles - in der Argumentation fortschreiten zu einer Analyse des Unterschieds zwischen kontrazeptivem Sexualverkehr und Sexualverkehr im Kontext periodischer Enthaltung, und zwar als einer Analyse zweier unterschiedlicher Arten des Sexualverhaltens. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Perspektive der Moral; the moral point of view; keine Dochotomie: Für-mich-in-Wahrheit-Gutes, "Für-die-anderen-Gutes

Kurzinhalt: Die wahre, der Perspektive der Moral eigene Dichotomie ist deshalb jene zwischen bloßem subjektiven Schein des Guten und der Wahrheit dieses "Scheinens des Guten" vor der praktischen Vernunft.

Textausschnitt: Die "Perspektive der Moral"

15a Die "Perspektive der Moral", wie sie hier verstanden wird, ist nicht identisch mit dem, was im angelsächsischen Raum geläufigerweise the moral point of view genannt wird1. Dieser "moralische Standpunkt" wäre derjenige, der, jeweils das Verfolgen des Eigeninteresses einschränkend, die Interessen der anderen bzw. der Allgemeinheit geltend macht. Gegenüber dem seine eigenen, nur persönlichen Interessen verfolgenden Subjekt verträte dann die Moral den Standpunkt des Allgemeinen, für alle Gültigen und die Interessen aller Betroffenen Berücksichtigenden sowie der Unparteilichkeit. (Fs)
15b Nun soll hier keineswegs behauptet werden die Perspektive der Moral sei nicht diejenige eines das pure Eigeninteresse korrigierenden "allgemeinen" oder "höheren" Standpunktes. Insofern ist der moral point of view in der Tat der Standpunkt der Moral. Zu bestreiten ist lediglich der behauptete Gegensatz zwischen "persönlichem Interesse" und "Moral", bzw. ein Begriff des Moralischen als Einschränkung dessen, was in unserem persönlichen Interesse liegt2. (Fs)

15c Die "Perspektive der Moral", so wie sie hier verstanden werden soll, ist der Standpunkt des Menschen als leib-geistige Einheit und handelndes Subjekt, ausgestattet mit Trieben, Affekten und Emotionen, instinktschwach aber gleichzeitig befähigt, aus seiner eigenen Zentralität sich durch Intellekt und Wille auf andere hin zu transzendieren, frei, und zugleich stets der Verfehlung seiner Freiheit ausgesetzt, zwar Herr seines Tuns aber doch auch immer gefährdet, Sklave dieses Tuns und seiner oft ungeklärten Antriebe zu werden; und aus dieser Perspektive dann der Standpunkt des handelnden Subjekts, der in seinem Streben, Wollen und Tun das "für ihn Gute" sucht und dabei schließlich auf ein Letztes aus ist, das um seiner selbst willen gesucht wird und alles Streben zu erfüllen vermag, eine Erfüllung, die wir "Glück" nennen. Aus dieser Sicht macht die Dichotomie "Eigeninteresse - Moral" keinen Sinn. Denn hier steht Moral gerade im Dienst des eigenen Interesses am Guten, nämlich im Dienste der Wahrheit dieses Guten und damit im Dienst des Interesses am Gelingen der eigenen Existenz, am "guten Leben". Gleichzeitig aber kann das Interesse der jeweils anderen bzw. der Allgemeinheit an ihrem Wohl und dem für sie Guten jetzt auch als eigenes Interesse verstanden werden, da es - sofern der Handelnde auf Kohärenz bedacht ist - unmöglich erscheint, ein "Für-mich-in-Wahrheit-Gutes" anzuerkennen und praktisch zu verfolgen, wenn ich es nicht grundsätzlich auch als ein "Für-die-anderen-Gutes" anerkenne und insofern daran, dass sie dieses Guten teilhaftig werden, auch ein persönliches Interesse habe. (Fs)

15d Gerade die grundlegende Ausrichtung praktischer Vernunft nicht an einem bloße subjektive Neigung übersteigenden "Sollen", sondern am "Guten", wie es vernunftgeleitetem Streben gegenständlich ist, garantiert zwar nicht die Harmonie von Eigeninteresse und Interesse anderer, wohl aber, dass das Eigeninteresse auch das Interesse, das Wohl, des anderen einzuschließen vermag, - weil es eben Interesse am wahrhaft Guten ist. Die Relevanz von Moral und ihren Wahrheitsansprüchen für die Verfolgung meines persönlichen Interesses garantiert dann gerade die Universalisierbarkeit solcher Ansprüche, die Gemeinsamkeit der Interessen und damit eine grundlegende - wenn auch nicht notwendigerweise bruchlose - Verschränkung von Eigeninteresse und Moral. Freilich heißt dies nicht, sittliche Forderungen bzw. praktische Urteile seien wesentlich universal oder universalisierbar. Sie sind im Gegenteil partikulär, situationsgebunden, konkret und, wie Aristoteles sagt, "immer wieder anders". Aber gerade insofern praktische Urteile partikulare Handlungsurteile sind, sind sie wiederum gar nicht Thema der Moralphilosophie oder Ethik, sondern eben Gegenstand der handlungsleitenden Klugheit. Moralphilosophie beschäftigt sich gerade mit dem diesen zugrundeliegenden Allgemeinen, wodurch konkretes Urteilen und Handeln eben "moralisch" wird. Gerade deshalb muss sie sich allerdings auch mit den Grenzen des "moralisch Möglichen" beschäftigen, denn nichts kann positiv bestimmt werden, wenn es nicht zugleich auch ein- und abgegrenzt wird. Insofern sich Ethik mit moralischen Grenzen beschäftigt, wird sie auch zu konkreten Aussagen über "dürfen" und "nicht-dürfen" kommen. (Fs)

16a Die wahre, der Perspektive der Moral eigene Dichotomie ist deshalb jene zwischen bloßem subjektiven Schein des Guten und der Wahrheit dieses "Scheinens des Guten" vor der praktischen Vernunft. "Moral" steht nicht im Dienste der Überwindung oder Unterdrückung von Subjektivität (auch nicht empirischer und sinnlicher Subjektivität), sondern im Dienste ihrer Wahrheit, gerade auch - und dies ist mit einem kritischen Seitenblick auf Kant gesagt - der Wahrheit der durch unsere empirischen und sinnlichen Antriebe geprägten Subjektivität. Die Perspektive einer Moral, der es um solche "Wahrheit der Subjektivität" zu tun ist, ist immer jene des handelnden Subjekts, der "ersten Person"3. Was in den Blick kommen muss, ist gerade dieser Standpunkt des handelnden Menschen, - der immer und notwendigerweise auf ein Gutes und, da er doch in seinem Streben nach dem Guten kein Betrogener sein will, auf ein "in Wahrheit Gutes" aus ist -, sowie der diesen Standpunkt reflektierende ethische Diskurs. Die heutigen Bemühungen um "Ethik", vor allem wenn sie sich primär als Diskurs zur Begründung von "Normen" verstehen, leiden oft gerade darunter, dieser Perspektive nicht gerecht zu werden, trotz aller wertvollen Teileinsichten. Sie leiden unter dem Verlust der Frage nach dem Ethischen4. Dies ganz besonders, wenn Ethik nur noch beansprucht, formale Regeln zur Normenerzeugung begründen zu können, nicht aber materiale Inhalte und Werte, auf die sich solche Normen zu beziehen hätten und die imstande sind, auch praktische Orientierungsleistungen zu erbringen. Solche Orientierungsleistungen sind heute je länger je mehr gefragt und deshalb kann es auch nicht verwundern, dass sich philosophische Ethik heute wieder zunehmend dem Diskurs über Inhalte und Werte, die konkret-praktische Orientierungsleistungen zu erbringen vermögen, zuwendet. (Fs)

16b Ethik hingegen, die sich in Analogie zum politisch-ethischen und rechtspolitischen Diskurs auf die Begründung formaler Prozeduren der Rechtfertigung von moralischen Normen beschränkt, scheint immer mehr aus dem Blick zu verlieren, was denn nun das "Moralische" solcher moralischen Normen eigentlich ausmacht, auch wenn sie sich durchaus damit beschäftig, "moralische Probleme" zu lösen. Besteht die "Grundfrage der Moral" wirklich darin, "wie interpersonale Beziehungen legitim geregelt werden können"5? Ist das nicht vielmehr die Grundfrage aller Politik und damit das Thema politischer Gerechtigkeit? Schließlich: Wo moralische Normen, kantianisch (aber hinter Kant zurückbleibend) als "praktische Regeln der Selbstbeschränkung von Freiheit um der Freiheit aller willen" verstanden werden, die im Wesentlichen den "wechselseitigen Anerkennungsprozess in einem Lebenskontext" reflektieren6, dann bedeutet das auch, dass Moral bzw. Ethik nichts anderes als das je wieder in solchen geschichtlicher Kontingenz unterworfenen Anerkennungsprozessen Erzeugte begriffen werden kann. Eine solche Ethik entspricht dem, was Charles Taylor "Ethics of Inarticulacy"7 nannte, in der keine Werthierarchien begründet werden können, die Frage nach der Superiorität von Auffassungen über das Gute bezüglich anderer Auffassungen also ausgeklammert wird. Nun haben aber Autoren wie J. Raz und Ch. Taylor eindringlich darauf hingewiesen, dass es Autonomie nicht geben kann, wenn ihr Sinn nicht auf jenes Gute bezogen wird, für das Autonomie eben gut ist, was wiederum nach Kriterien für die Auszeichnung moralisch wertvoller Handlungsmöglichkeiten und Lebensformen verlangt8; und dass die "Authentizität" des autonomen, nach Selbstverwirklichung strebenden Individuums nicht möglich ist, wenn nicht aller Autonomie vorgelagerte Bedeutsamkeits- und Sinnhorizonte anerkannt werden, die ermöglichen, unabhängig davon, was das autonome Subjekt jeweils für wertvoll erachtet und deshalb wählt, gewisse Dinge als wichtiger und bedeutsamer als andere zu bewerten9. (Fs)

17a Die oft einseitige Konzentrierung auf die Frage nach den bloß prozeduralen Bedingungen legitimer Begründung moralischer Normen hängt wohl auch wesentlich mit der zumindest für professionelle Philosophen kanonisch geltenden Meinung zusammen, in einer von Bewusst-seinsphilosophie, kantischer und nach-kantischer Erkenntniskritik, nietzschescher Metaphysikkritik und schließlich dem linguistic turn gekennzeichneten nachmetaphysischen Epoche sei so etwas wie "Wahrheit" für die Ethik kein Thema. Aus ähnlichen Gründen tut sich die Moderne schwer, die klassische, für den common sense der Alltagsvernunft immer noch zentrale "Frage nach dem guten Leben" zu stellen10. Auch der von vormodernen Ressourcen zehrende, oft abschätzig so genannte "Neoaristotelismus"11 weiß natürlich, dass gerade bei Aristoteles praktische Wahrheit sich von Wahrheit im epistemisch-theoretischen Sinne unterscheidet. Der ethische Diskurs der Moderne ersetzt deshalb, falls er nicht, eben in "neoaristotelischer" Weise, praktische Vernunft an Traditionen von Kommunitäten zurückbindet, Wahrheit durch Geltung, Richtigkeit (utilitaristischer oder pragmatischer Art), oder Zweckmäßigkeit. An die Stelle der Erkenntnis von Wahrheit treten Strategien der Rechtfertigung, obwohl man weiterhin weiß, dass die lebensweltliche Alltagsvernunft "realistisch" ist und sich an Gewissheiten und Wahrheitsansprüchen orientiert12. Es ist jedoch einleuchtend, dass in einer solchen Situation Ethik nur noch als das Geschäft der Begründung von Normen verstanden werden kann, da Programme der Normenbegründung am ehesten Wahrheitsfragen zugunsten von Strategien der bloßen Rechtfertigung auf sich beruhen lassen können13. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Normenethische Ansätze: Utilitarismus, Konsequentialismus, Diskursethik (Habermas, Apel) vs. Tugendethik; Perspektive: des Beobachters - der ersten Person; Moralität - Eigeninteresse

Kurzinhalt: Diskursethik ... wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen

Textausschnitt: 18a Pointiert normenethische Ansätze philosophischer Art finden sich gegenwärtig vor allem in der Gestalt des Utilitarismus und der Diskursethik. Die Kantische Ethik hingegen ist nicht so sehr eine Normenethik, sondern eher eine Maximenethik1. Allerdings teilt sie mit Utilitarismus und Diskursethik die zentrale Charakteristik jeglicher Normenethik, Handlungen aus der Beobachterperspektive zu beurteilen, von einem Standpunkt außerhalb des handelnden Subjekts also. Dies ist natürlich wiederum Ausdruck der typisch modernen Entgegensetzung von Moralität und Eigeninteresse, die dazu führt, Moral dort beginnen zu lassen, wo das eigene Interesse durch die Interessen der anderen eingeschränkt wird. Tugendethiken in klassischer Tradition hingegen sind eudämonistisch und damit Ethiken der "Ersten Person", d.h. für sie lautet die grundlegende ethische Frage, worin das für den Handelnden Gute besteht, und zwar aus der Perspektive des Handelnden (was, wie bereits gesagt, nichts mit Egoismus zu tun hat, da in einem richtig, nicht hedonistisch fehl interpretierten Eudämonismus auch das Gut des anderen zum Gut des Handelnden gehört2). Dennoch bleiben bei Kant die subjektiven Handlungsmaximen zentral und sie drücken Wünsche und Interessen des Handelnden auf einer allerdings noch vor-moralischen Ebene aus. Dass es ein subjektives Interesse am Guten gibt, das nicht selbst wiederum "egoistisch" sondern bereits moralisch sein könnte, ist auch für Kant undenkbar. (Fs) (notabene)

18b Utilitarismus und Diskursethik - auch Mischformen sind möglich: vertragsethische Theorien tragen z. B. utilitaristische und diskursethische Züge - verfehlen, in je verschiedener Weise, aber konsequenter als Kantische Ethik, was hier als die "Perspektive der Moral" verstanden wird. Wie zu zeigen ist, klammert der Utilitarismus (oder Konsequentialismus) mit seinem eventistischen Begriff von Praxis gerade den handelnden Menschen zugunsten der Optimierung der durch sein Handeln verursachten Folgen und Sachverhalte aus. Konsequentialisten3 gehen davon aus, dass der Handelnde verpflichtet ist, jeweils jene Handlung auszuführen, durch die er voraussichtlich die Folgen für alle Betroffenen zu optimieren vermag. Konsequentialisten halten es nicht nur für evident, dass eine Handlung mit besseren Folgen einer solchen mit weniger guten Folgen vorzuziehen ist; ihnen gemäß ist dies auch der einzige Gesichtspunkt, unter denen die sittliche Richtigkeit von Handlungen sinnvollerweise beurteilt zu werden vermag. Mit tugendethischen Argumenten können sie deshalb wenig anfangen, denn für einen Konsequentialisten kann Tugend höchstes eine Name für die Disposition sein, jeweils die richtige, d.h. folgenoptimale Handlung auszuführen. Konsequentialisten kommen zu dieser Auffassung, weil sie gerade ausklammern, was für einen Tugendethiker zentral ist, dass nämlich das Handlungssubjekt selbst bzw. seine Handlungswahl gegenüber den von seinen Handlungen betroffenen Subjekten einen privilegierten Status besitzt, so dass Urteile der folgenden Art möglich sind: Eine Handlung x (z. B. das Töten eines Menschen in einem Erpressungsfall, um damit den Tod von vielen anderen zu verhindern) hätte zwar für alle Betroffenen bessere Folgen als die Unterlassung dieser Handlung; dennoch darf ich sie nicht ausführen, weil ich durch ihre Ausführung eine Ungerechtigkeit begehen und ein ungerechter Mensch würde. Aus konsequentialistischer Warte sind solche Urteile nicht möglich, da "gerecht" immer nur auf Grund der Handlungsfolgen für alle Betroffenen beurteit werden kann, wobei Handlungen und Unterlassungen gleicher Status zuerkannt wird. Kritiken tugendethischer Kritik am Konsequentialismus sind natürlich genau dann zirkulär, wenn sie bereits einen konsequentialistischen Begriff von "Tugend" voraussetzen4. In der Tradition des Utilitarismus besitzt also der Konsequentialismus die Eigenart, als "moralisch" nur gelten zu lassen, was die Interessen aller möglicherweise Betroffenen einschließt. Konsequentialistisch begründete moralische Normen reflektieren dann notwendigerweise diesen intersubjektiven Standpunkt. (Fs) (notabene)

19a Diskursethische Ansätze auf der anderen Seite scheinen von Anfang an den moralischen Diskurs des Einzelsubjekts zugunsten des intersubjektiv erzielten Konsenses bezüglich der Etablierung von gesamtgesellschaftlich, für alle Betroffenen akzeptierbaren Normen zurückzustellen oder gar für unmöglich zu erachten. Die Diskursethik setzt damit zum einen als moralische Subjekte konstituierte Diskursteilnehmer bereits voraus (ohne dafür allerdings eine ethische Theorie anzubieten, es sei denn, wie bei Habermas, in der Form sozialpsychologischer Entwicklungstheorien, oder, im Falle Apels, in einer, von Habermas wiederum abgelehnten, transzendentalen Analyse des Apriori kommunikativer Praxis, das als ethische Letztbegründung verstanden wird5) und verlangt zum andern nach einem die diskursethische Etablierung von Normen ergänzenden Anwendungsdiskurs, welcher den Charakter eines Klugheitsdiskurses besitzt6, in dem dann durchaus z. B. auch konsequentialistische Gesichtspunkte zum Tragen kommen können und - aber gewissermaßen zu spät, als dass die Diskursethik dazu noch etwas zu sagen hätte - sämtliche moralischen Grundfragen auftauchen. (Fs) (notabene)

20a Die Diskursethik manifestiert symptomatisch die Signatur moderner Moralphilosophie, insofern sie als kognitivistische Ethik davon ausgeht, dass unter neuzeitlichen Bedingungen einer "nachmetaphysischen" Epoche praktische Vernunft nicht mehr eine Antwort auf das "für mich Gute" zu finden vermag, sondern allein noch für das intersubjektiv und durch Konsens feststellbare "Was soll man tun?" zuständig sein kann7. Das führt folgerichtig zur Einsicht, dass ein Diskursethik eigentlich erst als Diskurstheorie des Rechts und der Politik durchführbar ist8, das Diskursprinzip selbst dann gar nicht mehr als Moralprinzip verstanden wird9, was wiederum zur Diagnose einer "definitiven Auflösung" der Diskursethik geführt hat10. Damit zeigt sich jedoch: Diskursethik ist keine Ergänzung zur praktischen Vernunft des Einzelnen, sondern höchstens eine Theorie darüber, wie gesellschaftliche Geltung von sittlichen Normen - letztlich als rechtliche Normen - erzeugt werden kann. Damit wird sie zur politischen Ethik - eine Tendenz, die ihr auf Grund ihres nur intersubjektive Vernunft und entsprechendes verständigungsorientiertes Handeln als Rationalitätskriterium geltend lassenden Charakters von Anfang an innewohnte11. (Fs) (notabene)

20b Tugendethik braucht freilich mit der Diskursethik nicht prinzipiell in Konkurrenz zu treten. Sofern man die politisch-rechtsethische Logik der Diskursethik und damit ihre im Gegensatz zur Tugendethik intersubjektive Legitimationsbasis unterstreicht, handelt es sich nicht eigentlich um alternative Paradigmen. Aus der Sicht klassischer Tugendethik wird man jedoch feststellen müssen, dass die Diskursethik gerade den eigentlich fundamentalen Gegenstand der Ethik verfehlt: das handelnde Subjekt in seinem ursprünglichen Streben nach dem Guten und seinem Interesse an der Richtigkeit dieses Strebens und der entsprechenden praktischen Wahrheit seines konkreten Tuns. Diskursethische Gesichtspunkte sind für eine politische Ethik, die eher Institutionenethik und Rechtsethik als Tugendethik ist, durchaus einschlägig. Institutionelle politisch-ethische Diskurse sind wesentlich auf Konfliktlösung angelegt. Und genau das will die Diskursethik (während hingegen utilitaristische Rationalität Konflikte zugunsten rationaler Sozialtechnologie eigentlich weg-argumentiert). Diskursethik verlagert das klassische, noch bei Kant dominierende Thema des Konflikts zwischen falschen, egozentrischen, unvernünftigen und wahren Interessen - gleichsam Kant in Rousseau rückübersetzend - auf die Ebene des gesellschaftlichen Diskurses, in dem ein für alle zwanglos akzeptierbarer Konsens die Vernunft der Moral repräsentiert, die alle partikulare, dem bloßen (zumindest unaufgeklärten) self interest verhaftete Vernunft hinter sich lässt. Die diskursethischen Erfordernisse der zwanglosen und sich auf alle Betroffenen erstreckenden Akzeptabilität der voraussichtlichen Folgen einer allgemein geltenden Norm und der diskursiven und konsensgeprägten Einlösung von normativen Geltungsansprüchen in einer idealen Sprechsituation werden damit zu alles tragenden Moralprinzipien, welche allerdings durchaus die "Anwendung eines substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes"12 einschließen, eines Gesichtspunktes allerdings, so wäre zu ergänzen, der eher für die politischrechtliche Ebene relevant zu sein scheint. Denn er begründet nicht substantielle Auffassungen über das Gute, sondern ist eher ein Prinzip der politischen Gerechtigkeit, dem gemäß - etwa im Sinne von Rawls' "overlapping consensus" - nicht allgemein akzeptierte bzw. akzeptierbare Auffassungen über das Gute von der öffentlichen Geltung auszuschließen sind13. (Fs)

21a Als Tugendethik beschäftigt sich "Die Perspektive der Moral" gerade mit der aller Möglichkeit von intersubjektiven Diskursen und verständigungsorientiertem Handeln vorausliegenden Ebene. Diese Ebene umfasst ein Zweifaches: Die Bedingungen dafür, dass diskursives Verhalten, Verständigungspraxis, überhaupt möglich ist (denn sie ist, was die Diskursethik nicht leugnet, aber auch nicht thematisiert, nur unter Subjekten möglich, die bereits vorgängig als moralische Subjekte mit entsprechenden Überzeugungen und einem für alle verständlichen moralischen Sprache konstituiert sind14); und zweitens umfasst sie die grundlegenden möglichen Inhalte von solchen Diskursen. Diskurse ohne nicht-formale d.h. substantielle Rationalitätskriterien - vornehmlich, aber nicht ausschliesslich, Gerechtigkeitskriterien - sind nicht möglich, nicht einmal im politischen Kontext. Dazu kommt dann aber noch eine dritte Ebene, die jedem normbezogenen Diskurs nach- und gleichzeitig übergeordnet ist und auch noch die Ebene von sog. Anwendungskursen hinter sich lässt: jene des konkreten Handelns des einzelnen Subjekts. Dazu bedarf es wiederum einer Ethik des partikularen Handlungsurteils (Klugheit). Hier ist keine intersubjektive Verständigung mehr gefragt, sondern persönliche Verantwortung. Das Moralische ist ja nicht unbedingt das, worüber Konsens besteht, sondern, wie Robert Spaemann betont, unter Umständen gerade, was aus allem Konsens ausbricht, ja ihm widerspricht, und dabei mit dem Anspruch des Richtigen auftritt15. Eine Ethik, die wie die Diskursethik, nur eine intersubjektive Verständigung über das Gute zulässt, muss diese letztlich entscheidende Ebene verfehlen bzw. ausblenden. Sie wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen16. (Fs) (notabene)

22a Im Folgenden wird es darum gehen, eine Einführung in die philosophische Ethik vorzulegen, der es besonders daran gelegen ist, gegenüber den verschiedenen Formen von Normenethik die genannte "Perspektive der Moral" herauszuarbeiten. Das hat nun freilich nichts mit "Moralismus" zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass sich die Antwort auf die Frage nach der Begründung sittlicher Normen bereits dort entscheidet, wo sie noch gar nicht ausdrücklich gestellt werden kann, nämlich auf der Ebene der Einsicht darin, was denn überhaupt "menschliches Handeln", "praktische Vernunft", kurz: was überhaupt der handelnde Mensch ist. Auffassungen darüber werden von Ethikern oft stillschweigend vorausgesetzt oder erst im Nachhinein, wenn alles schon gelaufen ist, erörtert. Diese Auffassungen sind es jedoch, die letztlich alles bestimmen. Gerade dazu lassen sich in der von Aristoteles über Thomas von Aquin verlaufenden Tradition der Tugendethik entscheidende Grundlagen erarbeiten. Hier sind nun allerdings noch einige Abgrenzungen und Differenzierungen notwendig. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Unterschied: moderne (McIntyre) - klassische Tugendethik

Kurzinhalt: Der springende Punkt ist nun gerade, dass ... Tugend" nicht in einer Disposition, affektiven Verfassung oder Neigung besteht, "das jeweils Richtige zu tun", sondern darin, das Richtige aus affektiver Neigung zu tun, d. h...

Textausschnitt: 23b Die gegenwärtige, vor allem im angelsächsischen Raum vertretene Tugendethik kritisiert berechtigtweise einige Schwachpunkte neuzeitlicher "Moralphilosophie" und akzentuiert dabei wesentliche Anliegen klassischer Tugendethik. Die Unterschiede bleiben jedoch beträchtlich. Gegenwärtige Tugendethik ist oft einseitig und eine Extremposition und wird deshalb auch nicht selten kurzerhand als Schuss ins Leere kritisiert, da letztlich auch Tugenden nur aufgrund der Richtigkeit von Handlungen definiert werden können1. Freilich schließen das auch heutige Vertreter der Tugendethik nicht unbedingt aus. Einige anerkennen explizit, dass die Richtigkeit von Handlungen von tugendgemäßen Dispositionen unterscheidbar und nicht ausschließlich von letzteren ableitbar ist2. Dennoch scheinen diese beiden Aspekte in der heutigen Tugendethik nicht immer in zufriedenstellender Weise integriert zu sein. (Fs)

24a Klassische Tugendethik ist jedenfalls weder nicht-kognitivistisch (sie behauptet also nicht, dass die Richtigkeit einer Handlungsweise einfach positiv zu bewertenden Motivationen entspringt und versteht "Tugend" als durchaus vernunftbezogenen Begriff3), noch kennt sie einen Gegensatz von Tugend und Pflicht. Tugend im klassischen Sinn versucht auch nicht einfach unsere gegebenen moralischen Intuitionen zu rechtfertigen und ist auch nicht in "neoaristotelischer" Weise an das jeweilige vorherrschende Ethos zurückgebunden. Als rationale Kategorie will Tugend auch unsere gegebenen und durch Erziehung, Gewohnheit, Ethos mitgeformten moralischen Intuitionen und Motivationen aufklären und sie gegebenenfalls verbessern. Anderseits reduziert klassische Tugendethik jedoch die Tugenden auch nicht, wie dies die neuzeitliche Moralphilosophie tut, auf bloß habituelle Aneignung von Prinzipien, Normen und Regeln, sondern ist ausgesprochene Glückslehre: sie versteht das Gute, Richtige, Gesollte immer im Hinblick auf das dem Erreichen wahren - wenn auch u. U. durchaus unvollkommenen - Glücks Zuträgliche. Klassische Tugendethik in aristotelischer Tradition versteht Tugend als jene emotionale bzw. affektive Verfasstheit des Subjekts, die (1) auf rational erkennbaren Prinzipien gründet und durch die (2) das Richtige, die Pflicht, das Sollen dann im Einzelfall erst adäquat erkennbar wird, weil sittliche Tugend die Affektivität vernunftgemäß disponiert und damit Vernünftigkeit im partikularen Handeln ermöglicht und sichert. (Fs)

24b Gerade dieser zweite Punkt ist das entscheidende Charakteristikum einer jeden echten Tugendethik. Gemäß einem gängigen, den Begriff der Tugend zur Trivialität herab stufenden Missverständnis, sind Tugenden einfach positiv zu bewertende Charaktereigenschaften4 oder, wie bereits erwähnt, Dispositionen der Erfüllung moralischer Regeln oder Normen, wichtig vor allem für Kinder, die noch nicht über die rationale Kompetenz des Verstehens moralischer Regeln und des differenzierten Umgangs mit ihnen verfügen5. Der springende Punkt ist nun gerade, dass einem nicht-trivialen Begriff der sittlichen Tugend gemäß "Tugend" nicht in einer Disposition, affektiven Verfassung oder Neigung besteht, "das jeweils Richtige zu tun", sondern darin, das Richtige aus affektiver Neigung zu tun, d. h. auf Grund der affektiven Verfassung oder Neigung jeweils das Richtige zu treffen. Wäre Tugend nur im trivialen Sinne zu verstehen als Disposition, das jeweils Richtige zu tun, so bedeutete dies ja, dass Tugend selbst gar keine Grundlage für die Bestimmung dieses "Richtigen" sein kann, da das jeweils der Tugend Gemäße vom "Richtigen" her bestimmt würde. Gemeint ist aber gerade das Umgekehrte: die tugendhafte Disposition ermöglicht es überhaupt erst, das im Konkreten Richtige zu erkennen und auch effektiv zu tun, weil Tugend praktische Vernunft affektiv leitet und sichert. Sittliche Tugend ist nicht einfach nur die affektive Verfassung oder Neigung, das jeweils Richtige (die "Pflicht") zu tun, sondern eine Neigung oder affektive Verfassung, durch die das hier und jetzt Richtige überhaupt erst adäquat als "Gutes" erfasst und im konkreten Tun auch effektiv getroffen wird (davon gibt es dann natürlich keine Theorie bzw. universale normative Aussagen). Sittliche Tugend ist Potenzierung von Vernünftigkeit bezüglich des konkreten Handelns. (Fs) (notabene)
25a Wird Tugend in dieser Weise verstanden, dann scheint es fehl am Platz zu sein, von möglichen Konflikten zwischen einzelnen Tugenden als Kollisionen zwischen verschiedenen moralischen Verbindlichkeiten zu sprechen und, da solches in der Aristotelischen Tugendethik nicht angemessen berücksicht sei, eine "für Tugendkonflikte zuständige Urteilskraft" als "Metatugend" zu fordern6. Dies geht am klassisch-aristotelischen Verständnis sittlicher Tugend gerade vorbei, weil diese erstens dem Begriffe nach bereits die adäquate Erkenntnis des im Partikularen zu Tuenden einschließt und zweitens behauptet, "einzelne Tugenden", die möglicherweise miteinander in Konflikt geraten, könne es so gar nicht geben, da im eigentlich Tugendhaften alle Tugenden eine organische Einheit bilden, was dem Tugendhaften gerade ermöglicht, das im Konkreten Richtige zu erfassen. "Die wirkliche Tugend hat sozusagen den Konflikt bereits gelöst, bevor er die reale Entscheidung lähmen könnte."7 (Fs)

25b Nun bedeutet das keineswegs, was im Einzelnen das Richtige sei, könne nicht rational gerechtfertigt werden, hänge nicht auch von vernünftig einsehbaren normativen Voraussetzungen ab und könne vor dem Gewissen des Handelnden nicht als "Pflicht" auftreten. Auch das Handlungsurteil des Tugendhaften ist immer ein Urteil der Vernunft, näherhin der Klugheit. Die affektiv geleitete praktische Erkenntnis des Tugendhaften ist jedoch ein vorzüglicher Modus praktischer Erkenntnis, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er (1) das flexible Eingehen auf die konkrete Situation ermöglicht, und zwar gerade als ein Treffen des dem jeweiligen Tugendziel entsprechenden moralisch Richtige (2) nicht nur Erkenntnis verschafft, sondern (im Unterschied zu dem von Aristoteles ausführlich analysierten "akratos", dem Unenthaltsamen oder "Willensschwachen") auch zum effektiven Tun des erkannten Guten führt und (3) (diesmal im Unterschied zum bloß Enthaltsamen, der gegen seine Neigung das als Pflicht Erkannte erfüllt) Motivation und Handlungsgründe zur vollen, auch subjektiv befriedigenden Übereinstimmung bringt8. Auch das affektiv geleitete praktische Urteil des Tugendhaften bleibt jedoch ein Urteil der Vernunft, ja ist noch mehr ein solches, als das praktische Urteil des affektiv Fehlgeleiteten, da dieses letztere nicht einer durch wohlgeordnete Affekte potenzierten Vernunft entspringt, sondern einer solchen, die sich bloß im Schlepptau von ihrer eigenen Logik überlassenen Affekten oder Emotionen befindet und deshalb weniger "Vernunft" ist, als die Vernunft des Tugendhaften9. Sittliche Tugend definiert und sichert damit gerade auch die Bedingungen dafür, dass das Glücksstreben sich in den Bahnen von Vernünftigkeit vollzieht, dass wir als Letztes und um seiner selbst willen erstrebtes Gut darauf aus sind, was auch vernünftigerweise als ein solches Letztes und Höchstes gewollt werden kann. Klassische Tugendethik, wie sie hier verstanden wird, ist rationale Tugendethik. (Fs)

25c Da eine solche Tugendethik die Richtigkeit von Handlungen nicht einseitig als Derivat von positiv zu bewertenden emotionalen Einstellungen und Motiven versteht, letztere an Kriterien von Vernünftigkeit zurückbindet und einen Diskurs über moralische Regeln und Normen zulässt, also an einem der Teleologie der Wünsche, Neigungen und Strebungen des Subjekts vorgeordneten normativen Begriff des "Guten" festhält, wurde behauptet, "dass weder Aristoteles noch Thomas eine ,reine Tugendethik' vertreten"10. Eine solche Behauptung ist nun aber ein Missverständnis und nur sinnvoll, wenn man von einem bereits "radikalen" Begriff von Tugendethik ausgeht. Auch eine rationale Tugendethik, wie die hier vertretene, ist durchaus eine "reine" Tugendethik, allerdings ohne die Einseitigkeiten jener radikalen Formen von Tugendethik, wie sie zuweilen anzutreffen sind. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Prinzipien, Regeln und Normen: Tugendethik - moderne Moralphilosophie, Expertenmoral; Letztbegründung - nichthintergehbaren "sittliche" Gegebenheiten

Kurzinhalt: Tugenden sind nicht als "Mittel" oder Dispositionen zu verstehen, um das moralische Gesetz zu erfüllen, sondern umgekehrt ist das moralische Gesetz ein "Mittel" bzw. das Prinzip, mit dessen Hilfe wir die Tugenden erwerben können

Textausschnitt: 26a In einer rationalen Tugendethik klassischen Zuschnitts haben Prinzipien, Regeln und Normen jedoch einen anderen Status als in der modernen Moralphilosophie. Sie drücken letztlich Strebensziele aus, die, gleichsam anthropologisch rückgekoppelt, auf das für den Menschen Gute gerichtet sind und dieses auf der Ebene des grundlegend-Allgemeinen zum Ausdruck bringen. "Sittliche Tugend" meint hier nicht die Disposition, Gesetze, Normen oder Regeln zu erfüllen sondern vielmehr der vollkommene Modus des Erfüllens dessen, was in Gesetz, sittlicher Norm oder moralischer Regel zum Ausdruck kommt: nicht als Erfüllung einer Norm, sondern in zugleich affektiver wie auch kognitiver Ausrichtung auf das durch Prinzipien und entsprechende Normen ausgewiesene Gute. Gemäß einem tief sitzenden Vorurteil habe es auch der Aristotelismus eines Thomas von Aquin nicht weiter gebracht als zu einer Auffassung der Tugenden als "habits of obedience to laws"1. Eher müsste man jedoch sagen, für Thomas brächte gerade das (natürliche) Gesetz - die "Lex naturalis" - die Rationalität der Tugenden zum Ausdruck. Tugenden helfen nicht, ein uns gleichsam gegenüber stehendes oder auferlegtes moralisches Gesetz zu erfüllen; als "natürliches Gesetz" ist das Moralgesetz vielmehr das die Tugend überhaupt erst ermöglichende kognitive Grundprinzip. Tugenden sind nicht als "Mittel" oder Dispositionen zu verstehen, um das moralische Gesetz zu erfüllen, sondern umgekehrt ist das moralische Gesetz ein "Mittel" bzw. das Prinzip, mit dessen Hilfe wir die Tugenden erwerben können. Aber ein solches "Mittel" ist es nicht als ein uns Gegenüberstehendes oder uns Auferlegtes, sondern als Strukturprinzip praktischer Vernunft selbst. Das grundlegende Phänomen ist immer der Mensch als kognitiv-strebendes Wesen, nicht aber Normen, Regeln oder Gesetze. Normen und Regeln sind normative Aussagen, abgeleitete sprachliche Universalien, mit denen wir uns über das praktisch Gute verständigen. Praktische Prinzipien hingegen, insofern wir sie, wie es im Folgenden der Fall sein wird, von Normen und Regeln unterscheiden, sind zugleich intelligible Bewegungsursachen von Praxis - also Prinzipien der Praxis selbst, und nicht einfach normative Aussagen über sie - und damit zugleich Grund aller Intelligibilität des jeweils konkret Guten, wie es das Handlungsurteil zum Gegenstand hat. Damit sind sie Handlungs- und Moralprinzip in einem. (Fs) (notabene)

26b Tugendethik in diesem Sinne fragt nach den Bedingungen dafür, dass ein solches strebendes Wesen vernünftig ist bzw. erstrebt, was allein vernünftigerweise als Gutes erstrebt werden kann. Dazu rekurriert sie in der verschiedensten Weise auf das "von Natur aus Vernünftige". Allen Formen klassischer Tugendethik gemeinsam ist, das "Natürliche" nicht naturalistisch, sondern als das wirklich und prioritär für den Menschen Gute und ein Ideal gelungenen Menschsein zu verstehen1. Das "von Natur aus Vernünftige" wird bei Thomas von Aquin dann als - die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts und Praxis überhaupt begründende - originäre Erkenntnisleistung praktischer Vernunft, die sich zur sittlichen Tugend ausweitet, und als durch diese konstituiertes "natürliches Gesetz" interpretiert. (Fs) (notabene)
26b Tugendethik in diesem Sinne fragt nach den Bedingungen dafür, dass ein solches strebendes Wesen vernünftig ist bzw. erstrebt, was allein vernünftigerweise als Gutes erstrebt werden kann. Dazu rekurriert sie in der verschiedensten Weise auf das "von Natur aus Vernünftige". Allen Formen klassischer Tugendethik gemeinsam ist, das "Natürliche" nicht naturalistisch, sondern als das wirklich und prioritär für den Menschen Gute und ein Ideal gelungenen Menschsein zu verstehen1. Das "von Natur aus Vernünftige" wird bei Thomas von Aquin dann als - die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts und Praxis überhaupt begründende - originäre Erkenntnisleistung praktischer Vernunft, die sich zur sittlichen Tugend ausweitet, und als durch diese konstituiertes "natürliches Gesetz" interpretiert. (Fs) (notabene)

27a Damit zielt eine so verstandene Tugendethik - wie alle Tugendethik - auf die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts ab, wird diese Kompetenz aber zugleich an bestimmte Bedingungen knüpfen. Nicht um eine Letztbegründung von Ethik geht es dabei, sondern um den Aufweis von nichthintergehbaren und letzten sittlichen "Gegebenheiten", die zwar diskursiv nicht ableitbar sind - sie sind vielmehr Ausgangspunkt und Voraussetzung jeglichen ethischen Diskurses -, jedoch, wie gesagt, jedem Handlungssubjekt als Einzelnem "natürlicherweise" offen stehen. Dies freilich nicht im Sinne eines besonderen "Wertfühlens" im Sinne Max Schelers oder Nicolai Hartmanns, das als ein von praktischer Vernunft unterschiedenes Organ der Weiterkenntnis verstanden wird, sondern als Ausgangspunkt und damit Bestandteil praktischer Vernünftigkeit selbst. Der Auffassung, dass ethische Geltungsansprüche nur noch im Medium der Intersubjektivität einsichtig gemacht werden können, wird dabei mit der Behauptung eines unmittelbar möglichen und auch unausweichlichen Gegebenseins dessen, was alle Moral, ja die Sphäre des Moralischen überhaupt begründet, entgegengetreten1. Diese Gegebenheiten sind an sich keineswegs strittig: Dass es für uns gut ist, zu leben, uns zu erhalten, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben, vernünftig zu handeln, Wahrheit zu erkennen, die verdienten Früchte unserer Arbeit zu ernten, uns mit dem anderen Geschlecht zu verbinden, uns zu reproduzieren u. ä. ist gewöhnlicherweise auch heute nicht Gegenstand des Streites. Strittig ist aber nicht nur die Gewichtung, sondern vor allem die Interpretation dieser "Güter". Man kann sie nämlich als bloßen "Rohstoff und materialen Ausgangspunkt einer erst noch zu leistenden, im geschichtlichen Prozess immer wieder neuen individuellen und gesellschaftlichen Wert-Schöpfung deuten, durch die sich humane Identität und entsprechende moralische Normen erst als geschichtlich und gesellschaftlich bedingte jeweils herausbilden, oder aber auch als eben nichthintergehbare "natürliche" Voraussetzungen praktischer Vernünftigkeit und von ihnen abhängiger Wert-Schöpfung und humaner Identität. Das muss nicht naturalistisch gemeint sein, und ist es hier ebensowenig, wie es in der dieselbe Haltung einnehmenden Tradition des Naturrechts gemeint war. Eine Tugendethik in klassischer Tradition repräsentiert jedenfalls eine gewissermassen "naive" Interpretation dieser Gegebenheiten als Prinzipien d. h. eben nichthintergehbare Ausgangspunkte aller praktischen Vernünftigkeit, verlangt aber auch - in diesem Sinne nicht "naiv" und vor allem nicht naturalistisch - eine ethische Klärung dieser Gegebenheiten im Horizont von Vernünftigkeit2. (Fs)
28a Damit ist aber Tugendethik das Gegenteil von "Expertenmoral". Sie unterschiedet sich hier wesentlich von Auffassungen von Ethik, die, wie die Diskursethik, nur aus intersubjektiven Verständigungsprozessen hervorgehende, auf Konsens beruhende Geltungsansprüche akzeptiert, oder, wie der utilitaristische Konsequentialismus, eine Fülle von Folgen aller Art für einen möglichst großen Kreis von Betroffenen in ihr nutzenmaximierendes Kalkül einzubeziehen hat, und die deshalb eher die Vernunft von Ethikkommisionen als von moralisch kompetenten Alltags-Handlungssubjekten reflektieren (was nicht heißt, dass diese Subjekte von Ethikkommissionen nicht entscheidende Hilfen erfahren können bzw. dass solche Kommissionen für Entscheidungsprozesse innerhalb von Institutionen, z. B. Krankenhäusern, nicht von Bedeutung sein können). Tugendethik reproduziert nicht die Vernunft von philosophierenden oder wissenschaftlich aufgeklärten Subjekten - obwohl sie natürlich auch für diese einschlägig ist -, sondern die Vernunft der Person als moralische Subjekt tout court, so wie wir alle solche Subjekte sind, die ein Leben führen und dieses eben "gut" zu führen beabsichtigen. Was dieses "gut" bedeutet und beinhaltet, nennen wir "Moral", und Ethik ist davon die Philosophie. (Fs)
28b Die erwähnten, die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts begründenden sittlichen Gegebenheiten werden in der vorliegenden Version einer rationalen Tugendethik als "das von Natur aus Vernünftige" bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um Letztbegründung, denn diese ist nicht möglich, wohl aber um den Aufweis eines "Letzten" oder "Ersten" (je nach dem, von welcher Seite her man die Dinge betrachtet)1. Diese Gegebenheiten, das "von Natur aus Vernünftige" und entsprechende praktische Prinzipien werden nicht "begründet" oder "abgeleitet", sondern eher gefunden. (Fs) (notabene)

28c Für die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts muss allerdings ein Preis bezahlt werden. Der Preis besteht erstens darin, dass man nicht mehr alle Interessen und Präferenzen solcher Subjekte gleich gewichten kann. "Nutzen" ist hier nie, utilitaristisch, Erfüllung der Präferenzen einer möglichst großen Zahl von Betroffenen, und normative Richtigkeit ist nie, wie in der Diskursethik, das zwanglose Zusammenstimmen sittlicher Normen mit den (subjektiven) Interessen aller Diskursteilnehmer. Zweitens behauptet Tugendethik in klassischer Tradition, dass moralische Kompetenz wiederum einen Zusammenhang besitzt mit der moralischen Verfasstheit des Subjekts. Sittliches Gutsein ist selbst, so wird behauptet, bis zu einem gewissen Grad Bedingung für die Erfassung des Guten. "Sittliche Tugend" ist gerade jene Verfasstheit von Handlungssubjekten, in denen diesen das in Wahrheit Gute auch wirklich als Gutes erscheint. Gegenwärtige Virtue ethics denkt hier in manchen Spielarten relativistisch2. Dadurch unterscheidet sie sich von der klassischen Tradition, die zwar das der Tugend entsprechende Gute auch als ein Gutes "in Bezug auf uns" betrachtet, dennoch aber, zumindest in der Aristotelischen Form, am Begriff der praktischen Wahrheit dieses Guten festhielt. Diese Art von Wahrheit besteht jedoch nicht in der Übereinstimmung von Urteilen mit irgendwelchen außerhalb des Subjekts liegenden Sachverhalten, sondern in der Übereinstimmung des jeweils konkreten Urteils über das praktisch Gute (und dem entsprechenden Wollen) mit dem richtigen Streben. Natürlich ist "richtiges Streben" selbst ein Sachverhalt und die Richtigkeit dieses Strebens impliziert einen Bezug zur "objektiven Welt", aber es handelt sich um jene "objektive Welt", die das Handlungssubjekt gerade selber ist.3. Aber auch intersubjektiv erzeugte Richtigkeit im Sinne von Habermas kommt nicht ohne einen "Bezug zur objektiven Welt" aus, ist doch der jeweils andere, dem als Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft und als Diskursteilnehmer jeweils Anerkennung als Gleicher entgegenzubringen ist, gerade "objektive Welt", auf die ich mich als Subjekt beziehe. Die Behauptung der grundlegenden moralischen Richtigkeit solcher gegenseitiger Anerkennung - und diese Behauptung ist gleichsam die Seele aller Diskursethik - besitzt dann also durchaus den Charakter einer Wahrheitsbehauptung. (Fs)

29a Die Richtigkeit des Strebens entstammt grundlegend den genannten, nicht vom Subjekt selbst gewählten, wohl aber diskursiv aufweisbaren letzten moralischen Gegebenheiten - den Prinzipien -, ist damit Grundlage der "Richtigkeit" oder praktischen Wahrheit aller Handlungsurteile, bleibt aber selbst hinter dem konkret zu Tuenden zurück: Letzteres kann nicht zwingend aus den Prinzipien abgeleitet werden, denn Prinzipien sind bezüglich konkreter praktischer Handlungsleitung gleichsam unterbestimmt. Wohl aber kann das konkret Gewollte und Getane als dem Prinzip widersprechend erkannt werden. Praktische Prinzipien sind damit Grundlage und Grenze von Richtigkeit und als solche Grund aller praktischen Wahrheit. In einer Aristotelische Tugendethik ergänzenden praktischen Prinzipienlehre liegt einer der entscheidenden Beiträge des Thomas von Aquin für die philosophische Ethik1. (Fs)

30a Damit erst erhält allerdings Ethik jenes Profil, das sie, mit Ausnahme des Hedonismus der Kyrenaiker, typischerweise bereits in ihrer antiken Form besaß: Sie ist eine Lehre vom "guten Leben" in dem Sinne, dass sie uns dazu zwingt, unsere Prioritäten und Maßstäbe zu überdenken und unter Umständen unser Leben zu revidieren. In jedem Fall aber kann sie dieser Auffassung gemäß nur von Subjekten betrieben werden, die nach einer Verbesserung ihrer Lebenspraxis streben. Gerade der eudämonistische Charakter klassischer Tugendethik verlangt nach der vernunftorientierten Revision spontaner, unreflektierter Glücksvorstellungen. Das Motiv der Verbesserung der Lebenspraxis ist in der Kantischen Ethik noch gegenwärtig, allerdings in einer bereits rudimentären, weil anti-eudämonistischen Form. Kants Ethik ist nicht ein Programm der Reform des "inneren Menschen", sondern eher ein Programm der Unterwerfung der Amoralität, der Bosheit und des Eigennutzes des inneren Menschen unter die Ansprüche der Moralität. Im Utilitarismus und in der Diskursethik finden sich solche Motive freilich kaum mehr. Vielmehr zielen sie in eher klassischer Manier auf die Verbesserung der Praxis und auf "Reform" im weitesten Sinne - sonst wären sie keine Ethik -allerdings auf die Verbesserung einer das Subjekt transzendierenden gesellschaftlichen Praxis. Utilitaristische Ethik funktionalisiert dabei das Handlungssubjekt zum Zwecke der Optimierung von Weltzuständen. Die Diskursethik hingegen möchte Einzelinteressen gesamtgesellschaftlich in zwangloser Harmonie zum Besten aller koordinieren. Damit transponiert sie das wesentliche Motiv Kantischer Rechtsphilosophie in die Ethik. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Glaube - Philosophie; ancilla theologiae

Kurzinhalt:

Textausschnitt: 32b Aber, so ließe sich erneut fragen: Braucht der Glaubende überhaupt "Philosophie"? Diese Frage ist entschieden zu bejahen. Zunächst weil der Glaube nicht an die Stelle natürlicher Erkenntnisfähigkeit tritt, sondern diese eher ergänzt, sie auf ein höheres Niveau erhebt. "Ergänzung" und "Erhebung" sind nun aber nicht möglich, wenn da nicht etwas ist, was "ergänzt" und "erhoben" werden kann. Und daraus ergibt sich sogleich das Zweite: der Glaube sagt uns nicht alles. Er ist Licht im menschlichen Intellekt und Wirkkraft im menschlichen Willen. Und deshalb kann er menschliche, natürlich-vernünftige Einsicht nie ersetzen, ja er setzt sie in mancher Hinsicht sogar voraus. (Fs)

32c Es könnte nun der Verdacht aufkommen, dass hier für Philosophie als ancilla theologiae, als "Magd der Theologie" plädiert wird. Darunter kann man freilich vielerlei verstehen. Man könnte darunter etwa sinnvollerweise verstehen, dass Theologie auf Philosophie angewiesen ist und letztere deshalb der ersteren nicht dienstbar, sondern dienlich ist, auch wenn das nicht der historisch ursprüngliche Sinn dieser recht zweifelhaften Metapher ist1. Jedenfalls wäre dies keine Herabwürdigung der Philosophie. Denn auch die Mathematik "dient" ja der naturwissenschaftlichen Erkenntnis; und dadurch wird Mathematik nicht in ihrer Würde oder Selbständigkeit geschmälert. Im Gegenteil, wäre solcher Nutzen nicht vorhanden, so führte wohl die Mathematik heute eine ebensolche akademische und gesellschaftliche Randexistenz wie gegenwärtig die Philosophie. Diese besitzt ja nachweislich nicht nur akademisch, sondern auch sozial gerade dort höchste Wertschätzung, wo der Glaube blüht und Theologie bedeutsam ist. Das bezeugt nicht nur das christliche Mittelalter, sondern auch das gewissermaßen theologischste aller Zeitalter, das 17. Jahrhundert. (Fs)

32d Mag denn also Philosophie ruhig ancilla sein. Als brauchbare Dienerin wird sie sich jedoch nur erweisen können, wenn sie wirklich Philosophie ist, - und in diesem Sinne ist sie gerade wesentlich nicht ancilla, sondern jene dem Menschen eigene Öffnung auf die Wirklichkeit als ganze hin, die, um das Wort Kants zu gebrauchen, einer "Naturanlage" des Menschen entspringt. Sie ist Suche nach Erkenntnis des Ganzen als Ganzes, d. h. Suche nach Erfassung der Wirklichkeit aufgrund deren letzter und tiefstliegender Gründe und Ursachen. Als menschliches Unternehmen ist ihr das Suchen wesentlich. Mehr als Besitz von Wahrheit ist sie Liebe zur Wahrheit, weil ihr Wissen als menschliches immer bruchstückhaft bleiben muss. Zudem ist dies Wissen immer auch an die Art der eigenen Lebensführung gebunden. Erkenntnis und Interesse sind hier nicht zu trennen. Philosophie wird gerade deshalb immer auch in sich kontrovers bleiben. Das ist kein Argument gegen sie, sondern nur ein Zeichen dafür, dass sie sich wirklich mit dem Ganzen beschäftigt. Damit wird sie aber auch als akademische Disziplin zur "institutionalisierten Grundlagenkrise"2. Die Krise betrifft nicht nur "Sachfragen", sondern unmittelbar den jeweils philosophierenden Menschen in seinem existentiellen Selbstverständnis. Man denke an das Wort, das Nikias im platonischen Dialog "Laches" an Lysimachos richtet: "Du scheinst nicht zu wissen, dass, wer mit Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch mit ihm einlässt, dass der, mag auch wirklich vorher die Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben, unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche so lange herumgeführt wird, bis er sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt lebt, und wie er die verflossene Lebenszeit hingebracht hat"3. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Philosophische Ethik - Moraltheologie, Letztbegründung in Gott

Kurzinhalt: Das "Aufhängen" von Moral und menschlicher Autonomie an "Gott" als deren "Letztbegründung" erweist sich somit als Selbsttäuschung

Textausschnitt: 34a Für den Christen liegt die Versuchung nahe, auch in der Ethik davon auszugehen, dass ohne Gott nichts läuft. Er wird vielleicht glauben, nur eine "theologische Ethik" sei möglich. Mir scheint, das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Gewiss: Ohne Gott läuft überhaupt nichts. Und der Philosoph wird zu begründen wissen, weshalb das so ist, auch in der Moral. Von dem Irrtum jedoch, dass Ethik an Gott "aufgehängt" werden muss, sind auch viele gegenwärtige Moraltheologen weniger entfernt, als es zunächst scheinen mag. Wenn sie auch für Autonomie der Moral plädieren, so muss dann doch das Ganze noch in Gott letztbegründet werden, damit nicht alles im Nichts versinkt. (Fs)

34b In Wirklichkeit ist auch Moral nicht einfach "letztbegründet" an Gott "aufgehängt". Wie alles, was ist, Sterne, Planeten, Atome, Gräser, Mücken und Elefanten, so ist auch der Mensch und sein Handeln stets "in Gott" und "durch Gott". Gott tritt nicht erst am Ende in die Moral ein, sondern ist immer schon präsent. Die Frage ist nur, wie er präsent ist, und wie diese Präsenz wirksam wird. (Fs)

34c Wo Gott im sittlichen Handeln des Menschen gleichsam zum ersten Mal erscheint, ist nur schwer zu sagen. Es lässt sich höchstens rekonstruieren. Denn von Gott wissen wir zumeist schon bevor wir beginnen, sittliches Handeln zu analysieren und Ethik zu betreiben. Gotteserkenntnis ist nicht eine Leistung der praktischen Vernunft. Vielmehr haben wir in der Regel unsere ersten Gehversuche als moralische Subjekte bereits aufgrund von irgend einer Form von Einsicht in die Existenz Gottes gemacht und entsprechend deuten wir dann auch die Leistung praktischer Vernunft. Natürlich führen auch die Phänomene "praktische Vernunft" und "Moral" zur Gotteserkenntnis. Jedoch nicht als praktische Erkenntnis, sondern als eine Form von "Theoria", die im Phänomen der Moral die Spuren derjenigen Ursache entdeckt, "die alle Gott nennen"1. Das "Aufhängen" von Moral und menschlicher Autonomie an "Gott" als deren "Letztbegründung" erweist sich somit als Selbsttäuschung und oft nur zu billiger Ausweg, um das, was man zuvor nicht zu begründen vermochte, schließlich noch durch "Letztbegründung" nachzuholen2. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Julia Annas, Unterschied: klassische Tugendethik - moderne Moralphilosophie (Konsequentialismus); hierarchische Strukturierung, Vollständigkeit; basic notions - primary notions

Kurzinhalt: Zweck der Tugend ist nicht, ein tugendhaftes Subjekt mit guten Motivationen zu sein, sondern ein solches, das richtig handelt

Textausschnitt: 35d Wie Julia Annas verdienstlicherweise herausgearbeitet hat1, unterscheidet sich klassische Tugendethik methodologisch in mehrfacher Hinsicht von moderner Moralphilosophie. Gemäß weit verbreiteter heutiger Meinung, so Annas, muss eine ethische Theorie sich durch zwei Eigenschaften auszeichnen: hierarchische Strukturierung und Vollständigkeit. Mit "hierarchisch" ist gemeint, dass in einer ethischen Theorie einige Begriffe als grundlegend und alle anderen als von diesen abgleitet bzw. auf sie zurückführbar betrachtet werden. So ist die für den Konsequentialismus grundlegende Größe jene der als voraussichtliche Folge des Handeln bewirkten Zustände und Sachverhalte, aus der dann wiederum abgeleitet wird, wozu wir im Handeln verpflichtet sind: eben die Herstellung möglichst optimaler Zustände und Sachverhalte. Wer ein guter, gerechter usw. Mensch ist oder was eine "Tugend" genannt werden kann, ist ebenfalls darauf zurückzuführen, in welchem Maße diese "Tugend" geeignet ist, optimale Zustände und Sachverhalte herbeizuführen. "Tugend", "Gerechtigkeit" usw. wird also auf den Begriff der Disposition zum richtigen d. h. folgenoptimalen Handeln reduziert. Dass eine ethische Theorie "vollständig" sein solle meint hingegen, dass ihre Grundbegriffe und alle von diesen abgeleiteten Begriffe imstande sind, sämtliche moralischen Phänomene zu erklären. So wird ein Konsequentialist keine moralischen Urteile zulassen, die nicht darauf beruhen, eine Handlung oder Disposition auf Grund der dadurch bewirkten Folgen zu beurteilen. Er wird deshalb behaupten, Feigheit sei deshalb zu verurteilen, weil sich daraus schlechte Folgen ergeben, was natürlich dazu führt, dass es aufs Gleiche herauskommt zu sagen, jemand habe eine Untat aus Feigheit oder aus Ungerechtigkeit vollbracht; beides ist ja dasselbe, da seine moralische Bewertung auf Grund der dadurch bewirkten Folgen vorgenommen wird. Tapferkeit ist dann die Disposition, immer das Richtige zu tun (d. h. das, was die besten Folgen bewirkt), genau wie dies auch Gerechtigkeit oder Mäßigkeit ist. Letztlich werden alle moralischen Größen, insbesondere Tugendbegriffe, zu bloßen Namen um immer wieder dasselbe zu bezeichnen: die konsequentialistische Rationalität der Folgenoptimierung. Solche ethischen Theorien sind reduktionistisch, weil sie alles auf ein einziges Moralprinzip zurückführen. (Fs) (notabene)

36a Klassische Tugendethik ist weder auf hierarchische Strukturierung noch auf Vollständigkeit im genannten Sinn bedacht. Dasselbe läßt sich mit einer noch zu erörternden Einschränkung auch von einer in ihrer Tradition stehenden, an Thomas von Aquin orientierten rationalen Tugendethik sagen. Klassische Tugendethik beginnt nicht mit Grundbegriffen ("basic notions"), aus denen alles Nachfolgende abzuleiten bzw. auf die alles zurückzuführen ist, sondern mit ersten Begriffen ("primary notions") wie dem letzen Ziel des Handelnden, dem Streben nach Glück (als des um seiner selbst willen erstrebten Letzten) und dem Begriff der Tugend selbst (als Vorzüglichkeit dessen, der in all seinem Wählen und Tun das in Wahrheit Gute trifft). Der Begriff der "richtigen" oder "guten" Handlung ist aber von diesen ersten Begriffen nicht abgeleitet und nicht darauf zurückführbar. So verstehen z. B. alle klassischen Tugendethiken der Antike Tugend als eine Disposition, das sittlich Richtige zu tun; dennoch wird nun der Begriff des "sittlich Richtigen" nicht als das definiert, was dazu geeignet ist, eine tugendhafte Disposition oder Verfasstheit des Subjekts hervorzubringen oder zu fördern. Tugendgemäße Handlungen beziehen ihren moralischen Wert nicht daraus, dass sie dazu dienen, die Tugenden zu erwerben, sondern weil sie ermöglichen, das jeweils sittlich Richtige zu wählen; die Tugenden sind davon die habituelle Disposition. Zweck der Tugend ist nicht, ein tugendhaftes Subjekt mit guten Motivationen zu sein, sondern ein solches, das richtig handelt. Die Pointe davon, ein guter, gerechter, tapferer, maßvoller Mensch zu sein besteht darin, ein solcher zu sein, der das Gerechte, Tapfere und dem rechten Maß entsprechende liebt und es auch tut. Gerade deshalb ist die Frage so wichtig, zu was für einem Menschen wir uns machen, wenn wir dieses oder jenes wählen und tun. Eine "gerechte Handlung" wird deshalb nicht definiert als eine Handlung, durch die man ein gerechter Mensch wird (obwohl natürlich gerade jede Tugendethik dafür hält, dass wir durch gerechte Handlungen gerechte Menschen werden). Was sittlich richtig ist, muss jedoch unabhängig davon verstanden werden, denn gerechte Menschen werden wir durch das Wählen und Tun gerechter Handlungen d. h. des gemäß den Erfordernissen der Gerechtigkeit Richtigen. Erst so erkennen wir, was eine Handlungsdisposition oder affektive Verfassung des Subjekts überhaupt zu einer Tugend macht d. h. zu einer moralischen Disposition, einer Disposition zum sittlich Richtigen, und nicht nur zu irgend einer Disposition, die man zwar bewundernswert oder vorzüglich nennen könnte, die aber gar nicht unbedingt etwas mit Moralität zu tun haben muss1. (Fs)

37a Klassische Tugendethik kennt also durchaus Primärbegriffe wie Glück oder Tugend, da es ja auch in unserer sittlichen Erfahrung Primäres und Sekundäres gibt, aber es fehlt eine hierarchische Ableitungsbeziehung zwischen ihnen. Weder "Glück" noch "Tugend" sind Moralprinzipien. Deutlich wird dies gerade beim Verhältnis zwischen den Begriffen "Glück" und "richtige" bzw. "gute Handlung". Obwohl der Begriff des Glücks der Begriff des höchsten Gutes ist, kann das Richtige und Gute, durch das wir das Glück erreichen können, daraus nicht "abgeleitet" werden. Der Begriff des höchsten Gutes oder des Glücks ist auch kein Standard, auf Grund dessen Handlungen bezüglich ihres Gutseins evaluiert werden könnten (vgl. dazu unten III, 1). Damit ist eine "hierarchische" Strukturierung der Ethik (im Sinne Annas') unmöglich. Mangel an hierarchischer Strukturierung führt aber zum Mangel an entsprechender Vollständigkeit. Tugendethik kann nicht alles in Tugendbegriffen erklären. So bedarf eine Tugendethik z.B. der Ergänzung durch eine Institutionenethik, die nicht auf tugendethische Begriffe zurückführbar ist (Konsequentialisten begründen institutionenethische Aussagen hingegen zwangsläufig konsequentialistisch). Eine Tugendethik kennt durchaus auch folgenorientierte Argumente und sie wird auch für das diskursethische Konsensprinzip limitierte Anwendungen finden, dies vor allem, wenn sie sich zur politischen Ethik ausweitet. Überhaupt öffnet sich Tugendethik in pluralistischer Manier einer Vielzahl rationaler Argumentationsweisen. Auch dies ist ein durchaus aristotelisches und natürlich völlig unkartesianisches Prinzip: Die Methode hat sich nach dem Gegenstand und nicht der Gegenstand nach der Methode zu richten. Eine Tugendethik behauptet auch nicht, für alle Fälle eine Lösung bieten zu können. Grenzfälle, "boderline cases", knifflige "moralische Probleme", "quandaries" und "Dilemmata" finden aus tugendethischer Sicht nicht unbedingt eine klare "Lösung" (während es für einen Konsequentialisten immer eine präzise Lösung gibt, nämlich jene, welche voraussichtlich die besten Folgen bewirkt). Allerdings ist aus tugendethischer Sicht dennoch begründbar, warum solche moralischen Probleme aus theoretischer Sicht nicht unbedingt abschließend beurteilt zu werden vermögen. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Kontrazeptives Sexualverhalten - periodische Enthaltsamheit

Kurzinhalt: Sowohl der Vollzug von Sexualverkehr als auch der Vollzug eines Aktes der Enthaltung (der Akt des willentlichen Verzichtens auf Sexualverkehr) sind beides Akte des sexuellen Verhaltens

Textausschnitt: 83a Erst dieser dritte Schritt enthält nun das eigentliche Argument gegen Empfängnisverhütung. Um die sittliche Verkehrtheit der früher (in 1,4) beschriebenen kontrazeptiven Wahl aufzuweisen, müssen wir allerdings mit der Behandlung der periodischen Enthaltsamkeit beginnen. Das ist, wie mir scheint, ein notwendiges methodologisches Erfordernis. In sich selbst sind ja "Fehler" oder Übel jeglicher Art gar nicht als solche einsichtig, denn sie besitzen einen privativen Charakter: Sie sind Mangel eines Guten. Um den Mangel zu entdecken, müssen wir zuerst das Gute kennen, in dessen Mangel das Übel besteht. Sittliche Verfehlungen, Übel oder Laster sind nur im Licht des Guten erkennbar, dem sie jeweils entgegengesetzt sind1. So müssen wir zunächst untersuchen, was Eheleute eigentlich tun (und entsprechend wählen), wenn sie aus Gründen der Verantwortung periodische Enthaltsamkeit praktizieren. (Fs)

a) Periodische Enthaltsamkeit

83b Eheleute wählen die Praktizierung periodischer Enthaltung, um eine Empfängnis zu vermeiden; dies führt sie dazu, zu bestimmten Zeiten vom Sexualverkehr abzulassen. Sie wissen, daß in ganz bestimmten Perioden ein sexueller Verkehr wahrscheinlich zu einer Empfängnis führen könnte, in anderen Perioden jedoch nicht. Sie sind fähig (oft mit Hilfe einer angemessenen "Methode") zu unterscheiden, wann das eine oder das andere der Fall ist. Ebenfalls aber wissen sie, daß der Vollzug des ehelichen Aktes vollkommen in Ordnung ist, auch wenn er nur dazu dienen kann, gegenseitige Liebe auszudrücken, und obwohl er, aus dem oben genannten Grund, gerade nur deshalb überhaupt vollzogen wird, weil man um seine Unfruchtbarkeit weiß. Solche Eheleute werden sich deshalb von Sexualverkehr während wissentlich fruchtbaren Zeiten enthalten und sie werden nur dann Verkehr haben, wenn sie um die voraussichtliche Unfruchtbarkeit eines solchen Aktes wissen. (Fs)

84a Man beachte: Die "Methode" - sofern überhaupt eine solche verwendet wird - dient in sich selbst betrachtet überhaupt nicht dazu, eine Empfängnis zu vermeiden; ebensowenig vermag sie eine Empfängnis zu verhüten. Die "Methode" liefert einzig und allein gewisse Kenntnisse über die Fruchtbarkeitsrhythmen. Was die Empfängnis reguliert, ist der Akt der Enthaltung von wissentlich fruchtbaren Sexualakten. Sogenannte "natürliche Methoden" regulieren unabhängig von Akten der Enthaltung überhaupt nichts. Deshalb ist es völlig irreführend in vergleichender Absicht über "natürliche Methoden" und "künstliche (kontrazeptive) Methoden" zu sprechen. Beides sind zwar "Methoden", aber mit völlig verschiedener Zielsetzung, verschiedener Funktion und verschiedenem Ergebnis. Im Falle "natürlicher Methoden" ist die "Methode" selbst gar nicht wesentlich; sie kann auch fehlen. Denn sie ist einzig und allein ein Hilfsinstrument dafür, periodische Enthaltung mit einem höheren Grad an Sicherheit durchzuführen. Weder handelt es sich hier um eine (natürliche) "Methode", um eine Empfängnis zu vermeiden, noch - und dies viel weniger - um eine (natürliche) Methode der Empfängnisverhütung. Im Falle der Kontrazeption jedoch ist, wie wir noch eingehend sehen werden, die "Methode" gerade das Ganze: Sie hat hier die Aufgabe, in ausreichender Weise die Empfängnis zu regulieren, indem sie sexuelle Akte überhaupt unfruchtbar macht. (Fs)

85a Es ist nun von äußerster Wichtigkeit hervorzuheben, daß in der eben vorgelegten Beschreibung von periodischer Enthaltsamkeit nicht nur ein, sondern zwei verschiedene, wenn auch engstens aufeinander bezogene Akte des Sexualverhaltens eingeschlossen sind: Sowohl der Vollzug von Sexualverkehr als auch der Vollzug eines Aktes der Enthaltung (der Akt des willentlichen Verzichtens auf Sexualverkehr) sind beides Akte des sexuellen Verhaltens. Zudem ist der Akt des Unterlassens von Sexualverkehr ein Akt, dem eine gemeinsame Entscheidung der Eheleute zugrundeliegt: Beide sind ja hier daran beteiligt, auf den Vollzug einer Handlung zu verzichten, die voraussichtlich eine Empfängnis, die zu vermeiden sie gerade verpflichtet sind, bewirken würde. Sie verwirklichen die Intention, dies zu vermeiden, indem sie jenen Handlungsvollzug unterlassen, der voraussichtlich zu einer Empfängnis führen würde. Dieser Akt des Vermeidens durch willentliches "unterlassen von" und "verzichten auf" ist ein leiblicher Akt prokreativer Verantwortung. Er ist nicht einfach ein simples "etwas nicht tun", etwas rein "Negatives" im Sinne der bloßen "Nichtausführung einer Handlung", sondern eine spezifische Art willentlicher, gewählter leiblicher Handlung, d.h. ein dem vernunftgeleiteten Willen entspringender Akt des Sexualverhaltens. (Fs)

85b Überdies ist dieser Akt der Enthaltung von Sexualverkehr ein ehelicher Akt. In ihm finden sich die beiden Sinngehalte ehelicher Sexualität und Liebe gegenwärtig. Er ist ein Akt mit einem prokreativen Sinngehalt, denn er wird vollzogen aus Gründen prokreativer Verantwortung. Er ist - aufgrund seines intentionalen Gehaltes und deshalb objektiv - in der Tat ein leiblicher Akt prokreativer Verantwortung. Indem Eheleute auf einen voraussichtlich oder möglicherweise fruchtbaren Sexualverkehr verzichten, verhalten sie sich zu ihren sexuellen Akten, zu sich selbst und ein jeder zum anderen als zu einer möglichen Ursache neuen Lebens. Die Respektierung ihrer sexuellen Akte als einer solchen Ursache - und vorausgesetzt, sie wissen sich verpflichtet, kein weiteres Kind zu bekommen - ist genau der Grund, weshalb sie sich hier und jetzt des Sexualverkehrs enthalten. Indem sie ein solches Verhalten wählen, handeln die Ehegatten zudem als zwei Personen, die "in einem Fleisch vereint" sind: Ihr leibliches Verhalten, das prokreativ verantwortlicher Enthaltung entspringt, besitzt im eigentlichen Sinn einen ehelichen und sogar einen elterlichen Sinngehalt. Solche Enthaltungsakte sind Akte zweier sich liebender Personen, die in Akten Vernunft- oder geistdurchformter Leiblichkeit darauf aus sind, in verantwortlicher Weise den Anforderungen ihrer ehelichen und elterlichen Berufung zu entsprechen. In einem anderen Sinn als Sexualverkehr selbst sind Akte der verantwortlichen Enthaltung von ihm ein wahrer Ausdruck sowohl des prokreativen wie auch des unitiven Sinngehaltes der Sexualität in ihrer untrennbaren Verknüpfung. (Fs) (notabene)

86a Die Probleme, Lasten und Schwierigkeiten, die möglicherweise mit einer Praktizierung periodischer Enthaltsamkeit einhergehen und auf die deren Kritiker oft anspielen, müssen als jene Lasten und Schwierigkeiten angesehen werden, die nun einmal in der anforderungsreichen Aufgabe ehelichen Lebens und ihrer Erfüllung involviert sind, und nicht - wie es Kritiker normalerweise tun - als etwas, was für eheliche Liebe ein Hindernis oder Erschwernis ist. Diese Lasten und Schwierigkeiten können gerade aufgrund der Tatsache gemeistert werden, daß Enthaltung eben selbst ein Akt ehelicher Liebe ist. Die wahre Natur verantwortlicher Enthaltung schließt in sich gerade das Prinzip ein, durch welches diese Schwierigkeiten gemeistert werden können. Und dieses Prinzip heißt "eheliche Liebe", die sich gerade immer wieder im Verzichten aus Liebe und Verantwortung vertiefen muß. (Fs)

[...]

88a Die wesentliche Aussage besteht also darin, daß solche Eheleute diese prokreative Verantwortung in der Totalität leib-geistiger Liebe leben, indem sie ihr leibliches Verhalten - ihr Sexualverhalten - aus Gründen der Verantwortung modifizieren. Somit wird Sexualität, einschließlich ihrer prokreativen Dimension, voll in prokreativ verantwortliches Verhalten, in das Leben des Geistes integriert. Diese operative Integration ist nichts anderes als die oben beschriebene Tugend der Keuschheit (s. 11,2). (Fs)

88b Es scheint damit, daß Keuschheit an die Bedingung eines Sexualverkehrs gebunden ist, dessen prokreative Folgen niemals durch absichtliche Eingriffe verhindert werden. Genau das ist es, so scheint mir, was "Humanae vitae" als Vorbedingung intentionaler Art für das "per se"-Hingeordnetsein eines jeden ehelichen Aktes auf die Erzeugung neuen menschlichen Lebens festhalten möchte. Aber man beachte: Dies ist nur eine Bedingung für Keuschheit und nicht ihr Wesen. Als eine solche Bedingung wurde dies aufgewiesen durch das Vorbringen eines weiteren Argumentes, das überhaupt erst zeigt, daß es sich hier um eine Bedingung handelt. Die Respektierung der natürlichen Fruchtbarkeitsrhythmen ist weder Norm noch Begründung einer Norm, sondern sie wird - wie J. Boyle richtig gegenüber J.T. Noonan argumentiert - als moralisches Erfordernis erst sichtbar im Licht der sittlichen Norm, die selbst aber nicht schon aus der Natürlichkeit der Fruchtbarkeitsrhythmen abgeleitet werden kann1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Ethik, praktische Philosophie: das Sollen - das Gute; erste Prinzip der praktischen Vernunft

Kurzinhalt: "Was soll ich tun?"1. Diese Frage jedoch greift zu kurz; sie ist nicht die erste Frage. Vor der Frage nach dem Sollen steht die Frage nach dem Guten. "Das Gute soll man tun, das Üble soll man meiden"

Textausschnitt: 41a Ethik ist praktische Philosophie. Das heißt, Ethik reflektiert über Praxis und zielt auf Praxis. Wer Ethik betreibt, ist ein handelndes Subjekt. Und gerade insofern dieses sich selbst als handelnd weiß, entspringen jene Fragen, die wir ethische Fragen nennen. Diese Fragen zielen nicht darauf, einfach etwas zu erkennen. Sie zielen auf die Praxis selbst: Auf das "gute", "richtige" Tun. (Fs) (notabene)

41b Es gibt auch andere Erkenntnisweisen, die darauf abzielen, etwas "gut" oder "richtig" zu tun. Zum Beispiel die Harmonielehre oder die Architektur. Die Griechen nannten solches Tun techne, wir nennen es Technik und Kunst. Gewiss haben auch Technik und Kunst etwas mit Ethik zu tun. Aber als solche fragen sie nur danach, wie man "etwas Bestimmtes" gut tut, etwa wie man Musikstücke komponiert oder Häuser baut. Die eigentlich praktische Fragestellung zielt darauf, wie man als guter Mensch lebt. Sie zielt auf das Ganze des menschlichen Lebens und des Menschseins. (Fs)

41c Kant und im wesentlichen die gesamte Moralphilosophie der letzten zwei Jahrhunderte behaupteten, die der Ethik eigene Fragestellung laute: "Was soll ich tun?"1. Diese Frage jedoch greift zu kurz; sie ist nicht die erste Frage. Vor der Frage nach dem Sollen steht die Frage nach dem Guten. Man "soll" ja tun, was "gut" ist und weil es gut ist. Das Gute ist nicht gut, weil man es "soll", sondern gerade umgekehrt verhält es sich, ja muss es sich verhalten: Denn das Sollen bedarf ja eines Grundes. Er ist das, was vernünftigerweise zu erstreben ist. Deshalb beginnt die Nikomachische Ethik des Aristoteles mit dem Satz: "Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt"2. Und das erste Prinzip der praktischen Vernunft wird - darauf gründend - demnach lauten: "Das Gute soll man tun, das Üble soll man meiden"3. Am Beginn der Ethik steht somit die Frage nach dem Guten, das wir tun sollen. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Ethik: das Gute - das Richtige

Kurzinhalt: Es geht um die Frage nach jenem Guten, das sich in unserem absichtlichen, vorsätzlichen, aus freier Willensentscheidung vollzogenen Tun und Lassen realisiert ... In der Perspektive der Moral ist das Richtige immer auch das Gute

Textausschnitt: 42a Ist die Frage nach dem (sittlich) Guten nicht zu unterscheiden von der Frage nach dem (sittlich) Richtigen? Und zwar deshalb, weil wir doch oft mit guter Absicht tun, was unrichtig ist; und manchmal auch das an sich Richtige mit schlechter Absicht oder Einstellung. Und entscheidend ist doch, gut und nicht bloß richtig zu handeln? (Fs)

42b Hier stehen wir allerdings vor einem Scheinproblem. Freilich, letztlich kommt es auf den guten Willen an. In der Ethik als praktischer Philosophie wollen wir aber keine Antwort auf die Frage, ob es nun wichtiger sei, gute Absichten zu haben oder aber richtig zu handeln. Wir wollen vielmehr wissen, welche Art von Handlungen Gegenstand guter Absichten sind. Das heißt: Wir wollen gerade eine Antwort auf die Frage, wie wir handeln, was wir tun sollen. Es geht um die Frage nach jenem Guten, das sich in unserem absichtlichen, vorsätzlichen, aus freier Willensentscheidung vollzogenen Tun und Lassen realisiert. Und dabei fallen das Richtige und das Gute in eins. Da es natürlich vorkommt, dass wir mit bester Absicht auch manchmal Unrichtiges tun, so bedeutet dies nur, dass wir mit guter Absicht eben auch zuweilen Schlechtes tun, und zwar weil wir fälschlicherweise meinen, was wir tun, sei gut. (Fs)

42c Nur im Bereich des technischen oder Kunsthandelns hat die Unterscheidung von "richtig" und "gut" einen Sinn. Da kann manches technisch richtig getan werden, was dennoch im sittlichen Sinne schlecht ist. So sagen wir beispielsweise: "Es war nicht gut, dass er diese Operation ohne ihre Einwilligung vornahm", obwohl er die Operation natürlich im technischen Sinne richtig ausführte. Die ethische Frage jedoch will uns über jenes Gute aufklären, dass unser Handeln in Bezug auf das Ganze des Lebens richtig macht. Und dieses "Richtige" nennen wir, sofern wir uns in der Perspektive der Moral bewegen, eben gerade das (sittlich) Gute. Und so können wir dann, in der Perspektive der Moral, ebenso sagen: "Es war nicht richtig, dass er diese Operation ohne ihre Einwilligung durchführte", wohlverstanden auch wenn er es mit guter Absicht tat. (Fs)

42d In der Perspektive der Moral ist das Richtige immer auch das Gute. Denn in moralischer Perspektive betrachten wir Handlungen, insofern wir sie als Handlungen eines Menschen und nicht nur als die eines Arztes, Unternehmers, Architekten usw. betrachten1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Kontrazeptives Sexualverhalten; gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung; physiologische Struktur des Aktvollzuges -> naturalistisches Argument

Kurzinhalt: Was gerade nicht modifiziert zu werden braucht, ist das sinnliche Begehren, der Trieb und die daraus entspringenden Handlungen ... Zusammenfassend: Kontrazeptives Sexualverhalten macht sexuelle Akte grundsätzlich zu Akten ohne prokreative Folgen

Textausschnitt: 88c Betrachten wir nun das kontrazeptive Verhalten. Empfängnisverhütung heißt, daß zum Zweck der Vermeidung einer Empfängnis das Sexualverhalten nicht modifiziert zu werden braucht. Freilich, etwas muß auch hier im Verhalten modifiziert werden. Es bedarf - zumindest seitens eines der beiden Ehepartner - einer gewissen Disziplin, z.B. in der regelmäßigen Einnahme von pharmazeutischen Präparaten gemäß ärztlicher Verordnung (aber auch das ist nebensächlich, wie der Fall der Sterilisierung oder von Intrauterinpessaren zeigt). In jedem Fall: Was gerade nicht modifiziert zu werden braucht, ist das sinnliche Begehren, der Trieb und die daraus entspringenden Handlungen (was selbstverständlich gerade auch die Pointe des onanistischen Orgasmus durch coitus interruptus ist). (Fs)

89a Während das zuerst betrachtete Ehepaar die Wahl vollzog, durch leibliche Akte verantwortlicher Enthaltung den Vollzug voraussichtlich prokreativ folgenreicher Sexualakte zu vermeiden, so heißt Kontrazeption einen Akt wählen, der solche möglichen prokreativen Folgen eines Sexualverkehrs verhindert. Auf der Ebene des Vollzugs sexueller Akte jedoch modifizieren diese Eheleute überhaupt nichts. Was sie tun, ist, diese Akte daran zu hindern, fruchtbar sein zu können (sie verhüten eine Empfängnis) und machen so eine verantwortliche Modifizierung ihres Sexualverhaltens gerade überflüssig. Im Unterschied zu periodischer Enthaltung ist dieser Akt, durch den die Zeugungsfolgen eines ansonsten unmodifizierten Sexualverhaltens verhindert werden, selbst kein sexueller Akt. Er ist ausschließlich eine "Methode", deren Anwendung sich lediglich auf sexuelle Akte bezieht, indem sie deren prokreativen Folgen verhütet. (Fs) (notabene)

89b Das zeigt nun ganz deutlich, daß der kontrazeptive Akt nicht aufgrund seines "unnatürlichen" Charakters problematisch ist (im Sinne z.B. der Verhinderung des natürlichen Ovulations- oder Befruchtungsprozesses durch "künstliche" Eingriffe, was ja auf den Fall des coitus interruptus nicht zutrifft). Vielmehr ist hier - zum Unterschied von anderen Arten künstlicher Eingriffe - das Unnatürliche oder Künstliche (sofern wirklich vorhanden) überhaupt deshalb erst problematisch, weil die Verhaltensweise, die damit verbunden ist, sittlich verkehrt ist. Diese Verkehrtheit der Kontrazeption besteht genau darin, daß sie ein bestimmtes, von prokreativer Verantwortung informiertes Sexualverhalten einfach unnötig und überflüssig macht. Zudem involviert sie eine Entscheidung gegen tugendgemäße "Selbststeuerung" des Triebes durch Enthaltung. (Fs)

90a Der kontrazeptive Akt prokreativer Verantwortung ist nichts als ein Akt des Willens, der Sexualität und den Leib als reines Objekt behandelt, in bezug auf das eine Maßnahme ergriffen wird (ähnlich wie man eine kranke Leber, ein krankes Herz oder einen kranken Verdauungsapparat "behandelt"). Folglich wird hier das Sexualverhalten aus seiner Durchformung durch Verantwortlichkeit hinsichtlich seiner Eigenschaft, Ursache neuen Lebens zu sein, herausgelöst. Es wird seiner Aufgabe entzogen, selbst Subjekt und Prinzip solcher Akte der Verantwortung und einer prokreativ verantwortlichen ehelichen Liebe zu sein. Die prokreative Verantwortlichkeit vollzogener sexueller Akte selbst wird eliminiert und negiert. Sexuelle Akte werden ja einfach generell daran gehindert, überhaupt Ursache neuen menschlichen Lebens sein zu können; die sexuelle Akte vollziehende Person handelt deshalb auch nicht mehr als eine solche Ursache. Es ist nicht einmal mehr nötig - vor allem im Falle der Sterilisierung - überhaupt weiterhin an prokreative Verantwortung zu denken. Die prokreative Dimension ehelicher Liebe wird gerade auf der Ebene ihres leiblichen Ausdrucks vollständig zum Verschwinden gebracht. Zurück bleibt - abgesehen von der in unserem Fall ja an sich richtigen Absicht, aus Gründen der Verantwortung eine Empfängnis zu vermeiden - der Anspruch, in solchen Akten kontrazeptiven Sexualverkehrs eheliche Liebe zum Ausdruck zu bringen; aber diese Liebe bzw. die leiblichen Ausdrucksakte dieser Liebe haben nun durch das Ausschließen der prokreativen Dimension ihren Sinngehalt völlig verändert. Sie können gar nicht Ausdruck ehelicher Liebe sein, denn eheliche Liebe ist ja eine Liebe zwischen zwei Personen, die sich zum Dienst an der Weitergabe menschlichen Lebens in einer Lebensgemeinschaft verbunden haben1. Somit wurde die Verknüpfung der beiden Sinngehalte des ehelichen Aktes objektiv zerrissen, und zwar genau auf der Ebene intentionaler Handlungen, auf der Ebene des konkreten Sexualverhaltens, das aus freiem Willen gewählt wurde, das heißt auf der Ebene einzelner Akte des kontrazeptiven Sexualverkehrs. (Fs)

91a Zusammenfassend: Kontrazeptives Sexualverhalten macht sexuelle Akte grundsätzlich zu Akten ohne prokreative Folgen. Akte, deren vorausgesehene prokreative Folgen intentional - absichtlich - verhindert wurden, können nicht mehr als Akte des Typs "generative Akte" und damit auch nicht als prokreativ verantwortliche Akte vollzogen werden1. Zumindest aus Gründen prokreativer Verantwortung bedürfen solche Akte keiner Beherrschung durch Vernunft und Willen mehr. Somit verlieren sexuelle Akte objektiv ihren Charakter als menschliche Handlungen des Typs "prokreativ verantwortliche Sexualakte", während Akte periodischer Enthaltung und des in diesem Kontext stehenden Sexualverkehrs voll und ganz diesen Charakter bewahren2. (Fs)

91b Deshalb können wir außerdem sagen: Insofern - und nur insofern - die kontrazeptive Wahl die intentionale Zurückweisung prokreativer Verantwortung für das eigene Sexualverhalten impliziert, impliziert sie auch einen anti-prokreativen, gegen Fortpflanzung gerichteten Willen. Aber es ist nun spezifisch dem Menschen eigen, seinen Sexualtrieb und die daraus entspringenden Akte in die Strukturen der Verantwortlichkeit und damit in das Leben des Geistes zu integrieren. Empfängnisverhütung zerstört deshalb den eigentümlichen Weg, auf dem menschliche Sexualität dazu berufen ist, Bestandteil verantwortlichen menschlichen Verhaltens zu sein. Anstatt der Anforderung zu entsprechen, jene Akte, die wesentlich Ursachen der Weitergabe menschlichen Lebens sind, verantwortlich zu vollziehen, treffen empfängnisverhütende Eheleute eine Maßnahme, durch die ihre sexuellen Akte und damit sie selbst die Eigenschaft verlieren, eine solche Ursache zu sein, bezüglich deren Folgen ein verantwortliches Verhalten erforderlich ist. Dies ist ein grundsätzlicher Angriff sowohl auf die Integrität der menschlichen Person als leib-geistige Einheit, wie auch auf eheliche Liebe als Ausdruck dieser Einheit. (Fs)

92a Um es deshalb nochmals zu sagen: Kontrazeptiver Sexualverkehr ist kein Ausdruck ehelicher Liebe. In sich selbst betrachtet, d.h. in seiner intentionalen Objektstruktur und als ein bestimmter Typ menschlicher Handlung unterscheidet er sich (abgesehen von eher aesthetischen Gesichtspunkten) in nichts von anderen, nun gerade auch für nicht-eheliches Sexualverhalten charakteristische Formen sexueller Aktivität, wie etwa "Petting" (gegenseitige sexuelle Reizung bis zum Orgasmus) oder Sodomie (Anal- und Oralsex). Denn es "kann ja nicht das bloße Muster des leiblichen Verhaltens sein, durch welches die Stimulierung erhalten wird, das hier den entscheidenden Unterschied auszumachen vermöchte!"1 In der Tat hat bei kontrazeptivem Sexualverkehr nur noch das physiologische, rein äußerliche Verhaltensmuster etwas mit einem prokreativen Akt-Typ gemeinsam; in Wirklichkeit jedoch ist er funktional äquivalent zu und ersetzbar durch irgendwelche andere physiologischen Muster sexueller Stimulierung. Wohlverstanden schließt diese Feststellung als solche noch kein Urteil über diese Art von Sexualverhalten ein. Sie dient nur dem Hinweis, daß es - was die intentionale Handlungsstruktur auf der Ebene des "Objektes" betrifft - einfach keinen ersichtlichen Grund gibt, kontrazeptiven Sexualverkehr von irgendwelchen anderen Formen gegenseitiger sexueller Stimulierung und Befriedigung zu unterscheiden, vorausgesetzt, diese verstehen sich (subjektiv) als Formen des Ausdrucks gegenseitiger Liebe. Falls man jedoch behaupten würde, alle diese Verhaltensweisen seien tatsächlich und objektiv mögliche Ausdrucksformen personaler Liebe, so dürfte es dann auch schwierig sein, noch ein entscheidendes Argument gegen Sexualverkehr zwischen Gleichgeschlechtlichen vorbringen zu können, vorausgesetzt man behaupte gleichzeitig, es bestehe zwischen ihnen eine personale Liebesbeziehung82. (Fs) (notabene)

93a Das vorliegende Argumentationsziel ist jedoch erreicht mit dem Nachweis, daß kontrazeptiver Sexualverkehr keine menschliche Handlung des Typs "Zeugungsakt" ist und er deshalb als äquivalent zu irgendwelchen Formen gegenseitiger sexueller Stimulierung betrachtet werden kann. Denn niemand - vorausgesetzt er besitzt die elementarsten Kenntnisse über menschliche Fortpflanzung - wird ja wohl behaupten wollen, Petting, Anal- oder Oralsex könne Ausdruck der Verknüpfung von unitivem und prokreativem Sinngehalt ehelicher Sexualität sein. Wer dennoch einen entscheidenden Unterschied zwischen diesen Formen sexueller Betätigung und kontrazeptivem (vaginalen) Sexualverkehr festhalten möchte, der muß sich bewußt sein, was er damit sagt: Er behauptete dann nämlich, die rein physiologische Struktur des Aktvollzuges mache den entscheidenden Unterschied aus. Dies wäre nun aber ein vollkommen naturalistisches Argument, es sei denn, man wolle damit auf Unterschiede hinweisen, die man geläufigerweise eher in Erotik-Handbüchern zur Sprache bringt. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Humanae vitae; "sicherer" Weg; Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (Nr. 51)

Kurzinhalt: Objektiv jedoch, was das frei gewählte Sexualverhalten betrifft ... ist Enthaltung und damit verantwortliche Modifizierung des Sexualverhaltens ebenfalls ausgeschlossen

Textausschnitt: c) Einige Präzisierungen und Rechtfertigungen aus der Perspektive von "Humanae vitae"

93b Was bisher gezeigt wurde ist, daß die kontrazeptive Wahl im eigendtlichen Sinne die Bereitschaft ausschließt, das eigene Sexualverhalten aus Gründen der Verantwortung zu modifizieren. Deshalb ist kontrazeptiver Sexualverkehr ein Akt, der aus der Logik der Wahrnehmung von Elternschaft herausgelöst ist. Er ist intentional (und d.h. auch objektiv und "per se") nicht mehr auf die Erzeugung neuen menschlichen Lebens hingeordnet, was man hingegen von Akten des wissentlich unfruchtbaren Sexualverkehrs im Kontext der Praktizierung periodischer Enthaltung gerade nicht sagen kann. Deshalb besitzen beide Verhaltensweisen, was ihren Bezug auf die Entstehung neuen menschlichen Lebens betrifft, eine völlig verschiedene intentionale Struktur. Kontrazeptives Sexualverhalten ist präzis in dem Sinne auch "anti-life", daß es das eigene Sexualverhalten als Bestandteil einer auf die Aufgabe der Weitergabe menschlichen Lebens bezogenen Verantwortung negiert. (Fs)

94a Dies mag weniger offensichtlich sein in dem eher besonderen, aber theoretisch möglichen Fall, in dem Empfängnisverhütung explizit und ausschließlich nur deshalb gewählt wird, um einen sichereren Weg zur Vermeidung einer Schwangerschaft einzuschlagen (obwohl freilich die Meinung, Kontrazeption sei "sicherer" zumeist mangelnder Information auch darüber entspringt, daß die wirklich "sicheren" Mittel, eingeschlossen wahrscheinlich die Intrauterinpessare, alle zugleich abortiv, weil, nach bereits erfolgter Empfängnis, nidationshemmend wirken können). (Fs)

94b Dennoch würde man sich auch in diesem Fall gegen Enthaltung, d.h. Modifizierung des Sexualverhaltens entscheiden, wenn auch nicht mit der Intentionalität, der möglichen "Bürde" der zeitweisen Enthaltsamkeit aus dem Weg zu gehen, sondern eben nur aus Gründen der Sicherheit. Objektiv jedoch, was das frei gewählte Sexualverhalten betrifft - und damit auf dieser Ebene auch intentional - ist Enthaltung und damit verantwortliche Modifizierung des Sexualverhaltens ebenfalls ausgeschlossen. (Fs)

94c Es mag natürlich sein, daß man sich solche Überlegungen gar nicht macht, daß man tut, was alle tun oder was der Vertrauensarzt rät, oder vielleicht, daß man einen dermaßen geringen Grad an Bewußtheit der Notwendigkeit einer Integration der eigenen Leiblichkeit in den Kontext verantwortlichen Verhaltens besitzt, daß man nicht von einer wirklichen Wahl gegen das Erfordernis der verantwortlichen Modifizierung des eigenen Sexualverhaltens sprechen kann. Dennoch besäße aber dieses Verhalten eben sämtliche oben beschriebenen Eigenschaften kontrazeptiven Sexualverhaltens. Unwissenheit und Irrtum, ob verschuldet oder unverschuldet, lassen ja eine falsche Handlungsweise nie zu einer richtigen werden. Und die kontrazeptive Wahl ist auf keinen Fall eine richtige Wahl. Auch gute (weitere) Absichten rechtfertigen nie sittlich falsche Mittel. Ob eine Handlung, die in sich einen eigenen sittlichen Gehalt und entsprechende Bedeutsamkeit besitzt (die also nicht ihrer Spezies gemäß indifferent ist) ein sittlich richtiges Mittel ist, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, das muß unabhängig von diesen weiteren Intentionen ausgemacht werden, so gut und gerechtfertigt diese auch sein mögen. (Fs)

95a Diese Sicht der Dinge scheint nun in voller Übereinstimmung mit dem in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (Nr. 51) des II. Vaticanums angeführten Kriterium zu stehen, das zur Beurteilung wahrer verantwortlicher Elternschaft anzuwenden sei: [...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Humanae vitae; locus classicus: naturalistische Perspektive; Tugend der Keuschheit

Kurzinhalt: Vielmehr ist die Frage zu stellen: "Was ist falsch an einer Wahrnehmung prokreativer Verantwortung, durch die die Modifizierung des eigenen Sexualverhaltens überflüssig, ja geradezu sinnlos wird?"

Textausschnitt: 95b Es scheint nicht übertrieben zu sagen, daß das soeben Ausgeführte in allen Punkten durch dieses Kriterium bestätigt und geradezu zusammengefaßt wird. Wir können jetzt auch eine oft, wie bereits angedeutet, nur unvollständig oder gänzlich übersehene Passage aus "Humanae vitae", den letzten Abschnitt von Nr. 16, adäquat einordnen. Dort heißt es (gemäß dem Wortlaut der offiziellen deutschen Übersetzung), periodische Enthaltung und Empfängnisverhütung seien zwei grundlegend verschiedene Verhaltensweisen1. Die deutsche Übersetzung trifft hier den Nagel auf den Kopf. Nun scheint jedoch bei erstem Hinsehen die Begründung dieser Aussage ziemlich enttäuschend und simpel zu sein (und als solche wird sie dann auch zumeist zitiert): "Bei der ersten machen die Eheleute von einer naturgegebenen Möglichkeit rechtmäßig Gebrauch; bei der anderen dagegen hindern sie den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf."

96a Diese Worte sind zum locus classicus für den Beweis der "naturalistischen" Perspektive von "Humanae vitae" geworden. Es scheint tatsächlich, daß der hier angegebene Grund für die Verkehrtheit der Empfängnisverhütung einfach ihr unnatürlicher Charakter ist, ihr Mangel an Respektierung natürlicherweise vorgegebener Strukturen. Nun ist aber der zitierte Satz, gemäß dem Wortlaut der Enzyklika, keineswegs bereits als ein sittliches Urteil gemeint, sondern lediglich als eine Beschreibung der zwei verschiedenen Verhaltensweisen, über die nun ein sittliches Urteil erst gefällt werden muß. Der Text läuft ja weiter, und die Begründung eines entsprechenden sittlichen Urteils (und damit die Angabe des entscheidenden intentionalen Gehaltes der beschriebenen Verhaltensweisen) folgt erst in den beiden nächsten Sätzen (die nun aber kaum je zitiert werden): Der Grund dafür, daß die Beschränkung des Sexualverkehrs auf unfruchtbare Perioden eine gänzlich andere Verhaltensweise ist, besteht gemäß der Enzyklika darin, daß in diesem Fall, und nur in diesem Fall, die Eheleute während fruchtbarer Perioden Akte der Enthaltung vom Sexualverkehr vollziehen. Der ganze Text sei nachfolgend im Zusammenhang zitiert (die Hervorhebungen finden sich nicht im Original):

Tatsächlich handelt es sich um zwei ganz verschiedene Verhaltensweisen. Bei der ersten machen die Eheleute von einer naturgegebenen Möglichkeit rechtmäßig Gebrauch; bei der anderen dagegen hindern sie den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf. Zweifellos sind in beiden Fällen die Gatten sich einig, daß sie aus guten Gründen Kinder vermeiden wollen, und dabei möchten sie auch sicher sein. Jedoch ist zu bemerken, daß nur im ersten Fall die Gatten sich in fruchtbaren Zeiten des ehelichen Verkehrs enthalten können, wenn aus berechtigten Gründen keine weiteren Kinder mehr wünschenswert sind. In den empfängnisfreien Zeiten aber vollziehen sie dann den ehelichen Verkehr zur Bezeugung der gegenseitigen Liebe und zur Wahrung der versprochenen Treue. Wenn die Eheleute sich so verhalten, geben sie wirklich ein Zeugnis der rechten Liebe. (Fs)

97a Die sittlich relevante Verschiedenheit der Verhaltensweisen beruht demnach - diesem Text gemäß - nicht darin, daß die Zeitwahl im Unterschied zur Kontrazeption mit den naturgegebenen biologischen Rhythmen in Übereinstimmung steht (obwohl die Verhaltensweise äußerlich dadurch beschrieben werden kann). Die moralisch relevante Verschiedenheit und damit dann auch das sittliche Urteil über den Unterschied zwischen einer die natürlichen Rhythmen berücksichtigenden Zeitwahl und Kontrazeption ergibt sich erst aus der Tatsache, "daß nur im ersten Fall die Gatten sich in fruchtbaren Zeiten des ehelichen Verkehrs enthalten können" ("se ... abstinere valeant"). Diese Notwendigkeit und die entsprechende Bereitschaft, sich aus Gründen der Verantwortung zu bestimmten Zeiten des Sexualverkehrs zu enthalten, impliziert nun eben die Wahl, das eigene Sexualverhalten gemäß den Erfordernissen von Verantwortung zu modifizieren; sie bezieht sich auf eine grundlegende und hier gerade entscheidende Disposition. (Fs)

97b Somit scheint also "Humanae vitae" anzunehmen: Um zu entdecken, was an Empfängnisverhütung ("den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf hindern") falsch ist, darf man sich nicht auf Fragen der Art fixieren: "Was ist falsch daran, den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf zu hindern?" Vielmehr ist die Frage zu stellen: "Was ist falsch an einer Wahrnehmung prokreativer Verantwortung, durch die die Modifizierung des eigenen Sexualverhaltens überflüssig, ja geradezu sinnlos wird?" Oder anders gesagt: "Was ist falsch an einer mit dem Ziel der Vermeidung einer Schwangerschaft getroffenen Wahl, die gleichzeitig die Wahl, das eigene leibliche Verhalten zu modifizieren, ausschließt?" Denn genau das ist ja der springende Punkt der Empfängnisverhütung. Erst im Lichte solcher Fragen zeigt sich der Versuch, durch die Verhinderung einer Empfängnis naturgegebene Prozesse an ihrem natürlichen Ablauf zu hindern, als ein ethisches Problem. Solange nicht gesehen wird, daß Empfängnisverhütung tugendgemäßer, der leib-geistigen Konstitution menschlicher Personalität entsprechender Wahrnehmung prokreativer Verantwortung widerspricht, wird man nie in der Lage sein, zu begründen, weshalb denn der Akt einer Verhütung von Empfängnis in sich sittlich verkehrt ist1. (Fs) (notabene)

98a Diese prinzipielle sittliche Verkehrtheit besteht also in der Herauslösung des Leibes und seiner prokreativen Akte aus dem Kontext der Verantwortung, indem man ihn einfach als ein "zu regulierendes Objekt" behandelt, anstatt ihn in die Struktur menschlicher Handlung als Teil des "regulierenden Handlungsssubjekts" zu integrieren und ihn damit zum Prinzip menschlicher Handlungen werden zu lassen. Damit wird - durch eine ganz bestimmte Art von Verhalten und in einzelnen konkreten Akten - die innerste Wahrheit der menschlichen Person als Wesenseinheit von Leib und Geist, von Natur und Freiheit, sowie die leib-geistige Einheit ehelicher Liebe in ihrer Integrität angegriffen: Kontrazeptiver Sexualverkehr ist, als intentionale Handlung betrachtet, schlicht ein anderer Typ von Sexualakt als Sexualverkehr im Kontext periodischer Enthaltung. (Fs)

98b Wie ich gezeigt habe, ist dieser Versuch, die Sexualität aus dem Kontext prokreativer Verantwortung herauszulösen, gleichbedeutend mit einer gegen die Tugend der Keuschheit gerichteten Handlungsweise; Keuschheit impliziert ja eine der Tugend gemäße Beherrschung des Triebes. Dies ist, wie mir scheint, tatsächlich die eigentlich grundlegende Perspektive der Lehre von "Humanae vitae"; sie ist bereits in Nr. 2 angekündigt und wird schließlich in Nr. 21 ausdrücklich bestätigt: [...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Kontrazeptives Verhlaten -> desintegrierte Sexualität; Ausdruckshandlung; Heteronomie der Sinnlichkeit

Kurzinhalt: Gemäß heutigen anthropologischen Erkenntnissen wissen wir, daß der Sexualtrieb allein noch keine Paarbindung herstellt. Die ihm naturhaft eigene Dynamik ist nun einmal jene der Selbst-Befriedigung

Textausschnitt: 103a Es ist zu betonen: Die Folgen können sehr verschieden sein; was hier konkret eintritt und in welchem Grad es geschieht, das hängt sehr stark von weiteren, kontingenten Faktoren (Charakter, Lebens-umstände, Triebkonstitution usw.) ab, die der Kontrazeption als solche äußerlich sind. Jedenfalls hat sich durch die Anwendung der Empfängnisverhütung etwas objektiv Entscheidendes ereignet: Die Aktivierung eines Prinzips der Desintegrierung der Sexualität aus dem Kontext ehelicher Liebe und damit eine Gefährdung dieser Liebe selbst. Dieses Desintegrierungsprinzip beruht auf der Eigenart des sinnlichen Begehrens, das aufgrund der ihm eigenen Natur - d.h. als sinnlicher Trieb - ausschließlich auf aktuelle Erfüllung und Selbst-Befriedigung zu tendieren vermag. Im Falle der Tiere wird diese naturale Selbstbezogenheit des Sexualtriebes ja durch eine perfekte Triebsteuerung aufgrund von Instinkten kompensiert, so daß die jeweils zweckmässige Paarbindung und ausreichende Nachkommenschaft gesichert sind. Gemäß heutigen anthropologischen Erkenntnissen wissen wir, daß der Sexualtrieb allein noch keine Paarbindung herstellt. Die ihm naturhaft eigene Dynamik ist nun einmal jene der Selbst-Befriedigung. (Fs)

104a Auch wenn wir vom Sexualakt als einem Akt sprechen, der personale Liebe zum Ausdruck bringen und diese vertiefen und nähren kann und soll, so dürfen wir doch nie vergessen, daß er in seiner naturalen Struktur die mit intensivster Lust verbundene Befriedigung eines Triebes ist. Der Beischlaf ist nicht einfach eine Geste der Zärtlichkeit wie z.B. das Küssen. Ein Kuß entspringt als solcher keinem Trieb und er hat keine naturgegebene "Funktion" (auch wenn man ihn, in bestimmten Zusammenhängen, als sublimierten Trieb bzw. als sexuell bedeutsamen Akt verstehen kann und er entsprechend eine spontane Handlung ist; aber die Sublimierung selbst entspringt eben gerade nicht einem Trieb). "Küssen" ist ganz einfach eine Ausdruckshandlung. Dieser und ähnliche Erweise von Zärtlichkeit und Zuneigung sind jeweils genau das und nur das, was sie ausdrücken. Der verräterische Judaskuß war nun einmal etwas gänzlich anderes als die Küsse, mit denen die Sünderin die Füße Jesu bedeckte. Und Küsse unter Verliebten oder Eheleuten sind wiederum Ausdruck spezifisch anderer Intentionen vmd Affekte. Der Sexualakt jedoch ist nicht einfach, was er aufgrund des menschlichen Willens auszudrücken intendiert. Er ist Erfüllung, Zu-Ende-kommen eines Triebes, der in sich bereits, ganz unabhängig von anderen Ausdrucksgehalten und vom menschlichen Willen, eine eigene, naturgegebene Dynamik und Funktion besitzt. Das Triebgeschehen besitzt seine Eigendynamik ganz unabhängig davon, was man nun weiterhin mit ihm ausdrücken will. Und diese Dynamik ist eine durch und durch sinnliche Dynamik, die in sich und an sich nichts mit personaler Liebe zu tun hat, obwohl sie als in den Kontext der leib-geistig konstituierten Person integrierte Dynamik auf die Erwirkung eines menschlichen Gutes zielt: Die Entstehung neuen menschlichen Lebens1. (Fs)

105a Menschliche Sexualität ist nun aber nicht instinktgesteuert. Der Mensch ist, im Gegensatz zum Tier, ausgesprochen instinktarm. Dafür allerdings besitzt er Vernunft und freien Willen. Dieser personalen Ebene entspringt ja, was wir "geistige Liebe" zwischen Personen nannten. Nun sind aber die Logik der geistigen Liebe und die Logik des sinnlichen Strebens völlig verschieden. Sexualität bedarf der operativen Integration in die "Logik des Geistes". Erst so vermag sie, unbeschadet ihres Triebcharakters, ein spezifisch menschlicher und als solcher auch leiblicher Ausdruck geistiger Liebe zu werden, und nur dann auch wird sie - einschließlich die Lustkomponente - ihren Beitrag zur Förderung einer Gemeinschaft von Personen leisten können. (Fs)

106a Es wurde gezeigt, daß kontrazeptive Sexualität eine Form von Sexualität ist, in der das Triebgeschehen gleichsam entfunktionalisiert wird. Der Sinngehalt "Hinordnung auf Erzeugung menschliches Leben" findet sich in ihr nicht mehr. Das verändert jedoch den Trieb als solchen in keiner Weise. Die Triebdynamik und ihre Lustfunktion bleiben unangetastet. Entscheidend ist hier folgende Feststellung: Der Trieb bleibt naturale Gegebenheit, er besitzt aber infolge Kontrazeption keine ebenso durch Natur, unabhängig vom Willen des Menschen gegebene Funktion und deshalb auch keinerlei vorgegebenen Sinngehalt mehr. Der Trieb, der Bestandteil personaler Subjektivität, des "Ich" der Person ist, wird zum reinen naturalen Geschehen, dessen einziger fortan als positiv erlebbarer Gehalt die Lustkomponente ist. Wir können dies "desintegrierte Sexualität" nennen1. Der Sexualakt muß nun - will man nicht Lustgewinn allein als sinnvolles Handlungsziel behaupten - als reine "Ausdruckshandlung" wie das Küssen verstanden werden, als eine Liebesgeste, die allein das zu sein beansprucht, was sie auszudrücken intendiert. Sie bleibt jedoch notwendigerweise eine inadäquate Ausdruckshandlung, ganz einfach weil sie triebgebunden ist. Sie ist als reine Ausdruckshandlung verstanden eine Selbsttäuschung, denn Ausdruckshandlungen besitzen die Eigenschaft, daß sie funktionale Äquivalente besitzen; die in ihnen enthaltenen Ausdrucksqualitäten können prinzipiell auch durch andere Ausdrucksmedien - vornehmlich durch sprachliche Zeichen - mitgeteilt werden2. Die Triebgebundenheit von Sexualakten läßt dies jedoch nicht zu, denn dem Trieb geht es immer um die Befriedigung des Triebes; er läßt sich nicht durch anderes "ersetzen". Und ein Sexualakt ist von Natur aus und an seiner Basis immer schon mehr als Ausdruckshandlung, nämlich Triebgeschehen und reine Sinnlichkeit. Aus ihrer naturalen Funktionalität und entsprechender Sinnhaftigkeit desintegrierte Sexualität läßt sich nicht durch den bloßen Willen des Menschen für Ausdruckshandlungen funktionalisieren. Sie muß mit solchen Ausdrucksintentionen notwendigerweise in Konkurrenz treten, weil sie vor aller solchen Intention und unabhängig von ihr als Trieb ihre eigene Dynamik besitzt und beibehält. (Fs)

108a Ich bin mir freilich bewußt, daß eine solche Charakterisierung kontrazeptiven Sexualverkehrs bedeutet, ein Risiko einzugehen; es ist das gewöhnliche Risiko, mißverstanden zu werden. Gemeint ist ja nicht, daß die Absicht, mit der empfängnisverhütende Maßnahmen treffende Eheleute Sexualverkehr vollziehen, auf reine Triebbefriedigung gerichtet ist; ich unterstelle das Gegenteil. Die kontrazeptivem Sexualverkehr zugrundeliegende Desintegrierung der Sexualität bezieht sich nicht auf solche Absichten. Es ist unterstellt, daß diese Eheleute sich wirklich lieben und durchaus einen Akt vollziehen wollen, um sich diese gegenseitige Liebe auszudrücken. Und daß sie, zweitens, diesen Akt auch nur deshalb vollziehen, weil sie sich tatsächlich lieben. Die Tatsache des kontrazeptiven Eingriffs allein ändert ja noch nichts daran, daß die zwischen beiden Ehepartnern bestehende personale Liebe auf leibliche Vereinigung drängt und darin ihre Erfüllung findet. Das obige Urteil bezieht sich, wie immer, auf die innere Struktur der Handlungsweise selbst. Und die These ist: Trotz aller guten Absichten können solche Eheleute nicht jene eheliche Liebe ausdrücken, die sie eigentlich ausdrücken wollen, ganz einfach deshalb, weil es unmöglich ist, personale Liebe in Akten des Sexualtriebes als solchem zum Ausdruck zu bringen. Zwischen beiden, der Ebene personaler Liebe und derjenigen des leiblichen Tuns im Sexualakt, besteht hier eine Kluft. Und deshalb tendiert hier Sexualität als desintegrierter Trieb darauf, die dem sinnlichen Begehren eigene Dynamik zu entwickeln, die derjenigen personaler Liebe als Selbsthingabe an den anderen entgegenläuft93. (Fs)

Fußnote 93:

93 Man könnte an dieser Stelle einwenden, hier werde dem Dualismus nun durch die Hintertür wieder Einlaß gegeben, es werde ein dualistischer Widerstreit zwischen "Trieb" und "Geist" (als Sitz personaler Liebe) oder ein Dualismus von "egoistischem" Leib und "altruistischem" Geist angenommen. Doch handelt es sich nicht um eine dualistische Betrachtungsweise, weil hier von "Trieb" ja nur in abstrakter Weise gesprochen wird. Die These ist gerade: Der Trieb als solcher ist zwar selbstbezogen; es "gibt" ihn aber als solchen gar nicht. Denn in Wirklichkeit ist der menschliche Sexualtrieb integraler Bestandteil leib-geistiger Einheit. Der Trieb manifestiert seine spezifisch humane Dimension gerade innerhalb dieser Einheit, die allerdings durch Handeln zerstört - desintegriert - werden kann. In dieser operativ verursachten Desintegration erst ist der Trieb "selbstbezogen", -und gerade deshalb auch nicht mehr "menschlich". Dies setzt eben gerade eine nicht-dualistische Sicht des Verhältnisses Leib-Geist voraus, d.h. die Ansicht: Der Geist "drückt" sich nicht einfach im Leib oder durch die Materie "aus", sondern er wird überhaupt erst durch ihn und in Verbindung mit ihm zu einem menschlichen Handlungssubjekt; ohne Sexualtrieb gäbe es gar keine - auch keine geistige - Liebe zwischen Mann und Frau, die sich spezifisch von anderen Formen zwischenmenschlicher Liebe unterschiede.

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Porkreative Verantwortung - Sterilität, Unfruchtbarkeit

Kurzinhalt: Wie steht es denn im Falle pathologischer oder altersbedingter Sterilität?

Textausschnitt: 111a Man wird sich vielleicht fragen: Wie steht es denn im Falle pathologischer oder altersbedingter Sterilität? Die Frage läßt sich lösen, wenn wir uns daran zurückerinnern, daß der prokreative Sinngehalt der Sexualität nicht an ihre effektive, biologisch-physiologische Fruchtbarkeit gebunden ist, sondern einzig und allein auf dem intentionalen ("per se") Hingeordnetsein sexueller Akte auf die Erzeugung neuen menschlichen Lebens beruht. "Prokreativer Sinngehalt" eines Sexualaktes heißt ja, daß sein Vollzug der Vollzug eines Aktes des Typs "prokreativer Akt" ist, und das ist der Fall - oder kann grundsätzlich der Fall sein - unter der Voraussetzung, daß unabhängig vom Willen des Menschen, von Natur aus gegebene Fruchtbarkeit des Aktes nicht willentlich ausgeschaltet wurde. Daß und weshalb im Falle periodischer Enthaltung auch in wissentlich unfruchtbaren Sexualakten der prokreative Sinngehalt bewahrt wird, wurde oben nachgewiesen. Und daß und weshalb durch kontrazeptive Maßnahmen der prokreative Sinngehalt des Sexualverkehrs gänzlich verschwindet, wurde ebenfalls gezeigt. (Fs)

112a Auf der Grundlage der hier vorgetragenen Argumentation gibt es deshalb keinen Grund zur Annahme, daß durch ihr Alter unfruchtbar gewordene Ehepaare, die sexuell miteinander verkehren - insbesondere wenn sie bereits Kinder hatten -, dabei nicht auch weiterhin Akte des Typs "prokreative Akte" vollziehen. Sie tun einfach das, was sie immer getan hatten. Und sie haben ja, wie bis anhin, nichts getan, um die prokreativen Folgen ihres Sexualverhalten zu verhüten. Wären sie immer noch fruchtbar, so würden sie entweder für die Empfängnis eines neuen Kindes offen stehen, oder sie würden sich, wenn sie dazu Gründe hätten, periodisch enthalten. Falls sie früher jedoch Empfängnisverhütung betrieben haben und dies nun aufgrund altersbedingter Sterilität nicht mehr nötig ist, so vollziehen sie selbstverständlich entsprechende Sexualakte weiterhin mit einem kontrazeptiven Willen. Daß die Unfruchtbarkeit jetzt "natürlich" ist, ändert ja nichts an der Intentionalität ihrer Akte. Auch in diesem Fall tun sie weiterhin, was sie immer taten. (Fs)

112b Falls es sich um pathologische Sterilität handelt, so muß wiederum darauf geachtet werden, was im Willen der Eheleute vor sich geht. Es könnte ja sein, daß sie sich sagen: "Um so besser, so brauchen wir keine kontrazeptiven Maßnahmen zu ergreifen." Es ist aber auch möglich - und dieser Fall ist hier wohl der zu beachtende -, daß sie eigentlich gerne Kinder wollten. Sie versuchen vielleicht sogar, mit operativen Eingriffen die physiologische Anomalität zu beseitigen. Ihre unfruchtbaren Sexualakte sind durchaus von der Bereitschaft geprägt, Kinder zu empfangen, wenn dies möglich wäre. Der vorhandene Wunsch und die grundsätzliche Bereitschaft, im Sexualakt etwas zu tun, was mit der Weitergabe menschlichen Lebens einen Zusammenhang besitzt, und das Fehlen jeglicher willentlicher Handlung, um dies unmöglich zu machen, genügt hier vollkommen, um intentional gesehen Akte des Typs "prokreative Akte" zu vollziehen. In den Sexualakten solcher Ehepaare sind beide Sinngehalte, der unitive und der prokreative, intentional vorhanden, und somit finden sich in ihnen die für eheliche Liebe charakteristischen Ausdrucksqualitäten. Wir behaupten ja gerade nicht, der prokreative Sinngehalt sexueller Akte stehe und falle mit der physiologischen Möglichkeit der Fortpflanzung oder er hänge von der effektiven Erwartung ab, es könnte nun durch vollzogene Sexualakte neues Leben entstehen. Es wurde ja gezeigt, daß das Objekt des ehelichen Sexualaktes nicht in der "Erzeugung neuen Lebens" besteht, sondern in der liebenden Selbsthingabe an den anderen in der Ganzheit der eigenen leib-geistigen Per-sonalität. Mit all dem ist allerdings nicht gemeint, daß unabhängig vom Willen bestehende Unfruchtbarkeit von sich aus bereits unproblematisch ist. Sie kann ja gleichsam mißbraucht werden. Entscheidend ist einzig und allein das Verhältnis des Willens zur Unfruchtbarkeit. (Fs)

113a Man darf deshalb auch die Enthaltsamkeit nicht überbewerten. Sie ist nicht Selbstzweck oder unbedingte Notwendigkeit. Sie ist, um den prokreativen Sinngehalt sexueller Akte zu wahren, nur dann notwendig, wenn sie eben notwendig ist, um aus angemessenen Gründen eine Empfängnis zu vermeiden (unbeschadet der Tatsache, daß Enthaltsamkeit öfter auch aus anderen Gründen angebracht und notwendig sein kann, und daß auch Empfängnisverhütung praktizierende Eheleute weiterhin Gründe haben, sich hin und wieder zu enthalten. Enthaltsamkeit in sich ist noch keine Tugend; entscheidend ist die Praxis, in deren Kontext sie steht). Der Trieb wird ja in die Struktur personaler Liebe keineswegs nur durch Enthaltsamkeit integriert, sondern entweder durch die unabhängig vom Willen des Menschen bestehende Möglichkeit, daß daraus neues Leben entsteht, oder aber durch verantwortliche Enthaltung zur Vermeidung der Entstehung neuen Lebens. In beiden Fällen verhalten sich Eheleute intentionalzu ihren sexuellen Akten als zu einer potentiellen Quelle neuen Lebens. (Fs)

113b Nur wenn Sexualität und der mit ihr verbundene Genuß von ihrem prokreativen Sinngehalt abgekoppelt ist - d.h. wenn die Unfruchtbarkeit dem Willen des Menschen entspringt -, ist sie nicht mehr fähig, Ausdruck gegenseitiger liebender Selbsthingabe von Mann und Frau zu sein. In diesem Sinne desintegrierte Sexualität ist eine Art "Zeitbombe": Sie erlangt eine destruktive Kraft und wirkt wie ein Prinzip der Korrosion, das allmählich eheliche Liebe zersetzt, ihren leiblichen Ausdruck zu einer sinnentleerten Gebärde werden läßt, die den einzelnen affektiv auf sich selbst zurückwirft; zumindest beraubt sie die Ehe gewisser Qualitäten, die ihr spezifisch eigen sind, und in äußerst vielen Fällen isoliert sie die Eheleute gerade auch sexuell voneinander. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: "kontrazeptive Mentalität" - Problem der Abtreibung; Statistik USA; ausserehelicher Sexualverkehr

Kurzinhalt: Kein "normaler" Mensch, der eine Abtreibung vornimmt, tut dies ja, weil er Menschen töten will (auch wenn er es faktisch tut). Ebenfalls nimmt er keine Abtreibung vor, weil er will, daß dieser bestimmte Mensch nicht geboren wird. Sondern ...

Textausschnitt: 116a Eheleute hingegen, die Empfängnisverhütung anwenden und denen ein "Mißgeschick" unterläuft (was ja durchaus aus verschiedenen Gründen vorkommen kann), werden sich gerade für ein dann entstehendes neues Leben nicht verantwortlich fühlen, denn sie haben ja eine Handlungslinie gewählt, die absichtlich ausschließt, als Subjekt sexueller Akte eine mögliche Ursache für die Entstehung neuen Lebens sein zu können, und die deshalb auf ebenso intentionale Weise von Anfang an gar keine Bereitschaft miteinschließt, für möglicherweise eintretende prokreative Folgen eigener Sexualakte die Verantwortung zu tragen. Das neuentstandene menschliche Leben frustriert demnach gerade die kontrazeptive Handlungswahl; das Kind ist hier im eigentlichen und viel tieferen Sinne ein "ungewünschtes Kind": Es steht im Widerspruch nicht nur zur generellen (und u.U. legitimen) Absicht, eine Empfängnis zu vermeiden, sondern auch mit der gewählten Linie des eigenen Sexualverhaltens. Das Kind wirkt hier als Bedrohung und Störfaktor der eigenen Lebenspraxis. Genau dies ist es, was wir kontrazeptive Mentalität nennen können, die - wie bereits gesagt - in einem ganz bestimmten, aber wirklichen Sinne "anti-life", "gegen das Leben gerichtet" ist. Und diese Einstellung ist es auch, welche die Abtreibungsmentalität fördert, wobei noch bestimmt werden muß, was hier mit "Abtreibungsmentalität" genau gemeint ist. Es ist ja erwiesen, daß dort, wo kontrazeptives Verhalten sich verbreitet, auch die Zahl der Abtreibungen zunimmt. Dieser Zusammenhang ist nun freilich ein rein statistischer. Wir können nicht sagen: Wer Empfängnisverhütung anwendet, wird früher oder später zur Abtreibung schreiten oder ist bereits ein potentieller Abtreiber. Das ist auch mit der Erwähnung des oben genannten Zusammenhanges gar nicht gemeint und es gibt keine ebenso auf statistische Weise verifizierbaren Daten, die darauf schließen ließen. Das statistische Faktum ist nun allerdings ein Faktum, und es bedarf einer Erklärung. (Fs)

[...]

118a Dennoch besteht der Zusammenhang zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung eigentlich gar nicht - wie viele meinen - darin, daß Empfängnisverhütung zur Abtreibung "führt", in dem Sinne, daß in der kontrazeptiven Wahl bereits im Kern enthalten ist, wovon Abtreibung dann nur die logische Konsequenz wäre, also eine Art "lebensvernichtende" Einstellung. Daß dies nur schwerlich begründetwerden kann, wurde ja bereits oben gezeigt. Wir müssen also, um den Zusammenhang zu erklären, keineswegs davon ausgehen, daß Empfängnisverhütung von ihrem Wesen her "anti-life" oder gar analog zu der in einem Homizid implizierten Intentionalität zu verstehen ist. (Fs)

118b Der Zusammenhang begründet sich vielmehr gerade in umgekehrter Weise: Kein "normaler" Mensch, der eine Abtreibung vornimmt, tut dies ja, weil er Menschen töten will (auch wenn er es faktisch tut). Ebenfalls nimmt er keine Abtreibung vor, weil er will, daß dieser bestimmte Mensch nicht geboren wird. Sondern er tut es aus dem genau gleichen Grund, aus dem man Empfängnisverhütung wählt: Weil er die prokreativen Folgen seines Sexualverhaltens ausschalten möchte und nicht gewillt ist, dafür die Verantwortung zu tragen. Das Embryo oder der Fötus wird hierbei gar nicht als existierender Mensch betrachtet (obwohl er das ist), sondern als bloße Ursache eines zukünftigen Geschehens: der Geburt eines Kindes, einer Folge, die man - anstatt durch Empfängnisverhütung - nun durch die Abtreibung verhindern will. (Fs)
119a Das ist wiederum eine intentionale Beschreibung, die freilich zeigt, daß eine mit dieser Intentionalität vorgenommene Abtreibung vor der Wirklichkeit eines existierenden menschlichen Lebewesens einfach die Augen verschließt1. So werden jedoch nun einmal viele Abtreibungen vorgenommen, d.h. mit einer kontrazeptiven Einstellung: mit der Einstellung, unerwünschte Folgen des eigenen Sexualverhaltens zu verhüten, d.h. gleichsam das Geschehene nun nachträglich "ungeschehen" zu machen. So wird denn auch beides, Empfängnisverhütung und Abtreibung, unter den neutralen, über alles einen Schleier werfenden Begriff "Geburtenregelung" subsumiert. (Fs)

119b Empfängnisverhütung impliziert also keine abortive Mentalität im "ersten Stadium", sondern umgekehrt: Eine bestimmte Form von Abtreibung ist nur das letzte Stadium oder die letzte Außerungsweise der kontrazeptiven Mentalität. Das Grundproblem ist hier ja gar nicht, daß die Menschen keine Kinder haben wollen; sie wollen gar nicht etwas "nicht haben". Vielmehr wollen sie etwas haben, nämlich "Sex", - aber ohne Kinder. Ob sie die Geburt eines Kindes nun vor oder nach erfolgter Empfängnis verhindern, spielt hier intentional gesehen gar keine Rolle mehr2. (Fs)

120a Deshalb kann Abtreibung, intentional betrachtet, zu einem Mittel der Empfängnisverhütung werden. Das mag paradox klingen, entspricht, aber genau der Wirklichkeit: Man riskiert es eben nun auch einmal ohne Kondom oder obwohl man gerade keine Ovulationshemmer einnimmt; und wenn es nicht klappt, dann erfolgt die ambulante Abtreibung (das zeigt sich auch darin, daß von den 1,5 Millionen legalen Abtreibungen, die jährlich in den USA vorgenommen werden - von 1973-1989 waren es insgesamt 21 Millionen-, 81% auf unverheiratete Frauen fallen, 62% davon unter 25 Jahren; 40% aller Abtreibungen im Bundesstaat Kalifornien sollen - nach Angaben von Rhomberg, McCaffrey, Riehle und Wiliken auf der "World Conference on Love, Life and Family", 1988 - auf sogenannte "Verhütungsversager" zurückzuführen sein"). Vielerorts (wie in den USA) ist es ja sogar einfacher und mit weniger Mühen verbunden, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, als sich der Disziplin der Anwendung kontrazeptiver Mittel zu unterwerfen, was für viele Frauen oft auch mit äußerst unerwünschten gesundheitlichen Nebenfolgen verbunden, in jedem Fall aber nicht gerade sehr komfortabel ist. Zudem wirken ja heute die meisten Empfängnisverhütungsmittel gerade aus dem Grund, solche Nebenfolgen zu minimalisieren, abortiv. Wer das weiß, für den gibt es auch keinen Grund mehr, von einer chirurgischen Abtreibung abzulassen, und er wird dann auch geneigt sein, die "Abtreibungspille" RU 486 als medizinischen Fortschritt zu betrachten. (Fs)

120b Die Aggressivität der Abtreibungsmentalität erklärt sich gerade durch die Tatsache, daß ihr eigentlich die kontrazeptive Mentalität zugrunde liegt und daß dabei das Faktum, daß man auf diese Weise ein menschliches Wesen tötet, verdrängt wird. [...]

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Zusammenfassung: Empfängnisverhütung; Humane vitae: heutige Moraltheologie (teleologische Ethik) -> keine intentionale Analyse

Kurzinhalt: Empfängnisverhütung im Rahmen heutiger Moraltheologie ... Es findet sich bei ihnen keinerlei anthropologische und handlungstheoretische Reflexion. Vielmehr ...

Textausschnitt: a) Rückblick auf den Gang der Argumentation
123a Fassen wir zunächst die bisherigen Ergebnisse zusammen: Empfängnisverhütung ist sittlich falsch, weil sie eine Art von Sexualverhalten involviert, das mit prokreativer Verantwortung unvereinbar ist. Diese Unvereinbarkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß kontrazeptives Sexualverhalten die Einheit von Leib und Geist auf der Ebene des konkreten Verhaltens zerstört. Diese Einheit zerstören heißt sowohl, Sexualität aus ihrem prokreativen Sinngehalt herauszulösen, wie auch, auf diese Weise Sexualität zu desintegrieren oder zu isolieren, so daß sie kein wahrer Ausdruck und keine affektive Erfüllung personaler Liebe mehr zu sein vermag. Deshalb schließt kontrazeptives Verhalten Eigenschaften ein, die auch für andere Formen desintegrierter Sexualität wie Onanismus, Petting, Anal- und Oralsex spezifisch sind. Aufgrund dieser teilweisen Ähnlichkeit mit solchen Formen sexueller Triebbefriedigung vermag kontrazeptiver Sexualverkehr keine gegenseitige Selbsthingabe zweier Personen zu sein; vielmehr wird er zu einem Prinzip, welches die personale Gemeinschaft untergräbt. Insofern Empfängnisverhütung innerhalb der Ehe praktiziert wird, steht sie auch im Widerspruch zur Einheit zweier Personen in einem Fleisch, die sich aus Liebe aneinander gebunden haben, um auf verantwortliche Weise der Aufgabe zu dienen, menschliches Leben weiterzugeben. (Fs)

124a Was ich darlegte, ist nun tatsächlich eine Argumentation gegen die Empfängnisverhütung, die darauf hinzielt, kontrazeptiven Sexualverkehr als Verstoß gegen das sogenannte "Naturgesetz" ("natürliches Sittengesetz", lex naturalis) zu erweisen. Es scheint mir wichtig, den argumentativen Gehalt eines jeden Schrittes nicht aus den Augen zu verlieren. Die Argumentation bestand erstens in einer anthropologischen Analyse der substantiellen Wesenseinheit des Menschen als Einheit von Leib und Geist, was uns zum Verständnis des Untrennbarkeitsprinzips führte. Zweitens wurde, auf dieser Grundlage, der Begriff "prokreative Verantwortung" als sittliche Tugend entwickelt, was uns ermöglichte, das Untrennbarkeitsprinzip auf konkrete Vollzüge sexueller Akte zu beziehen. Drittens folgte die Analyse des kontrazeptiven Verhaltens und seiner wesentlichen Verschiedenheit von periodischer Enthaltsamkeit und es wurde gezeigt, wie das erstere mit sittlicher Tugend im allgemeinen und mit prokreativer Verantwortung im besonderen im Widerspruch steht, und daß kontrazeptiver Sexualverkehr in der Tat mit dem Untrennbarkeitsprinzip und damit auch mit der "Wahrheit über den Menschen" unvereinbar ist. Viertens wurden die intrinsischen Implikationen der Empfängnisverhütung für die eheliche Liebe aufgewiesen, was den wirklichen Ernst der in Empfängnisverhütung implizierten sittlichen Verkehrung zeigte. Diese Argumentation, welche die personale Struktur der Tugend der Keuschheit hervorhebt, steht, wie mir scheint, in vollem Einklang mit der leitenden Perspektive der in "Humanae vitae" enthaltenen Lehre. (Fs)

125a Wenn wir die Behandlung der Frage der Empfängnisverhütung im Rahmen heutiger Moraltheologie, soweit sie "Humanae vitae" kritisch gegenüber steht, betrachten, so muß sofort auffallen: Die Vertreter dieser Richtung scheinen die entscheidenden Fragen in der Tat auszuklammern. Es findet sich bei ihnen keinerlei anthropologische und handlungstheoretische Reflexion. Vielmehr begründen sie die mögliche Erlaubtheit, von Empfängnisverhütung aufgrund einer Theorie sittlicher Urteile, die heute als "teleologische Ethik", "Konsequentialismus" oder "Proportionalismus" bekannt ist. Dieser Theorie gemäß muß die sittliche Richtigkeit einer Handlungsweise aufgrund ihrer voraussichtlichen Folgen beurteilt werden. Diese Folgen bestehen in der Bewirkung von nichtsittlichen Gütern oder Übeln. Die Unfruchtbarkeit sexueller Akte wird als "nichtsittliches" oder "physisches" Übel betrachtet, das man bewirken darf, sofern die daraus voraussichtlich entstehenden Folgen insgesamt besser sind. Das Verheerende an dieser Argumentationsweise, die in ihrem Kern bereits den berühmten Mehrheitsbericht der Päpstlichen Kommission für Bevölkerung, Familie und Geburten prägte1, ist nicht, daß man die Folgen von menschlichen Handlungen berücksichtigt, sondern daß diese Folgen unter völligem Absehen von der inneren, objektiven oder intentionalen, auch durch anthropologische Gegebenheiten mitgeprägten Struktur menschlicher Handlungen beurteilt werden, nämlich nur als gleichsam äußere Ereignisse, Sachverhalte und Zustände, die der Handelnde bewirkt. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Theorie sittlichen Handelns einzugehen. Ich habe mich an anderer Stelle damit auseinandergesetzt und es gibt unterdessen reichhaltige, konsequentialismuskritische Literatur2. Es sei hier nur ganz generell gesagt: Moraltheologen, die Empfängnisverhütung befürworten, vermögen ihre Sicht nur deshalb plausibel zu machen, weil sie es unterlassen, darüber zu sprechen, was Eheleute eigentlich wählen und in einem intentionalen Sinne tun, wenn sie Empfängnisverhütung praktizieren. Deshalb scheint ihnen auch alles daran gelegen zu sein nachzuweisen, daß "Humanae vitae" Empfängnisverhütung nur deshalb verurteilt, weil sie "künstlich", "unnatürlich" ist - als "künstliche Methode" -, nicht aber weil sie in sich der menschlichen Identität als in leib-geistiger Wesenseinheit konstituierter Personalität widerspricht und deshalb auch Folgen zeitigt, die - ganz unabhängig von anderen Folgen - dem für den Menschen Guten, dem menschlichen Wohl widersprechen. Wenn immer wieder gesagt wird, die in "Humanae vitae" ausgesprochene sittliche Norm könne nicht einsichtig gemacht werden, so drängt sich der Verdacht auf, daß dies nur dann der Fall ist, wenn die entscheidenden Gesichtspunkte, aufgrund derer allein die Norm überhaupt einsichtig werden kann, gar nicht zur Sprache gebracht, sondern von vorneherein ausgeklammert werden. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Empfängnisverhütung, Naturgesetz: formell, materiell;

Kurzinhalt: Weshalb und in welchem Sinn genau kann man Empfängnisverhütung eine Verletzung des Naturgesetzes nennen?

Textausschnitt: Fußnote 105:
105 Wir können somit "Naturgesetz" entweder formell oder materiell betrachten. Formell betrachtet ist das Naturgesetz die ordinatio rationis, der (universale) gebietende Akt der natürlichen Vernunft, durch den die Ordnung der Vernunft in den menschlichen Neigungen und den ihnen folgenden Handlungen erstellt wird. Materiell betrachtet ist das Naturgesetz das Ensemble der natürlichen Neigungen, insofern diese in die Ordnung der Vernunft integriert und deshalb durch Vernunft geregelt sind. Beide Betrachtungsweisen beziehen sich auf dieselbe Wirklichkeit; die erstere jedoch weist auf das eigentliche Wesen des Naturgesetzes (die aktive Vernunftregelung menschlicher Neigungen); die zweite unterstreicht eher den materiaien Gehalt der einzelnen Vernunftgebote des Naturgesetzes. Wie ich in meinen Arbeiten zum Thema gezeigt zu haben glaube, ist das Naturgesetz wesentlich ein Werk der praktischen Vernunft des Menschen. Thomas von Aquin nennt es, wie das "Gesetz" generell, ein "opus rationis" (I-II, q.94, a.l) und "aliquid a ratione constitutum" (ebd.). Wenn man über das Naturgesetz spricht, so meint hier "Vernunft" die natürliche Vernunft ("ratio naturalis").

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126a Die hier vorgelegte Argumentation will, wie gesagt, auch eine Antwort auf die letzte Frage liefern, die zu beantworten ich mir vorgenommen habe: "Weshalb und in welchem Sinn genau kann man Empfängnisverhütung eine Verletzung des Naturgesetzes nennen?" Die Beantwortung dieser Frage ist freilich bereits geleistet. Wir haben nämlich, da wir von Tugenden sprachen, bis dahin über gar nichts anderes als das "Naturgesetz" gesprochen. Weshalb dies so ist, ist nun noch kurz aufzuzeigen. (Fs)

126b Was ist das "Naturgesetz"? Wie ich es - in Anschluß an Thomas von Aquin - verstehe, ist mit diesem Ausdruck die Ordnung gemeint, welche durch die menschliche Vernunft in den natürlichen Neigungen des Menschen erstellt wird1. Diese Neigungen sind naturgegeben, so z.B. die natürliche Neigung zur Verbindung zwischen Mann und Frau. Aber obwohl diese Neigung natürlich genannt werden muß und sie, als eine geschaffene Wirklichkeit, auf ihre Weise ein Ausfluß des ewigen Gesetzes des Schöpfers ist, kann sie als natürliche Neigung trotzdem noch nicht natürliches Gesetz genannt werden. Denn ein "Gesetz" ist eine der Vernunft entspringende, verpflichtende Regel oder Maßstab für den Vollzug von Handlungen. Das "Naturgesetz" ist demnach die in den natürlichen Neigungen erstellte Ordnung der praktischen Vernunft bzw. die Anordnung (ordinatio) der praktischen Vernunft, durch die diese Ordnung menschlicher Handlungen auf das für den Menschen Gute hin erstellt wird. Die in diese Ordnung der Vernunft integrierte natürliche Neigung setzt also bereits voraus, daß diese Neigung durch die Vernunft als innerhalb der Ordnung der Vernunft zu verfolgendes menschliches Gut erfaßt wurde2. Das "Naturgesetz" ist also nichts anderes als die dem Menschen "natürliche" Weise, seine Neigungen und entsprechende Handlungen auf das für ihn Gute hinzuordnen, d.h.: nicht aufgrund instinktiver Triebsteuerung, sondern aufgrund vernünftiger, den freien Willen leitender Einsicht in das für den Menschen Gute zu handeln und entsprechende menschliche Übel zu meiden. (Fs)

127a Es sei vermerkt: Der Terminus "Naturgesetz" ist mißverständlich und verfänglich, denn er meint nicht ein "Gesetz der Natur" (etwa analog zu physischen "Naturgesetzen"), sondern ein "natürliches Gesetz" der Vernunft. Jedes Gesetz ist ja seinem Wesen gemäß eine Anordnung der Vernunft (ordinatio rationis). Eine solche besteht, gemäß klassischer Lehre, im göttlichen Geist, der alle Geschöpfe auf ihr Ziel hinordnet oder auch in menschlich-positiven Gesetzen, die der ordnenden Vernunft des menschlichen Gesetzgebers entspringen. "Gesetze" können auch von Gott offenbart werden (z.B. der Dekalog, überhaupt das mosaische Gesetz, das "neue Gesetz" des Evangeliums). Mit dem Terminus "Naturgesetz" ist nun nicht gemeint, daß auch die "Natur" - im Gegensatz zur Vernunft - ein ihr eigenes Gesetz formuliere, sondern daß es im Menschen ein Gesetz, eine "Anordnung der Vernunft", gibt, das ganz unabhängig von menschlicher und göttlicher positiver Satzung - d.h. eben "natürlicherweise" - eine Ordnung auf das für den Menschen Gute hin erstellt. Da der Mensch von Natur aus nun eben ein vernünftiges Wesen ist, so existiert tatsächlich ein solches Gesetz: Es sind die gebietenden Akte seiner praktischen Vernunft, in denen der Mensch das Gute vom Üblen scheidet und entsprechend, aufgrund der vernünftigen Einsicht in das für den Menschen Gute, sich verpflichtet weiß, es zu tun. Diese Funktion der dem Menschen natürlichen praktischen Vernunft konstituiert deshalb ein "natürliches Gesetz", - "natürlich", um es zu wiederholen, nicht weil es einfach "Natur" ist, sondern weil es nicht im göttlichen Geist, sondern in der "menschlichen Natur" (die Vernunft einschließt) vorhanden ist und weil es nicht durch positive Satzung bekannt wird, sondern allein durch die praktische Vernunft, die eben Teil der Natur des Menschen ist. (Fs)

128a In unserem Zusammenhang ist diese "Ordnung der Vernunft" die Vernunftordnung der sexuellen Neigung, d.h. die Ordnung der liebenden, gegenseitigen Selbsthingabe und der darin eingebundenen prokreativen Verantwortung, zwei Aspekte, die untrennbar miteinander verknüpft sind; sie ist eine Ordnung der Vernunft, die im Sexualtrieb und den ihm entspringenden Akten und Verhaltensweisen erstellt wird. Eheleute, die ihr Sexualverhalten entsprechend den Erfordernissen prokreativer Verantwortung modifizieren, handeln deshalb in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz; sie leben die Tugend ehelicher Keuschheit; denn das Naturgesetz gebietet nichts anderes, als die Tugenden zu leben. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Nikomachische Ethik (Anfang), Aristoteles; Ethik der "Ersten (Dritten) Person"; Perspektive des Handelns; Kant, Utilitarismus, Diskursethik; das Gute als "gut Scheinendes"; "Schein des Guten"

Kurzinhalt: ... die gesamte Tradition der neuzeitlichen Ethik, vor allem ihre Hauptgestalten der Kantischen Pflichtethik und des Utilitarismus, sind Ethiken der "Dritten Person

Textausschnitt: 49a Wie bereits angeführt, beginnt die Nikomachische Ethik des Aristoteles mit der simplen Feststellung eines Faktums der Erfahrung: "Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt." "Gut" ist also, wonach man "strebt". Der Begriff des Guten ist gegeben durch die Erfahrung, dass wir in allem, was wir tun - Kunst, Lehre, Handlung, Entschluss - auf etwas aus sind. Dieses "worauf wir aus sind" nennen wir ein Gut. Und der Begriff des Guten ist demnach identisch mit dem Begriff "Ziel eines Strebens". Güter, und gemeint sind hier praktische Güter, sind Strebeziele. Und was auch immer wir tun, wir erstreben ein Gut, wir zielen auf etwas ab1. (Fs) (notabene)

49b Zum Begriff "praktisches Gut": Ein Auto oder ein Computer als solche sind "Dinge". Und als Dinge sind sie in mancher Hinsicht "gut". Jedoch nur insofern sich das Streben in praktischer Weise auf diese Gegenstände erstreckt (Erwerben-wollen, Stehlen-wollen), werden Auto und Computer zum praktischen Gut. Diese Art von Gutsein gründet nicht im Ding-sein dieser Gegenstände, sondern in ihrer Relation mit einem Wollen. Das praktische Gut ist hier nicht mehr das Auto oder der Computer als solche, sondern vielmehr deren Besitzen. Nicht ein "Auto" ist also ein praktisches Gut, sondern das "Besitzen eines Autos". Und die entsprechenden Handlungen, die sich in der Perspektive solcher praktischer Güter formieren können, sind etwa "ein Auto kaufen" oder "ein Auto stehlen". Analoges gilt für Personen: auch sie sind praktische Güter insofern sie Gegenstände von Strebeakten und Handlungen sind (wie z.B. Gegenstände von Wohlwollen, Liebe, Achtung, von Vertragsschließungen oder, aber auch von Handlungen wie "jemanden um eine Auskunft bitten", "jemanden bestechen", "jemanden für seine Zwecke benutzen", usw.). Im Unterschied zu Dingen haben jedoch Personen, wie Kant es ausgedrückt hat, "Würde", was bedeutet, dass der Bezug auf sie als ein praktisches Gut nie auf Kosten der Tatsache gehen darf, dass sie auch unabhängig von diesem Bezug ein "Gut" sind, was nichts anderes heißt, als dass sie im Kontext des Handelns nie bloßes Mittel sein dürfen. (Fs)

50a Damit finden wir uns mitten in der Perspektive des Handelns. Es ist egal, dass hier auch von Kunst die Rede ist. Denn Kunst ist hier als Praxis beschrieben. Auch mit Kunsthandeln (Technik: Herstellungshandeln im weitesten Sinne) ist man "auf etwas aus". Und dieses "auf etwas aus sein" nennen wir Intentionalität (von "intendere" = "hinneigen auf, "hinzielen auf). (Fs)

50b Bereits der erste Satz der Aristotelischen Ethik stellt uns also in eine ganz spezifische Perspektive. Wir können sie die Perspektive der Praxis nennen. Im Folgenden werden wir diese Perspektive nicht mehr verlassen. Es ist die Perspektive der "Ersten Person", des Handlungssubjekts. Es ist notwendig, eindringlich darauf hinzuweisen, denn die gesamte Tradition der neuzeitlichen Ethik, vor allem ihre Hauptgestalten der Kantischen Pflichtethik und des Utilitarismus, sind Ethiken der "Dritten Person"2. So eigenartig dies zunächst klingen mag: sie sind Ethiken der absoluten Objektivität. So schreibt Kant: "Praktisch gut ist, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d.i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt"3. Der Ausgangspunkt der Kantischen Ethik ist gerade, die Perspektive des "interessierten" Handlungssubjekts zugunsten von "uninteressierten" Vernunftimperativen auszuklammern. Nur was universal gilt, gilt überhaupt in moralischer Hinsicht. Nur eine Handlungsmaxime, die auch als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, ist moralisch, nicht jedoch, was den Neigungen oder Strebungen des Subjekts entspricht. Die Pflicht ist der Imperativ der Vernunft, der sich gegen das neigungsbedingte Gute durchsetzt. Die Kantisch inspirierte Diskursethik, die wiederum nur intersubjektives, auf Konsens abzielendes kommunikatives Handeln als moralerzeugende Instanz anerkennt, konzediert normative Geltung nur solchen Geltungsansprüchen, die zwanglos von allen Betroffenen akzeptiert werden können, will also das bloß subjektive Interesse der Objektivität des argumentativ erzielten Konsenses unterordnen (was zwar als politische Ethik verstanden mit gewissen Einschränkungen durchaus Sinn macht). Auch der Utilitarismus, in all seinen Spielarten, ist eine Ethik der Objektivität, in diesem Fall der Objektivität von Nutzen-, Folge- oder Güterkalkülen (Güterabwägung). Diese Ethik betrachtet den handelnden Menschen gleichsam von außen, als uninteressierten Produzenten möglichst optimaler Welt-Zustände; sie betrachtet ihn -gemäß dem Ausdruck des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel - aus einer "Sicht von Nirgendwo"4. Auch wenn es mir - etwa aufgrund "anerzogener" moralischer Grundsätze und entsprechender Überzeugungen und Gefühle - noch so sehr widerstrebt, einen Menschen zu töten, so wäre ich nach utilitaristischen Maßstäben verpflichtet, es dennoch zu tun, wenn ich dadurch zehn anderen das Leben retten kann, sofern dadurch meiner Voraussicht nach die Folgebilanz, der Zustand der Welt optimiert würde5. (Fs) (notabene)

51a Ethik entspringt jedoch, wie gesagt, einer Reflexion auf praktische Erfahrung, die Erfahrung von Handlungssubjekten ist. Sie darf diese Perspektive des Handelns nicht verlassen, will sie das Phänomen "menschliche (sittliche) Handlung" nicht verfälschen. Wenn wir in dieser Perspektive der Praxis von "Gütern" und "Zielen" sprechen, so meinen wir immer Korrelate eines Strebens, und wir betrachten menschliches Tun als "Erstreben eines Gutes". Das ist, was immer der Fall ist, wenn wir etwas tun. (Fs)

51b Das Gute ist demnach, wie wir ebenfalls von Aristoteles lernen, immer etwas einem handelnden Subjekt "gut Scheinendes". Mit "Schein des Guten" ist hier nicht Täuschung gemeint, sondern das Gute, insofern es sich in der Beurteilung durch das handelnde Subjekt als ein solches zeigt. Gut - in der Perspektive der Praxis - ist ja gerade, was wir als gut beurteilen und uns entsprechend auch als gut erscheint. (Fs)

51c Dass hier das "Urteil über das Gute" zu einem "Scheinen des Guten" führt liegt darin, dass Handlungsurteile Urteile über Strebungen sind. Es handelt sich um affektiv bedingte Urteile und Urteile über Affekte und Strebungen. Deshalb ist es auch, wie Aristoteles bemerkt, "für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet"1. Nicht weil wir immer aus "Lust" handeln, sondern weil sie jenen Affekt bezeichnet, der die Vernunft am allermeisten zu desorientieren vermag, sie aber auch gleichzeitig, verläuft sie "in der rechten Weise", die mächtigste Unterstützung der Vernunft ist2. (Fs)

51d Die entscheidende Frage der Praxis besteht nun darin zu klären, welches die Bedingungen dafür sind, dass dieser "Schein", bzw. dieses Urteil auch die Wahrheit trifft, dass das "gut Scheinende" auch das "in Wahrheit Gute" ist. Das ist nur dann der Fall, wenn das Streben selbst (Affekte und Wollen) das in Wahrheit Gute trifft. Genau so verhält es sich beim tugendhaften Menschen. "Der Tugendhafte nämlich urteilt über alles und jedes richtig und findet in allem und jedem das wahrhaft Gute heraus"3. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Zielgerichtetheit und Begriff der "menschlichen Handlung": actus humanus, actus hominis; Freiheit als Primärerfahrung (Vernunft, Wollen: reflexiv) - vs. sinnliches Streben; dominium (doppelte Wurzel)

Kurzinhalt: Vernunft wird durch kein partikulares Gut determiniert ... dominium (Freiheit) ...Diese Herrschaft ist einer bestimmten Art von Streben eigen: Jener, die auf Vernunft beruht; diese Art von Streben heißt Wollen

Textausschnitt: 53a Der intentionale Charakter des menschlichen Handelns, wie er bereits kurz skizziert wurde, meint, dass Handeln jeweils auf etwas "abzielt". Und für jenes, worauf wir jeweils abzielen, brauchen wir das Wort "gut"1. Das schließt bereits ein (und wurde ebenfalls bereits angedeutet), dass das "Gute", worauf wir im Handeln jeweils aus sind, jenes "Gut-scheinende" ist, wie es einem Urteil des Subjekts entspricht. Würden wir über "Gutes", bzw. "Ziele" nicht urteilen und nicht stets aufgrund solcher Urteile jeweils handeln oder vom Handeln ablassen (was auch eine Form von Handeln ist, nämlich willentliche Unterlassung), so würde uns ein entsprechendes Streben oder Tun nicht weiterhin interessieren. Es handelte sich dann ja einfach um ein irgendwie rein "spontanes" oder "naturgemäßes" Geschehen, dessen Analyse eher zur Naturwissenschaft (bzw. einer naturwissenschaftlichen Psychologie) gehören könnte, nicht aber zur Ethik. (Fs)

53b Es ist Bestandteil praktischer Erfahrung, dass unser Handeln frei ist, und das heißt: dass es sich aufgrund von vernünftigen Urteilen vollzieht und dass wir das Streben, das solchen Urteilen folgt, selbst immer in irgend einer Form in der Hand haben. Freiheit des Handelns muss nicht im Laufe der Ethik erst begründet werden. Sie ist Primärerfahrung, und ohne sie gäbe es so etwas wie Ethik oder praktische Philosophie gar nicht. Praktische Philosophie ist also immer auch Reflexion über die Erfahrung der Freiheit unseres Handelns. Wir brauchen diese Freiheit nicht zu postulieren. Sie ist nicht Postulat oder "Bedingung der Möglichkeit" von Praxis; sondern sie ist gerade Anlass und Gegenstand jener Reflexion, die wir praktische Philosophie nennen. Eine Ethik, die Freiheit postulieren muss oder ihre Existenz zu begründen sucht, hat in irgend einer Weise einen falschen Ausgangspunkt gewählt und damit ihren Gegenstand bereits verfehlt. (Fs) (notabene)

53c Jene Freiheit, die hier Primärerfahrung genannt wurde, nennt Thomas dominium, Herrschaft über das eigene Streben und Tun. Diese Herrschaft ist einer bestimmten Art von Streben eigen: Jener, die auf Vernunft beruht; diese Art von Streben heißt Wollen1. (Fs) (notabene)

53d Die Freiheit hat also gleichsam eine doppelte Wurzel: sie hat ihren Sitz im Willen: in jenem Streben, das aufgrund von Vernunfturteilen erfolgt. Der Wille ist Wurzel der Freiheit insofern er Subjekt (Träger, Sitz) der Freiheit ist. Die Vernunft selbst nennt Thomas Wurzel der Freiheit weil sie Ursache von Freiheit ist. "Denn deshalb vermag der Wille frei sich auf Verschiedenes auszurichten, weil die Vernunft darüber, was gut ist, verschiedene Auffassungen zu haben vermag"2. (Fs)

53e Das Streben des sinnlichen Begehrens beispielsweise beruht auf Perzeptionen der Sinnesorgane. Diese Perzeption hängt ab von organischen Bedingungen (Subjekt) und bestimmten Eigenschaften des erstrebten Gegenstandes. Die Relation zwischen perzipierendem Subjekt und erstrebtem Gegenstand ist hier naturhaft determiniert. Das entsprechende Streben folgt dieser perzeptiven Determiniertheit. Das Sinnesurteil verläuft eindimensional und naturhaft-spontan. Von Lebewesen, die nur aufgrund sinnlicher Strebung tätig sind, kann man nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass sie "handeln", "non agunt, sed magis aguntur" ("sie handeln nicht, sondern werden angetrieben") sagt Thomas in einem unübersetzbaren Wortspiel1. (Fs)

54a Vernunft hingegen vermag das Gute, auch jenes der Sinnesstrebungen, unter verschiedensten Gesichtpunkten zu beurteilen, Aspekte, Für und Wider usw. abzuwägen. Vernunft wird durch kein partikulares Gut determiniert. Für die Sinnesstrebung ist das ihr gegenständliche Gute immer in jeder Hinsicht gut, und zwar gerade deshalb, weil Sinnesstreben überhaupt nur jeweils eine Hinsicht besitzt. Die Vernunft erfasst, dass das dem Sinnesbegehren "in jeder Hinsicht Gute" eben nicht in jeder Hinsicht gut ist, weil sie bezüglich einer Vielfalt von Hinsichten zu urteilen vermag. (Fs)

54b Der Mensch nun handelt erst aufgrund eines Strebens, das dem Urteil der Vernunft folgt. Auch das ist Primärerfahrung. Und dieses Streben nennen wir "Wollen". Es besitzt die Offenheit und Vielfalt der Vernunft. Und das heißt auch: Es vermag sich selbst zum Gegenstand zu machen. Urteile der Vernunft können, aufgrund anderer Gesichtspunkte, wiederum von derselben Vernunft beurteilt werden. Und was aufgrund eines Vernunfturteiles erstrebt (gewollt) wird, kann selbst wiederum Gegenstand eines Wollens zweiter Ordnung, von "second order desires" sein1. Vernunft und Wollen sind reflexiv. Das "Sehen" kann sich selbst nicht sehen, das "Hören" sich nicht hören, das "Tasten" sich nicht tasten: sinnliches Bewusstsein ist nie Selbstbewusstsein. Vernunft jedoch kann sich selbst wiederum vernünftig zu sich selbst verhalten bzw. sich beurteilen, und willentliches Streben kann selbst immer wieder gewollt oder nicht gewollt werden. (Fs) (notabene)


54c Aufgrund von Vernunft und Wille ist unser Handeln ein Tun, das wir in der Hand haben. Wollen-können heißt Herrschaft über eigenes Streben besitzen. Das heißt nicht, dass es in Vernunft und Wille nicht auch solches gibt, das wir nicht in der Hand haben: Es gibt Urteile der praktischen Vernunft, die wir naturhaft-spontan vollziehen. Etwa "Das Gute ist zu tun, das Üble zu meiden." Es gibt auch Strebungen des Willens, über die wir in gewisser Weise nicht Herr sind: Z.B. das Streben nach Selbsterhaltung und vor allem das Glücksverlangen. Doch davon später (Kapitel V). (Fs)

54d Eine Handlung, über die wir Herrschaft besitzen und die wir aufgrund solcher Herrschaft vollziehen, nannten die Philosophen und Theologen der Scholastik eine menschliche Handlung ("actus humanus"). Solche Handlungen sind zu unterscheiden von Tätigkeiten menschlicher Subjekte, die nicht Vernunft und Willen entspringen und deshalb zwar "Handlungen" oder besser: Akte des Menschen sind ("actus hominis"), nicht aber menschliche Handlungen, also Handlungen, die der spezifischen Eigenart menschlichen Tuns entspringen. Denn sie besitzen zwar das äußere Gewand von menschlichen Handlungen, nicht aber deren "Seele". Anders gesagt: sie entspringen nicht dem freien Willen, - wobei "freier Wille" nichts anderes meint als "Streben aufgrund von Urteilen der Vernunft". "Freier Wille" ist nicht ein undeterminierter oder nicht-determinierbarer Wille, sondern ein solcher, der durch nichts anderes determiniert zu werden vermag, als durch Vernunft-Urteile über das Gute. (Fs)

55a Analytische Philosophen unterscheiden in der Regel nicht zwischen actus humanus und actus hominis, da diese Unterscheidung natürlich bereits einen "starken", die Willentlichkeit einschließenden Begriff von Handlung voraussetzt. Diese Nichtunterscheidung führt dann oft zu unnötig erscheinenden Komplikationen und Unklarheiten und resultiert schließlich - wie etwas bei Donald Davidson -in der Reduzierung von Handlungen auf Körperbewegungen. Handlungen werden als auf bestimmte Weise verursachte Ereignisse interpretiert: "Wir tun nie mehr, als unseren Körper zu bewegen; der Rest ist der Natur anheimgestellt"1. Charakteristisch ist dann z.B. folgendes von Davidson angeführtes Beispiel: "Über einen Teppich zu stolpern, ist normalerweise keine Handlung, doch wenn man es absichtlich tut, ist es eine"2 Auf Grund der Unterscheidung von actus hominis ("Akt des Menschen") und actus humanus ("menschliche Handlung") wird sogleich deutlich, dass "stolpern" keine "menschliche Handlung" ist, obwohl es natürlich etwas ist, was man irgendwie "tut". Falls man es hingegen absichtlich tut, so ist das allerdings nun kein "absichtliches Stolpern" (das widerspricht dem Begriff des "Stolperns"), sondern ein bloßes "so tun als ob man stolperte", also ein (nun natürlich absichtliches) Vortäuschen einer unabsichtlichen Körperbewegung bzw. eines Geschehens oder Ereignisses (eben des Stolperns). (Fs)

55b Im Schlaf vollzogene Handlungen sind keine "menschlichen Handlungen". Ebenfalls nicht gewisse Spontan- oder Reflexhandlungen. Kleinkinder, die noch nicht Vernunftgebrauch besitzen, vollziehen keine "menschlichen Handlungen". Ebenfalls nicht geistig Behinderte (insofern solche Handlungen eben eine pathologische Ursache haben). Wenn jemand, aufgrund eines plötzlichen Schreckens, reflexartig jemand anderen zu Boden stößt, so war dies keine "menschliche Handlung". In all diesen Fällen können wir zwar von "Handlungen eines Menschen" sprechen, denn sowohl Schlafende, wie auch Kleinkinder, geistig Behinderte oder Subjekte, die Reflexhandlungen vollziehen sind ja Menschen. Aber die entsprechenden Handlungen werden nicht vollzogen aufgrund von Eigenschaften, die diesen Subjekten als Menschen spezifisch eigentümlich sind. Als menschlich zeichnet sich unser Handeln aus, weil es willentlich ist, das heißt vernunftgeleitetem Streben entspringt und wir darüber entsprechend Herrschaft besitzen: Wir wissen, was wir tun, welches die Folgen unseres Tuns auch für andere sind und aufgrund der Wahrnehmung von Verantwortlichkeit für diese Folgen können wir das eine tun und das andere lassen3. Handlungen von Kleinkindern, geistig Behinderten usw. sind eigentlich gar keine Handlungsvollzüge; sie gleichen eher "Naturereignissen". In einer bestimmten Hinsicht haben sie mit einem Erdbeben mehr gemeinsam, als mit einer menschlichen Handlung. So wie wir einem Erdbeben höchstens im metaphorischen Sinne "Verantwortung" oder "Schuld" für die Hervorbringung von Übeln zusprechen, so fallen auch die genannten "Geschehnisse" nicht unter die Kategorien von "Verantwortung", "Schuld und Verdienst", "Lob oder Tadel". Dies ist ein Zeichen dafür, dass sie Handlungen sind, die für die Ethik belanglos bleiben. Und damit haben wir auch bereits gesagt: "Menschliche Handlungen" sind extensional (umfangmäßig) identisch mit "sittlichen Handlungen". "Sittlich" hier nicht im Gegensatz zu "unsittlich", sondern im Gegensatz zu "sittlich nicht bewertbar" oder "sittich belanglos". Denn eine sittliche Handlung ist eine Handlung, die man loben oder tadeln kann4. (Fs)

56a Die Ethik beschäftigt sich also mit der menschlichen Handlung. Oder anders gesagt: Sittliches Handeln ist der Bereich jenes Tuns menschlicher Subjekte, das vernunftgeleitetem Streben entspringt (= "menschliche Handlung"). Deshalb beschäftigt sich Ethik mit jenem Tun des Menschen, das wir frei nennen, oder auch "willentlich", "verantwortlich", und wo wir loben und tadeln können. Der Bereich des Moralischen deckt sich mit jenem, wo auch Lob und Tadel ihren Ort haben. (Fs)


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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Zielgerichtetheit und Vernünftigkeit; Intentionalität (Beispiele: Bett, Nest); intentionale Basishandlung; ratio finis

Kurzinhalt: Intentionalität: Eine Beziehung zwischen einem "Tun" und einem "Wozu?" dieses Tuns, wobei das "Wozu?" gerade spezifiziert, was man eigentlich tut

Textausschnitt: c) Zielgerichtetheit und Vernünftigkeit

56b Der Zusammenhang zwischen Zielgerichtetheit des Handelns und Vernünftigkeit muss nun noch näher ausgeleuchtet werden. Stellen wir uns einen Menschen vor, der auf ein Bankkonto Geld einzahlt. Wir können ihn fragen, "was" er denn tue. Und die Antwort auf die Frage erhalten wir, wenn wir Aufschluss erhalten über das "Warum?" oder "Wozu?" dieses Tuns: "Ich lege mein Geld an", "ich spare", "ich bin dabei, unsauberes Geld zu waschen"; "ich bezahle eine Rechnung" usw. Hier gibt es Intentionalität: Eine Beziehung zwischen einem "Tun" und einem "Wozu?" dieses Tuns, wobei das "Wozu?" gerade spezifiziert, was man eigentlich tut. (Fs)

56c Dass hier das "Wozu man etwas tut" gerade das "Was man tut" ausmacht, vermag auch folgendes Beispiel zu erhellen: Wenn wir jemandem mitten am Tag auf seinem Bett liegen sehen und ihn fragen: "Was tust du?" und er uns antwortet: "Ich liege auf meinem Bett", so werden wir diese Rede eher als Verweigerung einer Antwort betrachten. Denn was wir meinten, als wir die Frage stellten, war: "Wozu liegst du auf deinem Bett?" Die Antwort müsste also beispielsweise lauten: "Ich ruhe mich gerade aus" oder "Ich betreibe Yoga". Damit ist gemeint: "Was ich tue ist folgendes: Ich liege auf meinem Bett, um mich auszuruhen" oder "um mich zu konzentrieren." Diese Antwort ist eine intentionale Erklärung, d.h. Ausdruck einer Intention. Und genau das ist es, was der Fragende mit seiner Frage erfahren wollte1. (Fs)

56d Es geht hier nicht um Intentionen im Sinne von Absichten wie "ein Auto stehlen um einen Verunfallten ins Spital zu bringen" oder "Geld anlegen (sparen), um seinen Kindern die Ausbildung zu finanzieren". Sondern vielmehr um jene Intention, die ein bestimmtes Tun überhaupt erst einmal in der fundamentalsten Weise als sinnvolle "menschliche Handlung" und damit auch als sittlich qualifizierbare Handlung konstituiert. Jene Intention also, die gleichsam die "unterste Schwelle" dafür bildet, damit wir überhaupt von einer menschlichen Handlung sprechen können. "Ein Auto stehlen" ist bereits eine solcherart definierbare Handlung. Nicht aber "mit einem Draht das Türschloss eines Autos öffnen". Was man hier tut, ist gar nicht klar (es könnte mein Auto sein, und ich habe versehentlich den Schlüssel stecken lassen; es könnte sich aber auch um einen Diebstahl handeln, wozu auch immer). Um was für eine Handlung es hier geht, das wird also erst klar durch Angabe eines "Wozu": "Er ist dabei, ein Auto zu stehlen". Diese Art von Intentionalität ist hier also gemeint. (Fs)

57a Wenn hier von einer "untersten Schwelle" die Rede war, so ist dies folgendermaßen zu verstehen: "Menschliche Handlungen" sind immer gewählte, gewollte Handlungen. Damit eine Handlung überhaupt gewählt, gewollt wird, bedarf sie einer primären oder fundamentalen intentionalen Strukturierung. "Auf dem Bett liegen" kann in dieser rudimentären (nicht-intentionalen) Form gar nicht "gewollt" und vollzogen werden. Wen jemand wählt, sich aufs Bett zu legen, so wählt er das "unter einer Beschreibung", die eben die Beschreibung einer Basis-Intention ist; z.B. "sich Ausruhen". Es geht hier also um "intentionale Basis-Handlungen", deren intentionaler Inhalt dasselbe ist, was man auch das "Objekt" einer Handlung nennt1. (Fs)

57b Intentionalität impliziert praktische Vernunft. Vögel beispielsweise haben keine Vernunft, und deshalb wissen sie nicht, was sie tun, wenn sie Zweiglein, Moos und dergleichen zusammentragen, d.h. dass sie ein Nest bauen. Intentionalität kennzeichnet jene Art von Streben, das eine doppelte Leistung der Vernunft einschließt: Erkenntnis eines Zieles; und Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen "dem, was man tut" (im rein physischen Sinne, z.B. "Aufbrechen eines Türschlosses", "Zweiglein zusammentragen") und diesem Ziel, dem "Wozu" ("Entwendung des Autos", "ein Nest bauen"). Erst beides zusammen bildet, was man eine "menschliche Handlung" nennt und gibt uns die Möglichkeit, ihren eigentlichen Inhalt, ihren Gegenstand (Objekt), also ihr praktisch relevantes "Was" zu identifizieren. Ein solches Handeln nennt man willentliches Handeln. Menschliches Handeln ist also von seinem Begriffe her (1) willentliches Handeln, (2) intentionales Handeln und (3) Handeln aufgrund von praktischer Vernunft. All dies fällt dem Umfange nach zusammen. (Fs) (notabene)

57c Aus der Perspektive des Beobachters besteht freilich zwischen dem Tun eines nestbauenden Vogels und einer intentionalen menschlichen Handlung kein angebbarer Unterschied. Man müsste hier "Handeln" einfach als kausale Verknüpfung von beobachtbaren Körperbewegungen (und anderen "Ereignissen") und dadurch hervorgerufenen Wirkungen beschreiben. Intentionalität ist nicht "beobachtbar", im Unterschied zur bloßen Zielgerichtetheit (Teleologie) eines Tuns. "Intentionalität" ist gleichsam die Innenperspektive von Teleologie: Nicht nur zielgerichtet etwas tun, sondern es in dieser Weise tun, weil das Ziel der Grund ist, um dessentwillen man es tut. Genau dies ist eine Intention. In diesem Zusammenhang steht der in der analytischen Philosophie ausgeprägte Gegensatz zwischen sogenannten "Intentionalisten" und "Kausalisten". Erstere verstehen Gründe (Intentionen) als Faktoren, die erklären, was man eigentlich tut und damit als Bestandteil der Handlung, nicht jedoch als (mentale) Ursachen einer Handlung. Letztere behaupten, "Gründe" seien mentale Ereignisse, die das Tun (= bestimmte Körperbewegungen) in einem strikt kausalen Sinn verursachen; damit wird nun Handlung auf "Körperbewegung" reduziert. Inwiefern diese Diskussion einem Scheinproblem und vor allem einem reduktionistischen Begriff von Kausalität entspringt, kann hier nicht ausführlich besprochen werden. Es scheint allerdings, dass analytische Philosophen keine Theorie der Willensakte besitzen, durch die entsprechende Dichotomien aufgelöst werden könnten. Dabei hat auch die Kritik von Gilbert Ryle1 am Dualismus Wille-Körperbewegung (Geist-Leib) entscheidend gewirkt. Im folgenden werde ich eine Position entwickeln, in der Intentionen sowohl als Bestandteile wie auch als Ursachen von Handlungen verstanden werden können.2

58a Deshalb erklärt Thomas von Aquin - im Anschluss an Aristoteles' Lehre über das hekousion - dass für die Willentlichkeit einer Handlung zweierlei notwendig ist: Erstens, dass die Handlung eigener Strebung, und nicht von außen kommender Gewalt entspringt (das trifft allerdings auch auf den nestbauenden Vogel zu). Zweitens, dass der Handelnde Kenntnis, Wissen bezüglich des Zieles besitzt1. (Fs)

58b Aber das genügt noch nicht, denn die Kenntnis des Zieles kann zweierlei Art sein: Auch Tiere brauchen Perzeptionen, sinnliche Erkenntnisse, um etwas zu tun. Der Instinktmechanismus wird perzeptiv ausgelöst, also durch eine Form von Wissen. Aber diese Form von Zielkenntnis ist unvollkommen, weil sie sich am Ziel nur die "Sachhaltigkeit" (res) erfasst, nicht aber, was Thomas die "ratio finis" nennt, d.h. gerade die "Zielhaftigkeit" dieser Sache. Nur wenn auch um diese letztere gewusst wird, gibt es eigentliche (vollkommene) Willentlichkeit; denn nur dann ist es möglich, auch die Beziehung mitzuerfassen, die zwischen dem Ziel und der Handlung besteht, die auf das Ziel gerichtet ist. Erst dann wird es möglich, das eigene Handeln intentional zu strukturieren, es gleichsam in eigener Regie zu vollziehen (bzw. auch nicht zu vollziehen), d.h. aufgrund von Zielen zu überlegen, was nun zu tun sei, und das zu Tuende im Hinblick auf das verfolgte Ziel zu wählen, bzw. das, was man immer schon tut, auf diesem Tun angemessene Ziele auszurichten2. Genau das ist die Leistung praktischer Vernunft. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Sittliche Handlungen als "immanente Tätigkeiten"; Praxis, Poiesis; oparatio transiens, immanens; das "gute" Leben; agathon

Kurzinhalt: ... dass die Perspektive der Praxis jene ist, in der es um Verwirklichung des Guten im handelnden Subjekt geht. Es geht darum, was die Griechen das "gute Leben" nannten

Textausschnitt: 59b Wenn wir bisher von Praxis sprachen, so haben wir auch das Kunsthandeln (Kunst und Technik) darin eingeschlossen. Denn auch Häuser bauen oder Schuhe fertigen ist ja eine Art von Praxis. Ebenso sind es die Tätigkeiten des Arztes oder des Künstlers. (Fs)
59c Um den Begriff "sittliche Handlung" als "menschliche Handlung" noch genauer zu bestimmen, müssen wir nun eine Unterscheidung zwischen Praxis im eigentlichen Sinne und Kunsthandeln einführen. Es ist die Unterscheidung zwischen "Praxis" und "Poiesis", zwischen "Handeln" und "Herstellen" (Fertigen, Produzieren, usw.). (Fs)

59d Die Unterscheidung meint nicht, dass alles, was ein Mensch tut, entweder Handeln oder Herstellen ist. Jedes Herstellen ist immer auch ein Handeln, eine Praxis. Aber gerade dieses "immer auch" rechtfertigt die Unterscheidung. Ein Arzt stellt die Gesundheit seiner Patienten her; ein Architekt konstruiert Häuser; ein Schuster fertigt Schuhe. Stirbt der Arzt, der Architekt oder der Schuster, so ist das Produkt seines Hersteilens - die Gesundheit der Patienten, die Häuser oder Schuhe - davon nicht betroffen. Das Herstellen nennt man deshalb eine "transeunte" Tätigkeit (operatio transiens1). Transeunte Tätigkeiten sind solche, deren Ergebnis "außerhalb" des Tätigen verbleiben und deshalb auch ohne ihn weiterbestehen. (Fs)

59e Bleiben wir nun beim Schuster, nicht aber bei seinen Leisten: Was "tut" denn nun der Schuster eigentlich, wenn er Schuhe herstellt? Und gemeint ist: Was tut er abgesehen von den rein technischen Aspekten seines Tuns? Mögliche Antworten sind: Er verdient sich den Lebensunterhalt; er dient seinen Kunden; er erfüllt seinen Schaffensdrang; usw. Ein "guter" Schuster ist ein solcher, der "gute" Schuhe herstellt. Aber wir können auch sagen: Ein guter Schuster ist ein solcher, der mit seinem Handwerk sich sein Leben verdient, für seine Familie sorgt, seinen Kunden dient. Wir haben hier aber zwei Mal in verschiedenem Sinne vom "guten Schuster" gesprochen. Im zweiten Fall meinte "gut" nicht die Fertigkeit, ein Produkt herzustellen, sondern das Ergebnis der Praxis, zu der dieses Herstellen gehört. Dieses Ergebnis der Praxis nun ist nicht eine Eigenschaft der hergestellten Schuhe, sondern des Schusters. Es ist jenes Ergebnis, das im Handelnden selbst verbleibt, weil es Teil des Lebensvollzugs des Handelnden ist. Praxis nennt man deshalb "immanente" Tätigkeit (operatio immanens), - analog zum Erkennen, dessen Ergebnis ja auch im Erkennenden verbleibt. Auch das "Sehen" verbleibt im Sehsinn; das "Fühlen" in demjenigen der fühlt; usw. (Fs)

60a Beim "Schuhe Herstellen" als Praxis betrachtet geht es nicht um das Gutsein der hergestellten Schuhe, sondern um den guten Vollzug der Handlung "Schuhe-Herstellen". [...]

61b Hier sollte vorerst hervorgehoben werden, dass die Perspektive der Praxis jene ist, in der es um Verwirklichung des Guten im handelnden Subjekt geht. Es geht darum, was die Griechen das "gute Leben" nannten. Das gute Leben ist nicht das befriedigende Leben und auch nicht ein Zustand der Gesellschaft, sondern jener Lebensvollzug handelnder Subjekte, durch den diese - wie es Aristoteles in Anlehnung an das in Piatons Dialog "Protagoras" diskutierte Gedicht des Dichters Simonides ausdrückt - "in Wahrheit gut sind"1, sogar, wenn man dabei das Leben lassen muss. Es geht, platonisch gesprochen, um das "Gut der Seele". Die Griechen kannten für diese spezifische Form des Guten (agathon), das als "in Wahrheit" sittliches, praktisches Gut im Handelnden verbleibt und ihn zu einem guten Menschen macht, den eigenen Ausdruck "to kalon": Das (sittlich) "Schöne". Es ist jenes Zuträgliche oder Nützliche, das sich nicht selbst noch einmal durch seine Zuträglichkeit oder Nützlichkeit für anderes zu rechtfertigen braucht. Sein Nutzen besteht darin, dass es dem Menschen als Menschen schlechthin zuträglich ist, wie z.B. "Gerecht-sein". (Fs)

61c Somit zeigt sich Ethik als eine Lehre vom "guten Leben". Wenn man genau zusieht, so wird deutlich, dass es eigentlich um gar nichts anderes gehen kann. Selbst wenn man jemanden dafür tadelt, dass er sich nicht um seine Mitmenschen kümmert, dass er unsozial oder ungerecht ist, so tadelt man ihn ja gerade, weil man der Meinung ist, dass er aus diesem Grunde eben kein guter Mensch sei. Wenn jemand an meiner Seite verhungert und ich konnte ihm nicht helfen, so wird man das höchstens bedauern, mich aber nicht dafür tadeln. Es ist nicht der Hungertod des anderen, was hier das Üble im sittlichen Sinne ist; sondern es wäre, hätte ich helfen können, meine Unterlassung der Hilfeleistung, die ein sittliches Übel wäre und Tadel verdiente. Eben deshalb tadelt man ja auch nicht die Natur, wenn ein Erdbeben Häuser zum Einstürzen bringt und dabei Menschen sterben. Man tadelt höchstens diejenigen, die aus tadelnswerten Gründen keine einsturzsicheren Häuser bauten oder mit mehr Voraussicht eine rechtzeitige Evakuierung hätten anordnen können. Man betrachtet sie als verantwortungslose Menschen und entdeckt vielleicht, dass sie aus Gewinnsucht, Schlamperei oder schuldhafter Inkompetenz das Nötige versäumt haben. Immer geht es um den handelnden Menschen, darum, zu was er sich selbst als Handelnder macht, und im gleichen Maße darum, wofür er Verantwortung trägt. Hier findet sich Schuld und Verdienst. Und Schuld und Verdienst sind Eigenschaften des handelnden Subjekts, und nicht von Ereignissen. (Fs)

62a Demnach taucht nun die Frage auf, welches denn nun ein gutes Leben sei. Wenn wir nämlich alles, was wir tun, um eines Zieles willen tun - und das ist es ja gerade, was uns zum Begriff des guten Lebens geführt hat - dann stellt sich die Frage, ob denn nicht auch das Leben als Gesamtes ein Ziel habe. Die Frage stellt sich aus zwei Gründen. Erstens, weil wir fragen müssen, ob die Vielfalt der Handlungen und Tätigkeiten, die nun einmal ein menschliches Leben ausmachen, nicht zu einer Einheit zusammengefasst werden müssen, damit das Leben als Gesamtes überhaupt Sinn hat. Und zweitens, weil uns die Frage beschäftigt, ob wir denn alles, was wir erstreben und tun, immer wiederum um eines anderen willen erstreben und tun, oder ob es da vernünftigerweise nicht vielmehr ein Letztes geben muss, das wir um keines anderen willen mehr erstreben, sondern nur um seiner selbst willen. Dies ist eine Frage, die sich aus der Analyse menschlichen Handelns und der Natur der praktischen Vernunft mit Notwendigkeit ergibt. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Aristoteles, Thomas; Glück - Tugend,

Kurzinhalt: Wir definierten ja Glück als "erfülltes Streben". Und Thomas sagt an andere Stelle, "das Glück erstreben" bestehe in nichts anderem als darin, "zu erstreben, dass der Wille gesättigt sei"

Textausschnitt: 65a Für Aristoteles und, außer den Kyrenaikern, generell für die antike Ethik ist ein solcher Begriff von Glück als Zustand von Erlebnissen des Befriedigtseins undenkbar1. Wie J. Annas2 wieder deutlich gemacht hat, ist der antike Begriff des Glücks an denjenigen der Tugend zurückgebunden und ihm untergeordnet. Nicht wird behauptet, der Tugendhafte sei schließlich der Glückliche, sondern wahres Glück, erfülltes, gelungenes, "gutes" Leben bestehe in der Tugend. Gerade deshalb besitzen antike Ethiken oft auch ausgesprochen kontraintuitive Züge, auf jeden Fall aber zwingen sie dazu, anfängliche Intuitionen darüber, was Glück, sei im Gefolge der ethischen Untersuchung zu revidieren: Nicht im Zustand des Befriedigtseins kann Glück bestehen, sondern in jener Erfüllung, in jenem Gelingen des Lebens, die allein durch das Gutsein dieses Lebens gekennzeichnet werden kann, und das wiederum ist das Leben gemäß der Tugend. (Fs)

65b Gleichwohl, und hier scheint sich ein nichtaufhebbarer Widerspruch zu zeigen, ist Glück eine bestimmte Art von "Befriedigtsein", von "Erfülltsein". Wir definierten ja Glück als "erfülltes Streben". Und Thomas sagt an andere Stelle, "das Glück erstreben" bestehe in nichts anderem als darin, "zu erstreben, dass der Wille gesättigt sei"3. Nun ist aber der Wille eben ein vernünftiges Streben. Und genau deshalb ist die Glücksformel weder eine Leerformel noch verstellt sie uns den Blick auf das "Sollen". Im Gegenteil: Sie zeigt uns erst, was "Sollen" überhaupt meint. Die aristotelische Formel, dass wir als letztes Ziel alle nach dem Glück streben, schließt nämlich ein - und auch hier wiederum besteht in der antik-klassischen Ethik Konsens -, dass das Glück nur darin zu finden sein kann, was wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen wollen können. Anders formuliert: Was wir letztlich erstreben sollen, ist gerade, was allein wir vernünftigerweise um seiner selbst willen wollen können (wir können natürlich vieles um seiner selbst willen erstreben; aber nicht alles nach Maßstäben der Vernünftigkeit). Deshalb treibt uns die aristotelische Glücksformel zu einer Analyse dessen, was denn allein vernünftigerweise um seiner selbst willen gewollt werden kann; worin denn allein vernünftigerweise Erfüllung des Strebens, Sättigung des Willens gesucht werden kann. Da eben "Glücksstreben" nicht eine psychologische Leerformel für die Beschreibung eines subjektiven Zustandes von Befriedigungs-Erlebnissen ist, sondern die Formel für das Letzte eines vernunftgeleiteten Strebens - d.h. für ein vernunftgemäßes Letztes -, so ist die inhaltliche Bestimmung von Glück prinzipiell auch einer Begründung durch Vernunft zugänglich. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Aristoteles: das zweifache Glück, Anthropologie der Lust; Theorie, Schauen; duplex felicitas; die Lust als ein Ganzes

Kurzinhalt: Nach der formalen Bestimmung von Glück ... wird nun der Inhalt des Glücks ausgemacht als "der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele ...

Textausschnitt: 68a Nach der formalen Bestimmung von Glück als vollendetes und sich selbst genügendes Gut, dessen Erlangung allein das Leben begehrenswert macht, und das - weil es ja ein Gut sein muss, das auch tatsächlich erlangt werden kann - ein menschliches Gut zu sein hat (ein Gut des Menschen und im Menschen), wird nun der Inhalt des Glücks ausgemacht als "der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele" und, sofern es mehrere Tugenden gibt, "der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit". Aristoteles fügt hinzu: "Dazu muss aber noch kommen, dass dies ein volles Leben hindurch dauert"1. (Fs)

68b Der Mensch zeichnet sich ja durch Vernunft aus. Sie ist ihm eigentümlich und durch sie unterscheidet er sich von anderen Lebewesen. Und demgemäß muss Glück in einer Tätigkeit der Seele bestehen, und zwar jenes Teils der Seele, die Vernunft besitzt, bzw. in den Tätigkeiten anderer Teile der Seele, aber unter der Herrschaft der Vernunft. Der Gedankengang erscheint zunächst nicht sehr befriedigend, weil nicht deutlich wird, weshalb denn nun solche Tätigkeit jenes ist, das wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Dies wird erst im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik deutlicher. (Fs)

68c Dort heißt es: "An sich begehrenswert aber sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst"1. Die Tugenden des "politischen Lebens" - der Existenz in der menschlichen Gemeinschaft - formulieren keine Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie alle zielen auf etwas, das von diesem Leben selbst wiederum verschieden ist. Was man um seiner selbst willen sucht, ist eine Tätigkeit, die frei von Sorge, von Ermüdung, die voller Freiheit und Muße ist. Eine Tätigkeit die sättigt, ohne satt zu machen. Eine solche Tätigkeit ist allein die Betrachtung der Wahrheit, die Kontemplation (theoria). Sie ist eine Tätigkeit, die selbst nichts bringt, und doch alles bringt, weil allein sie um ihrer selbst willen vollzogen werden kann. Das Schauen birgt seine Erfüllung in sich. In der Eudemischen Ethik spricht Aristoteles sogar noch deutlicher von der "Betrachtung Gottes" als jenes Letzten, in dem allein menschliches Streben und Tun zur Ruhe gelangen2. (Fs) (EN X,6 1176b7) (notabene)

69a Dieses Glück und ein solches Leben der Theoria - fügt Aristoteles hinzu - scheint jedoch eher göttlich, als menschlich zu sein. Gott ist ja, gemäß dem zwölften Buch der Metaphysik, reine Intellektualität, die sich selbst schaut. Dennoch solle man nach diesem Göttlichen streben, denn der Verstand (nous) ist eben das Göttlichste und Beste in uns, und nach dem Besten sollen wir streben1. (Fs) (notabene)

69b Aber auch die übrigen Tugenden, die sittlichen, die wir im Bereiche des menschlichen Zusammenlebens (der Polis) verwirklichen, sind Tätigkeiten gemäß der Vernunft. Aristoteles folgert daraus, was den Aristoteles-Interpreten viel Kopfzerbrechen bereitet: "An zweiter Stelle ist dasjenige Leben glückselig, das der sonstigen Tugend gemäß ist"2. Es handelt sich hier um ein Glück menschlicher Art, das sich nun gerade nicht durch eine einzige Tätigkeit, sondern durch eine geordnete Vielfalt von Tätigkeiten gemäß der Vernunft auszeichnet: Ein Leben gemäß allen sittlichen Tugenden, das eben auch ein Tätigsein gemäß der Vernunft ist, dem Göttlichsten und Besten in uns. (Fs)

69c Das letzte Wort zum Thema bleibt damit: Glückselig ist ein Mensch, insofern und nur insofern er irgendwie an Theoria teilhat, insofern sein Leben durch Tätigkeit von Intellekt und Vernunft geprägt ist. Alles, was glücklich macht, kann dies nur, insofern es irgendwie mit Vernünftigkeit zu tun hat. In erster Linie das Schauen, das Betrachten dessen, was Gott selbst schaut (und das ist Gott selbst: denn Gott ist für Aristoteles noEsis noEseOs, reine Erkenntnistätigkeit, die sich im Akt des Erkennens ihrer selbst befindet); in zweiter Linie das Ausrichten von Affekten und Tun gemäß der Vernunft im menschlichen Leben der Polis. (Fs) (notabene)
69d Was verwundert, ist, dass es überhaupt so etwas wie ein zweitrangiges Glück geben kann. Das scheint dem Begriff von Glück als etwas Vollendetem gerade zu widersprechen. Die Aristotelische Lehre über die - wie sie später genannt wurde - duplex felicitas (das "zweifache Glück"), kann nur anthropologisch sinnvoll gedeutet werden. Und Aristoteles selbst gibt uns den Schlüssel zum Verständnis. (Fs)

69e Bis anhin blieb nämlich unerwähnt, dass die Lehre von der Glückseligkeit von EN X sich im Anschluss an den Traktat über die Lust befindet. Mehr noch, sie gehört eigentlich zu diesem Traktat und bildet dessen Höhepunkt. Aristoteles meint, die Glückseligkeit müsse zugleich das Lustvollste und Genussreichste sein. Lustvollkommenheit ist ein Indikator für Glücksvollkommenheit. Demnach sind Abstufungen möglich: "Mag es nun der Tätigkeiten des vollkommenen und glückseligen Mannes nur eine oder mehrere geben, so wird die sie vollendende Lust es sein, die man als die eigentlich und vorzügliche menschliche Lust zu erklären hat. Die übrigen Arten von Lust können dafür erst an zweiter und weiterer Stelle gelten, entsprechend den Tätigkeiten"1. (Fs)

69f Mit Lust und Genuss ist etwas angesprochen, was durchaus zur Eigenart des Letzten gehört: Die "Vollendung der Tätigkeit"2, das zum Ende Kommen und Ruhen des Strebens. Die Lust ist "ein Ganzes", sie ist ohne Dauer, weil zeitlos, unteilbar, ohne Werden. Aristoteles vergleicht die Lust mit dem Sehen: "Der Akt des Sehens scheint in jedem Zeitmoment vollendet zu sein"3. Jeder Sinn hat seine Lust; aber auch das Betrachten, die Theoria besitzt die ihr eigene Lust; wir nennen sie Freude: Sie ist eine besondere, geistige Art von Lust oder Genuss im Besitz des Geliebten. Aber gerade, weil es überall, wo es Tätigkeit gibt, auch Lust gibt, und alle Lust den Charakter des Letzten besitzt, vermag das Luststreben zu desorientieren. Wohlverstanden, es gibt auch geistige Genüsse und Freuden, die zu desorientieren vermögen. "Lust" ist hier ein Obergriff, der jegliches Genießen und Sich-freuen einschließt. (Fs)

70a Ist denn nun also Glücklichsein doch ein Zustand von Genusserlebnissen? Nicht ganz. Sicher ist, dass Glück ein genussreicher Zustand, oder besser: eine genussreiche, lustvolle Tätigkeit ist. Wenn aber Glück selbst wesentlich in der Lust bestehen würde, dann wäre es ja einerlei, wie wir Lust erhalten. Und zudem würde Glücklichsein-Wollen heißen, nach Lust oder Befriedigung zu streben. (Fs)

70b Falls wir beispielsweise der Meinung wären, im Anhören von Musik von Mozart sei der höchste musikalische Genuss zu finden, so werden wir, wenn wir eine CD von Mozart auflegen, dies dennoch nicht deshalb tun, weil wir nach einer bestimmten Art von Lusterlebnis streben. Könnten wir durch eine Apparatur erreichen, dass uns das entsprechende Lusterlebnis auch ohne das Anhören von Mozarts Musik vermittelt werden könnte, so würden wir das dennoch nicht wollen. Denn was wir wollen, ist Mozarts Musik hören, nicht das Befriedigungserlebnis, das damit verbunden ist. Was wir wollen ist ein bestimmtes Tun (hier: das Hören von Mozarts Musik). [...]

70c Darin liegt nun gerade die Pointe: Was wir immer erstreben oder wollen, ist ein praktisches Gut, eine Tätigkeit (z.B. Musik-Hören), und nicht die Befriedigung, die aus diesem Gut oder aus dieser Tätigkeit folgt. Das Glück erstreben heißt, jene Tätigkeit zu erstreben, die unser Streben sättigt, befriedigt und die deshalb im höchsten Maße lustvoll ist. Denn unser Streben ist nicht gesättigt, weil wir genießen, sondern wir genießen, weil das Streben gesättigt ist. Deshalb heißt "glücklich sein wollen" nicht "Lusterlebnisse erstreben", und dann zu fragen, durch welche Art von Tätigkeit wir sie am besten erlangen können. Die Frage nach dem Glück ist vielmehr die Frage nach jener Tätigkeit die wir allein vernünftigerweise um ihrer selbst willen erstreben können, weil wir wissen, dass nur jenes, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben auch das im höchsten Sinne oder eben vollkommen Lustvolle ist. Und dies eben deshalb, weil nur, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben, unser Streben zum Ende bringen, sättigen kann, weil ja unser Streben "Wille", d.h. vernünftiges Streben ist. (Fs) (notabene)

70d Gerade weil wir auf Tätigkeit, und nicht auf Genuss aus sind, scheint es uns auch einleuchtend, wenn Aristoteles sagt, "niemand möchte leben, wenn er immer nur den Verstand eines Kindes haben und alles, was den Kindern Freude macht, im höchsten Maße genießen sollte; und niemand möchte eine Freude haben um den Preis einer sehr schimpflichen Handlung, auch wenn ihm aus derselben niemals eine Unlust erwachsen sollte"1. (Fs)

71a Die Lust entgleitet uns immer gerade dann, wenn wir sie direkt intendieren. Das Ergebnis ist Frustration und Unfähigkeit zur Freude2. Auf der Ebene des sinnlichen Strebens ist das ja schon völlig eindeutig: Der Appetit wird angeregt nicht durch das Vorstellen von Lusterlebnissen, sondern durch die Vorstellung dessen, was solche Erlebnisse hervorrufen kann. Kein sinnliches Streben richtet sich auf das Erleben von Lust. Der Sehsinn wird nicht durch die Vorstellung des Genießens von Farbharmonien in aktualisiert, sondern durch Farben oder farbige, gestaltete Gegenstände. Lust als Gegenstand einer Intention ist bereits eine intentio obliqua. Deshalb können nur Menschen, nicht aber Tiere, sich hedonistisch verhalten. (Fs) (notabene)

71b Nun nennen wir "Wille" jenes Streben, das der Vernunft folgt. Die Vernunft hat jedoch nicht Freuden zum Gegenstand, sondern Güter, und zwar praktische Güter, also Tätigkeiten bzw. Handlungsinhalte, über die man sich freuen kann. Wir können zwar unsere Intentionen direkt auf Lusterlebnisse richten. Aber dann werden wir sicher nicht finden, was wir intendieren. Es ist der beste Weg, um das wahrhafte Genießen zu verpassen. (Fs)

71c Wahre Freude erreicht man ja oft nur auf Umwegen, d.h. gerade nur insofern man eben das tut, was gut ist, ohne dabei an die Befriedigung zu denken. Wenn auch die beste Tätigkeit die Lustvollste ist, so ist sie unter den konkreten Bedingungen, unter denen wir sie vollziehen oder erstreben, oft nicht die Lustvollste. Das liegt daran, dass eine sinnliche Unlust (z.B. Schmerz, Mühe) im Augenblick überwiegen kann und die Freude sich erst einstellt, wenn man trotz Unlust das Gute tut. So lesen wir bei Aristoteles: "Auch liegt uns manches sehr am Herzen, das für uns keine Lust im Gefolge hat, wie Sehen, Gedenken, Wissen, Besitz der Tugenden. Führen diese Dinge notwendig einen Genuss und eine Befriedigung mit sich, so macht das nichts aus. Denn wir würden sie auch dann begehren, wenn keine Lust aus ihnen flösse"1. Auch der Hedonist J. S. Mill musste zugeben, dass es besser ist, ein unbefriedigter Mensch als ein befriedigtes Schwein, ein unbefriedigter Sokrates, als ein befriedigter Dummkopf zu sein2. Das Problem seiner Theorie ist, dass sie nicht zu erklären vermag, was hier eigentlich mit "besser" gemeint ist. (Fs)


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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Aristoteles: Anthropologie der Lust; Glück, Doppeldeutigkeit

Kurzinhalt: ... die Vollkommenheit von Lust, und damit ihr Gut - oder Schlechtsein hängt ab von der Vollkommenheit der Handlung, aus der sie folgt

Textausschnitt: 71d Um die Frage nach der besten Tätigkeit kommen wir also - gerade wenn wir eine richtige Anthropologie der Lust zugrunde legen - nicht herum. Die Frage nach der Lust ins Zentrum stellen, wie dies Aristoteles tut, bedeutet nicht, Hedonist zu sein, sondern einfach zu berücksichtigen, dass nun einmal die Vollendung jedes Strebens und Tuns das ihm eigentümliche Genießen ist. Daran ist ja nun gar nichts Kritikwürdiges, im Gegenteil. Es handelt sich hier um ein anthropologisches Faktum. Aristoteles zögert nicht, die Lust und das Genießen etwas Göttliches zu nennen, denn die Götter, so meint er, genießen ja am meisten. Und schöpfungsmetaphysisch dürfen wir sagen: Dass die Vollendung einer jeden Tätigkeit in einer Form von Lust oder, im Falle der geistigen Tätigkeiten, von Freude ist, das ist Teilhabe des Geschöpfes an göttlicher Vollkommenheit. Lust erleben ist Zeichen von Vollkommenheit. Der Mensch ist ein Wesen, das auf Freude hin angelegt ist. Und gerade deshalb ist die Theorie der Lust, wie Aristoteles erkannt hat, so ungemein wichtig für die Ethik. Aber die Vollkommenheit von Lust, und damit ihr Gut - oder Schlechtsein hängt ab von der Vollkommenheit der Handlung, aus der sie folgt; und von ihrer Angemessenheit für den, dem sie zuteil wird. (Fs) (notabene)

72a Um zu wissen, welche Lust gut ist, müssen wir also wissen, welche Tätigkeiten gut sind. Und um zu wissen, welches die beste Lust ist, müssen wir wissen welche die beste Tätigkeit ist. Dann wissen wir auch, worin das Glück zu finden ist. Denn Glück, beste Tätigkeit und höchste Lust fallen in eins. Und gerade deshalb auch vermag uns das Streben nach Lust, das Aus-sein auf Lusterlebnisse, gerade nicht glücklich zu machen, sondern nur zu desorientieren. Befriedigung als Handlungsziel anstreben ist die beste Weise, um das Glück zu verpassen. Was wir wissen müssen ist, welches die für den Menschen beste Tätigkeit ist. "Lust und Unlust", sagt Aristoteles, "sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie. Denn es ist für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust oder Unlust empfindet"1. (Fs) (notabene)

72b Die beste Tätigkeit ist diejenige, an welcher der Tugendhafte Freude hat. Um sie zu bestimmen, dafür gibt uns Aristoteles' Argumentation den anthropologischen Schlüssel in die Hand, der nun eigentlich einleuchtend ist: "Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist im Unterschied von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genussreichste. Also ist dies für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist. Mithin ist dieses Leben auch das glückseligste"2, - in erster Linie das Leben der Theoria, der Kontemplation; in zweiter Linie das Leben gemäß den sittlichen Tugenden, das in der Ordnung unseres menschlichen Tuns und unserer Affekte als leib-geistige Wesen ein Leben gemäß der Vernunft ist. (Fs)

72c Doch irgendwie bleibt diese Antwort unbefriedigend und "durch eine tiefe Doppeldeutigkeit gekennzeichnet"3. Aristoteles ist der Letzte, der dies zu verschleiern sucht. Das Glück, von dem uns Aristoteles spricht, ist eine höchst prekäre Angelegenheit. Das "erstrangige" Glück wäre das Leben des Philosophen; wenigen ist es vergönnt, eine theoretisches Leben zu führen; und auch diese Wenigen müssen sich ja noch um manches kümmern, was auch sonst noch zum Leben gehört. Und das zweitrangige Glück scheint nicht minder unvollkommen als das erstrangige zu sein. Dazu kommt, dass es in hohem Masse vom Besitz äußerer Güter und vom "Glück", der tyche, abhängt. In der Tat ist die Aristotelische Position "unstabil"4, was jedoch m. E. gerade Teil ihrer Wahrheit ist (darauf wird zurückzukommen sein, wenn wir vom fragmentarischen Charakter aller philosophischen Ethik sprechen werden, sowie im Epilog.). Keineswegs bedeutet die Instabilität der Aristotelischen Position, dass sie eigentlich den "Kollaps der eudämonistischen Ethik" bedeutet und an die Stelle des Prinzips Glücks ein anderes Prinzip gesetzt werden sollte5. Denn die Wahrheit der Aristotelischen Auskunft über das Glück bleibt trotz ihres problematischen Charakters unangetastet. "Wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zwecke zu tun, dem Besten, was in uns ist, nachzuleben. Denn wenn es auch klein ist an Umfang, so ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende"6. Und das Beste, das ist der "Gott in uns": Der Intellekt - bzw. die Vernunft -, der uns die "Dimension der Wahrheit, des Guten, des Heiligen, des Unbedingten" eröffnet, eine "Dimension, die verschwinden würde, wenn man sie als lebenspraktische Funktion im Dienste der Arterhaltung verstünde"7. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas: Glück - Reichtum, Ehre, guter Ruf, Macht (vier Argumente); Glück als Gut des Leibes oder Seele;

Kurzinhalt: Besitz von Reichtum, Ehre, guter Ruf, Macht können nicht dieses Äußerste sein. Vier Hauptgründe werden genannt: ...

Textausschnitt: 73a Thomas v. Aquin behandelt die Frage nach der Bestimmung des Glücks als Metaphysik des Handelns. Sie führt zu einer vollen Integration der Aristotelischen Lehre, und zugleich zu ihrer theologischen Relativierung und philosophischen Ausgrenzung. Die Fragestellung zielt von Anfang an auf das, was Thomas die "beatitudo perfecta" nennt, das "äußerste Seinkönnen des Menschen"1. Die Analyse wird vorangetrieben bis zur Bestimmung dessen, woraufhin menschliches Tätigsein und Seinkönnen als Äußerstes angelegt sind. (Fs) (notabene)

73b Besitz von Reichtum, Ehre, guter Ruf, Macht können nicht dieses Äußerste sein. Vier Hauptgründe werden genannt2: All dies kann sowohl guten wie auch schlechten Menschen zukommen. Das Glück jedoch kennt keinen Mangel. "Ein schlechter Mensch sein" ist nun aber ein Mangel. Zweitens sind alle diese Güter vereinbar mit der Möglichkeit, dass einem andere Dinge wie Weisheit oder Gesundheit fehlen. Drittens können aus all diesen Gütern Übel entspringen; viertens schließlich hängen diese Güter eher von äußeren Umständen, Glück, Fügung und Zufall aber, nicht aber von Ursachen, die im Inneren des Menschen liegen; das Glücksverlangen entspringt jedoch dem Inneren des Menschen und kann demnach nur von innen her gesättigt werden. (Fs; I-II, q. 2, a. 4.) (notabene)

73c Besteht das Glück in einem Gut des Leibes?3 In der Selbsterhaltung, in der Gesundheit? Das ist nicht möglich. Auch einem Schiffskapitän geht es ja letztlich nicht darum, sein Schiff zu erhalten, sondern etwas damit zu erreichen. Nur wer selbst das höchste Gut ist, und demnach gar kein Ziel mehr zu verfolgen braucht - oder wer schon beim Letzten angelangt ist -, für den ist auch Selbsterhaltung ein Letztes4. Zweitens sind die Güter des Leibes auf jene der Seele hingeordnet. Also ist es nicht möglich, dass jenes, was vernünftigerweise als Letztes erstrebt werden kann, ein leibliches Gut ist. (Fs; Fußnote)

73d Das Glück kann auch nicht in der Lust gefunden werden5, weil Lust, auch geistige, aus dem Besitz des Guten erst folgt; und nach diesem Gut zielt ja die Frage. In der Lust der Sinne kann das Glück schon deshalb nicht bestehen, weil diese immer endlich ist und nicht jene Sättigung zu erwirken vermag, nach der uns verlangt. Das Glücksverlangen ist ja ein Verlangen des Willens; es ist ein intellektives Verlangen. Das Glück im Sinnesgenuss suchen führt zur Frustration, zu immer mehr Genussstreben mit zunehmend weniger Befriedigung. (Fs)

74a Besteht das Glück in einem Gut der Seele?6 Wenn wir das Gut, das wir suchen, als "finis cuius" betrachten, d.h. als die "Sache", durch deren Erlangen unser Verlangen gesättigt wird, so kann dieses nicht ein Gut der Seele sein. "Denn das menschliche Streben, der Wille, richtet sich auf ein universales Gut", - d.h. ein solches, das unter allen möglichen Gesichtspunkten, unter unendlichen oder indefiniten Gesichtspunkten gut ist. Jedes Gut der menschlichen Seele ist jedoch partikular und endlich. Betrachten wir jedoch das letzte Ziel des Menschen als "finis quo", als "Ziel für den Menschen" (praktisches Gut), so muss gesagt sein, dass es in einem Gut der Seele besteht: Es ist ein Gut, das im Besitz der Seelenkräfte ist, das also der Mensch durch und in Tätigkeiten seiner Seele erlangt. Und ein solches suchen wir ja, wenn wir in der Perspektive der Praxis von Glück sprechen. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas: Glück, finis cuius, finis quo; Gott als Sättigung des Willens (Begründung von der Analyse des Willens her); das Glück als Tätigkeit

Kurzinhalt: Jedes Wollen ist entweder antizipierte Gegenwart des Erstrebten oder aber Ruhen im Besitz des Erstrebten; nicht aber ist es, was diese Gegenwart oder den Besitz erwirkt1. Dieses Erwirken ist Leistung des Erkennens ...

Textausschnitt: 74b Nun bleibt aber noch zu fragen, welches denn die außerhalb der Seele liegende Ursache des Glücks ist: ist diese Ursache ein geschaffenes oder ein ungeschaffenes Gut?1 Thomas wiederholt: "Gegenstand des Willens, der das (spezifisch) menschliche Streben ist, ist das universale Gut; wie der Gegenstand des Intellektes das universale Wahre ist. Daraus folgt, dass nichts den menschlichen Willen zu sättigen vermag, außer ein universales Gut." Ein solches ist aber nur Gott: "Deshalb vermag nur Gott den menschlichen Willen zu füllen": "Unde solus Deus voluntatem hominis implere potest." (Fs) (notabene)

74c Man hat diese Antwort natürlich erwartet. Sie ist nun jedoch handlungsmetaphysisch abgesichert und gerechtfertigt und bleibt eine überwältigende Antwort. Die Begründung beruht auf der Einsicht in das Wesen von Intellektualität. Der menschliche Intellekt ist Erkenntnis-Potenz, die zwar nicht alles zugleich vermag (und darin liegt ihre Endlichkeit), aber eben dennoch fähig ist, alle Realität in sich aufzunehmen und ins Unendliche und nach unendlich vielen Hinsichten sich dem, was ist, zu öffnen. Die intellektive Seele ist "gewissermaßen die Gesamtheit der Dinge"2, sie ist quodammodo omnia. Und ein Streben, das wie der Wille, sich nach dem Intellekt richtet, ist ein Streben, das gar nie gesättigt werden kann, es sei denn, es werde eines Gutes teilhaft, das in solch unendlicher Hinsicht gut ist. Genau das meint auch der Satz des Augustinus: "... fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te ": "Geschaffen hast Du uns auf Dich hin, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es ruht in Dir"3. (Fs)

74d Die Pointe der Argumentation ist: Nicht weil Gott Schöpfer oder "höchstes Wesen" ist, kann nur er letztes Zielgut des Menschen sein - dann müssten ja auch auf Tiere ihre Erfüllung in Gott finden -, sondern weil nur er jenes Gute ist, das den Willen des Menschen zu sättigen vermag. Da menschliches Glücksverlangen durch Intellektualität geprägt ist, kann es überhaupt nur durch das Erlangen des Unendlichen gesättigt werden. Allerdings ist nun anzugeben, worin denn dieses Erlangen besteht. Deshalb nun, nach der Frage "Welches ist das Gut, das unser Streben sättigen kann?", die Frage: Was ist das Glück? Worin besteht diese Sättigung?4 (Fs) (notabene)

74e Das Glück ist zunächst einmal, als "finis quo" betrachtet, was uns hier interessiert, ein geschaffenes Gut5. Wenn es so etwas wie Glück für den Menschen gibt, dann ist dieses, auch wenn dessen Ursache ungeschaffen ist, "etwas Geschaffenes, das im Menschen selbst vorhanden ist". Es ist "eine ganz und gar 'geschöpfliche' eine von innen her menschliche Realität - und nicht eine von außen her auf uns eindringende Überwältigung. Es ist nicht nur etwas, das uns widerfährt; wir selber sind, als Wirkende, aufs intensivste beteiligt"6. (Fs)
75a Gerade deshalb schon muss nun "Glück" in einem Tun bestehen7. Das Tun, die Tätigkeit, In-Akt-sein, ist die letzte Vollendung eines jeden Seienden. Und Glück, das ist Vollendung, und zwar immanente Vollendung; nicht nur höchste Form des "etwas tun Könnens" (im Sinne des transeunten Hersteilens), sondern höchste Form von Praxis und Lebensvollzug. Und weil das Ergebnis von Praxis im Handelnden verbleibt, heißt dies: höchste Form von Sein-können. Um nicht in einzelne "Aktivitäten" zu zerfallen sondern den Charakter eines Lebensvollzuges zu besitzen, muss dieser Tätigkeit "Kontinuität und Einheit" eigen sein8. (Fs)

75b Diese Tätigkeit kann nicht ein Akt der Sinne sein; aufgrund der Sinne ist es nicht möglich, mit dem ungeschaffenen, unendlichen Gut in Verbindung zu treten9. Und im intellektiven Teil der Seele? Ist das Glück ein Tätigsein des Willens?10 Auch das ist nicht möglich. Und zwar aus den Gründen, die wir aus Aristoteles' Behandlung der Lust kennen: Das Ruhen des Wollens ist delectatio, geistiges Genießen, Freude, eine Form von Lust. "Wollen" ist Begehren des Guten, sich Hinneigen zu ihm, sich auf das Ziel hin Bewegen. Darin kann ja nun das Glück gerade nicht liegen. Kommt das Wollen jedoch zur Ruhe, so ist das deshalb, weil das Ziel gegenwärtig und das Wollen erfüllt ist. "Delectatio", Genießen und Freude sind Folge der Gegenwart, des Besitzens des Gutes. Dafür kann der Wille nicht verantwortlich sein, denn da gibt es ja gar nichts mehr zu wollen. Wollen bzw. sich freuen ist immer "Wollen von etwas" und "sich freuen über etwas". Es bedarf der Gegenwart des Gewollten, damit das Wollen ruht. Jedes Wollen ist entweder antizipierte Gegenwart des Erstrebten oder aber Ruhen im Besitz des Erstrebten; nicht aber ist es, was diese Gegenwart oder den Besitz erwirkt11. Dieses Erwirken ist Leistung des Erkennens, das ein Gut für den Willen erst sichtbar, erstrebbar und im Genießen erlebbar macht. Deshalb kann das Glück nur in einem Akt des Intellektes bestehen12. Und das heißt: Glück ist Erkennen von Wahrheit, Erfassen von Wirklichkeit, Schauen dessen, was ist. Da sind wir nun wieder bei Aristoteles angelangt, - und auch bei Augustinus, der das Glück gaudium de veritate, "Freude über die Wahrheit"13 nennt: Glück ist Freude durch die Sättigung des Willens im Erkennen der Wahrheit. (Fs) (notabene)

75c Da sich jedoch der Intellekt in verschiedener Weise zu Wahrheit verhält, ist die Untersuchung noch nicht abgeschlossen, obgleich nun sämtliche noch verbleibenden Möglichkeiten bereits nur noch Aspekte dessen sein werden, was in Tat und Wahrheit Glück genannt zu werden verdient. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas, Glück: Tätigkeit des theoretischen Verstandes - > visio beatificy; duplex felicitias; naturale desiderium; Boethius "beatitudo est ...

Kurzinhalt: Ein Naturverlangen, das durch Staunen vor dem, "was ist" ausgelöst wird, und zum Nachforschen antreibt. Und dieses Naturverlangen ruht nicht, bis der Intellekt nicht das Wesen der Ursache erfasst hat ...

Textausschnitt: 75d Wenn auch Glück wesentlich in einem Akt des Intellektes besteht, so ist dieser doch mehr ein Akt des spekulativen (theoretischen), als des praktischen Intellektes; es besteht mehr im Erfassen von Wahrheit, als im vernünftigen Ordnen der Handlungen und Affekte1. Es handelt sich hier nur um ein "mehr als": Die Aristotelische duplex felicitias eines erstrangigen und eines zweitrangigen Glücks ist also nicht ausgeschlossen. Liegt demnach das Glück in der Spekulation gemäß den theoretischen Wissenschaften?2 Das ist unmöglich: Denn alle spekulative Wissenschaft des Menschen geht von den Sinnen aus. So können wir höchstens zur Erkenntnis der Existenz Gottes gelangen (des "dass er ist"), nicht aber zur Erkenntnis dessen, "was er ist". Die spekulativen Wissenschaften sind also nur ein Teilhaben, eine Partizipation an der vollkommenen Beatitudo. (Fs)

76a Erst danach wird nun der Gedanke präzisiert und zu Ende geführt1: Der Mensch kann nicht glücklich sein, solange seinem Streben noch etwas übrig bleibt. Da wir nun wissen, dass das Glück Akt des schauenden Intellektes ist, so kann es nur in jenem Vollzug bestehen, in dem dieser Akt des Intellektes seine Vollkommenheit findet. Das Wesen des Intellektes besteht aber darin, zur Erkenntnis dessen fortzuschreiten, was die Dinge sind. Er begnügt sich nicht mit Erkenntnissen, des "dass etwas ist". Solange also der Mensch nur weiß, dass Gott existiert, ist sein Wissen-wollen nicht gesättigt: Er bleibt beim Staunen stehen. Das Staunen treibt jedoch weiter zum Wissen-Wollen. Erst wenn man weiß, was Gott ist, wenn also sein Wesen erfasst ist, kann der Intellekt zum Letzten gelangt sein, wohin es ihn seiner Natur nach drängt. Solange das nicht der Fall ist, kann der Mensch nicht vollkommen glücklich sein. (Fs) (notabene)

76b Thomas nennt dieses Weitergetrieben werden des Intellektes bis hin zur Erkenntnis des "Was" ein "natürliches Verlangen (naturale desiderium) das 'Was' der Ursachen zu erfassen". Ein Naturverlangen, das durch Staunen vor dem, "was ist" ausgelöst wird, und zum Nachforschen antreibt. Und dieses Naturverlangen ruht nicht, bis der Intellekt nicht das Wesen der Ursache erfasst hat. "Deshalb gehört es zum vollkommenen Glück, dass der Intellekt das Wesen der ersten Ursache erfasst. Und so erreicht er seine Vollendung, in dem er sich mit Gott als Gegenstand seines Intellektes vereinigt", denn intellektives Erfassen heißt ja im Erkenntnisakt sich mit dem Gegenstand der Erkenntnis zu vereinen: Im Akt sind Erkennendes und Erkanntes dasselbe2. Darin also, in der Schau des Wesens Gottes (visio divinae essentiae) besteht das letzte Ziel des Menschen als sein äußerstes Seinkönnen. Dieses Schauen ist "visio beatifica", "Schauen, das in vollkommener Weise glücklich macht". (Fs) (notabene)

76c Man ist vielleicht geneigt zu meinen, dies könne wohl nur das Ideal eines Philosophen (oder Theologen) sein. "Erkennen des Wesens Gottes", das klingt nun allerdings eher trocken. Wir können uns ja nichts darunter vorstellen, als was wir sonst als "Erkennen von etwas" erfahren haben. "Schau Gottes" ist aber etwas wesentlich anderes, so wesentlich anderes, wie eben das wesenhaft Unendliche sich vom Endlichen unterscheidet. Aber Erkennen oder Schauen, deren höchste und umfassendste Form die intellektive Schau ist, heißt so viel wie im Besitz dessen sein, wonach es menschlichem Streben seinem tiefsten Wesen gemäß verlangt. Schau Gottes, das kann nur bedeuten, das Leben Gottes mitzuleben, alle Vollkommenheit, alle Wahrheit, alle Schönheit, Harmonie und Pracht in sich aufzunehmen, daraus zu leben und sie zu genießen; es heißt, in einem "Augenblick, der verbleibt" und zugleich intensivstes Tätigsein ist, alle nur auch irgend erdenklichen authentisch menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse gesättigt und erfüllt zu haben3. "Erkennen Gottes", das ist mehr als nur das uns bekannte "Wissen um etwas". Was es genau ist, das wissen wir nicht. Selbst ein Paulus kann hier nur sagen er verkünde, "was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben" (1 Kor. 2,9). Thomas zitiert die klassische Formel des Boethius "beatitudo est status omnium bonorum congregatione perfectus ", "ein Zustand der durch die Vereinigung aller Güter vollkommen ist"4. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas: Glück; desiderium naturale, capax Dei, potentia oboedientialis

Kurzinhalt: Aber diese Fähigkeit Gott zu schauen heißt nun, wie Thomas sagt, etwas genau Bestimmtes, nämlich "dass es unserer Seele möglich ist, das Wesen Gottes intellektiv zu schauen"

Textausschnitt: 77a Was ist damit aber zunächst einmal über den Menschen gesagt? Gesagt ist, dass der Mensch aufgrund der ihm zustehenden Natur (des Intellektes) fähig ist, Gott zu schauen. Damit ist gemeint: Die Natur des menschlichen Intellektes, und damit der Mensch überhaupt, ist capax Dei, "gottfähig"1, ist fähig Gott erkennend in sich aufzunehmen. "Fähig" heißt hier: Das ist möglich, ohne dass die Natur des Intellektes, und die des Menschen überhaupt, dabei in irgend einer Weise vergewaltigt oder gar verändert würde. Obwohl Gott als Erkenntnisgegenstand sich zum Menschen wie das Unendliche zum Endlichen verhält, so bleibt der Gott-schauende Mensch dennoch Mensch. Der Mensch ist als Mensch fähig trotz seiner Endlichkeit das Unendliche in seinem Besitz zu haben, in ihm zu ruhen (Sättigung des Willens) und sich seiner zu erfreuen, und zwar nicht als passives Überwältigtwerden durch ein schlechthin Höheres, sondern indem dieses Höhere, das Leben Gottes selbst, zu seinem eigenen Leben wird. Es handelt sich also gerade auch um eine letzte und intensivste Steigerung menschlicher Subjektivität. (Fs) (notabene)


77b Diese Aussage nun ist, wenn man sie recht bedenkt, geradezu überwältigend. Der Ausspruch des Aristoteles, dass der Intellekt etwas Göttliches in uns ist, erhält hier eine ganz neue Färbung und Aktualität in der Dimension dessen, was die christliche Tradition die Gottebenbildlichkeit des Menschen nannte. Aber diese Fähigkeit Gott zu schauen heißt nun, wie Thomas sagt, etwas genau Bestimmtes, nämlich "dass es unserer Seele möglich ist, das Wesen Gottes intellektiv zu schauen"1. Diese "Möglichkeit" meint: Wird die menschliche Seele der Schau Gottes teilhaft, so geschieht dies als Aktualisierung einer bereits in der Natur der menschlichen Seele angelegten Potenz oder Disposition der Intellektualität, die dadurch als Intellektualität zu jenem Letzten gelangt, auf das hin ihre Natur angelegt ist; diese Naturanlage ist mit der Rede vom naturale desiderium (Naturverlangen) gemeint. (Fs)

77c Nun kommt jedoch sogleich ein Zweites hinzu, und erst damit gelangt der thomanische Traktat über das Glück dann auch zu seinem Abschluss: "Gott seinem Wesen nach zu schauen übersteigt die Kraft nicht nur der menschlichen Natur, sondern derjenigen eines jeden Geschöpfes"2. Auch wenn der Mensch "capax Dei" ist, also in sich die Fähigkeit besitzt, Gott intellektiv zu schauen, so vermag er das doch nicht aus natürlichen Kräften zu erreichen. Erstens beginnt jede menschlich-intellektive Erkenntnis bei den Sinnen; das Wesen Gottes kann aber nicht aus sinnlichen Gegenständen abstrahiert werden3. Zweitens ist nun eben Gott unendlich, die Fassungskraft des menschlichen Intellektes jedoch endlich. Denn Gott schauen, das hieße ja Unendliches zugleich schauen. Und schon das ist dem menschlichen Intellekt nicht möglich. Aus eigenen Kräften kann der Mensch deshalb die letzte und vollkommene Beatitudo, gar nicht erreichen; er bedarf dazu der Hilfe und Initiative Gottes: der erhebenden Gnade. Die Fähigkeit Gott zu schauen ist - wie die Theologen später sagten - nur eine "potentia oboedientialis": Ein Vermögen, sich dem Emporgehoben-Werden auf das Niveau Gottes zu fügen. Diese "elevatio" ermöglicht Konnaturalität von Mensch und Gott, und zwar dadurch, dass "Gott sich durch seine Gnade mit dem geschaffenen Intellekt, als sein Erkenntnisgegenstand, vereint"4. Dennoch liegt diesem "Sich-fügen" ein menschliches Vermögen zugrunde, und das heißt wiederum: Ein solches Emporgehoben-Werden entspricht der Natur des menschlichen Intellektes. Die "elevatio" durch Gnade setzt die Natur voraus und vervollkommnet sie, bringt sie zur Erfüllung der letzten in ihr selbst bereits angelegten Möglichkeit, zu ihrem äußersten Seinkönnen, ohne sie zu verändern oder als menschliche aufzuheben. Im Begriff eines äußersten menschlichen Seinkönnens ist ja nicht notwendigerweise ein Äußerstes mitgedacht, das der Mensch aus eigener Kraft zu erreichen vermag. Der Begriff ist gewahrt in der Möglichkeit eines Seinkönnens, welches das im Menschen von Natur aus Angelegte zur letzten Vollendung bringt, auch wenn zum Erwirken der Vollendung die Kraft des zur Vollendung Gebrachten nicht ausreicht. Auch dann bleibt dieses Äußerste immer noch das Äußerste des Menschen. Solange der Mensch Gott nicht schaut, bliebe das "naturale desiderium" des Intellektes, und damit etwas, was im Menschen naturhaft angelegt ist, unausge-füllt51. Der Mensch ist also - so lautet das paradox scheinende Ergebnis - von Natur aus auf ein Glück angelegt, das er mit den Kräften dieser ihm eigenen Natur gar nicht zu erreichen vermag. Das vollkommene Glück kann demnach auch nicht ein praktisches Gut sein, bevor Gott nicht mit seiner Gnade interveniert und es dadurch zu einem solchen macht. Die Analyse, die zu diesem Ergebnis führt, war jedoch, das ist zu betonen, rein philosophischer Natur. (Fs) (notabene)

78a Alles weitere ist nun Sache des Theologen. Denn die vollkommene Beatitudo, so wissen wir als Gläubige aufgrund der Offenbarung, ist uns von Gott tatsächlich versprochen1. Thomas zitiert Aristoteles und seine etwas resignierte Formel, dass wir eben "nur als Menschen", auf eine unvollkommene Weise glücklich werden können2. Allein durch Offenbarung, so sagt uns Thomas, wissen wir also, dass die vollkommene Beatitudo tatsächlich erreichbar und damit auch das höchste praktische Zielgut ist, das wir jedoch allein durch die Hilfe der Gnade, erreichen können. Sie ist praktisches Zielgut durch Verheißung und im Horizont von Glaube, Liebe und Hoffnung. (Fs) (notabene)

78b Damit ist schon klar, dass es eine philosophische Ethik im Kontext der christlichen Offenbarung gar nicht mit dem vollkommenen Glück und dem "letzten Ziel" zu tun haben kann. Es wird jetzt möglich, den Gegenstand einer solchen philosophischen Ethik genauer einzugrenzen. Wir werden sehen, dass sie sich substantiell von dem durch Aristoteles bestimmten Gegenstand gar nicht unterscheidet. Was sie unterscheidet ist dennoch etwas ganz Wesentliches: Sie weiß, dass philosophische Ethik nicht das letzte Wort ist, sondern eine Theorie der Praxis, die uns nur ein Fragment, einen Ausschnitt aus dem Ganzen, zu liefern vermag. Auch die Aristotelische Ethik ist freilich fragmentarisch. Dies jedoch, weil in jeder "nicht-gläubigen" Ethik und Anthropologie der Mensch eben überhaupt ein Fragment bleibt. Eine philosophische Ethik unter dem Vorbehalt des Glaubens jedoch ist fragmentarisch, weil sie weiß, dass diese fragmentarische Sicht des Menschen nicht das letzte Wort über die Wahrheit des Menschen ist. Sie weiß, dass das Fragmentarische nur Ausschnitt und nicht das Ganze ist. (Fs)

79a Aus diesem Grund ist auch eine systematische, gleichsam eigenständige und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und Geschlossenheit auftretende "philosophische Ethik" unter christlichen Bedingungen nicht denkbar3, ja sie müsste gerade vom Glauben her als unwahr bezeichnet werden. Das bedeutet nun aber eben nicht, dass deshalb unter solchen Bedingungen überhaupt keine philosophische Ethik möglich ist. Sie ist sehr wohl möglich und auch nötig, schließt aber als eine ihrer Grundaussagen ihren eigenen Fragmentcharakter mit ein. Das ist, philosophisch gesehen, gegenüber "nichtgläubiger" philosophischer Ethik wiederum kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil, da auch nichtgläubige Ethik notwendigerweise fragmentarisch bleiben muss, will sie nicht die Möglichkeiten des menschlichen Verstandes überspannen. Das Aushalten dieses fragmentarischen Charakter aller praktischen Orientierung ist allerdings für nichtgläubige Vernunft eine kaum zu ertragende Belastung und Gefährdung. (Fs) (notabene)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas, Glück: duplex felicitas; beatitudo ultima et perfecta - unvollkommenes Glück

Kurzinhalt: Unvollkommenes Glück ("duplex felicitas"): Das Glück des diesseitigen Lebens
(a) in erster Linie: Kontemplation
(b) in zweiter Linie: praktisches Leben gemäß der Vernunft

Textausschnitt: 79b Was bleibt nun übrig, wenn wir wissen, das der Mensch aus den Kräften seiner Natur nicht zu erlangen vermag, wozu er von Natur aus angelegt ist? Ist da eine nichttheologische Ethik überhaupt noch möglich? Und wenn ja: Kann sie für den Glaubenden überhaupt noch von Interesse sein? (Fs)

79c Zunächst: Was geschieht nun bei Thomas mit der Aristotelischen Lehre von der "duplex felicitas", der Lehre vom "zweistufigen" Glück? Thomas gibt darüber genau Rechenschaft: "Somit besteht die letzte und vollkommene Glückseligkeit, die wir im zukünftigen Leben erwarten, ganz und gar in der Kontemplation. Die unvollkommene, die man in diesem Leben erreichen kann, besteht vor allem und vorrangig in der Kontemplation; in zweiter Linie jedoch in der Tätigkeit des praktischen Intellektes, der die menschlichen Handlungen und Affekte ordnet, wie Aristoteles im Zehnten Buch der Nikomachischen Ethik sagt"1. Somit ergibt sich also Folgendes:
(1) Vollkommenes Glück ("beatitudo ultima et perfecta"):
Schau Gottes im kommenden Leben
(2) Unvollkommenes Glück ("duplex felicitas"): Das Glück des diesseitigen Lebens
(a) in erster Linie: Kontemplation
(b) in zweiter Linie: praktisches Leben gemäß der Vernunft

79d Wieso ist es möglich, das "unvollkommene Glück" wirklich Glück zu nennen? Aus der theologischen Gesamtsicht des Thomas ist das natürlich kein Problem. Es ist eben eine Stufe, die als diesseitiges Glück, noch unvollkommen, auf das vollkommene Glück des zukünftigen Lebens hinzielt; letzteres ist in der Hoffnung bereits gegenwärtig. Das unvollkommene Glück alleine gibt es dann ja gar nicht. Aber wenn es eine solche Perspektive des Vollkommenen, wie bei Aristoteles, nicht gibt? Dann, so ist zu sagen, gibt es immer noch Grund, dieses Unvollkommene Glück zu nennen. Und zwar deshalb, weil mit Glück eben das bezeichnet ist, was wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Die Notwendigkeit einer Einschränkung auf das Bestmögliche, wie sie Aristoteles festhält, ist nun gerade vernünftig. Es ist vernünftig, sich auf ein Ethos der conditio humana als Antwort auf das Glücksverlangen des Menschen zu beschränken. (Fs)

80a Wir stellten ja die Frage nach dem Glück nicht, um herauszufinden, wie man am genussreichsten lebt. Hätten wir die Frage so gestellt, so müssten wir nun feststellen: Es ist dem Menschen nun einmal nicht möglich in diesem Leben glücklich zu sein. Denn ein zweitrangiges Glück ist gar kein echtes Glück, da es ja nicht alles Verlangen zu stillen vermag. Die Frage, die uns leitete, war jedoch, Orientierung für unser Handeln zu gewinnen: Was allein können wir eigentlich vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben? Worauf allein können wir eigentlich vernünftigerweise unser Leben als ein Letztes ausrichten? Auch wenn wir zur Antwort bekommen, dass das äußerste menschliche Seinkönnen letztlich gar nicht erreichbar ist, so haben wir doch eine sehr wesentliche Antwort erhalten: Wir wissen dann, welches falsche Hoffnungen sind. Ebenfalls wissen wir dann aber, dass es auch für das "Unvollkommene" klare Orientierung und Maßstäbe gibt: Das Leben gemäß dem "Besten in uns": das Leben gemäß der Vernunft. (Fs) (notabene)

80b Diese Aristotelische Perspektive wird nun in der Konzeption von Thomas gerade nicht überspielt, vielmehr wird sie gerechtfertigt und gestützt. Denn dieser Konzeption gemäß wissen wir ja, dass das vollkommene Glück möglich ist und erreicht werden kann. "Gemäß dem Besten in uns" zu leben, das wird hier gleichsam geradezu zur Vorbereitung und Bedingung für jenes, das einmal kommen wird. Das Interesse daran, jenes unvollkommene Glück dieses Lebens zu verstehen und seine Bedingungen zu klären, wird somit gerade aus theologischen Motiven gesteigert. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Philosophischer Ethik - Moraltheologie

Kurzinhalt: ... nichts anderes als eine philosophische Ethik des Nichtgläubigen. Aber der Nichtgläubige wird das Bruchstück für das Ganze halten.

Textausschnitt: 80c Aus der Lehre über die Zweistufigkeit des Glücks ergibt sich nun keineswegs, dass eine theologische Ethik oder Moraltheologie sich mit der "beatitudo perfecta", dem vollkommenen Glück des jenseitigen Lebens, die philosophische Ethik jedoch mit der "duplex felicitas" des diesseitigen Lebens zu beschäftigen hätte. Eine solche Arbeitsteilung wäre undenkbar. Die theologische Betrachtungsweise beinhaltet vielmehr das Ganze, aber aus einem ihr spezifischen Blickwinkel: auf Grund der Offenbarung, gewissermaßen aus der Perspektive Gottes, welche die Perspektive des zum Leben der Gnade berufenen Menschen ist. Dieses Leben beginnt ja hier auf Erden und es bleibt eben auch unter den Bedingungen der Gnade immer ein irdisches und unvollkommen glückliches Leben. Über das jenseitige Leben, da wissen auch die Theologen nur sehr Weniges zu sagen und eine praktische Wissenschaft, die es mit dem Zustand der vollkommenen Glückseligkeit zu tun hat, kann es gar nicht geben. Was darüber theologisch zu sagen ist, das ist wiederum nur für das diesseitige Leben von Belang: damit wir wissen, was wir zu hoffen haben. (Fs) (notabene)

80d Die philosophische Ethik hingegen betrachtet nur ein Bruchstück oder einen Ausschnitt des Ganzen. Nochmals: Vom Gegenstande her ist sie nichts anderes als eine philosophische Ethik des Nichtgläubigen. Aber der Nichtgläubige wird das Bruchstück für das Ganze halten. Und das wird ihn leicht dazu verleiten, entweder den Menschen selbst als Fragment und Bruchstück zu sehen, oder aber dieses Fragment zu einem Ganzen umzudeuten und entsprechend ergänzen zu wollen: Reduktionismus auf der einen und Verheißungsideologie oder innerweltliche Heilslehre auf der anderen Seite sind hier die Möglichkeiten. Hier wird eine unter dem Vorbehalt des Glaubens stehende philosophische Ethik stets als kritische Instanz gegenüber nichtgläubigen Philosophien auftreten können, die in der Perspektive der bloßen Philosophie "letzte Antworten" zu geben versuchen, - auch wenn diese letzte Antwort nur in der Feststellung bestünde, so etwas wie Glück sei in der Natur gar nicht vorgesehen1. (Fs) (notabene)

81a Zwei Präzisierungen: (1) Nichtgläubige Ethik meint nicht atheistische Ethik. Die Aristotelische Ethik ist ja eine nichtgläubige, aber keine atheistische Ethik. (2) Auch eine nichtgläubige Ethik kann von einem Leben nach dem Tod sprechen, und demnach von einem vollkommenen Glück in einem zukünftigen Leben. Beispiel: Platon. Unter der Bedingung des Glaubens aber ist ein solches Sprechen nur noch als Theologie von praktischer Relevanz. (Fs)
81b Gegenstandsbereich der philosophischen Ethik ist also der Bereich des Glücks des diesseitigen Lebens, und zwar so weit seine Bedingungen mit den Mitteln der bloßen Vernunft ausgemacht werden können. Nicht aber beschäftigt sich philosophische Ethik mit einem sogenannten "natürlichen Ziel" des Menschen, im Unterschied zu einem "übernatürlichen Ziel", wofür dann die Theologie zuständig wäre. Gerade eine solche "Zweistufentheorie" wird durch die thomanische Anthropologie und Handlungsmetaphysik des äußersten Seinkönnens des Menschen verunmöglicht. (Fs)

81c Dies sei kurz erläutert. Die Rede von der Koexistenz eines "natürlichen" mit einem "übernatürlichen" Ziel des Menschen würde nämlich entweder die Behauptung implizieren, der Mensch besitze zwei verschiedene Naturen, oder aber sie führte zur Konsequenz, die philosophisch erkennbare menschliche Natur sei gar nicht die wirkliche Natur des Menschen. Denn "Natur eines Seienden" und "Ziel eines Seienden" stehen ja in Korrelation und bedingen sich gegenseitig. Eine Natur kann auch nur ein Telos haben und ein Telos ist immer das Telos einer bestimmten Natur. Bedeutete "Erhebung zur Gnade", dass überhaupt erst durch diese Erhebung die Gottesschau zum äußersten Seinkönnen des Menschen gemacht würde, so hieße dies, dass die Natur des Menschen durch die Erhebung eben zu einer anderen Natur würde (diese notwendige Konsequenz pflegte die traditionelle Zweistufentheorie zu übersehen). Es wäre dann gar nicht mehr möglich, eine "Ordnung der Natur" von einer "Ordnung der Gnade" zu unterscheiden; letztere wäre dann einfach die wirkliche Natur des Menschen, die erstere - als sogenannte "natura pura" - ein unwirkliches Konstrukt von Philosophen. Der Begriff "übernatürlich" würde in Wahrheit obsolet bzw. alles, auch die Natur, würde "übernatürlich", - eine Konsequenz, die dann auch von einigen Theologen tatsächlich gezogen wurde. (Fs) (notabene)

81d Was Thomas nun aber sagt, ist ja gerade, dass die Natur des Menschen auf die Möglichkeit einer solchen Erhebung schon angelegt ist und dass sie in der Erhebung als jene Natur, die sie immer schon war, erhoben ist. Der Mensch bleibt auch durch die Erhebung jener Mensch, der er auch ohne Erhebung wäre. Diese ist nicht eine äußere, auf den Menschen gleichsam aufgestockte neue Bestimmung, sondern jene, die bereits in der Natur, genauer: in der Natur des Intellektes angelegt ist. Der Mensch wird durch die Erhebung nicht nur der göttlichen Natur teilhaftig, sondern er gelangt durch sie auch zum Äußersten seines menschlichen Seinkönnens; nur kann er dieses Äußerste allein aufgrund der Kräfte seiner Natur nicht erreichen. (Fs) (notabene)

82a Wenn wir den Menschen betrachten, wie wir das in der Philosophie tun, so abstrahieren wir vom Faktum der Erhebung. Was zurückbleibt ist jedoch ein Mensch, der anthropologisch gesehen genau dasselbe Ziel, dasselbe in seiner Natur angelegte äußerste Seinkönnen besitzt, wie der zum Leben der Gnade erhobene. Mit "Ziel" ist hier eben gerade auf die innere - teleologische - Seinsstruktur der Natur verwiesen: Das natürliche Bestreben des Intellektes, im Erkenntnisfortschritt nicht zu ruhen, bis er das "Was es ist" von all dem erfasst hat, dessen bloßes "Dass es ist" ihm gegenständlich zu sein vermag. (Fs) (notabene)
1.Kommentar (05.10.06): Interessanter Aspekt des desire to know.

82b Was die Theologen richtigerweise meinen, wenn sie "natürliches" von "übernatürlichem Ziel" unterscheiden, ist etwas ganz anderes: Sie betrachten die Dinge aus der Perspektive der biblischen Offenbarung und beziehen sich dann auf das "Ziel", das dem Menschen von Gott her gesetzt wurde, also auf die von Gott her an den Menschen ergangene Berufung. Hier nun hat die Unterscheidung einen Sinn. Es wäre dann möglich zu sagen, der Philosoph betrachte den Menschen, als ob Gott ihm nur ein natürliches Ziel gesetzt hätte, das heißt: jenes Ziel, das er mit den Kräften seiner Natur allein erreichen kann; der Theologe jedoch gehe aufgrund der Offenbarung davon aus, dass Gott den Menschen von Anfang an zu einem übernatürlichen Leben bestimmt und berufen hat, d.h. zu jenem Ziel, das er nur mit Hilfe der Gnade zu erreichen vermag - deshalb aber um nichts weniger Jenes ist, worauf menschliche Natur als auf ihr äußerstes Seinkönnen schon immer hinzielt. (Fs) (notabene)

82c Wenn also die Theologen ein "natürliches" von einem "übernatürlichen" Ziel unterscheiden, so tun sie das zu Recht, meinen aber damit etwas spezifisch Theologisches: Die Unterscheidung dessen, was man mit den Kräften der Natur erreichen kann, von jenem, wozu es der Gnade bedarf. Eine solche Unterscheidung setzt aber bereits die theologische Perspektive und Methode voraus. Diese Unterscheidung ist demnach für die philosophische Perspektive, auch die des Glaubenden, irrelevant. Denn die Philosophie spricht ja überhaupt nicht von dem, was der Mensch nur mit Hilfe der Gnade zu erreichen vermag. Sie spricht ganz einfach über den Menschen, so wie er der Vernunft erkennbar ist. Und dieser Mensch nun - dies ergibt sich aus aus der handlungsmetaphysischen Analyse - besitzt nur ein Ziel, nämlich jenes, das ihn über seine Natur hinausweist und das er mit den bloßen Kräften seiner Natur nicht zu erreichen vermag. Die Perspektive der philosophischen Ethik ist demnach von Anfang an die Perspektive des unvollkommenen Glücks eines Wesens, das aufgrund seiner Natur die Vollkommenheit, das Letzte und Äußerste dessen, was in ihm angelegt ist, gar nicht erreichen kann. Das ist wiederum die Aristotelische Perspektive. (Fs)

82d Eine philosophische Ethik des Glaubenden braucht nicht die Unsterblichkeit (die zum Gegenstand philosophischer Anthropologie gehört) und ein Leben nach dem Tode auszuklammern. Es wäre falsch zu meinen: theologische Ethik beschäftigt sich mit dem Jenseits; philosophische Ethik mit dem Diesseits. Die theologische Ethik beschäftigt sich, insofern sie praktische Wissenschaft ist, gerade mit dem diesseitigen Leben des durch Gnade zur Vollkommenheit der Gottesschau berufenen Menschen. Die philosophische Ethik des Glaubenden jedoch kann sich nicht mit einem "natürlichen Glück des jenseitigen Lebens" beschäftigen, ganz einfach weil der Glaubende, auch als Philosophierender, weiß, dass es so etwas gar nicht gibt. Sein Hinblick auf das, was nach dem Tode folgt, muss sich auf die philosophisch aufweisbaren anthropologischen Bestände beschränken, die ein solches Leben nach dem Tode ermöglichen. Alles andere bliebe Spekulation ohne Wirklichkeitsbezug. (Fs)

82e Die philosophische Perspektive des unvollkommenen Glücks ist jedoch, wie bereits gesagt, äußerst gefährdet, und nur unter dem Vorbehalt des Glaubens ist sie eigentlich letztlich ertragbar. Der Glaube stützt hier geradezu die philosophische Vernunft und bewahrt sie vor Resignation oder überschwänglicher irdischer Verheißungsideologie. Er fügt den möglichen menschlichen Glückstheorien nicht eine weitere hinzu, sondern bewirkt eine "kopernikanische Wende des Eudämonismus"2, die letztlich darin besteht, dass das "Inbild vollkommenen Glücks", das wir in uns tragen unter den empirischen Bedingungen menschlicher Endlichkeit aber nicht adäquat zu realisieren vermögen, weder dazu führt, Glücksverheißung als Chimäre abzutun, noch dazu verleitet, unter den Bedingungen unserer Endlichkeit ihre Verwirklichung herbeizwingen zu wollen (vgl. dazu den "Epilog")3. (Fs)

83a Doch stellt sich nun noch eine ganz andere Frage: Ergibt sich aus der Lehre vom "desiderium naturale" - der Lehre von der inneren, naturhaften Hinordnung des Menschen auf die Schau Gottes als seinem äußersten Seinkönnen - die Notwendigkeit einer Erhebung zum Leben der Gnade? Muss man nicht sogar diese Erhebung geradezu aus dieser Tatsache ableiten können, so dass die Anthropologie der "beatitudo perfecta" und des äußersten menschlichen Seinkönnens geradezu notwendigerweise zur Theologie werden muss? Ist umgekehrt ein rein "natürlicher" Mensch überhaupt als sinnvolle und zumutbare Existenz denkbar, oder wäre ein solcher nicht vielmehr zur Frustration verurteilt? (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: desiderium naturale - Aristoteles; Denkmöglichkeit eines Menschen ohne Gnade

Kurzinhalt: Wäre es theoretisch möglich, einen Menschen zu denken, der nicht zum Leben der Gnade erhoben wurde? So sagt Aristoteles: "Wer aber in der Kontemplation tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, ...

Textausschnitt: f) Desiderium naturale und die Denkmöglichkeit eines natürlichen Menschen

83b Die eben gestellte Frage ist natürlich wiederum eine theologische, und als solche braucht sie hier auch gar nicht erörtert zu werden. Nur ein Aspekt der Frage sei hier erwähnt: Wäre es theoretisch möglich, einen Menschen zu denken, der nicht zum Leben der Gnade erhoben wurde? Diese an sich ebenfalls theologische Frage ist insofern philosophisch von Belang, als ihre Beantwortung uns darüber Aufschluss geben kann, ob denn trotz der Existenz eines desiderium naturale, das über das durch die Kräfte der Natur Erreichbare hinausweist, überhaupt noch von einer rein philosophisch relevanten "menschlichen Natur" gesprochen werden kann, oder ob diese nicht vielmehr zu einem rein hypothetischen Restbegriff herabsinkt1. Die Frage ist also erneut: Ist unter den Bedingungen des Glaubens philosophische Ethik überhaupt noch zu rechtfertigen? (Fs)

84a Um die Frage zu beantworten müssen wir uns - für den Theologen ist das hypothetisch - einen Menschen denken, dessen faktisches (nicht in der Natur angelegtes) äußerstes Seinkönnen nicht in der Schau Gottes liegen würde. Dessen desiderium naturale, Gottes Wesen zu erfassen, also für immer ungesättigt bliebe. Ist das eine mögliche, zumutbare Perpektive? (Fs)

84b Die Frage ist insofern theologisch unlösbar und wohl auch letztlich nicht bedeutsam, weil theologisch nun einmal vom Faktum auszugehen ist, dass der tatsächlich existierende, aus Gottes Schöpfungshandeln hervorgegangene Mensch eben zur Ebene der Gnade erhoben worden ist, und zwar im Augenblick der Schöpfung selbst. Das heißt die theologische Antwort wäre: Gott zielte nun einmal mit der Erschaffung des Menschen von Anfang an auf dessen Erhebung zur Gottesschau. Und die Natur, die er ihm gab, ist darauf innerlich bereits angelegt und erfährt in dieser Erhebung ihre letzte, in Bezug auf das den Kräften dieser Natur Zustehende allerdings aus Gnade geschenkte, Vollendung. (Fs) (notabene)

84c Eine solche Antwort würde nun jedoch das Problem für den Philosophen nur verschärfen. Die theologische Antwort, so richtig sie sein mag, löst unser Problem nicht. Wir brauchen wiederum eine rein philosophische Antwort, die überhaupt nicht berücksichtigt, dass der Mensch tatsächlich durch Gnade erhoben wurde, sondern einfach feststellt: der Mensch besitzt eine Natur, deren innere Zielfhaftigkeit über das, was durch die Kräfte dieser Natur erreichbar ist, hinausweist. Das ist, es sei nochmals betont, rein philosophisch aufweisbar. Und auf dieser Grundlage wäre nun die Frage zu beantworten. (Fs)

84d Die Antwort hat uns nun tatsächlich Aristoteles, zumindest in gewisser Hinsicht, bereits gegeben. Der Intellekt, so lesen wir, ist etwas Göttliches das Beste in uns; ein Leben der reinen Kontemplation wäre daher eher ein göttliches als ein menschliches Leben. Wir müssen uns mit dem Menschlichen begnügen. Es wäre vermessen, wie die Götter glücklich sein zu wollen. Mit ihnen haben wir zwar etwas gemeinsam, und deshalb sollten wir uns bemühen so weit wie möglich diesem "Besten in uns" nachzuleben2. "Das Leben der Götter ist seiner Totalität nach glückselig, das der Menschen insofern, als ihnen eine Ähnlichkeit mit dieser Tätigkeit zukommt"3. Es kommt Aristoteles freilich nicht im Geringsten in den Sinn, von einer Demut zu sprechen, die darin bestünde, sich von den Göttern durch Erhebung auf ihr Niveau beschenken zu lassen, weil er von einer solchen Erhebung nichts wissen kann. "Demut", das kann in der Aristotelischen Perspektive nur heißen: Die eigene Endlichkeit und das Göttliche als "das ganz Andere über uns" anzuerkennen, und so weit wie möglich danach zu streben, sich die Gunst der Götter zu erwerben. (Fs)

84e So sagt Aristoteles: "Wer aber in der Kontemplation tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, mag sie sich nicht nur an der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden. Denn wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgendwelche Sorge haben, muss man ja vernünftiger Weise annehmen, dass sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben - und das ist unsere Vernunft - und dass sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit Gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln. Es ist aber unverkennbar, dass dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das so ist, so muss er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glücklichste"1. (Fs)

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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: desiderium naturale - Thomas; Naturverlangen - Argument für die Vernünftigkeit des Glaubens

Kurzinhalt: Wieso aber schließt dann Thomas von der Existenz des Naturverlangens auf die Erhebung? ... so ist gerade dieses Naturverlangen das stärkste rationale Argument, um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens nachzuweisen

Textausschnitt: 85b Aber ist dann der Mensch nicht zum Unglücklichsein verurteilt, weil er, so gedacht, ein Naturverlangen nach etwas hätte, um dessen Unstillbarkeit er weiß? Das ist keineswegs zwingend. Dieses Naturverlangen ist eben ein Verlangen der "Natur", aber nicht ein praktisches Streben. Zum Unglücklichsein verurteilt wäre in diesem Zustand nur der Mensch, der trotz seines Wissens um seine Endlichkeit dennoch das Unmögliche und ihm nicht Zustehende als praktisches Gut, als Ziel seines Handelns erstreben würde. Der Gegenstand des Naturverlangens kann ja nur aufgrund von Offenbarung, einer Verheißung Gottes selbst, vernünftigerweise zum praktischen Zielgut werden, und damit auch zum Gegenstand praktisch relevanten Strebens und Handelns1. Ohne die Offenbarung solcher Verheißung ist es dem Menschen unmöglich, vernünftigerweise sein freies Handeln darauf auszurichten, von Gott eine "übernatürliche" Glückseligkeit geschenkt zu erhalten; dies wäre geradezu Frevel. Frustriert wäre nur derjenige, dem es an Demut und damit an Vernunft mangelte; derjenige also, der sich mit der conditio humana nicht abfinden würde. "Demut" heißt ja nichts anderes, als die Wahrheit über die eigene Stellung anzuerkennen und dieser Wahrheit gemäß zu leben2. (Fs)

85c Wieso aber schließt dann Thomas von der Existenz des Naturverlangens auf die Erhebung? Und zwar mit dem Argument, ein solches Naturverlangen könne ja nicht "eitel und nichtig" sein? Die Schwierigkeit kann folgendermaßen gelöst werden1: Thomas sagt, dass dieses Naturverlangen eitel und nichtig wäre, wenn nicht die Möglichkeit der Erhebung bestünde. Da sie nun aber tatsächlich gegeben ist - wir wissen es aufgrund von Offenbarung -, so ist gerade dieses Naturverlangen das stärkste rationale Argument, um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens nachzuweisen. Thomas spricht hier also als Theologe, und zudem als Apologet: Das Naturverlangen nach Gottesschau wäre nur dann "eitel und nichtig", wenn es dem Menschen nicht möglich wäre, zur Gottesschau erhoben zu werden, bzw. wenn es Gott nicht möglich wäre, den Menschen dazu zu erheben, ohne damit auch die menschliche Natur zu verändern. Nicht aber ist es eitel und nichtig, auch wenn es besteht, wenn er faktisch nicht dazu erhoben wird. Dann hätte dieses Verlangen ganz einfach eine andere Funktion im menschlichen Leben. Es würde auf seine Weise den Menschen auf seinen Platz als endliches Wesen verweisen. Vergeblich wäre es auch dann nicht. Denn ohne den Intellekt, zu dessen Natur nun dieses Verlangen einmal gehört, wäre der Mensch ja gar nicht Mensch. Es hätte also zumindest den Sinn, dass der Mensch überhaupt das zu sein vermag, was er nun einmal ist: ein Mensch. Je nach dem begründet also das Naturverlangen zwei verschiedene Weisen des Menschen, sich zum Göttlichen zu verhalten. Im Falle von Offenbarung und Verheißung der Erhebung führt es zur Demut dessen, der in praktisch relevanter Weise sein freies Wollen darauf ausrichtet, sich von Gott ohne jegliches Verdienst beschenken zu lassen, im Wissen darum, dass er seine Erfüllung letztlich nur durch Gnade, nicht durch eigene Leistung erlangen kann. Das ist die christliche Perspektive der Demut. Im anderen Falle - jene des Ausbleibens einer solchen Verheißung - führt das Naturverlangen zur Demut und Selbstbescheidung essen, der in praktisch relevanter Weise sein freies Wollen darauf beschränkt, nur jenes Glück zu suchen, das ihm "als Menschen", als endliches Wesen eben zustehen kann. Und dies ist genau die "Aristotelische Demut", so dass Aristoteles uns jene Wahrheit über den Menschen zu sagen vermochte, die der nichtglaubenden Vernunft offen steht. Diese Wahrheit ist nun jene, die Gegenstand der philosophischen Ethik ist. (Fs)

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