Datenbank/Lektüre


Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum, Geschichte; Möglichkeit d. Interpretation d. G. - Historismus; Geschichtsphilosophie - Geschichtstheologie; Inkarnation; heilige G. im strengen Sinn (Anfang, Mitte, Ende), Paradox des Evangeliums, Paulus, Weltalter - Weltreiche; Hermas

Kurzinhalt: So ist das christliche Geschichtsbild nichts Sekundäres, aus philosophischen Erwägungen und dem Studium der Geschichte Abgeleitetes. Es ist im innersten Kern des Christentums enthalten und bildet einen unerläßlichen Bestandteil des christlichen Glaubens.

Textausschnitt: 1 DIE CHRISTLICHE GESCHICHTSAUFFASSUNG

261a Das Problem der Beziehungen des Christentums zu der Geschichte wurde durch die Philosophie des 19. Jahrhunderts sehr kompliziert und, meiner Meinung nach, verwirrt. Fast alle großen idealistischen Philosophen dieses Jahrhunderts wie Fichte, Schelling und Hegel arbeiteten kunstvolle geschichts-philosophische Systeme aus, die einen beträchtlichen Einfluß auf die Historiker - und zwar besonders die deutschen -, aber auch auf die Theologen ausübten. Alle diese Systeme waren durch christliche Gedanken angeregt oder gefärbt und wurden daher von den christlichen Theologen freudig für apologetische Zwecke aufgegriffen. So entstand ein Bündnis zwischen der idealistischen Philosophie und der deutschen Theologie, das typisch für die liberal-protestantische Bewegung wurde und das religiöse Denken auf dem Kontinent, aber auch in England während des späteren 19. Jahrhunderts beherrschte. (Fs)

261b Heute ist die Situation eine völlig veränderte. Der philosophische Idealismus und der liberale Protestantismus haben ihr Ansehen verloren; an ihre Stelle trat der logische Positivismus und die dialektische Theologie der Jünger Barths. Infolgedessen hat auch die Idee einer christlichen Geschichtsphilosophie durch die Reaktion gegen den philosophischen Idealismus gelitten. Es ist schwer, das authentische und ursprüngliche Element der christlichen Geschichtsauffassung von den philosophischen Hinzufügungen und Auslegungen der letzten hundertfünfzig Jahre zu trennen; daher findet man moderne Vertreter des strenggläubigen Christentums wie C. S. Lewis, die an der Möglichkeit einer christlichen Interpretation der Geschichte zweifeln und erklären, die angebliche Beziehung zwischen Christentum und Historismus sei größtenteils eine Illusion1. (Fs)

262a Wenn wir das Thema vom rein philosophischen Standpunkt aus betrachten, finden wir eine Menge Dinge, die Lewis' Skepsis scheinbar rechtfertigen. Denn die klassische Tradition der christlichen Philosophie, wie der Thomismus sie darstellt, hat sich mit der Frage der Geschichte verhältnismäßig wenig beschäftigt; aber die Philosophen, die der Geschichte am meisten Wert beimessen und den engen Zusammenhang zwischen Christentum und Geschichte am stärksten betonen, wie Collingwood, Croce und sogar Hegel, sind nicht christlich eingestellt und neigten vielleicht dazu, das Christentum nach den Begriffen ihrer eigenen Philosophie auszulegen. (Fs)

262b Stellen wir daher jede philosophische Diskussion zurück und betrachten wir die Frage auf Grund der ursprünglichen theologischen Gegebenheiten des historischen Christentums, ohne sie durch irgendwelche philosophische Argumente rechtfertigen oder kritisieren zu wollen. Das ist nicht sehr schwer, da sich die klassische und traditionelle christliche Philosophie, wie der Thomismus sie darstellt, niemals sehr eingehend mit dem Problem der Geschichte befaßt hat. Ihre Tradition war eine griechische und aristotelische, während die christliche Geschichtsdeutung von einem anderen Ursprung ausging. Sie ist mehr jüdisch als griechisch und findet ihren vollständigsten Ausdruck in den primären Dokumenten des christlichen Glaubens: in den Schriften der jüdischen Propheten und im Neuen Testament. (Fs) (notabene)

262c So ist das christliche Geschichtsbild nichts Sekundäres, aus philosophischen Erwägungen und dem Studium der Geschichte Abgeleitetes. Es ist im innersten Kern des Christentums enthalten und bildet einen unerläßlichen Bestandteil des christlichen Glaubens. Daher gibt es keine christliche Geschichtsphilosophie im strengen Sinn des Wortes. Aber es gibt eine christliche Geschichte und eine christliche Geschichtstheologie, und es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es ohne sie kein Christentum gäbe. Denn das Christentum ist, ebenso wie die jüdische Religion, aus der es hervorgegangen ist, eine historische Religion in einem Sinne, auf den keine andere Weltreligion Anspruch erheben kann, nicht einmal der Islam, obwohl dieser ihm in dieser Hinsicht am nächsten steht. (Fs) (notabene)

263a Daher ist es sehr schwierig und vielleicht sogar unmöglich, einem Nicht-Christen die christliche Auffassung der Geschichte zu erklären; denn man muß auf dem Boden des christlichen Glaubens stehen, um die christliche Geschichtsauffassung zu verstehen. Wer die göttliche Offenbarung ablehnt, muß zwangsläufig auch die christliche Geschichtsauffassung ablehnen. Selbst wer bereit ist, theoretisch das Prinzip einer göttlichen Offenbarung, die Manifestation einer religiösen Wahrheit, die über den menschlichen Verstand hinausgeht, gelten zu lassen, wird es vielleicht trotzdem schwer finden, mit den ungeheuren Paradoxen des Christentums fertigzuwerden. (Fs)

263b Daß Gott einen unbekannten Stamm in Palästina, noch dazu keinen besonders hochzivilisierten oder anziehenden Stamm, zum Werkzeug seines universalen Vorhabens mit der Menschheit erwählt hat, ist schwer zu glauben. Aber daß dieser Plan schließlich in der Person eines unter Tiberius hingerichteten galiläischen Bauern verwirklicht wurde und daß dieses Ereignis der Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit und der Schlüssel zum Sinn der Geschichte wurde, das alles zu glauben ist für den menschlichen Geist so schwer, daß es selbst bei den Juden Ärgernis erregte, während es den griechischen Philosophen und den weltlichen Geschichtsschreibern als reine Torheit erschien. Aber das sind nun einmal die Grundlagen der christlichen Auffassung der Geschichte und wenn wir sie nicht bejahen können, ist es zwecklos, idealistische Theorien auszuarbeiten und sie eine christliche Geschichtsphilosophie zu nennen, wie es in früheren Zeiten oft geschehen ist. Denn die christliche Auffassung der Geschichte ist nicht nur ein Glaube an ihre Lenkung durch die göttliche Vorsehung, sondern ein Glaube an das unmittelbare Eingreifen Gottes in das Leben der Menschheit an gewissen Punkten von Ort und Zeit. Die Menschwerdung, der Mittelpunkt der christlichen Glaubenslehre, ist auch der Mittelpunkt der Geschichte, und so ist es nur natürlich und angemessen, daß unsere traditionelle christliche Geschichte in ein chronologisches System eingebaut ist, welches das Jahr der Menschwerdung zum Angelpunkt macht und von diesem feststehenden Punkt aus die Jahre nach vor- und rückwärts berechnet. (Fs) (notabene)

264a Sicher kann man sagen, daß die Idee einer göttlichen Inkarnation nicht auf das-Christentum beschränkt ist. Aber wenn man die typischen Beispiele dafür in den nicht-christlichen Religionen wie zum Beispiel in der strenggläubigen hinduistischen Form der Bhagavad-Gita betrachtet, sieht man, daß sie keine solche Bedeutung für die Geschichte haben wie in der christlichen Lehre. Nicht nur, daß die göttliche Gestalt Krischnas legendär und unhistorisch ist, sondern keine göttliche Inkarnation wird als etwas Einmaliges angesehen; sie ist ein Einzelbeispiel eines Prozesses, der sich immer von neuem und ad infinitum in dem ewigen Abrollen des kosmischen Kreislaufes wiederholt. (Fs)

Gegenüber solchen Gedanken, wie sie zum Beispiel die gnostische Theosophie vertritt, betonte der heilige Irenäus die Einmaligkeit der christlichen Offenbarung und die notwendige Beziehung zwischen der göttlichen Einheit und der Einheit der Geschichte: "Daß es einen Vater gibt, den Schöpfer der Menschen, und einen Sohn, der den Willen des Vaters erfüllt, sowie eine Menschheit, in der sich die Geheimnisse Gottes auswirken, so daß das Seinem Sohn ähnlich gewordene und mit Ihm verbundene Geschöpf zur Vollkommenheit gelangt."

264b Denn die christliche Lehre von der Menschwerdung ist nicht einfach eine Theophanie - eine Offenbarung Gottes vor den Menschen; sie bedeutet etwas Neues: die Einführung eines neuen spirituellen Prinzips, das die menschliche Natur allmählich durchdringt und sie in etwas Neues umwandelt. Dieses einmalige göttliche Ereignis ist der Angelpunkt der Geschichte der Menschheit und verleiht dem gesamten Prozeß der Geschichte seine geistige Einheit. Da ist zunächst die Geschichte des Alten Bundes; sie ist die Geschichte der Vorbereitung der Menschheit auf die Menschwerdung durch die Vorsehung bis, nach den Worten des heiligen Paulus, "die Fülle der Zeiten" gekommen war. Zweitens gibt es den Neuen Bund; er ist die Auswirkung der Menschwerdung im Leben der christlichen Kirche. Und endlich haben wir die Verwirklichung des göttlichen Planes in der Zukunft durch die schließliche Aufrichtung des Gottesreiches, wenn die Ernte dieser Welt eingesammelt wird. So ist die christliche Geschichtsauffassung ihrem Wesen nach eine einheitliche. Sie hat einen Anfang, einen Mittelpunkt und ein Ende. Dieser Anfang, dieser Mittelpunkt und dieses Ende reichen über die Geschichte hinaus; sie sind nicht geschichtliche Ereignisse im gewöhnlichen Sinn des Wortes, sondern Handlungen göttlichen Ursprungs, denen der gesamte Prozeß der Geschichte untergeordnet ist. Denn die christliche Geschichtsauffassung ist eine geschichtliche Schau sub speciae aeternitatis, eine Deutung der Zeit in Begriffen der Ewigkeit und der menschlichen Ereignisse im Licht der göttlichen Offenbarung. Daher ist die christliche Geschichte zwangsläufig apokalyptisch, und die Apokalypse ist der christliche Ersatz für die weltlichen nGeschichtsphilosophien. (Fs) (notabene)

265a Das bringt jedoch eine revolutionäre Umkehr und Umstellung der geschichtlichen Werte und Urteile mit sich. Denn der wahre Sinn der Geschichte ist nicht der augenfällige, den die Historiker untersucht und die Philosophen zu erklären versucht haben. Die Ereignisse, welche die Welt verändert und den Lauf der menschlichen Geschichte verwandelt haben, geschahen sozusagen unter der Oberfläche, unbemerkt von den Historikern und Philosophen. Das ist das große Paradox des Evangeliums, das der heilige Paulus mit so ungeheurem Nachdruck betont. Das große Mysterium des göttlichen Planes, das durch alle Zeiten verborgen war, ist jetzt angesichts von Himmel und Erde durch das Amt der Apostel kundgemacht worden. Aber die Welt war nicht imstande daran zu glauben, weil es durch unbekannte, unscheinbare Männer in einer Form verkündet wurde, die für die damalige höhere Kultur, die griechische wie die jüdische, unannehmbar und unverständlich war. Die Griechen fordern philosophische Theorien, die Juden historische Beweise. Aber die Antwort des Christentums ist der gekreuzigte Christus - verbum crucis - die Geschichte des Kreuzes: den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Erst wenn man dieses ungeheure Paradox mit seiner Umkehr aller bisherigen Werte bejaht hat, kann man den Sinn des menschlichen Lebens und der menschlichen Geschichte verstehen. Denn der heilige Paulus will natürlich nicht den Wert des Verständnisses abstreiten oder behaupten, daß die Geschichte keinen Sinn hat. Er stellt nur den geheimnisvollen und übernatürlichen Charakter des wahren Wissens fest, - "dieses Geheimnis, das Gott von Ewigkeit her zu unserer Herrlichkeit bestimmt hat und das den Herrschern dieser Welt verborgen ist"2. Ebenso ließ er die jüdische Lehre einer heiligen Geschichte voll gelten, die Gottes Umgang mit den Menschen rechtfertigt. Was er leugnete, war eine materielle Rechtfertigung durch die sichtbare Erfüllung der jüdischen nationalen Hoffnungen. Die Wege Gottes sind tiefer und geheimnisvoller als das, so daß die Erfüllung der Weissagung, zu der die gesamte Geschichte Israels hinführte, für Israel durch das Ärgernis des Kreuzes verhüllt wurde. Trotzdem folgt die christliche Deutung der Geschichte, wie wir sie im Neuen Testament und in den Schriften der Kirchenväter finden, den Grundzügen, die schon im Alten Testament und in der jüdischen Überlieferung festgelegt worden waren. (Fs) (notabene)

266a Es gibt in erster Linie eine heilige Geschichte im strengen Sinn, das heißt die Geschichte von Gottes Umgang mit Seinem Volk und von der Erfüllung Seines ewigen Planes in diesem und durch dieses. Zweitens gibt es die Deutung der äußeren Geschichte im Lichte dieses zentralen Planes. Dieser nahm die Form einer Lehre aufeinanderfolgender Weltalter an, die sämtlich eine Rolle in dem göttlichen Schauspiel zu erfüllen hatten. Die Lehre von den Weltaltern, die in die jüdische apokalyptische Überlieferung aufgenommen und schließlich von der christlichen Apokalyptik übernommen wurde, war jedoch ihrem Ursprung nach nicht jüdisch. Sie war zur Zeit des Hellenismus in der Welt des Altertums weit verbreitet und ihre Ursprünge gehen wahrscheinlich auf die babylonische Kosmologie und Astraltheologie zurück. Die Lehre von den Weltreichen ist dagegen ihrem Geiste nach deutlich biblisch und gehört zu der zentralen Botschaft der jüdischen Prophetie. Denn das göttliche Gericht, dessen Verkündigung die Aufgabe der Propheten war, war nicht auf das auserwählte Volk beschränkt. Auch die Herrscher der Heiden waren Werkzeuge des göttlichen Gerichtes, selbst wenn sie die Absichten, denen sie dienten, nicht erkannten. Jedes Weltreich hatte seine, ihm von Gott zugewiesene Aufgabe, und wenn diese Aufgabe erfüllt war, ging seine Macht zu Ende und das nächstfolgende trat an seine Stelle. (Fs) (notabene)

267a Der Sinn der Geschichte lag daher nicht in der Geschichte der Weltreiche als solcher. Sie waren nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck, und die innere Bedeutung der Geschichte lag in der scheinbar bedeutungslosen Entwicklung des Gottesvolkes. Diese prophetische Auffassung der Geschichte wurde von der christlichen Kirche übernommen und in einer weiteren und universalen Form angewendet. Das göttliche Ereignis, das den Lauf der Geschichte veränderte, riß auch die Schranken zwischen Juden und Heiden nieder und die beiden getrennten Hälften der Menschheit waren in Christus, dem Eckstein des neuen Weltgebäudes, eins geworden. Die christliche Einstellung gegenüber der weltlichen Geschichte war somit die gleiche wie die der Propheten, und das Römische Reich wurde als Nachfolger der alten Weltreiche wie des babylonischen und persischen angesehen. Aber man erkannte jetzt, daß die heidnische Welt ebenso wie das auserwählte Volk von der Vorsehung einem gemeinsamen geistigen Ziel zugeführt wurden. Dieses Ziel war nicht mehr die Wiederaufrichtung des jüdischen Reiches und die Rückkehr der Verbannten aus dem heidnischen Exil; es war die Vereinigung aller aus dem Geist lebenden Menschen zu einer neuen geistigen Gemeinschaft. Der römische Prophet Hermas, der im 2. Jahrhundert lebte, schildert den Vorgang in dem Bild des weißen Turmes, der mitten im Wasser von Zehntausenden von Menschen erbaut wird, die Steine aus dem Meer heben oder von den zwölf Bergen, dem Symbol der verschiedenen Völker der Erde, herbeischleppen. Einige dieser Steine werden verworfen und einige werden ausgewählt, um für den Bau verwendet zu werden. Und als er "nach den Zeiten fragt" und wissen will, ob dies schon das Ende sei, erhält er die Antwort: "Siehst du nicht, daß noch an dem Turm gebaut wird ? Wenn der Bau vollendet ist, dann ist das Ende nahe."

268a Dieses Bild zeigt, wie das Christentum den Sinn der Geschichte aus der äußeren Welt der geschichtlichen Ereignisse in die innere Welt der geistigen Wandlung verlegt und wie diese als das dynamische Element in der Geschichte und als reale, weltverändernde Kraft aufgefaßt wurde. Es zeigt aber auch, wie das primitive Gefühl eines nahe bevorstehenden Endes eine verkürzte Sicht der Zeit zur Folge hatte und die Aufmerksamkeit der Menschen von der Frage des künftigen Schicksals der menschlichen Zivilisation ablenkte. Erst als das Römische Reich sich zum Christentum bekehrte und die Kirche in Frieden lebte, konnten die Christen zwischen dem Ende des Zeitalters und dem Ende der Welt unterscheiden und sich eine kommende christliche Ära und Kultur vorstellen, die kein Tausendjähriges Reich war, sondern ein Gebiet ständiger Bemühungen und Konflikte. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus; Gottesstaat - civitas terrena; Staat: Krieg - Frieden; Turmbau zu Babel - Gnade; Seele: Mittelpunkt des Geschichtsprozesses

Kurzinhalt: Er deutet den Lauf der Weltgeschichte als einen nie endenden Konflikt zwischen zwei dynamischen Prinzipien, die durch zwei Gesellschaften und zwei Gesellschaftsordnungen verkörpert werden, die civitas terrena und den Gottesstaat ...

Textausschnitt: 268b Diese Auffassung der Geschichte fand ihren klassischen Ausdruck im "Gottesstaat" des heiligen Augustinus. Er deutet den Lauf der Weltgeschichte als einen nie endenden Konflikt zwischen zwei dynamischen Prinzipien, die durch zwei Gesellschaften und zwei Gesellschaftsordnungen verkörpert werden, die civitas terrena und den Gottesstaat - Babylon und Jerusalem -, die nebeneinander bestehen, sich vermischen und an denselben weltlichen Gütern und weltlichen Übeln teilhaben, die aber durch eine unendliche spirituelle Kluft voneinander getrennt sind. So sieht der heilige Augustinus die Geschichte als den Punkt, an dem Zeit und Ewigkeit aufeinanderstoßen. Die Geschichte ist eine Einheit, weil die göttliche Macht, die sich in der Ordnung der Natur, angefangen von den Sternen bis zu den Federn des Vogels und den Blättern des Baumes, äußert, auch die Entstehung und den Untergang der Königreiche und Imperien bestimmt. Aber diese göttliche Ordnung wird ständig durch die Schwerkraft der menschlichen Natur aus ihrer Richtung gelenkt; denn diese zieht herab zu ihren eigenen, egoistischen Zielen. Sie ist eine Kraft, die trachtet, sich in den politischen Konstruktionen, die der gestaltgewordene Ausdruck des menschlichen Ehrgeizes und Strebens nach Macht sind, ihre eigene Welt zu erbauen. Das bedeutet aber nicht, daß der heilige Augustinus den Staat als solchen mit der civitas terrena identifiziert und ihn als etwas grundsätzlich Schlechtes ablehnt. Es zeigt im Gegenteil, daß sein eigentliches Ziel-die Erhaltung des weltlichen Friedens - etwas ist, das mit dem höheren Gut des Gottesstaates in Einklang steht, so daß der Staat seinem wahren Wesen nach weniger der Ausdruck des Eigenwillens und Machthungers ist als eine notwendige Schranke, welche die menschliche Gesellschaft gegen ihre Vernichtung durch diese Mächte schützt. Nur wenn der Krieg und nicht der Frieden zum Ziel des Staates wird, wird er mit der civitas terrena im schlechten Sinn identisch. Aber wir sehen nur zu deutlich, daß der räuberische Staat, der sich von Kriegen und Eroberungen nährt, eine historische Wirklichkeit ist. Das Urteil des heiligen Augustinus über die weltliche Geschichte ist ein grundlegend pessimistisches, demzufolge die Reiche dieser Erde auf der Ungerechtigkeit aufgebaut sind und durch Kriege und Bedrückung wachsen. Das Ideal des weltlichen Friedens, das der Idee des Staates zugrunde liegt, ist niemals stark genug, um die dynamische Kraft des menschlichen Eigennutzes zu besiegen und daher ist die gesamte Geschichte, abgesehen von der göttlichen Gnade, eine Aufzeichnung einander folgender Versuche eines Turmbaues zu Babel, die an dem Egoismus und der Habgier der menschlichen Natur scheitern. (Fs) (notabene)

269a Diese Ausnahme ist jedoch ausschlaggebend. Denn die blinden Kräfte des Instinktes und der menschlichen Leidenschaft sind nicht die einzigen Mächte, die die Welt regieren, Gott hat seine Schöpfung nicht im Stich gelassen. Er teilt dem Menschen durch die Gnade Christi und das Wirken des Heiligen Geistes die spirituelle Kraft der göttlichen Liebe mit, die allein imstande ist, die menschliche Natur zu verwandeln. So wie die Naturkraft der Eigenliebe die Welt zur Vielheit, zur Unordnung und zum Tod herabzieht, so führt uns die übernatürliche Macht der göttlichen Liebe zurück zur Ordnung und zum Leben. Hier liegt die wahre Einheit und Bedeutung der Geschichte. Denn die Liebe ist nach der Lehre des heiligen Augustinus das Prinzip der Gesellschaft, und so wie die zentrifugale und destruktive Macht der Eigenliebe die in sich gespaltene Gesellschaft der civitas terrena schafft, so schafft die einigende und schöpferische Macht der göttlichen Liebe den Gottesstaat, die Gesellschaft, die alle Menschen guten Willens zu einer ewigen Gemeinschaft zusammenschließt, die sich im Lauf der Zeiten immer mehr verwirklicht. (Fs)

270a Auf diese Weise betont der heilige Augustinus vielleicht mehr als jeder andere christliche Denker den sozialen Charakter der christlichen Heilslehre. "Denn von woher würde unser Gottesstaat seinen Ausgang nehmen, seinen Fortgang erfahren und seinen verdienten Abgang erleben, wenn das Leben der Heiligen nicht auf die Gemeinschaft bedacht wäre1?" Gleichzeitig aber macht er die einzelne Seele und nicht den Staat oder die Kultur zum eigentlichen Mittelpunkt des Geschichtsprozesses. Wo immer die Macht der göttlichen Liebe den menschlichen Willen beseelt, wird der Gottesstaat erbaut. Selbst die Kirche, das sichtbare, sakramentale Organ des Gottesstaates, ist nicht mit ihm identisch. Denn, wie er schreibt, "für Gottes Vorherwissen stehen viele, die sich scheinbar draußen befinden, drinnen, und viele, die sich scheinbar drinnen befinden, stehen draußen"2. So gibt es die Menschen außerhalb der Gemeinschaft der Kirche, "die der Vater, der im Verborgenen sieht, heimlich krönt"3. Denn die beiden Städte durchdringen einander in solcher Weise und in einem solchen Maße, daß "das irdische Reich die Dienste des Himmelreiches und das Himmelreich die Dienste der irdischen Stadt erfordert"4. (Fs) (notabene)

270b Es ist unmöglich, den Einfluß des heiligen Augustinus auf die Entwicklung der christlichen Auffassung der Geschichte und die gesamte Tradition der abendländischen Geschichtsschreibung zu überschätzen. Sie verfolgt eine ganz andere Richtung als die orientalische und byzantinische. Der moderne Leser, der erwartet, bei dem heiligen Augustinus eine Geschichtsphilosophie zu finden und der sich begreiflicherweise mit den geschichtlichen Teilen seines großen Werkes, besonders mit dem fünfzehnten und achtzehnten Buch befaßt, wird wahrscheinlich schmerzlich enttäuscht sein. Aber obwohl der heilige Augustinus niemals ein christlicher Historiker war wie Eusebius, so hatte doch sein Werk eine weit revolutionärere Wirkung auf das abendländische Denken. Erstens impfte er den christlichen Historikern seine Auffassung der Geschichte als eines dynamischen Prozesses ein, in dem sich die göttliche Absicht verwirklicht. Zweitens zeigte er den Menschen, auf welche Weise die individuelle Persönlichkeit Ursprung und Mittelpunkt dieses dynamischen Prozesses ist. Und schließlich brachte er der abendländischen Kirche ihre geschichtliche Mission und ihre soziale und politische Verantwortung zum Bewußtsein, so daß sie in den darauffolgenden Jahrhunderten das aktive Prinzip der abendländischen Kultur wurde. (Fs) (notabene)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Beda; Dante ("Göttliche Komödie", "Convivio", "Monarchia") - Thomas von Aquin; Weltstaat; irdische Stadt: Verwirklichung der natürlichen Möglichkeiten; Augustinus

Kurzinhalt: Hier wird zum erstenmal im christlichen Denken die irdische und zeitliche Stadt als eine autonome Ordnung mit einem eigenen letzten Ziel aufgefaßt, das nicht der Dienst der Kirche ist, sondern die Verwirklichung aller natürlichen Möglichkeiten der ...

Textausschnitt: 271a Die Ergebnisse seines Wirkens fanden drei Jahrhunderte später in der angelsächsischen Kirche vollen Ausdruck. Im Gegensatz zum heiligen Augustinus war der heilige Beda ein wirklicher Historiker, aber seine Geschichte ruht auf den Fundamenten, die der heilige Augustinus gelegt hatte. So entsteht die erste Geschichte eines christlichen Volkes im vollen Sinn des Wortes - eine Geschichte, die sich nicht in erster Linie mit der Entstehung und dem Untergang irdischer Reiche befaßt - obwohl auch diese darin nicht fehlen -, sondern mit der Entstehung des Königreiches Christi in England, der "gesta Dei per Anglos". Natürlich kann Bedas großes Werk kaum als typisch für die mittelalterliche Geschichtsschreibung gelten. Es war etwas Außergewöhnliches, fast Einmaliges. Jedenfalls aber ist Bedas Stellungnahme zu der Geschichte typisch und zusammen mit seinen anderen chronologischen Werken bildete es das Schema, das die späteren Historiker des christlichen Mittelalters befolgten. Es besteht zunächst aus einer Weltchronik in der Art des Eusebius, die den chronologischen Hintergrund für die Schilderungen der Historiker bildete. Zweitens enthielt es die Geschichte bestimmter Völker und Kirchen, wofür die Kirchengeschichte des heiligen Beda das klassische Beispiel war und die in späteren Zeiten durch Werke wie Adam von Bremens "Geschichte von Hamburg" oder Ordericus Vitalis' Kirchengeschichte vertreten wird. Schließlich enthält es die Lebensgeschichten von Heiligen, Bischöfen oder Äbten, wie Bedas Leben des heiligen Cuthbert und die Lebensgeschichten der Äbte von Wearmouth. (Fs)

272a So ist die Aufzeichnung zeitgenössischer Ereignisse in der typischen mittelalterlichen Chronik einerseits mit der Tradition der Weltgeschichte verknüpft, andererseits mit der Lebensgeschichte der großen Männer, die die Führer und Heroen der christlichen Gesellschaft waren. Aber der Heilige ist nicht nur eine historische Gestalt, er ist ein Bürger der Ewigen Stadt geworden, ein himmlischer Schutzpatron und Behüter des irdischen Lebens der Menschen. So sehen wir an dem Leben der Heiligen, wie die Geschichte über sich selbst hinauswächst und ein Teil der ewigen Welt des Glaubens wird. (Fs)

272b Daher sind für das mittelalterliche Denken Zeit und Ewigkeit viel enger miteinander verbunden als für die Antike oder für den modernen Geist. Die Welt der Geschichte war nur ein Bruchteil der eigentlichen Welt und ringsum von der Welt der Ewigkeit umgeben wie eine Insel im Ozean. Dieses mittelalterliche Bild eines hierarchischen Weltalls, in dem die Welt des Menschen eine kleine, aber zentrale Stellung einnimmt, findet seinen klassischen Ausdruck in Dantes "Göttlicher Komödie". Sie zeigt besser als jedes rein historische oder theologische Werk, wie die Welt der Geschichte als Übergang zur Ewigkeit und als ewige Früchte tragend aufgefaßt wurde. (Fs)

272c Scheint dies einerseits die Bedeutung der Geschichte und des irdischen Lebens zu verringern, so erhöht es andererseits ihren Wert, indem es ihnen einen ewigen Sinn verleiht. Tatsächlich gibt es nur wenige Dichter, die sich so sehr mit der Geschichte und selbst mit der Politik befaßt haben wie Dante. Was in Florenz und in Italien geschieht ist von tiefer Bedeutung nicht nur für die Seelen im Fegefeuer, sondern sogar für die Verdammten in der Hölle und für die Heiligen des Paradieses, und das göttliche Schauspiel in dem irdischen Paradies, das der Mittelpunkt des gesamten Vorganges ist, ist eine apokalyptische Schau des Gerichtes und der Reform von Kirche und Reich im 14. Jahrhundert. (Fs)

273a Dantes große Dichtung scheint die gesamte Leistung des katholischen Mittelalters zusammenzufassen und ein vollendetes literarisches Gegenstück zu der philosophischen Synthese des heiligen Thomas darzustellen. Aber wenn wir uns seinen Prosawerken, dem "Convivio" und der "Monarchia" zuwenden, sehen wir, daß sich seine Anschauungen über die Kultur und daher auch über die Geschichte sehr stark von denen des heiligen Thomas und noch mehr von denen des heiligen Augustinus unterscheiden. Hier wird zum erstenmal im christlichen Denken die irdische und zeitliche Stadt als eine autonome Ordnung mit einem eigenen letzten Ziel aufgefaßt, das nicht der Dienst der Kirche ist, sondern die Verwirklichung aller natürlichen Möglichkeiten der menschlichen Kultur. Das Ziel der Kultur - finis universalis civitas humani generis - kann nur durch eine die ganze Welt umfassende Gesellschaft erreicht werden und das erfordert den politischen Zusammenschluß der Menschheit zu einem einzigen Weltstaat. Es ist klar, daß Dantes Ideal des universalen Staates von der mittelalterlichen Auffassung des Christentums als einer universalen Gesellschaft und von der Tradition des Römischen Reiches in seiner Formulierung durch ghibellinische Rechtsgelehrte und Denker stammt. Gilson schreibt darüber: "Wenn Dantes genus humanum wirklich die erste bekannte Form der modernen Auffassung von Humanitas ist, so kann man behaupten, daß die Humanitas dem europäischen Bewußtsein zuerst als bloße säkularistische Nachahmung des religiösen Begriffes der Kirche erschienen ist1."

273b Aber Dantes Quellen waren nicht ausschließlich christliche. Er war sehr stark von den politischen und ethischen Idealen des griechischen Humanismus beeinflußt, vor allem von der Ethik des Aristoteles und nicht weniger von der romantischen Idealisierung der klassischen Vergangenheit in Gestalt der Bewunderung für das antike Rom. Denn Dantes Bild des Reiches ist dem des heiligen Augustinus diametral entgegengesetzt. Er sieht es nicht als eine heilige Stadt, die Gott eigens als Werkzeug seines göttlichen Planes mit der Menschheit geschaffen und dafür bestimmt hat. Er geht sogar so weit, im "Convivio" zu erklären, daß die Bürger und Staatsmänner Roms heilig waren, denn ohne ein besonderes Einströmen göttlicher Gnade hätten sie ihre Absichten nicht verwirklichen können. (Fs)

274a In all dem ist Dantes Blick mehr nach vorne auf die Renaissance als nach rückwärts auf das Mittelalter gerichtet. Aber er ist so sehr von der christlichen Tradition erfüllt, daß sogar seine Weltlichkeit und sein Humanismus ein ausgesprochen christliches Gepräge tragen, das sie von denen des klassischen Altertums unterscheidet. Das gilt übrigens für die meisten Schriftsteller und Denker des folgenden Jahrhunderts; wie Karl Burdach mit großer Sachkenntnis gezeigt hat, war die ganze kulturelle Atmosphäre des späten Mittelalters und der Frührenaissance von einem christlichen Idealismus durchtränkt, dessen Wurzeln im 13. Jahrhundert und besonders in der franziskanischen Bewegung lagen. So war das 14. Jahrhundert, in das der Beginn der italienischen Renaissance und die Entwicklung des abendländischen Humanismus fiel, auch das große Jahrhundert der abendländischen Mystik. Diese Intensivierung des Innenlebens mit seiner Betonung des spirituellen Erlebnisses war aber nicht ganz ohne verwandtschaftliche Beziehung zu dem zunehmenden Selbstbewußtsein der abendländischen Kultur, das sich in der humanistischen Bewegung äußerte. Selbst im 15. und 16. Jahrhundert war in der humanistischen Kultur noch etwas von dieser mystischen Tradition vorhanden; beide Elemente bestehen nebeneinander in der Philosophie Nikolaus' von Cusa, in der Kultur der Platonischen Akademie in Florenz, in der Kunst Botticellis und schließlich in der Michelangelos. Aber bei dieser spüren wir, daß die Synthese nur mehr durch eine heroische Anspannung der Kräfte aufrechterhalten wurde und weniger große Männer mußten sich mit einer Spaltung des Lebens in zwei geistige Ideale abfinden. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Renaissance: neue Geschichtsauffassung (Tacitus, Livius); Altertum, Mittelalter, Neuzeit; Staat: Widerspruch: Wille zur Macht, Selbstzweck - Träger der Kultur; Macchiavelli, Hobbes; Fortschritt: säkularisierte Form der christlichen Auffassung


Kurzinhalt: Diese neue Haltung gegenüber der Geschichte war einer der Hauptfaktoren bei der Säkularisierung der europäischen Kultur, da die Idealisierung des antiken Staates und besonders der Römischen Republik die Einstellung der Menschen gegenüber dem ...

Textausschnitt: 274b Diese Idealisierung der Antike, die sich schon bei Dante findet, wird bei Petrarca und seinen Zeitgenossen noch größer, bis sie zum charakteristischen Merkmal der Kultur der Renaissance wird. Sie beeinflußte alle Seiten des abendländischen Denkens: die Literatur, die Wissenschaft und die Philosophie. Vor allem aber veränderte sie die Geschichtsauffassung des Abendlandes und führte eine neue Geschichtsschreibung ein. Die religiöse Einstellung zur Geschichte, die in dieser die Aufzeichnung von Gottes Umgang mit den Menschen und die Erfüllung des göttlichen Planes im Leben der Kirche sah, wurde aufgegeben oder den Kirchenhistorikern überlassen und eine neue, weltliche Geschichte nach dem Vorbild von Livius und Tacitus und eine neue Art der Geschichtsbiographie, die von Plutarch beeinflußt war, entstanden. (Fs) (notabene)

275a So ging die Einheitlichkeit der mittelalterlichen Geschichtsschreibung verloren. An ihre Stelle trat allmählich ein neues Geschichtsschema, das später die Form einer Dreiteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit annahm und das trotz seines willkürlichen und unwissenschaftlichen Charakters das Geschichtsstudium bis in die moderne Zeit beherrscht hat und unsere Einstellung zu der Vergangenheit noch heute beeinflußt. (Fs) (notabene)

275b Diese neue Haltung gegenüber der Geschichte war einer der Hauptfaktoren bei der Säkularisierung der europäischen Kultur, da die Idealisierung des antiken Staates und besonders der Römischen Republik die Einstellung der Menschen gegenüber dem zeitgenössischen Staat beeinflußte. Der italienische Stadtstaat und die westeuropäischen Staaten wurden nicht mehr als organische Teile der christlichen Gemeinschaft angesehen, sondern als Dinge mit eigenem Zweck, die keine höhere Berechtigung anerkannten als den Willen zur Macht. Im Mittelalter hatte es den Staat als autonomes und autarkes Machtgebäude nicht gegeben - es gab nicht einmal einen Namen dafür. Aber vom 15. Jahrhundert an wird die Geschichte Europas immer mehr die Geschichte einer beschränkten Anzahl souveräner Staaten als unabhängige Machtzentren und ihrer nie endenden Rivalitäten und Konflikte. Der eigentliche Charakter dieser Entwicklung war durch das religiöse Ansehen verschleiert, das die Person des Herrschers noch immer umgab und das zur Zeit der Reformation durch die Verbindung der Kirche mit dem Staat und durch ihre Unterordnung unter die Oberhoheit des Monarchen sogar noch wuchs. (Fs) (notabene)

275c So wohnt der sozialen Entwicklung der Kultur ein Widerspruch inne. Soferne der Staat das Ergebnis und die Verkörperung des Willens zur Macht war, war er ein Leviathan, ein Monstrum von niedriger Moral, das dem Gesetz des Dschungels folgte. Gleichzeitig war er aber auch der Träger der kulturellen Werte, die aus der christlichen Vergangenheit stammten, so daß er für seine Bürger noch immer ein christlicher Staat war und ihnen als der Vertreter Gottes auf Erden erschien. (Fs) (notabene)

276a Derselbe Widerspruch findet sich in der europäischen Geschichtsauffassung. Die Realisten wie Macchiavelli und Hobbes versuchten, die Geschichte nach moralfreien Begriffen als einen unverhüllten Ausdruck des Willens zur Macht zu deuten, der sich auf wissenschaftliche, quasi biologische Weise untersuchen ließ. Aber damit nahmen sie dem Geschichtsprozeß die ethischen Werte, die noch immer ihre subjektive Gültigkeit bewahrten und verletzten das Moralgefühl und die sittlichen Begriffe ihrer Zeitgenossen. Die Idealisten hingegen übersahen oder bagatellisierten die moralische Schwäche des Staates und idealisierten ihn als Werkzeug der göttlichen Vorsehung oder jener unpersönlichen Macht, welche die Menschheit allmählich zur Vollkommenheit führte. (Fs)

276b Es ist leicht einzusehen, daß dieser Glaube an den Fortschritt in der Zeit der siegreichen nationalen und kulturellen Expansion, in der Westeuropa eine Art Welthegemonie erlangte, Anerkennung fand. Aber es ist ebenso offensichtlich, daß er keine rein verstandesmäßige Konstruktion war, sondern im Grunde nichts anderes als eine säkularisierte Form der traditionellen christlichen Auffassung. Er übernahm vom Christentum dessen Glauben an die Einheitlichkeit der Geschichte und an einen geistigen oder ethischen Zweck, der dem gesamten Geschichtsprozeß Sinn verleiht. Gleichzeitig aber brachte seine Umdeutung dieser Begriffe in eine rein verstandesmäßige und weltliche Kulturtheorie deren drastische Vereinfachung mit sich. Für den Christen war der Sinn der Geschichte ein Mysterium, das nur im Licht des Glaubens offenbar wurde. Aber die Apostel der Fortschrittslehre leugneten das Bedürfnis nach einer göttlichen Offenbarung und glaubten, der Mensch brauche sich nur vom Licht der Vernunft leiten zu lassen, um den Sinn der Geschichte in dem Gesetz des Fortschritts zu finden, das das Leben der Zivilisation beherrschte. Doch selbst im 18. Jahrhundert war es schwierig, diesen billigen Optimismus mit den geschichtlichen Tatsachen in Einklang zu bringen. Man mußte erklären, daß das Licht der Vernunft bis jetzt durch die in der hierarchischen Religion verkörperten dunklen Mächte des Aberglaubens und der Unwissenheit verhüllt gewesen war. Aber dann war die Aufklärung nichts anderes als eine neue Offenbarung, und um ihr zum Durchbruch zu verhelfen, mußten die neuen Gläubigen sich zu einer neuen Kirche zusammenschließen, sei es nun eine neue philosophische Schule, eine geheime Gesellschaft von Illuminaten oder Freimaurern oder eine neue politische Partei. Das geschah auch, und die neuen Kirchen der Vernunft haben sich als ebenso intolerant und dogmatisch erwiesen wie die alten religiösen Sekten. Auf die Offenbarung Rousseaus folgten eine Reihe weiterer Offenbarungen - idealistische, positivistische und sozialistische - mit ihren Propheten und Kirchen. Von diesen lebt heute nur noch die marxistische, vor allem dank der größeren Tüchtigkeit ihrer kirchlichen Organisation und ihres Aposteltums. Keine dieser weltlichen Religionen hat ihren rein wissenschaftlichen und a-religiösen Charakter stärker betont als der Marxismus. Trotzdem verdankt keine den messianischen Elementen der christlichen und jüdischen Geschichtstradition so viel wie er. Seine Lehre ist in Wirklichkeit vorwiegend apokalyptisch - eine Verurteilung der bestehenden sozialen Ordnung und eine Heilsbotschaft an die Armen und Unterdrückten, die nach der sozialen Revolution in der klassenlosen Gesellschaft, dem marxistischen Gegenstück zu dem Tausendjährigen Reich der Gerechten, endlich ihren Lohn empfangen werden. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Geschichte - christliche Offenbarung; Wurzeln: Vertrag Jahwehs (Berith); geschichtliche Erfüllung, Propheten; Strafgericht - das neue Jerusalem; Daniel: Vision der Weltgeschichte (Weltreiche); chr. Apokalypse (Babylon) - Evangelien; Newman





Kurzinhalt: Die christliche Geschichtsdeutung ist vom christlichen Glauben nicht zu trennen... Sie ist ein integrierender Bestandteil der christlichen Offenbarung, ja, diese Offenbarung ist vorwiegend eine geschichtliche, so daß ihre metaphysischesten Dogmen ...

Textausschnitt: 2 GESCHICHTE UND CHRISTLICHE OFFENBARUNG

280a Die christliche Geschichtsdeutung ist vom christlichen Glauben nicht zu trennen. Sie ist keine philosophische Theorie, die durch die verstandesmäßigen Bestrebungen christlicher Gelehrter erdacht wurde. Sie ist ein integrierender Bestandteil der christlichen Offenbarung, ja, diese Offenbarung ist vorwiegend eine geschichtliche, so daß ihre metaphysischesten Dogmen auf historischen Tatsachen beruhen und einen Teil jener großen Gnadenordnung bilden, die dem gesamten irdischen Lebensprozeß der Menschheit sein Ziel und seinen Sinn verleiht. In dieser Hinsicht stimmen Katholizismus und Kommunismus trotz ihrer völlig entgegengesetzten Deutung der Geschichte überein. Denn auch der Kommunismus ist ein geschichtlicher Glaube und die materialistische Deutung der Geschichte ist für den Kommunismus ebenso grundlegend wie die geistige Deutung der Geschichte für das Christentum. Die wirtschaftlichen Doktrinen des Marxismus sind fast noch mehr auf der Geschichte aufgebaut als die theologischen Lehrsätze des Katholizismus, und ein Sozialismus, der sich zum Kommunismus und Materialismus ohne Marx' Geschichtstheorie bekennt, hat ebensowenig das Recht, sich Marxismus zu nennen wie eine Religion, welche die ethischen und theologischen Lehren des Christentums anerkennt, die geschichtlichen Elemente des Glaubens aber ablehnt, das Recht hat, sich katholisch zu nennen. (Fs)

281a Trotz dieser Parallelen ist ein wirklicher Vergleich zwischen einer Lehre, die von einem individuellen Denker als Teil seines Wirtschaftssystems bewußt konstruiert wurde, und einer Lehre, die älter ist als die Geschichte und sich in organischem Zusammenhang mit der größten religiösen Überlieferung der Welt entwickelt hat, nicht möglich. (Fs)

281b Denn wenn wir die Wurzeln der katholischen Geschichtsdeutung finden wollen, müssen wir weiter zurückgehen als die Kirchenväter, weiter als das Neue Testament und sogar weiter als die jüdischen Propheten, ja, bis zum Fundament der jüdischen Religion selbst. Sie wurzelt in dem feierlichen Berith oder Vertrag, durch den an einem bestimmten Punkt in Zeit und Raum Israel ein theophorisches Volk, das Volk Jahwes wurde. Für den rationalistischen Kritiker kann diese merkwürdige, feierliche Handlung, die sich vor mehr als dreitausendvierhundert Jahren in der arabischen Wüste zugetragen hat, nichts anderes sein als ein etwas ungewöhnliches Beispiel einer primitiven Auffassung der Solidarität zwischen dem Stammesgott und seinen Anbetern. Für den Christen aber ist sie der erste Akt jener Vermählung zwischen Gott und den Menschen, die sich in der Menschwerdung vollenden und in der Schaffung einer neuen Menschheit ihre Frucht tragen sollte. Aber selbst die Kritiker geben den einmaligen Charakter der Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und seinem Gott zu. Bei den anderen semitischen Völkern ist diese Beziehung eine natürliche und besteht aus der Verwandtschaft des Volkes mit seinem Gott. Nur beim jüdischen Volk ist sie die einer Adoption, die ihren Ursprung in einer besonderen Reihe geschichtlicher Ereignisse hatte. (Fs)

282a So wie der Vertrag Jahwes einen geschichtlichen Ursprung hatte, so fand er auch eine geschichtliche Erfüllung. Nur insoferne Israel seine theophorische Mission erfüllte, konnte es seine theophorischen Vorrechte genießen. Israels Mißgeschicke waren Jahwes Strafgerichte und jede historisch bedeutsame Krise war eine Mahnung an Israel, Jahwes Gebote wieder zu befolgen und auf diese Weise die Gültigkeit des Vertrages zu erneuern. In den Schriften der Propheten sehen wir, wie die aufeinanderfolgenden Krisen in der jüdischen Geschichte Anlaß zu neuen Offenbarungen über die göttliche Berufung Israels und über Gottes Plan in der Geschichte wurden. Die Sicht der Propheten beschränkte sich nicht mehr auf die Königreiche Israel und Juda, sie dehnte sich auf die benachbarten Völkerschaften und Reiche aus, die sie aufzehrten. Selbst die feindlichen Reiche waren Jahwes Werkzeug und hatten ihre Aufgabe bei der Durchführung seines Planes. Assyrien war die Rute seines Zornes, die zerbrochen und weggeworfen wurde, als seine Aufgabe erfüllt war. Jahwes Strafgericht war somit nicht mehr auf Israels Missetaten beschränkt, es war ein universales Gericht über das Unrecht, vor allem über die Hoffart der Menschen. (Fs)

"Denn Gerichtstag wird halten der Heerscharen Herr über alles Stolze und Hohe und alles Erhabene, daß es erniedrigt werde. (Fs)

Über alle Zedern des Libanon, die ragenden, stolzen, und über alle Eichen von Basan. Über alle hohen Berge und über alle ragenden Hügel. Über jeden hohen Turm und jede befestigte Mauer. Über alle Tharsisschiffe und über jedes kostbare Fahrzeug. Gebeugt wird der Hochmut der Menschen, erniedrigt die Hoffart der Männer. Nur der Herr ist erhaben an jenem Tag1."

282b Aber diese Ankündigung des göttlichen Zornes durchzieht immer mehr eine Verkündigung der Hoffnung für Israel. Das neue Jerusalem wird kein Reich sein wie die Reiche der Heiden, ~sondern ein ewiges und universales, das auf einem neuen geistigen Vertrag begründet ist. Israel war ausersehen, in einem weiteren Sinn ein theophorisches Volk zu werden, als da es Jahwes Gebote auf dem Sinai empfing. Es sollte das Werkzeug der göttlichen Offenbarung an die Menschheit werden. (Fs)

283a Diese jüdische Deutung der Geschichte findet ihren konsequentesten Ausdruck in dem Buch Daniel, das ein Vorbild für die späteren apokalyptischen Schriften wurde. Es besteht nicht mehr aus unzusammenhängenden Prophetien und Verkündigungen besonderer Strafgerichte, sondern es ist eine zusammenfassende Vision der Weltgeschichte in Gestalt der aufeinanderfolgenden Reiche, die die "Letzten Dinge" bilden. (Fs) (notabene)

283b Jedem Reich ist seine Zeit zugemessen, und wenn der Spruch des Wächters ergangen ist, sind die Tage seiner Herrschaft gezählt und sein Ende ist da. Gleichzeitig tritt der jenseitige Charakter der messianischen Hoffnung deutlicher hervor. Das Reich Gottes gehört nicht der Reihe der Weltreiche an; es ist etwas, das von außen kommt und an ihre Stelle tritt. Es ist der ohne menschliche Hilfe aus dem Fels gebrochene Stein, der das vierfache Bild der Weltherrschaft zermalmt und der wächst, bis er die ganze Welt einnimmt. Es ist das allumfassende Reich des Menschensohnes, das die Reiche der vier Tiere zerstören und ewig dauern wird. (Fs) (notabene)

283c Das ist die von der christlichen Kirche übernommene Glaubenstradition. Ja, man kann sagen, daß es gerade dieses prophetische und apokalyptische Element im Judentum ist, an das sich das Christentum wendete. Für den modernen Protestanten liegt das Wesen des Evangeliums in seiner Sittenlehre, seiner Lehre von der Bruderschaft der Menschen und der Vaterschaft Gottes. Aber für die Christen der ersten Zeiten war es buchstäblich die Frohe Botschaft vom Reich Gottes. Es war die Ankündigung eines kosmischen Umsturzes, der Anfang einer neuen Weltordnung, die Ordnung der Fülle der Zeiten, in der alle Dinge in Christus wiederhergestellt würden. (Fs) (notabene)

283d Um die sich daraus ergebende Haltung gegenüber der Geschichte zu verstehen, müssen wir uns mit der Geheimen Offenbarung befassen, die gleichzeitig der Höhepunkt der jüdischen apokalyptischen Tradition und die erste christliche Deutung der Geschichte ist. Sie enthält einen geschichtlichen Dualismus größter Schärfe, der den Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und den Reichen der Menschen, den wir schon bei den Propheten und im Buch Daniel finden, noch stärker betont. Die Gottesstadt wird nicht auf Erden durch die Predigt des Evangeliums und die Bestrebungen der Heiligen erbaut. Sie senkt sich aus dem Himmel von Gott herab wie eine für den Bräutigam geschmückte Braut. Aber ehe sie kommt, muß sich das Mysterium des Leidens auf Erden erfüllen und die Früchte der Macht und des Stolzes der Menschen müssen eingesammelt werden. Das ist der Sinn des Gerichtes über Babylon. Dieses erscheint in der Apokalypse nicht als eine siegreiche Kriegsmacht wie bei den früheren Propheten, sondern als die Verkörperung des äußeren Glanzes und Prunkes, als die große Hure, deren Zauber alle Völker der Erde umgarnt, als der Weltmarkt, dessen Handel die Kaufleute und Schiffseigentümer bereichert. (Fs) (notabene)

284a Auf den ersten Blick hin mag es scheinen, als bestehe nur wenig Gemeinsames zwischen dieser ganzen düsteren und apokalyptischen Bilderwelt und der Lehre der Evangelien. Trotzdem liegen beiden die gleichen fundamentalen Begriffe zugrunde. Der Dualismus zwischen dem Himmelreich und der Welt in den Evangelien und den Apostelbriefen ist nicht weniger schroff als der zwischen den beiden apokalyptischen Städten. Das gilt besonders für das Johannesevangelium mit seiner Betonung, daß die Feindschaft der Welt für die Kinder des Himmelreiches ein unvermeidlicher Zustand ist. "Ich bitte nicht für die Welt, sondern für sie, die Du mir gegeben hast." Und weiter: "Es kommt der Fürst dieser Welt und an mir hat er keinen Anteil2."

284b Der übernatürliche und katastrophenhafte Charakter der Ankunft des Himmelreiches wird überdies bei den Synoptikern nicht weniger betont als in der Apokalypse. Dort finden wir in den Worten, die man die "Apokalypse Christi" nennen könnte, dieselben Ankündigungen kommender Schrecken und dasselbe Bild einer Krise der Welt, die mehr durch das Reifen der Früchte des Bösen als durch die fortschreitenden Kräfte des Guten ausgelöst wird. "Wie es zuging in den Tagen Noahs, so wird es auch gehen in den Tagen des Menschensohnes. Sie aßen und tranken, freiten und wurden gefreit bis zu dem Tage, da Noah in die Arche ging und die Flut kam und alle vernichtete3."

285a Daraus folgt jedoch nicht, daß die Gläubigen machtlos sind, den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen. Ihr Widerstand bricht die Macht der Welt. Die Gebete der Heiligen und das Blut der Märtyrer zwingen Gott sozusagen zum Eingreifen und beschleunigen das Kommen des Himmelreiches. Wenn sogar der ungerechte Richter die drängenden Bitten der Witwe anhört, wird Gott dann nicht noch viel mehr seine Auserwählten rächen, die Tag und Nacht zu Ihm rufen?

285b Das sind die Grundlagen der christlichen Geschichtsauffassung in der Form, in der die katholische Tradition sie in sich aufgenommen hat. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint sie zwar eine Lehre vom Ende der Geschichte zu sein, die keinen Platz für eine Weiterentwicklung übrigläßt. Wie Newman schreibt, scheint die Geschichte ihre Richtung mit dem Kommen Christi verändert zu haben; sie verläuft nicht mehr in einer Geraden nach vorne, sondern sozusagen ständig an der Grenze der Ewigkeit. "Den Juden war diese Welt verliehen worden; sie betraten den Weinberg am Morgen. Sie hatten Zeit und konnten mit der Zukunft rechnen... Aber bei uns liegen die Dinge anders. Himmel und Erde sind immer im Begriff unterzugehen, Christus ist immer im Kommen; die Christen erheben ständig suchend ihr Haupt und deshalb ist es Abend ... Trotzdem ist der Abend lang und der Tag war kurz. Auch wenn dieses letzte Zeitalter immer im "Vergehen ist, so war es doch länger als die vorhergegangenen und die Christen hatten mehr Zeit für umfangreichere Arbeit, als wenn sie am Morgen angeworben worden wären4."

285c Das war das große Problem, das sich der Kirche des Altertums stellte, und von der Art seiner Lösung hängt die katholische Geschichtsdeutung ab. Die Chiliasten lösten es durch eine wörtliche Auslegung der apokalyptischen Überlieferung; die Gnostiker und die Jünger des Origenes lösten es auf eine andere Weise, indem sie die Geschichte zugunsten der Metaphysik ausschieden und die Apokalyptik durch die Theosophie ersetzten. (Fs)

286a Aber die katholische Lösung, die ihren klassischen Ausdruck in den Schriften des heiligen Augustinus fand, behielt die jüdische Auffassung von der Bedeutung und Einmaligkeit der Geschichte bei; sie lehnte die wörtliche Auslegung und den Materialismus der extremen Chiliasten ab und bejahte die geistige Auslegung der griechischen Theologen. Der Konflikt zwischen der Kirche und dem Römischen Reich war nicht der letzte Akt in dem großen Drama der Welt, er war nur ein Kapitel in einer langen Geschichte, in der sich der Gegensatz und die Spannung zwischen den beiden durch die Kirche und die Welt vertretenen Prinzipien in immer neuen Formen wiederholen sollte. (Fs)

286b Die Geschichte war nicht bloß ein unverständliches Chaos unzusammenhängender Ereignisse. Sie hatte in der Menschwerdung einen Mittelpunkt gefunden, der ihr Sinn und Ordnung verlieh. Von diesem Mittelpunkt aus betrachtet wurde die Geschichte der Menschheit eine organische Einheit. Die Ewigkeit war in die Zeit eingetreten und von da an hatte das Einzelne und Zeitliche eine ewige Bedeutung erlangt. Der Kreis der Zeit war durchbrochen worden und eine Leiter hatte sich vom Himmel auf die Erde herabgesenkt, auf der die Menschheit dem "Rad des Leidens" entfliehen kann, das seinen Schatten auf das griechische und indische Denken geworfen hatte, und auf der sie neugeboren in eine neue Welt eingehen kann. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Katholische Geschichtsdeutung: Vereinigung des Universalismus mit einem Sinn für das Einmalige; rationale Historiker; Verborgener Sinn d. Geschichte; Stein des Anstoßes (Mysterium d. G.); Rom - Märtyrer



Kurzinhalt: ... der katholische Historiker ist der Erbe einer universalen Tradition... falsche Universalität der rationalen Historiker... Der wahre Sinn der Geschichte ist gänzlich verschieden von dem, an den die menschlichen Akteure in dem Drama glauben oder...

Textausschnitt: 286c So unterscheidet sich die katholische Geschichtsdeutung von allen anderen durch ihre Vereinigung des Universalismus mit einem Sinn für das Einmalige und Unumstößliche des Geschichtsprozesses. Ihre Ablehnung des Chiliasmus macht sie ebenso frei von einer kurzen Sicht und dem engen Fanatismus des Sektengeistes wie von dem Prinzipiellen und Einseitigen des nationalen Historikers, der der politischen Einheit angehört, über die er schreibt. Aber der katholische Historiker ist der Erbe einer universalen Tradition. Orosius schreibt:

"Überall ist meine Heimat; überall ist mein Gesetz und meine Religion. Die Breite des Ostens, die Fülle des Nordens, die Weite des Südens und die Inseln des Westens sind die große und sichere Heimat, deren Bürger ich bin. Denn ich wende mich als Römer an Christen und als Christ an Römer."
287a Andererseits vermeidet die katholische Geschichtsdeutung aber auch die falsche Universalität der rationalen Historiker, die auf der fundamentalen Identität der menschlichen Natur in allen Lagen beharren und wie Hume glauben, das Ziel der Geschichte bestehe nur darin, durch die Schilderung von Menschen in den verschiedensten Lebensumständen und Situationen die gleichbleibenden und universalen Gesetze der menschlichen Natur aufzufinden. "Die gleichen Motive führen immer zu den gleichen Handlungen; die gleichen Ereignisse entstehen immer aus den gleichen Ursachen1."

287b Aber die katholische Geschichtsdeutung hält an dem prophetischen und apokalyptischen Sinn des Mysteriums und des göttlichen Gerichtes fest. Hinter dem verstandesmäßigen Kreislauf der politischen und wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen sind geheime spirituelle Kräfte am Werk, die den Ereignissen eine völlig neue Bedeutung verleihen. Der wahre Sinn der Geschichte ist gänzlich verschieden von dem, an den die menschlichen Akteure in dem Drama glauben oder den sie herbeiführen wollen. So wäre zum Beispiel einem zeitgenössischen "Geschichtsforscher" die Entstehung der großen Reiche im Nahen Osten zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. als die einzige historische Wirklichkeit erschienen. Er hätte sich niemals vorstellen können, daß man sich zweitausend Jahre später an dieses große Schauspiel der Weltgeschichte nur insoferne erinnern würde, als es die geistigen Schicksale eines der kleinsten und am wenigsten zivilisierten Vasallenstaaten beeinflußte. Und welcher zeitgenössische Beobachter hätte sich vorstellen können, daß die Hinrichtung eines unbekannten jüdischen Religionsführers im 1. Jahrhundert des Römischen Reiches das Leben und Denken von Millionen beeinflussen würde, die niemals die Namen der großen Staatsmänner und Heerführer der damaligen Zeit gehört hatten. (Fs)

288a Dieses Geheimnisvolle und Unvorhergesehene in der Geschichte ist für den Rationalisten der große Stein des Anstoßes. Er sucht immer nach klar umrissenen Gesetzen und kausalen Aufeinanderfolgen, aus denen sich die Geschichte automatisch ableiten läßt. Aber die Geschichte duldet solche künstliche Konstruktionen nicht. Sie ist gleichzeitig aristokratisch und revolutionär. Sie läßt zu, daß die gesamte Weltlage plötzlich durch einzelne Menschen wie Mohammed oder Alexander den Großen verwandelt wird. Zweifellos war die Lage in beiden Fällen für eine Veränderung reif, aber sie wäre ohne das Dazwischentreten dieser Männer nicht gerade in dieser Form eingetreten. Hätte Alexander seinen Blick nach Westen und nicht auf Persien gerichtet, so wäre die Geschichte anders verlaufen. Dann hätte es kein Römisches Reich und infolgedessen auch kein Europa, oder ein anderes Europa und eine andere Zivilisation gegeben. (Fs) (notabene)

288b Andererseits aber findet die katholische Deutung keine Schwierigkeit darin, das Willkürliche und Unvorhergesehene der geschichtlichen Veränderung anzuerkennen, da sie in allem die Zeichen einer göttlichen Absicht und göttlichen Auserwählung sieht. Der Wille Gottes erwählt einen Stamm barbarischer Semiten und macht ihn zum Werkzeug seines Vorhabens mit der Menschheit. Ebensowenig wird die göttliche Wahl durch menschliche Verdienste oder durch die innere Logik der Ereignisse beeinflußt. "Viele Witwen lebten in Israel in den Tagen des Elias, aber zu keiner wurde Elias gesendet außer zu einer Frau in Sarepta im Lande Sidon, die eine Witwe war. Und es gab viele Aussätzige in Israel zur Zeit des Propheten Elias, aber keiner von ihnen wurde geheilt außer Naaman, der Syrer." Das Gebäude der Welt scheint wohlverschlossen und bewacht, seine Herren haben keine Rivalen mehr zu fürchten. Aber plötzlich weht der Wind des Geistes und alles ist anders geworden. Keine Zeit war je imstande, die Zukunft vorauszusehen. Das Zeitalter des Augustus hätte den Sieg des Christentums nicht vorhersagen können, so wenig wie das byzantinische Zeitalter die Entstehung des Islams. Selbst in unserer Zeit hätte der beste politische Beobachter zwanzig Jahre vor der Machtergreifung Hitlers niemals die Möglichkeit einer Aufhebung des Parlamentarismus in Mitteleuropa durch die Entstehung des Faschismus geahnt. Aber während der geschichtliche Rationalismus dies alles als eine Schmach und einen Vorwurf empfindet, bietet es dem Katholiken, der im Angesicht von Mysterien lebt und weiß, daß "der Weg der Menschen nicht in seiner Hand liegt", keinerlei Schwierigkeiten. (Fs) (notabene)

289a Dem gebildeten Durchschnittsmenschen des Jahres 33 n. Chr., der die Welt beobachtete, mußte die Hinrichtung des Sejanus viel wichtiger erscheinen als die Kreuzigung Christi, und die Versuche des Staates, die Wirtschaftskrise durch eine Politik freier Kredite an die Produzenten zu lösen, viel aussichtsreicher als das Treiben der unbekannten Gruppe jüdischer Fanatiker im oberen Saal eines Hauses in Jerusalem. Trotzdem gibt es heute keinen Zweifel mehr, welches Ereignis das wichtigere war und welches das Geschick der Menschen am meisten verändert hat. Die ganze römische Welt mit ihrer Macht und ihrem Reichtum, ihrer Kultur und ihrer Korruption versank in Schutt und Asche -- die Flut kam und vernichtete alle --, aber die andere Welt, die Welt der Apostel und Märtyrer, das Erbe der Armen, überlebte den Sturz der Kultur des Altertums und wurde zum Fundament einer neuen Ordnung. Das Christentum rief buchstäblich eine neue Welt ins Leben und stellte damit das Gleichgewicht zu der alten wieder her. Es versuchte nicht, die Welt im Sinne der sozialen Idealisten zu reformieren. Es gründete keine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei oder zugunsten eines Friedensschlusses mit den Parthern, noch unterstützte es die Forderungen der Juden nach nationaler Selbstbestimmung oder die Propaganda der Stoiker für einen idealen Weltstaat. Es beließ Cäsar auf seinem Thron und Pilatus und Gallio auf ihren Richterstühlen und beschritt seinen eigenen Weg in die neue Welt. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum; sozialer Idealismus, humanitärer Idealismus des Hellenismus - Antwort des Kreuzes; Newman; christliche Kultur (Verdienst, Merkmal); Erfolg - Scheitern; Sieg der Kirche - zweifache Folgen; Aufgabe d. Kirche; rein weltliche Kultur


Kurzinhalt: Scheinbarer Erfolg bedeutet oft inneres Scheitern und der Weg des Scheiterns und des Leidens ist die königliche Straße des christlichen Fortschrittes. Wann immer die Kirche die Welt politisch beherrschte und wo immer sie auf weltlichem Gebiet einen...

Textausschnitt: 289b Die christliche Lösung ist eine grundlegend andere als die des sozialen Idealismus, und zwar nicht nur deshalb, weil die Welt im 1. Jahrhundert n. Chr. noch nicht reif für den Idealismus war. Im Gegenteil, sie mußte der Rivalität des sozialen Chiliasmus der Juden standhalten, der durch seine größere Religiosität vehementer war als der soziale Chiliasmus des modernen Sozialismus, und andererseits dem humanitären Idealismus des Hellenismus entgegentreten, der sogar rationaler und humanitärer war als jeder moderne Idealismus. Das Christentum lehnte beide Alternativen ab; es bot den Menschen die Antwort des Kreuzes - den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit, genauso wie es heute dem sozialen Reformer ein Ärgernis und dem rationalistischen Idealisten eine Torheit ist. Im Leben Christi stieß die Macht der Welt - "der Wildbach menschlicher Gewohnheit" - endlich auf eine andere Macht, die sie weder besiegen noch ignorieren konnte. Die unbesiegbare Macht stieß auf das unbewegliche Hindernis. Die Folge war die Tragödie des Kreuzes, eine Tragödie, die zunächst den Sieg des Bösen und des Fleisches zu verkünden schien, die aber in Wirklichkeit der Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit und der Ausgangspunkt einer neuen Ordnung war. (Fs) (notabene)

290a Diese neue Ordnung war zwar an sich nicht die neue Welt, auf die das Christentum gehofft hatte. Die Christenheit ist nicht das Christentum. Sie ist nicht der Gottesstaat und das Reich Gottes. Die Menschheit bleibt so ziemlich, wie sie immer war. Newman schreibt darüber:
"Der heutige Zustand der großen Städte unterscheidet sich nicht wesentlich von dem früheren, zumindest nicht so sehr, daß er beweisen würde, die Hauptarbeit des Christentums habe dem Antlitz der Gesellschaft gegolten oder dem, was man als 'die Welt' bezeichnet. Ebenso sind die höchste wie die niedrigste Klasse des Gemeinwesens nicht so sehr verschieden von dem, was sie ohne die Kenntnis des Evangeliums wären, daß man sagen könnte, das Christentum habe bei der Welt, nämlich der Welt der verschiedenen Klassen und Stände, Erfolg gehabt1."

290b Im Grunde hat keine Zeit das Recht, sich christlich im absoluten Sinne des Wortes zu nennen; alle stehen unter derselben Verwerfung. Das einzige Verdienst einer verhältnismäßig christlichen Zeit oder Kultur - und das ist kein geringfügiges - ist die Erkenntnis ihrer geistigen Unzulänglichkeit und die Aufgeschlossenheit für Gott und die Welt. Die völlig unchristliche Zeit oder Kultur hingegen verschließt sich vor Gott und rühmt sich ihres wachsenden Fortschrittes zur Vollkommenheit. Zweifellos ist ein echter Gärungsstoff geistigen Fortschrittes in der Menschheit vorhanden und das Leben der künftigen Welt regt sich schon im Schoß der alten. Aber der Fortschritt der neuen Welt geht unsichtbar vor sich und wird erst am Ende der Zeiten in seiner Fülle offenbar werden. Scheinbarer Erfolg bedeutet oft inneres Scheitern und der Weg des Scheiterns und des Leidens ist die königliche Straße des christlichen Fortschrittes. Wann immer die Kirche die Welt politisch beherrschte und wo immer sie auf weltlichem Gebiet einen Sieg erringt, hat sie ihn mit einem doppelten Maß weltlichen und geistigen Mißgeschickes bezahlen müssen. So folgte auf den Sieg des orthodoxen Christentums in Byzanz zunächst der Verlust des Ostens an den Islam und dann das Schisma mit dem Westen. Auf den mittelalterlichen Versuch, eine christliche Theokratie zu errichten, folgten die Reformation und die Vernichtung der religiösen Einheit Westeuropas, und auf den Versuch der Puritaner und der Monarchien der Gegenreformation, die Gesellschaft zwangsweise zur Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit zurückzuführen, folgten die Ungläubigkeit und der Antiklerikalismus des 18. Jahrhunderts und die Verweltlichung der europäischen Kultur. (Fs) (notabene)

291a Die Christen müssen sich daran erinnern, daß es nicht Sache der Kirche ist, es dem Staat gleichzutun, ein Reich zu errichten gleich den anderen Reichen der Menschen, wenn auch ein besseres, oder eine Herrschaft irdischen Friedens und irdischer Gerechtigkeit zu begründen. Die Kirche ist dazu da, um das Licht der Welt zu sein und wenn sie ihre Aufgabe erfüllt, wird die Welt verwandelt werden, trotz aller Hindernisse, die ihr die irdischen Mächte in den Weg legen. Eine rein weltliche Kultur kann nur im Dunkel bestehen. Sie ist ein Kerker, in den sich der menschliche Geist einschließt, wenn er aus der größeren Welt der Wirklichkeit ausgesperrt ist. Aber sowie das Licht erscheint, wird der ganze kunstvolle Apparat, der für das Leben im Dunkel geschaffen wurde, zwecklos. Der Wiedergewinn der spirituellen Sicht gibt dem Menschen seine geistige Freiheit wieder. Daher liegt die Freiheit der Kirche in dem Glauben der Kirche und die Freiheit des Menschen in dem Wissen um Gott. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Rationalität der Geschichte - Metapher: Lagune, Wolke; Widerspruch: menschliche Ziele - geschichtliche Ergebnisse (Beispiele: sozialer Idealismus; Krieg in der Vendee)

Kurzinhalt: Es gibt sozusagen zwei Ebenen der Vernunftmäßigkeit, und die Geschichte gehört keiner der beiden an... Heute sind Menschenfreundlichkeit und sittlicher Idealismus so sehr zu einem Teil unserer Tradition geworden, daß die Christen unbewußt und ...

Textausschnitt: 3 CHRISTENTUM UND GESCHICHTLICHER WIDERSPRUCH

292b Ist die Geschichte ein vernunftgemäßer Prozeß oder ist sie vorwiegend unberechenbar und sinnlos? Der Christ scheint mir verpflichtet zu glauben, daß die Geschichte einen geistigen Zweck hat, daß sie den Plänen der Vorsehung unterworfen ist und daß der Wille Gottes auf irgendeine Weise geschieht. Aber das ist etwas ganz anderes als die Behauptung, daß die Geschichte im üblichen Sinn vernunftgemäß ist. Es gibt sozusagen zwei Ebenen der Vernunftmäßigkeit, und die Geschichte gehört keiner der beiden an. Es gibt die Sphäre des völlig rationalistischen menschlichen Handelns, jene Art der Vernunftmäßigkeit, die wir in einem Bilanzblatt oder in den Plänen und Spezialangaben eines Architekten oder Ingenieurs finden. Und es gibt die höhere Sphäre der Vernunftmäßigkeit, die der menschliche Verstand zwar erreichen, die er aber nicht schaffen kann - die hohen Wirklichkeiten der Philosophie und der abstrakten Wahrheit. (Fs)

292c Aber zwischen diesen beiden Reichen gibt es eine große Zwischenregion, in der wir leben, das Zwischengebiet des Lebens und der Geschichte, und diese Welt ist Kräften unterworfen, die niedriger sind als die Vernunft. Es gibt Naturkräfte im strengen Sinn, und es gibt höhere Kräfte des Guten und Bösen, die wir nicht messen können. Das menschliche Leben ist vorwiegend ein Kampf gegen unbekannte Mächte - nicht nur solche aus Fleisch und Blut, die selbst irrational genug sind, sondern gegen Fürstentümer und Mächte, gegen die "Weltbeherrscher dieser Finsternis", um die seltsamen und beunruhigenden Worte des heiligen Paulus zu gebrauchen - Mächte, die mehr als vernunftgemäß sind und die sich niedrigerer und unterhalb der Vernunft liegender Dinge bedienen, um die Welt des Menschen zu erobern und zu beherrschen. (Fs)

293a Wären wir freilich reine Geister, so wäre der ganze Prozeß der Geschichte und des menschlichen Lebens vielleicht verständlich und durchsichtig für uns. Wir glichen einem Menschen, der sich bei ruhigem Wetter auf einer klaren, tropischen Lagune befindet und in das Wasser hinabblickt, wo er die niedrigen Lebewesen in ihrer unendlichen Vielfalt sehen und die Mächte des Bösen, die wie Haifische stumm und kraftvoll durch das klare Wasser schießen, wahrnehmen kann, der aber auch aufzublicken und den geordneten Lauf der Sterne zu betrachten vermag. (Fs)

293b Aber das ist dem Menschen nicht gegeben. Der Mitspieler in der Geschichte gleicht dem Kapitän, der nur die Wolken über sich und die Wellen unter sich sieht und der von Wind und Strömung hin- und her getrieben wird. Er muß seiner Karte und seinem Kompaß vertrauen und auch sie können ihn nicht vor der blinden Gewalt der Elemente retten. Wenn er einen Fehler begeht oder wenn seine Karte ihn im Stich läßt, kommt er in einem sinnlosen Wirbel dunkler Fluten um und mit ihm die Mannschaft, die keine anderen Verpflichtungen hat, als dem Befehl zu gehorchen und ihren Offizieren zu vertrauen. (Fs)

293c Der Theologe und der Philosoph streben zwar nach dem geistlichen Leben, aber sie erreichen es nur zum Teil und nur augenblicksweise; in ihrem sonstigen Leben und außerhalb ihrer Wissenschaft gehören sie der Welt der übrigen Menschen an. Der Politiker und der Mann der Tat aber gleichen dem Seemann, und der Staat gleicht dem Schiff, das durch den Fehler eines einzigen kentern kann, ganz gleich, ob es sich um eine Demokratie oder eine Diktatur handelt, ebenso wie es ganz gleich ist, ob der Besitzer des Schiffes die Mannschaft anheuert oder ob der Kapitän von den Offizieren und die Offiziere von der Mannschaft ausgewählt werden. (Fs) (notabene)

293d Es scheint zum Wesen der Geschichte zu gehören, daß Einzelmenschen und scheinbare zufällige Begebenheiten eine unberechenbare Wirkung auf die Schicksale der ganzen Gesellschaft ausüben. So schreibt Burke: Es ist oft unmöglich, irgendeinen Zusammenhang zwischen der scheinbaren Größe einer moralischen oder sonstigen Ursache und ihrer sichtbaren Wirkung zu erkennen. Wir sind daher gezwungen, ihre Wirkung dem Zufall oder - ehrfurchtsvoller und vielleicht vernunftgemäßer - dem gelegentlichen Eingreifen und der unwiderstehlichen Hand des großen Lenkers der Geschicke zu überlassen. Der Tod eines Menschen in einem verhängnisvollen Augenblick, sein Überdruß, sein Rücktritt, seine Erniedrigung haben unabsehbares Unglück über ein ganzes Volk gebracht. Ein Soldat, ein Kind, ein Mädchen vor der Tür einer Schenke haben das Gesicht der Zukunft und fast das der Natur verändert1. (Fs)

294a Das war immer der Fall, aber wir erkennen es am deutlichsten in der Frage einer sittlich veredelnden Politik oder bei der Erkenntnis sozialer Ideale in der Praxis. Hier sehen wir am deutlichsten und tragischesten den Widerspruch zwischen den menschlichen Zielen und den geschichtlichen Ergebnissen, und wie das Schicksal das höchste soziale Streben nutzlos oder schädlich macht. Nehmen wir zwei Beispiele aus der neueren Zeit, die mit der Französischen Revolution verbunden sind. Zunächst das Scheitern des sozialen Idealismus. Die große Revolution vor hundertfünfzig Jahren war ein bewußter Versuch, die politischen Verhältnisse auf eine ethische Grundlage zu stellen und eine neue, auf sittlichen Prinzipien beruhende Ordnung zu schaffen, die ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche oder soziale Stellung des einzelnen dessen Rechte schützen sollte. Unter der Lenkung von Männern, die rückhaltlos an diese Ideale glaubten, hatte sie trotzdem die vollständigste Abschaffung und Verweigerung dieser Rechte zur Folge. Sie führte zu der Leugnung der Gewissensfreiheit und des Rechtes der freien Meinungsäußerung, zum Terror und zum wahllosen Justizmord, bis alle aufrechten Männer ohne Rücksicht auf ihre Grundsätze umgebracht oder verbannt waren und die Gesellschaft dankbar und erleichtert zu der absoluten Diktatur eines skrupellosen militärischen Despoten zurückkehrte. Denn Bonaparte erschien seinen Zeitgenossen als ein Engel des Lichtes im Vergleich zu den Idealisten und sozialen Reformern, die, anstatt ein Utopia zu schaffen, die Erde zur Hölle gemacht hatten. (Fs)

295a Nehmen wir als zweites Beispiel eines von der entgegengesetzten Seite, den Krieg in der Vendee, der die Frage des gerechten Krieges und des seinem Gewissen folgenden Kriegsgegners aufwarf. Der Widerstand der Bauern der Vendee gegen die Regierung der Revolution war in jeder Hinsicht gerechtfertigt, da sie die in der Verfassung verbrieften Rechte der Meinungsfreiheit und der religiösen Freiheit offenkundig verletzt hatte und diese Verfassung ausdrücklich das Recht des Bürgers anerkannte, der Regierung in solchen Fällen Widerstand zu leisten. Überdies war der eigentliche Anlaß zu dem Aufstand die Verweigerung des Kriegsdienstes zur Verteidigung der Revolution, den die Bauern der Vendee in Befolgung ihres Gewissens glatt ablehnten. Daher war der Krieg in der Vendee ein gerechter Krieg, wenn es jemals einen solchen gegeben hat, und gleichzeitig das Beispiel eines spontanen Widerstandes des Volkes gegen den zwangsweisen Waffendienst in einem, seiner Meinung nach, ungerechten Krieg. (Fs)

295b Aber was war die Folge? Statt daß zwölftausend Mann Kriegsdienst leisteten, von denen nur ein Bruchteil getötet oder verwundet worden wäre, wurde die ganze Bevölkerung in den verzweifeltsten Kampf getrieben, den je ein Volk erlebt hat, ein Kampf, der nach den ziffernmäßigen Angaben eine Viertelmillion Menschenleben kostete, der praktisch jede Stadt, jedes Dorf und jeden Bauernhof verwüstete und der weitgehend, wenn auch nur indirekt, zu den Greueln der Schreckensherrschaft im übrigen Frankreich beitrug. So rief ihr Wunsch, einem Krieg fernzubleiben und ihre Entschlossenheit, ihre begründeten Rechte zu verteidigen, Ungerechtigkeit und Grausamkeiten jeder Art hervor. (Fs)

295c Das sind zwei extreme Beispiele, aber wir finden überall in der Geschichte zahlreiche Beweise der gleichen amoralischen und irrationalen Tendenz, die Idealisten und Menschenfreunde zur Verzweiflung trieben. Heute sind Menschenfreundlichkeit und sittlicher Idealismus so sehr zu einem Teil unserer Tradition geworden, daß die Christen unbewußt und oft sogar bewußt denselben Standpunkt einnehmen und versucht sind zu verzweifeln, weil sich die christlichen Ideale in der Praxis nicht durchsetzen. (Fs) (notabene)

296a Tatsächlich aber hat das Christentum diese Postulate niemals anerkannt und der Christ sollte der letzte sein, der angesichts eines Scheiterns des Rechtes und eines scheinbaren Sieges des Bösen die Hoffnung aufgibt. Denn das alles gehört zu der christlichen Lebensauffassung und die christliche Disziplin ist ausdrücklich dazu da, um uns darauf vorzubereiten, einer solchen Situation ins Auge zu sehen. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum, historische Religion; zwei entgegengesetzte Prinzipien; Jesus Christus - Geschichte

Kurzinhalt: So bedeutete die Erfüllung der Hoffnung Israels letzten Endes seine Verwerfung und die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, die später die Staatsreligion des Römischen Reiches werden sollte, das der Feind des Juden wie des Christen gewesen war.

Textausschnitt: 296b Das Christentum ist, weit mehr als jede andere Religion, eine historische Religion und ist unauflöslich mit dem lebendigen Prozeß der Geschichte verbunden. Es lehrt, daß es einen göttlichen Fortschritt in der Geschichte gibt, der durch die Kirche im Reich Gottes verwirklicht wird. Gleichzeitig aber anerkennt es den wesentlichen Dualismus in der Geschichte, das Nebeneinander zweier entgegengesetzter Prinzipien, die beide in der Geschichte wirksam sind und konkreten Ausdruck finden. Wir können daher nicht erwarten, daß sich die christlichen Grundsätze in der Praxis auf so einfache Weise auswirken werden wie ein politisches System. Die christliche Ordnung ist eine übernatürliche; sie hat ihre eigenen Prinzipien und ihre eigenen Gesetze, die anders sind wie die der sichtbaren Welt und die diesen oft zu widersprechen scheinen. Ihre Siege können aus scheinbaren Niederlagen bestehen und ihre Niederlagen aus äußeren Erfolgen. (Fs)

296c Das alles wird uns nur ein einziges Mal klar und vollständig vor Augen geführt, nämlich im Leben Christi, dem Vorbild christlichen Lebens und christlichen Handelns. Das Leben Christi ist tief historisch, es ist der Gipfelpunkt jahrtausendealter lebendiger geschichtlicher Tradition. Es ist die Erfüllung eines geschichtlichen Zieles, für das Priester und Propheten, ja sogar Politiker gekämpft haben, und in dem sich die Hoffnung eines Volkes und einer Nation verkörperte. Trotzdem war es vom weltlichen Standpunkt, dem Standpunkt eines damaligen weltlichen Historikers aus gesehen, nicht nur unbedeutend, sondern geradezu nicht erkennbar. Hier war ein galiläischer Bauer, der dreißig Jahre lang ein so verborgenes Leben geführt hatte, daß selbst die Jünger, die an seine Mission glaubten, nichts darüber wußten. Dann kam eine kurze Zeit des öffentlichen Wirkens, das keinerlei historische Leistung zur Folge hatte, sondern rasch und unaufhaltsam seinem katastrophenhaften Ende zutrieb, einem Ende, das sein Träger vorausgesehen und bewußt auf sich genommen hatte. (Fs) (notabene)

297a Und aus dem Kern dieser Katastrophe entstand etwas völlig Neues, dessen Erfolg sogar eine Enttäuschung für jene Menschen und jenes Volk war, die ihre Hoffnungen darauf gesetzt hatten. Denn nach Pfingsten, nach der Ausgießung des Heiligen Geistes und der Geburt der jungen Kirche geschah etwas, das so unerwartet und so unerklärlich war wie die Menschwerdung selbst: die Bekehrung eines Juden aus Cilicien, der sich von seiner Tradition und seinem Volk abwendete, so daß er scheinbar ein Verräter an seinem Volk und seiner Religion wurde. So bedeutete die Erfüllung der Hoffnung Israels letzten Endes seine Verwerfung und die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, die später die Staatsreligion des Römischen Reiches werden sollte, das der Feind des Juden wie des Christen gewesen war. (Fs) (notabene)

297b Wenn man das alles ohne Glauben, vom rationalistischen Standpunkt aus betrachtet, wird es nicht verständlicher. Im Gegenteil, es wird sogar noch unerklärlicher - credo quia incredibile. (Fs)

297c Nun ist das Leben Christi das Leben des Christen und das Leben der Kirche. Es ist töricht, wenn ein Christ, der ein schwaches, menschliches Werkzeug dieser weltumwandelnden Kraft ist, erwartet, ein ruhiges Leben führen zu können. Ein Christ ist für das Böse, das die Welt beherrschen will und in einem begrenzten, aber sehr realen Sinn der Fürst dieser Welt ist, wie der heilige Johannes sagt, dasselbe wie ein rotes Tuch für einen Stier. Und nicht nur der einzelne, auch die Kirche als historische Gemeinschaft folgt diesem Vorbild und findet ihren Erfolg und Mißerfolg nicht dort, wo der Politiker sie findet, sondern wo Christus sie fand. (Fs) (notabene)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Geschichte d. Kirche - nach dem Vorbild Jesu; Feinde d. Kirche: ihre Abkommen (Islam, Reformation, liberalistische Revolution); Teilmanifestationen der chr. geistigen Potenz; Wesen der Häresie


Kurzinhalt: Die Kirche lebt das Leben Christi nach. Sie hat ihre Zeit der Verborgenheit und Entwicklung und ihre Zeit der Manifestation, und auf diese folgt die Katastrophe des Kreuzes und die Wiedergeburt, die aus dem Scheitern erwächst. Das Bemerkenswerteste ...

Textausschnitt: 298a Die Kirche lebt das Leben Christi nach. Sie hat ihre Zeit der Verborgenheit und Entwicklung und ihre Zeit der Manifestation, und auf diese folgt die Katastrophe des Kreuzes und die Wiedergeburt, die aus dem Scheitern erwächst. Das Bemerkenswerteste aber ist, daß die Feinde der Kirche, die Weltanschauungen, die sie geißeln und ans Kreuz schlagen, in gewissem Sinne ihre Abkommen sind und ihre dynamische Kraft von ihr ableiten. Den Islam, die Reformation, die liberalistische Revolution - sie alle hätte es ohne das Christentum nicht gegeben; es sind fehlgeschlagene oder Teilmanifestationen der geistigen Potenz, die durch das Christentum in die Geschichte eingeführt wurde. "Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen und was will ich anders, als daß es brenne." (Fs) (notabene)

298b Es ist leicht, sich der herrschenden Tendenz einer Kapitulation vor dem Geist der Zeit und dem Geist der Welt zu überlassen und die Augen vor den Irrtümern der öffentlichen Meinung und den Schlechtigkeiten und Ungerechtigkeiten der Allgemeinheit zu verschließen; es ist dieselbe Versuchung, die in früheren Zeiten die religiösen Menschen verleitete, über den Stolz der Großen und die Ungerechtigkeit der Mächtigen hinwegzusehen. Aber es ist ebenso leicht und eine tückischere Versuchung, sich gegen den Geist der Zeit negativ und ablehnend zu verhalten und sich in einen engherzigen und selbstherrlichen Fanatismus zu flüchten. Das ist vorwiegend die Einstellung der Häretiker; sie schadet dem Ansehen und der Wirkungskraft des Christentums mehr als selbst weltliche Gesinnung und Liebedienerei gegenüber dem Zeitgeist. Denn dies sind sozusagen nur Äußerlichkeiten am Leben der Kirche, jene aber vergiftet die Ursprünge ihres geistigen Handelns und macht sie in den Augen der Menschen, die guten Willens sind, verabscheuenswert. (Fs) (notabene)

298c Es gehört zum Wesen der Häresie, daß sie die große, allumfassende Wahrheit und die christliche Einheit opfert, weil sie sich auf die unmittelbare Lösung einer dringlichen aktuellen Frage christlichen Denkens und Tuns konzentriert. Der Häretiker geht in die Irre, weil er aus natürlicher und menschlicher Ungeduld über den scheinbar langsamen und schwierigen Weg des wahren Glaubens eine Abkürzung einschlagen will. (Fs) (notabene)

299a Aber auch die Kirche muß den schweren Weg des Kreuzes gehen und die Bußen und Demütigungen irdischen Versagens auf sich nehmen. Sie ist keine Alternative und Rivalin des Staates und ihre Lehre ist kein Ersatz für politische Bedürfnisse und Ideologien, aber sie kann dem Gesamtleben der Gemeinschaft nicht gleichgültig zusehen und sich nur mit der einzelnen Seele befassen. Die Kirche ist keine menschliche Gesellschaft, aber sie ist das Medium, durch welches das göttliche Leben in die Gesellschaft einströmt und ihre Hauptaufgabe ist die Heiligung der Menschheit in ihrer gemeinsamen und individuellen Tätigkeit. (Fs) (notabene)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Geschichte; Haltung des Christen in einer sich verändernden Welt

Kurzinhalt: Das mag eine merkwürdige Geschichtsphilosophie sein, aber es ist die authentische Philosophie Christi, und wenn wir in der Erwartung dieser Dinge die Köpfe hängenlassen anstatt sie zu erheben, so zeigt es, daß irgend etwas in unserer Haltung nicht ...

Textausschnitt: 299b Die menschliche Gesellschaft befindet sich heute in einem Zustand raschen Wandels. Aus den alten Formen der Politik und des Rechtes entweicht das Leben und eine neue Gemeinschaft ist im Werden, deren Entstehung eine neue Epoche für die Gesellschaft bedeutet. Es ist nicht Sache der Kirche, diesen Wandel aufzuhalten; sie könnte es auch gar nicht, selbst wenn sie es wollte. Aber sie kann auch nicht auf ihre Hauptaufgabe verzichten, die unter den neuen Umständen die gleiche bleibt wie früher. Die neuen Formen der Gesellschaft bieten neue Möglichkeiten - neue Gelegenheiten für das Wirken der Gnade. (Fs)

299c Wir sind vielleicht zu sehr geneigt, die Richtlinien unseres Handelns von oben zu erwarten, aber die Initiative muß vorwiegend aus der spontanen persönlichen Reaktion des Einzelnen auf die augenblicklichen Umstände kommen. Selbst in der natürlichen Sphäre wissen die Staatsmänner und Organisatoren nicht, was der nächste Tag bringen wird. (Fs)

Aber diese Unsicherheit und Unberechenbarkeit, die auf den Staatsmann, der sich nur mit der Erzielung irdischer Erfolge befaßt, unfehlbar entmutigend wirken muß, sollte für den Christen, der in dem Ende der Geschichte eine Morgenröte und keine Nacht sieht, nicht von übermäßiger Bedeutung sein. (Fs)

299d Wenn Christus von der Zukunft sprach, erweckte er in seinen Jüngern keine optimistischen Hoffnungen, keine Aussichten auf einen sozialen Fortschritt. Er schilderte alle Dinge, die wir heute fürchten und noch mehr: Kriege, Verfolgungen, Katastrophen und die Not der Völker. Aber seltsamerweise verwendete er diese Vorhersage des Unheils als Anlaß zur Hoffnung. "Wenn ihr diese Dinge seht, dann richtet euch auf und erhebt euer Haupt, denn eure Erlösung ist nahe." (Fs) (notabene)

300a Das mag eine merkwürdige Geschichtsphilosophie sein, aber es ist die authentische Philosophie Christi, und wenn wir in der Erwartung dieser Dinge die Köpfe hängenlassen anstatt sie zu erheben, so zeigt es, daß irgend etwas in unserer Haltung nicht stimmt. Ich weiß, daß wir dazu neigen, zu sagen, dies alles beziehe sich nicht auf uns, sondern auf das Ende der Welt. Aber für den Christen geht die Welt immer zu Ende und jede geschichtliche Krise ist sozusagen eine Probe dessen, was eintreten wird. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Gottesreich; modernes Geschichtsbewusstsein: Christentum, Humanismus; Geschichte: Tatsachen - Traditionen; Romantik; Nietzsche (endlose Wiederkehr) - Augustinus; Sinn d. G. - Relativität - Religion - Inkarnation

Kurzinhalt: So bleibt im christlichen Glauben kein Platz für den Relativismus einer bloß historischen Philosophie. Denn hier findet in einem bestimmten Augenblick von Zeit und Raum ein Ereignis von absolutem Wert und von einer unvergleichlichen Bedeutung für ...

Textausschnitt: 4 DAS GOTTESREICH UND DIE GESCHICHTE

300b Die Entstehung eines Sinnes für die Geschichte, einer Erkenntnis der wesentlichen Merkmale der verschiedenen Zeitalter und Kulturen ist verhältnismäßig jungen Datums; ja, er hat vor dem 19. Jahrhundert eigentlich kaum bestanden. Er ist vor allem ein Produkt der Romantik, die den Menschen zuerst lehrte, die Vielfalt des menschlichen Lebens zu achten und die Kultur nicht als abstraktes Ideal, sondern als das lebende Ergebnis einer organischen gesellschaftlichen Tradition anzusehen. Gewiß ist, wie Nietzsche gezeigt hat, die Erwerbung dieses sechsten Sinnes kein reiner Gewinn, denn wir verlieren dadurch jene hohe Selbstgenügsamkeit und Reife in der die großen Zeitalter der Kultur gipfeln - den "Augenblick glatten Meeres und halkyonischer Selbstgenügsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben". Sie wurde nur möglich durch die "demokratische Vermengung der Stände und Rassen", die für die moderne europäische Zivilisation charakteristisch ist. "Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise von Kulturen, die früher hart nebeneinander, übereinander lagen, strömt dank jener Mischung in unsere modernen Seelen ein" und "wir haben geheime Zugänge zum Labyrinth der unvollendeten Kulturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur dagewesen ist1."

301a Trotzdem kann man unmöglich glauben, daß die viel größere Weite und Tiefe des Bewußtseins, die der Sinn für die Geschichte dem Menschen verliehen hat, etwas Wertloses ist, wie Nietzsche uns einreden will. Es ist, als sei der Mensch aus der Wüste, den Wäldern und den fruchtbaren Ebenen endlich auf die freien Hänge der Berge hinaufgestiegen, von denen er zurückschauen und den Verlauf seines Weges und die volle Weite seines Herrscherreiches überblicken kann. Für den Christen zumindest sollten diese Erweiterung seines Blickes und diese fernen Horizonte nicht Zweifel und Ernüchterung zur Folge haben, sondern einen stärkeren Glauben an die göttliche Macht, die ihn geleitet hat und eine größere Sehnsucht nach dem himmlischen Reich, das am Ende der Reise liegt. (Fs)

301b Im Grunde ist es vor allem das Christentum, das dem Menschen die Erkenntnis einer Einheit und eines Sinnes der Geschichte verliehen hat, ohne die das Schauspiel des endlosen Wandels sinnlos und bedrückend wird. (Fs)

"Die vernünftige Seele", schreibt Mark Aurel, "umwandelt den ganzen Kosmos und das Leere um ihn und seine Gestalt, und sie schreitet in die Unendlichkeit der Ewigkeit und umfaßt und umdenkt die periodische Wiedergeburt des Alls und erwägt, daß die nach uns Kommenden nichts Neues erleben werden, und die früheren Geschlechter auch nicht mehr gesehen haben; daß vielmehr in gewissem Sinne der Mann von vierzig Jahren, wenn er nur einen Funken Verstand hat, alles Vergangene und alles Künftige gesehen hat, weil es im Grunde ganz gleicher Art ist2". (Fs)

301c Dieses Abstreiten einer Bedeutung der Geschichte ist unter den Philosophen und Religionslehrern aller Zeiten von Indien bis Griechenland und von China bis Nordeuropa mehr Regel als Ausnahme. Selbst Nietzsche, der in der Tradition der modernen Geschichtsbewegung aufwuchs und der selbst ein so feines und tiefes historisches Gefühl besaß, konnte der erschreckenden Vorstellung von der Wiederkehr aller Dinge nicht entfliehen, obwohl sein eigenes evolutionäres Evangelium vom Übermenschen sie aufzuheben schien. "Siehe", schrieb er, "diesen Augenblick. Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch Niemand zu Ende ... Von diesem Torwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts; hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muß nicht, was laufen kann von diesen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehen, getan, vorübergelaufen sein? Und wenn alles schon dagewesen ist, was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon dagewesen sein? Und sind nicht solchermaßen fest alle Dinge verknotet, daß dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht ? Also - sich selber noch? Denn was laufen kann von allen Dingen - auch in dieser langen Gasse hinaus - muß es einmal noch laufen! - Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Torwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd - müssen wir nicht alle schon dagewesen sein? Und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen, schaurigen Gasse - müssen wir nicht ewig wiederkommen?3"

302a Wie der heilige Augustinus sagte, nur durch Christus, den Geraden Weg, werden wir von dem Alptraum dieser ewigen Kreisläufe befreit, die in allen Ländern und Zeiten eine seltsame Faszination auf den menschlichen Geist auszuüben scheinen4. (Fs)

302b Trotzdem erzeugt das Christentum den Geschichtssinn nicht selbst. Es liefert nur den metaphysischen und theologischen Rahmen für die Geschichte, und ein Versuch, aus den Angaben der geoffenbarten Wahrheit allein eine Geschichtstheorie zu schaffen, ergibt keine Geschichte, sondern eine Theodizee wie den "Gottesstaat" des heiligen Augustinus oder die "Praeparatio Evangelica" des Eusebius. Das moderne Geschichtsbewußtsein ist die Frucht christlicher Tradition und christlicher Kultur, aber nicht dieser allein. Es verdankt auch dem Humanismus sehr viel, der den europäischen Geist lehrte, die Leistungen der alten Kultur zu untersuchen und die menschliche Natur um ihrer selbst willen hochzuhalten. Es war der Kontakt und Konflikt zwischen diesen beiden Traditionen und Idealen, dem Christentum und dem Humanismus, der antiken und der mittelalterlichen Kultur, der in der Romantik Ausdruck fand und in dem der moderne Geschichtssinn zuerst zum vollen Bewußtsein gelangte. Denn damals und dadurch begriff der menschliche Geist erst, daß eine Kultur eine organische Einheit ist, die ihre eigenen sozialen Traditionen und ihre eigenen geistigen Ideale besitzt, und daß wir die Vergangenheit nicht verstehen können, wenn wir sie nach den Maßstäben und Werturteilen unserer eigenen Zeit und Kultur messen, sondern erst dann, wenn wir die geschichtlichen Tatsachen in ein Verhältnis zu der sozialen Tradition bringen, der sie angehören, und wenn wir die geistigen Überzeugungen und die ethischen und verstandesmäßigen Werte jener Tradition als Schlüssel zu ihrer Deutung benützen. (Fs)

303a Daher besteht das Wesen der Geschichte nicht aus Tatsachen, sondern aus Traditionen. Die Tatsache als solche ist nicht historisch. Sie wird erst historisch, wenn wir sie in Beziehung zu einer sozialen Tradition bringen, so daß wir sie als Teil eines organischen Ganzen betrachten. Ein Bewohner eines anderen Planeten, der Augenzeuge der Schlacht von Hastings gewesen wäre, hätte eine viel größere Tatsachenkenntnis gehabt als jeder moderne Historiker, aber diese Kenntnis wäre nicht historisch, weil ihm jede Tradition fehlen würde, zu der er sie in Beziehung bringen könnte. Aber das Kind, das sagt: "Wilhelm der Eroberer, 1066", hat aus seinem winzigen Wissenskörnchen schon eine historische Tatsache gemacht, weil es dieses in Beziehung zu einer nationalen Überlieferung gebracht und in die Zeitenfolge der christlichen Kultur eingereiht hat. (Fs) (notabene)

303b Wo immer eine Gesellschaft irgendeine Überlieferung besitzt - mag diese Gesellschaft auch noch so klein und unbedeutend sein -.besteht die Möglichkeit, daß daraus Geschichte entsteht. Zwar gelingt es vielen Gesellschaften nicht, diese Möglichkeiten zu verwirklichen oder sie verwirklichen sie nur in einer unwissenschaftlicher Form oder in Gestalt einer Sage; aber andererseits fehlt dieses Element der Sage in keiner Tradition einer Gesellschaft völlig, und selbst die Gesellschaft mit der höchsten Kultur hat ihre nationale Sage oder ihren Mythos, deren unbewußter Apologet der Historiker häufig ist. Zweifellos besteht das Ideal des modernen Historikers darin, über die Tradition seiner eigenen Gesellschaft hinauszuwachsen und in der Geschichte etwas Einheitliches und Universales zu sehen, aber eine solche universale Geschichte gibt es nicht. Es gibt noch keine Geschichte der Menschheit, weil die Menschheit keine gegliederte Gesellschaft mit einer gemeinsamen Tradition oder einem gemeinsamen sozialen Bewußtsein ist. Alle bisherigen Versuche, eine Weltgeschichte zu schreiben, waren letztlich Versuche, eine Tradition in den Begriffen einer anderen zu deuten und Versuche, die geistige Hegemonie einer herrschenden Kultur dadurch auszudehnen, daß man ihr alle Ereignisse anderer Kulturen unterordnete, die in das Gesichtsfeld des Beobachters fielen. Je mehr ein Historiker weiß und je gewissenhafter er ist, desto mehr ist er sich der Relativität seines Wissens bewußt und desto bereitwilliger wird er die Kultur, die er untersucht, als etwas behandeln, das seinen Zweck in sich selbst trägt, als eine autonome Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt und den Normen und Idealen einer anderen nichts verdankt. Denn die Geschichte befaßt sich mehr mit Zivilisationen und Kulturen als mit der Kultur an sich, mit der Entwicklung bestimmter Gesellschaften und nicht mit dem Fortschritt der Menschheit. (Fs) (notabene)

304a Wenn wir uns infolgedessen auf die Geschichte allein verlassen, können wir niemals hoffen, über die Sphäre des Relativen hinauszugelangen; nur in der Religion und in der Metaphysik finden wir Wahrheiten, die auf absolute und ewige Gültigkeit Anspruch erheben können. Aber, wie schon erwähnt, die nicht-christliche und vorchristliche Philosophie neigt dazu, das Problem der Geschichte durch eine radikale Leugnung ihrer Bedeutung zu lösen. (Fs)
305a Die Welt des wahren Seins, die geistige Heimat des Menschen, ist die Welt, die keine Veränderung kennt. Die Welt der Zeit und des Wandels ist die äußere Welt, der der Mensch entfliehen muß, wenn er gerettet werden will. Denn alle Werke der Menschen und der Aufstieg und Untergang der weltlichen Reiche sind nur die Ergebnisse der Unwissenheit und der Begierde - mala vitae cupido -, und selbst die Herren der Welt müssen schließlich die Eitelkeit ihres Strebens erkennen, wie der große Shogun Hideyoshi, der auf seinem Totenbette schrieb:

"Ach, wie das Gras welke ich dahin,
Wie der Tau schwinde ich,
Selbst Osaka, die Burg,
Ist nur ein Traum innerhalb eines Traumes."

305b Aber selbst die Religion, die die Bedeutung der Geschichte leugnet, ist ein Teil der Geschichte und kann nur insoferne fortbestehen, als sie sich in einer sozialen Tradition verkörpert und auf diese Weise "Geschichte macht". Dem geistigen Erlebnis, aus dem eine Religion ihren ursprünglichen Impuls erhält, wie die Meditation Buddhas unter dem Baume Bo oder die Vision Mohammeds in der Höhle des Berges Hira, kann jede historische oder soziale Beziehung scheinbar so völlig fehlen wie irgendeinem menschlichen Erlebnis. Aber sowie der Lehrer zu den Menschen herabsteigt und seine Jünger anfangen, seine Lehre in die Tat umzusetzen, entsteht eine Tradition, die zu anderen sozialen Traditionen in Beziehung tritt und diese in sich aufnimmt oder von ihnen aufgenommen wird, bis sich scheinbar sogar ihr Wesen durch diese Chemie der Geschichte verändert. So sehen wir, wie der Buddhismus sich von Indien nach Zentralasien und China, von China nach Korea und Japan und von dort nach Ceylon und Siam verbreitet. Wir sehen, wie er in verschiedenen Kulturen verschiedene Formen annimmt und diese Kulturen dabei verändert; aber die Religion als solche bleibt unberührt von den historischen Veränderungen und richtet weiterhin den weltabgekehrten Blick auf die Betrachtung des Nirwana. (Fs)

305c Zunächst mag es scheinen, als sei auch das Christentum gegen seinen Willen vom Strom der Zeit aufgenommen worden, während es seine Aufmerksamkeit auf die ewigen Wahrheiten und seine Hoffnungen auf das ewige Leben gerichtet hielt. Man kann leicht im Christentum Beispiele von Weltflucht und Abkehr vom Leben finden, die nicht weniger extrem sind als die des indischen Sunnyasi; die Anachoreten, den heiligen Simeon auf seiner Säule, Thomas a Kempis in seiner Zelle und die unzähligen Christen aller Zeiten und Länder, die dieses Leben als ein Exil im Tal der Tränen betrachtet und ihr ganzes Leben auf den Tod und die Unsterblichkeit eingestellt haben. Im Grunde beruht die derzeitige Kritik am Christentum auf dieser Einstellung, und der Spott der Kommunisten über den "Lohn im Himmel" ist nur eine grobe und böswillige Formulierung einer Haltung, die immer ein wesentliches Element des christlichen Glaubens gewesen ist und die nirgends stärker hervortritt als im Evangelium selber. (Fs)

306a Trotzdem bildet sie nur eine Seite der christlichen Lebensanschauung. Denn das Christentum hat immer ein organisches Verhältnis zu der Geschichte gehabt, das es von den großen Religionen und Philosophien des Ostens unterscheidet. Das Christentum kann niemals die Geschichte ignorieren, weil die christliche Offenbarung ihrem Wesen nach historisch ist und die Glaubenswahrheiten unzertrennlich mit historischen Ereignissen verknüpft sind. Die heiligen Schriften unserer Religion sind nicht Zusammenstellungen metaphysischer Lehren wie der Vedanta, sie sind eine heilige Geschichte, die Offenbarung von Gottes Umgang mit der Menschheit von der Erschaffung des Menschen bis zur Gründung der Kirche. Diese gesamte Geschichte findet ihren Mittelpunkt im Leben einer geschichtlichen Persönlichkeit, die nicht nur ein Sittenlehrer oder selbst ein inspirierter Heilsträger der göttlichen Wahrheit ist, sondern der menschgewordene Gott, der Erlöser und Erneuerer der Menschheit, durch den und in dem die Menschheit ein neues Leben und ein neues Prinzip der Einheit erhält. (Fs) (notabene)

306b So bleibt im christlichen Glauben kein Platz für den Relativismus einer bloß historischen Philosophie. Denn hier findet in einem bestimmten Augenblick von Zeit und Raum ein Ereignis von absolutem Wert und von einer unvergleichlichen Bedeutung für alle Zeiten und Völker statt. Inmitten der Verschiedenheit und Zusammenhanglosigkeit der menschlichen Zivilisationen und Traditionen erscheint Einer, der für alle Menschen und alle Zeiten derselbe ist, in dem alle Völker und Traditionen ihren gemeinsamen Mittelpunkt finden. (Fs) (notabene)

307a Andererseits bedeutet die Menschwerdung kein Leugnen der Bedeutung der Geschichte, wie es die gnostische und die manichäische Irrlehre behaupten. Sie ist selber in gewissem Sinn die Frucht der Geschichte, da sie der Höhepunkt einer bestimmten Tradition und der Ausgangspunkt einer anderen ist. Die Berufung auf die Überlieferung ist eines der charakteristischesten Merkmale des Evangeliums. Das Neue Testament beginnt mit dem "Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams", und die erste Predigt der Apostel beginnt mit der Berufung auf eine Tradition, die auf das Ur der Chaldäer und die ältesten Ursprünge des jüdischen Volkes zurückgeht. (Fs)

307b So besaß die christliche Kirche ihre eigene Geschichte, die eine Fortsetzung der Geschichte des auserwählten Volkes war, und diese Geschichte hatte ihre eigene, autonome, vom Strom der weltlichen Geschichte unabhängige Entwicklung. Wir haben das Zeitalter der Apostel, das Zeitalter der Märtyrer und das Zeitalter der Kirchenväter, die alle auf denselben Grundlagen beruhen und ihren Teil zu der Erbauung des Gottesstaates beitragen. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum - Beziehung heiliger Traditionen; Untergang d. römisches Reiches - Kirche (messianisches Reich); mittelalterliche Geschichtsdeutung; christlicher Reichsgedanke; Dante - Thomas: Konkordanz von Natur und Gnade

Kurzinhalt: So richtet sich der Blick von Dantes Geschichtsdeutung einerseits zurück auf die mittelalterliche Tradition des Heiligen Römischen Reiches und auf das augustinische Ideal des Gottesstaates, andererseits nach vor auf den Humanismus der Renaissance und ...

Textausschnitt: 307c Das Hauptproblem, mit dem wir uns daher befassen müssen, ist das der Beziehungen zwischen dieser heiligen Tradition und den zahlreichen anderen Traditionen, aus denen sich die menschliche Geschichte zusammensetzt. Denn das Christentum ist, wie die anderen Weltreligionen, in den Strom der geschichtlichen Veränderungen eingetreten und ist von einem Volk auf das andere, von der Zivilisation auf die Barbarei und von der Barbarei auf die Zivilisation übergegangen. Menschen verschiedener Zeitalter mit verschiedenem historischem Hintergrund und verschiedenen nationalen oder rassenmäßigen Überlieferungen gehören der allumfassenden Tradition der christlichen Kirche an. Es gibt hellenistische Christen und byzantinische Christen, römische und syrische, mittelalterliche und Renaissancechristen, Spanier des 17. und Engländer des 19. Jahrhunderts, die ihm angehören. Sind diese Unterschiede der Kultur und der Abstammung zufällige und ephemäre Einzelheiten, die bedeutungslos für die christliche Lebensanschauung und die christliche Deutung der Geschichte sind? Oder sind sie auch von geistiger Bedeutung als Elemente im Plan Gottes und als Formen, durch die sich die Absicht der göttlichen Vorsehung in der Geschichte offenbart? (Fs)

308a Nach der frühchristlichen Auffassung zumindest scheint es, als wäre die gesamte Bedeutung der Geschichte völlig in jener heiligen Tradition enthalten. Der Schlüssel zu der Geschichte - dem Mysterium der Zeiten - lag in der Tradition des auserwählten Volkes und der heiligen Gemeinschaft, und außerhalb dieser Tradition gibt es unter den Heiden und in den Reichen der Menschen endlose Kämpfe und Wirrnisse, eine Aufeinanderfolge von Imperien, die durch Krieg und Gewalt entstanden sind und in Blut und Zerstörung untergehen. Das Reich Gottes ist nicht das Werk von Menschenhand und geht nicht auf Grund eines natürlichen Fortschrittsgesetzes aus dem Lauf der Geschichte hervor. Es bricht gewaltsam in die Geschichte ein und macht das Werk der Menschen zunichte wie der ohne menschliche Hilfe aus dem Berg gebrochene Stein, der das Mal der vier Weltmächte zu Staub zerschmettert. (Fs) (notabene)

308b Einer der charakteristischesten Züge der christlichen Tradition ist ihr geschichtlicher Dualismus: im Alten Testament der Gegensatz zwischen dem auserwählten Volk und den Heiden, im Neuen Testament der Gegensatz zwischen der Kirche und der Welt, in der augustinischen Theodizee der Gegensatz zwischen den beiden Städten Jerusalem und Babylon - der Gemeinschaft der Liebe und der Gemeinschaft des Eigennutzes. Trotzdem ist dieser Dualismus kein vollständiger. Selbst das Alte Testament anerkennt trotz seinem Beharren auf dem einmaligen Vorrecht Israels als dem alleinigen Träger der göttlichen Verheißung die Hand Gottes in der Geschichte der Heiden. Sogar die Mächte, die dem Gottesvolk am feindseligsten gesinnt scheinen, sind das Werkzeug, durch das Gott Seine Absicht verwirklicht. Das zeigt sich in höchst auffallender Weise in der Weissagung Isaias' über Cyrus; denn hier wird ein heidnischer Herrscher mit dem messianischen Titel als der von Gott zur Ausführung Seines Willens und zur Befreiung Seines Volkes Auserwählte und Gesalbte bezeichnet. Zwar steht hier und an anderen Stellen Gottes Handeln in der Geschichte immer in unmittelbarer Beziehung zu dem Gottesvolk. Gottes Umgang mit Seinem Volk ist aber auch von tiefer Bedeutung für die Zukunft der Heiden. Am Ende der Zeiten wird die Heilige Stadt die Stätte aller Völker sein; die Heiden werden ihr ihre Reichtümer darbringen und von ihr wird das Gesetz der Gerechtigkeit und der Gnade an alle Völker der Erde ergehen. (Fs)

309a Im Neuen Testament findet sich eine noch weitergehende Anerkennung eines begrenzten, aber realen Wertes der sozialen Ordnung und sozialen Tradition, die außerhalb der Gnade liegen. Selbst der heidnische Staat dient Gott, insoferne er der Hüter der Ordnung und der Verwalter des Rechtes ist. Und in der höheren Sphäre der Gnade bedeutete die Aufgabe der volksmäßigen Beschränkungen und die Erschließung des Gottesreiches für die Heiden, zumindest theoretisch, die Heiligung jedes Volkes und jeder gesellschaftlichen Tradition, soferne sie nicht durch die Sünde entheiligt waren. So sehen wir, daß die Kirche die griechische Philosophie und Wissenschaft und das römische Recht und die römische Staatskunst in sich aufnimmt, bis die ganze zivilisierte Welt christlich geworden ist. Das Entscheidende dabei war jedoch nicht die Annahme des Christentums durch das Römische Reich und die Verbindung zwischen Kirche und Staat, sondern die allmähliche Durchdringung der Kultur mit christlichen Werten, bis die christliche Tradition das gesamte Leben des abendländischen Menschen in seiner geschichtlichen Vielfalt umfaßte und keine menschliche Tätigkeit und gesellschaftliche Tradition ausgeschlossen blieb. (Fs)

309b Mit diesem Zustrom der Völker und der Aufrichtung des Gottesreiches unter den Heiden schien die christliche Deutung der Weissagung erfüllt. Von der Zeit des heiligen Augustinus an verlor der christliche Chiliasmus seine Geltung und das messianische Reich wurde mit dem Sieg der Kirche identifiziert - "ecclesia et nunc est regnum Christi regnumque coelorum". Den Menschen jener Zeit, die den Untergang des Römischen Reiches und den Verfall der Zivilisation erlebt hatten, schien es, als sei alles erfüllt bis auf die Letzten Dinge. Daher wurde die christliche Geschichtsdeutung vorwiegend retrospektiv, und die Gegenwart und Zukunft, mit der sich der Mensch befaßte, bezog sich nicht auf die Geschichte, sondern auf das Ende der Geschichte, das nahe bevorzustehen schien. (Fs)

310a Aber im Lauf der Zeiten und mit der Entstehung neuer Völker und neuer Kulturformen traten der christlichen Vernunft neue Probleme gegenüber. Die augustinische Theologie mit ihrer intensiven Erkenntnis von der ererbten Last des Bösen, welche die Menschheit niederdrückt, und ihrer Auffassung von der göttlichen Gnade als einer übernatürlichen Macht, die die menschliche Natur erneuert und den Lauf der Geschichte verändert, beherrschte auch weiterhin die mittelalterliche Denkweise, und die mittelalterliche Geschichtsdeutung beruht weiter auf dem augustinischen Bild der zwei Städte. Aber während der heilige Augustinus diesen Gegensatz in erster Linie als einen Konflikt zwischen der christlichen Kirche und der heidnischen Welt hinstellt, sah ihn das Mittelalter vor allem als einen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen innerhalb der christlichen Gesellschaft. Die Reform der Kirche, die Wiederherstellung der sittlichen Ordnung und die Schaffung einer sozialen Gerechtigkeit waren die großen Fragen, die das Christentum des Mittelalters vom 10. Jahrhundert an beschäftigten. Die gesamte Reformbewegung von Otto von Cluny bis zu dem heiligen Bernhard und Otto von Freising war bewußt auf einer Geschichtsdeutung aufgebaut, die das augustinische Konzept der zwei Städte auf die zeitgenössische Krise zwischen Kirche und Staat, oder vielmehr zwischen den religiösen und den weltlichen Mächten anwendete, die einander innerhalb der christlichen Gemeinschaft bekämpften. Diese neo-augustinische Geschichtsauffassung findet ihren unmittelbaren Ausdruck in den Schriften Odo von Clunys im 10., Bonizo von Sutris im 11. und Otto von Freisings im 12. Jahrhundert; aber sie war auch die einiger der fähigsten Anhänger der Reichsidee, wie es der Verfasser der Abhandlung "De Unitate ecclesiae conservanda" war. Denn das mittelalterliche Reich und das mittelalterliche Königtum wurden von ihren Anhängern nicht als eine weltliche Institution in unserem Sinne angesehen. Sie waren die Führer des christlichen Volkes und die Verteidiger des christlichen Glaubens; ihnen war - mehr als dem Papsttum und den Priestern - die Lenkung der Christenheit als einer geschichtlichen "zeitlichen" Ordnung von Gott übertragen worden. (Fs)

311a Diese Tradition eines christlichen Reichsgedankens wurde durch den Sieg des Papsttums über das Reich nicht berührt. Ja, sie fand ihren großartigsten Ausdruck im 14. Jahrhundert in Dantes Theorie von der Mission, die dem Römischen Reich von der Vorsehung übertragen worden war, als der Gesellschaft, in der die Menschheit ihre Einheit verwirklichen und den universalen Frieden erringen würde, und von der besonderen Berufung des messianischen Fürsten, jenes geheimnisvollen Dux, der Italiens Retter und der Reformator der Kirche sein würde. Hier haben wir zum erstenmal eine christliche Geschichtsdeutung, die über die sakrale jüdisch-christliche Tradition hinausgeht und den unabhängigen Wert und die Bedeutung der weltlichen Kultur anerkennt. Es gibt zwei unabhängige, aber parallele Ordnungen: die Ordnung der Gnade in ihrer Verkörperung durch die Kirche und die natürliche Ordnung, in der die Menschheit ihr rationales Ziel durch die Vermittlung des Römischen Reiches erreicht, das von der Natur zum universalen Reich bestimmt und von Gott dazu auserwählt war. (Fs) (notabene)

311b So richtet sich der Blick von Dantes Geschichtsdeutung einerseits zurück auf die mittelalterliche Tradition des Heiligen Römischen Reiches und auf das augustinische Ideal des Gottesstaates, andererseits nach vor auf den Humanismus der Renaissance und auf das moderne, liberale Ideal der geschichtlichen Aufgabe eines bestimmten Volkes und Staates. Diese Idee einer vorherbestimmten Übereinstimmung zwischen der weltlichen Tradition der menschlichen Kultur, die sich im Römischen Reich verkörpert, und der religiösen Tradition der übernatürlichen Wahrheit, die sich in der katholischen Kirche verkörpert, findet ihre philosophische Grundlage in der thomistischen Lehre von der Konkordanz von Natur und Gnade. Hätte der Thomismus sie zur Grundlage der Geschichtsdeutung gemacht, so hätte sie sich mit dem zunehmenden historischen Wissen zu einer echten katholischen Geschichtsphilosophie entwickeln können, in der die verschiedenen nationalen Traditionen - ähnlich wie in Rom - je nach ihrer eigenen Aufgabe und ihren natürlichen Fähigkeiten zum Aufbau einer christlichen Zivilisation beitrugen. Tatsächlich aber verhinderte Dantes Festhalten an dem im Niedergang begriffenen gibellinischen Reichsdenken, daß seine Philosophie einen weitergehenden Einfluß auf das katholische Denken ausübte. Sie blieb ein eindrucksvoller, aber übersteigerter Beweis des Universalismus mittelalterlichen Denkens und der verlorengegangenen geistigen Einheit der mittelalterlichen Kultur. (Fs) (notabene)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Geschichte, Sinn; Ende des Mittelalters, Ende einer gemeinsamen sakralen Tradition; 2. Reformation; Renaissance; sichtbare Kirche - Gemeinschaft der Heiligen; Fragmentierung d. Geschichte; Sozinianismus, Chiliasmus; Croce: Ggs. d. Prinzipien

Kurzinhalt: Die Männer der Reformation ... lehnten es ab, diese göttliche Gesellschaft mit der sichtbaren, hierarchischen Kirche zu identifizieren ... Die wahre Kirche war nicht dieses zweite Babylon, sondern die Gemeinschaft der Auserwählten ...

Textausschnitt: 312a Denn das Ende des Mittelalters stand im Zeichen des großen religiösen Umsturzes, der die Einheit des abendländischen Christentums vernichtete und die Völker Europas durch den Kampf der Sekten und den Konflikt entgegengesetzter religiöser Traditionen trennte. Es gab keinen gemeinsamen katholischen Glauben mehr und daher auch keine gemeinsame sakrale Tradition oder gemeinsame Geschichtsdeutung. Die Reformation übernahm zwar viel mehr vom Mittelalter, als sie selbst erkannte. Das gilt ganz besonders für die Geschichtsdeutung. Ihre Geschichtsauffassung fußte genauso wie die des Mittelalters auf der Bibel und dem heiligen Augustinus, und das auf dem Gegensatz und Konflikt der beiden Städte beruhende Bild der Weltgeschichte beeinflußte Luther und Calvin und die puritanischen Prediger des 17. Jahrhunderts genauso, wie es fünfhundert Jahre vorher die katholischen Reformatoren beeinflußt hatte. (Fs) (notabene)

312b Trotzdem ist die katholische Geschichtsdeutung mit der katholischen Auffassung von dem Wesen und Amt der Kirche organisch verbunden, und soferne der Protestantismus eine neue Auffassung von der Kirche mit sich brachte, rief er letzten Endes auch eine neue Geschichtsdeutung hervor. So ist schon lange vor dem Auftreten der neuen Wissenschaften der Bibelkritik und der Kirchengeschichte, welche die Einstellung des modernen Protestantismus gegenüber der katholischen Tradition so tief beeinflußt haben, eine Verschiedenheit zwischen der katholischen und der protestantischen Geschichtsdeutung klar erkennbar. (Fs) (notabene)

313a Auf den ersten Anblick ist der Unterschied zwischen dem Katholizismus und dem Protestantismus im 16. Jahrhundert ein Unterschied zwischen der traditionellen und der revolutionären Auffassung vom Christentum und der Kirche. Für den Katholiken war die Kirche das Reich Gottes auf Erden - in via -, die übernatürliche Gesellschaft, durch die und in der allein die Menschheit ihr wahres Ziel verwirklichen konnte. Sie war eine sichtbare Gesellschaft mit eigenem Gesetz und eigener Verfassung, die eine göttliche und unfehlbare Autorität besaß. Sie blieb durch alle Zeiten hindurch ein und dieselbe, wie eine auf einem Hügel liegende, für alle Menschen weithin sichtbare Stadt, die von einer Generation zur anderen dasselbe anvertraute Glaubensgut und dasselbe Autoritätsmandat weitergab, die sie von ihrem göttlichen Stifter erhalten hatte, und die sie ungeteilt und intakt bis zum Ende der Zeiten bewahren würde. (Fs) (notabene)

313b Die Männer der Reformation hingegen bekannten sich zwar zu einer ähnlichen Auffassung von der Kirche als der Gemeinschaft, durch die Gottes Plan mit den Menschen verwirklicht würde, aber sie lehnten es ab, diese göttliche Gesellschaft mit der sichtbaren, hierarchischen Kirche zu identifizieren, wie die Geschichte sie kennt. Der katholischen Auffassung der Kirche als dem sichtbaren Gottesstaat hielten sie das apokalyptische Bild einer abgefallenen Kirche entgegen, einer Hure, die vom Blut der Heiligen trunken ist, die auf den sieben Hügeln sitzt und die Völker durch ihre Pracht und ihre bösen Zauber berauscht. Die wahre Kirche war nicht dieses zweite Babylon, sondern die Gemeinschaft der Auserwählten, der verborgenen Heiligen, die der Lehre der Bibel mehr gehorchten als denen der Hierarchie und die weit eher unter den sogenannten Ketzern - den Hussiten, Wycliffiten, Waldensern und anderen - zu finden waren als unter den Dienern der offiziellen, institutionellen Kirche. (Fs) (notabene)

313c Die Folge dieser revolutionären Haltung gegenüber der historischen Kirche war eine revolutionäre Auffassung der Geschichte, die als eine zusammenhanglose Reihe katastrophenhafter und apokalyptischer Ereignisse angesehen wurde. "Die Kirche ist eine Reihe von Auferstehungen", schreibt Calvin. "Immer wieder wird sie lasterhaft, das Wort Gottes wird nicht mehr gepredigt, ihr Leben scheint erloschen, bis Gott von neuem Propheten und Lehrer schickt, damit sie von der Wahrheit Zeugnis ablegen und die evangelische Lehre in ihrer ursprünglichen Reinheit verkündigen." So kann man die Reformation mit der Renaissance vergleichen, denn sie war ein Versuch, auf die Zeiten vor dem Mittelalter zurückzugreifen, tausend Jahre historischer Entwicklung auszulöschen und die christliche Religion in ihrer ursprünglichen "klassischen" Form wiederherzustellen. Andererseits brachte diese Rückkehr zur Vergangenheit das protestantische Denken in einen erneuten Kontakt mit den jüdischen und apokalyptischen Ursprüngen der christlichen Geschichtsauffassung, so daß die Reformation zu einer stärkeren Betonung der jüdischen und apokalyptischen Elemente in der christlichen Tradition gegenüber den griechischen, patristischen und metaphysischen Elementen führte, die in der patristischen Orthodoxie und im mittelalterlichen Katholizismus so stark vertreten waren. (Fs) (notabene)

314a Von da an finden wir zwei Tendenzen im protestantischen Denken, deren extremer Ausdruck der Sozinianismus und der Chiliasmus sind. Der eine stellt den Versuch dar, alle späteren Hinzufügungen auszumerzen, die Religion von der Geschichte zu trennen und das reine, zeitlose Wesen des Christentums wiederherzustellen. Der andere besteht aus einer undifferenzierten und leidenschaftlichen neuerlichen Betonung des Zeitfaktors im Christentum und einem Versuch, es von allen seinen nicht-jüdischen, mystischen, philosophischen und theologischen Elementen zu reinigen. Der sich daraus ergebende Typus der Religion führte zu einigen der ärgsten Exzesse des Fanatismus und der Vernunftwidrigkeit; andererseits war er seiner Gesinnung nach ungemein sozial, wie wir es zum Beispiel an den Wiedertäufern sehen, und bemühte sich ernsthaft, wenn auch in einer einseitigen und übermäßig vereinfachten Form, eine christliche Geschichtsdeutung herbeizuführen. (Fs)

314b Aber obwohl diese beiden Tendenzen einander zu widersprechen scheinen, schlossen sie einander nicht vollständig aus. So war John Milton zum Beispiel gleichzeitig Chiliast und Sozinianer, und die Unitarier des 18. Jahrhunderts, die den sozinianischen Typus des Protestantismus fast in Reinkultur darstellten, übernahmen von der entgegengesetzten Tradition eine Art verweltlichten Chiliasmus, der sich in der Lehre vom Fortschritt ausdrückte. Die Entwicklung dieser rationalisierten Theologie und dieses weltlichen Chiliasmus in ihren revolutionär-sozialistischen oder revolutionär-liberalen Formen - besonders aber in den letzteren - ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der modernen Kultur. Es war eigentlich eine zweite Reformation, die versuchte, die Religion noch vollständiger und drastischer zu rationalisieren und zu spiritualisieren als die erste, die aber damit endete, daß sie das Christentum aller übernatürlichen Elemente entkleidete und die Geschichte als die fortschreitende Entwicklung eines immanenten Prinzips auslegte. (Fs) (notabene)

315a So ist nicht nur die materialistische, sondern auch die idealistische Geschichtsdeutung unvereinbar mit der traditionellen christlichen Anschauung, da sie jedes Gefühl des Andersseins Gottes und der Transzendenz, jedes Bewußtsein des göttlichen Gerichtes und der göttlichen Gnade ausschaltet, die der Inbegriff der christlichen Einstellung gegenüber der Geschichte sind. Das gilt sowohl für den Protestantismus wie für den Katholizismus. Trotzdem muß man zugeben, daß die Wirkung bei diesem viel heftiger und schmerzlicher ist. Die Protestanten konnten - teilweise weil die großen idealistischen Denker wie Kant selbst protestantischer Herkunft waren und ein starkes protestantisches Ethos bewahrt hatten - die idealistische Deutung der Geschichte ohne ernstlichen Konflikt hinnehmen; ebenso entwickelte sich die neue liberale Theologie der Immanenz stärker aus protestantischen als aus katholischen Grundideen. Der Katholizismus zeigte dagegen nur wenig Sympathien für die idealistische Bewegung und neigte dazu, sie als eine äußerliche und unreligiöse Potenz zu betrachten. Seine Einstellung war gleichzeitig traditionalistischer und realistischer als die des Protestantismus; er ließ die Idee eines unumstößlichen Fortschrittsgesetzes, in dem die liberalen wie die protestantischen Idealisten die Grundlage ihres Denkens und das Grundprinzip ihrer Deutung der Geschichte sahen, nicht ohne weiteres gelten. Infolgedessen besteht ein scharfer Gegensatz zwischen der katholischen und der liberal-idealistischen Philosophie, den es in der protestantischen Welt kaum gibt. Es ist, wie Croce in seiner "Geschichte Europas im 19. Jahrhundert" klar darlegt, kein Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft oder Religion und Philosophie, sondern ein Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Glaubensbekenntnissen, der auf einem unversöhnlichen Gegensatz der Prinzipien beruht und zu einer völlig verschiedenen Weltanschauung führt. Denn die idealistischen Begriffe des Monismus, der Immanenz und der Selbstbestimmung sind - wieder nach Croce - die Negierung der Prinzipien der göttlichen Transzendenz, der göttlichen Offenbarung und der göttlichen Autorität, auf denen die katholische Auffassung von Gott und dem Menschen, von der Schöpfung, der Geschichte und dem Ende der Geschichte beruht. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Geschichte: Gegensatz: Liberalismus - Katholizismus; Herausforderung weltlicher Geschichtsauffassung; Liberalismus, Kommunismus - "reaktionäre" Kirche; Wahrscheinlichkeit: offener Konflikt; wahrer Fortschritt

Kurzinhalt: So wie der christliche Glaube an Christus der Glaube an eine reale geschichtliche Persönlichkeit ist ... Für den Liberalen wie für den Kommunisten ist die katholische Tradition "reaktionär", nicht nur, weil sie zufällig mit der früheren politischen ...

Textausschnitt: 316a Daher entsteht der Gegensatz zwischen Liberalismus und Katholizismus nicht, wie die populäre Vereinfachung es behauptet, aus den "reaktionären Tendenzen" des Katholizismus, sondern aus der Notwendigkeit, die absoluten christlichen Werte in der theologischen wie in der geschichtlichen Sphäre sicherzustellen. Denn wenn das Christentum die Religion der Menschwerdung ist, und wenn die christliche Geschichtsdeutung von der Weiterführung und Verbreiterung der Menschwerdung im Leben der Kirche abhängt, so unterscheidet sich der Katholizismus dadurch von den anderen Formen des Christentums, daß er dieses Prinzip der Menschwerdung in einem volleren, konkreteren und organischeren Sinn auffaßt. So wie der christliche Glaube an Christus der Glaube an eine reale geschichtliche Persönlichkeit ist und nicht an ein abstraktes Ideal, so ist der katholische Glaube an die Kirche der Glaube an eine reale geschichtliche Gesellschaft, nicht an eine unsichtbare Gemeinschaft der Heiligen oder an eine geistige Verbindung der Christen, die in eine Anzahl religiöser Gruppen und Sekten gespalten sind. Diese geschichtliche Gesellschaft ist nicht nur die Hüterin der heiligen Schriften und eine Lehrerin christlicher Moral. Sie ist die Trägerin einer lebendigen Tradition, die Gegenwart und Vergangenheit über alle begrenzten Gemeinschaften der Rasse, des Volkes und des Staates hinweg zusammenfaßt. Daher genügt es nicht, wenn der Katholik an das in den heiligen Schriften enthaltene göttliche Wort glaubt, es genügt auch nicht, wenn er sich zu dem historischen Glauben bekennt, wie er in den Dogmen enthalten ist und durch die katholische Theologie ausgelegt wird; er muß dem lebendigen Organismus der göttlichen Gemeinschaft als Zelle angehören und mit der historischen Wirklichkeit der sakralen Tradition eine Verbindung eingehen. So kann bei dem, der den Katholizismus als intellektuelles System auffaßt, der Eindruck entstehen, daß dieser die Vorschriften viel stärker betont und viel verstandesmäßiger ist als der Protestantismus, der die persönliche und ethisch-gefühlsmäßige Seite der Religion so stark betont; aber der Soziologe, der ihn in seiner geschichtlichen Wirklichkeit erforscht, wird sehr bald die unvergleichliche Bedeutung der Tradition für den Katholizismus erkennen; denn sie macht den einzelnen zu einem Mitglied einer historischen Gesellschaft und einer geistigen Zivilisation und beeinflußt sein Leben bewußt und unbewußt auf tausenderlei Weise. (Fs) (notabene)

317a Die Erkenntnis, daß diese Tradition das Werkzeug von Gottes Geist in der Welt und die lebendige Zeugin des übernatürlichen göttlichen Handelns an der Menschheit ist, steht im Mittelpunkt der katholischen Auffassung und Deutung der Geschichte. Aber eine so ungeheure Forderung bedeutet eine Herausforderung der gesamten weltlichen Geschichtsauffassung, die dazu neigt, der Glaube der modernen Welt zu werden. Trotz der Unterschiede und Widersprüche zwischen dem Fortschrittsidealismus des Liberalismus und dem katastrophenhaften Materialismus des Kommunismus stimmen beide darin überein, daß sie auf der Immanenz und Autonomie der menschlichen Zivilisation und auf der weltlichen Gemeinschaft als der höchsten sozialen Wirklichkeit bestehen. Für den Liberalen wie für den Kommunisten ist die katholische Tradition "reaktionär", nicht nur, weil sie zufällig mit der früheren politischen und sozialen Ordnung verknüpft war, sondern weil sie die göttlichen Werte des Gottesglaubens, der Liebe und des ewigen Lebens höher stellt als die menschlichen Werte der politischen Freiheit, der sozialen Ordnung, des wirtschaftlichen Wohlstandes und der wissenschaftlichen Wahrheit und weil sie das menschliche Leben und die Geschichte auf ein übernatürliches und über die Geschichte hinausragendes Ziel hin orientiert. Da die moderne Gesellschaft in allem nach ideologischer Gleichförmigkeit strebt, in der kein Platz ist für die privaten Welten der alten bürgerlichen Kultur, wird sich die Unvereinbarkeit zwischen weltlichem Geist und Katholizismus wahrscheinlich in offenem Konflikt und gewaltsamer Verfolgung ausdrücken. (Fs) (notabene)

Kommentar (23.07.10): Vgl. den letzten Satz mit den Einsicht Bellocs in The Great Heresis.

318a Zweifellos ist die Aussicht auf einen solchen Konflikt für das moderne bürgerliche Denken höchst widerwärtig, selbst wenn es ein christliches Denken ist. Der liberale Optimismus, der für die angelsächsische Denkweise der letzten fünfzig Jahre charakteristisch war, hat die Menschen dazu geführt zu glauben, daß die Tage der Verfolgung vorüber sind und daß alle Menschen, die guten Willens sind, übereinkommen werden, ihre Meinungsverschiedenheiten zu begraben und sich zu einigen, um die allgemein verurteilten Übel wie Laster, Armut und Unwissenheit zu bekämpfen. Aber vom Gesichtspunkt der christlichen Geschichtsdeutung aus gesehen besteht kein Anlaß zu solchen Erwartungen. Christus ist nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, und das Reich Gottes kommt nicht durch die Ausschaltung von Konflikten, sondern durch einen wachsenden Gegensatz und eine zunehmende Spannung zwischen der Kirche und der Welt. Der Konflikt zwischen den zwei Städten ist so alt wie die Menschheit und muß sich bis zum Ende der Zeiten fortsetzen. Wenn die Kirche auch Zeiten des Wohlergehens erleben kann und ihre Feinde scheitern und die Mächte der Welt sich ihrer Herrschaft beugen können, so ist das doch kein Kriterium für den Erfolg. Sie siegt nicht durch Mehrheiten, sondern durch Märtyrer, und ihr Sieg ist das Kreuz. (Fs) (notabene)

318b So sind die christliche Lebensanschauung und die christliche Geschichtsdeutung, verglichen mit dem Optimismus des Liberalismus, tief tragisch. Der wahre Fortschritt der Geschichte ist ein Geheimnis, das sich im Scheitern und Leiden erfüllt und das erst am Ende der Zeiten offenbar werden wird. Der Sieg, der die Welt überwindet, ist nicht der Erfolg, sondern der Glaube, und nur das Auge des Glaubens erkennt den wahren Wert der Geschichte. (Fs) (notabene)

319a Wenn der Christ die Geschichte von diesem Standpunkt aus betrachtet, wird er weder siegessicher im Erfolg noch niedergeschlagen im Mißerfolg sein. "Wenn ihr von Kriegen und Kriegsgerüchten hört, so laßt euch nicht erschrecken, denn das Ende ist damit noch nicht da." Niemand weiß, wohin Europa steuert. Die Zukunft liegt nicht in unserer Hand, denn die Welt wird von Mächten regiert, die sie nicht kennt, und die Menschen, die scheinbar die Geschichte machen, sind in Wahrheit ihre Geschöpfe. Aber der Anteil der Kirche ist ein anderer. Sie war Gast und Verbannte, Herrin und Märtyrerin der Völker und Kulturen und hat sie alle überlebt. In jedem Zeitalter und jedem Volk ist es ihre Aufgabe, das Werk der göttlichen Erneuerung und Wiedergeburt fortzuführen, weiches das wahre Ziel der Geschichte ist. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat; Geschichte: menschliche Natur, Theologie d. Schöpfung u. Gnade; Synthese: Altertum (Gesellschaftslehre) - Christentum (G., Zeit); griechischer Geist: keine G.philosophie (Thukydides: Nemesis, Tyche); Newman; sozialer Dualismus

Kurzinhalt: Der Christ hingegen hatte keine Gesellschaftslehre oder politische Philosophie, aber er besaß eine Geschichtstheorie. Für seine Weltanschauung war die Zeit von ausschlaggebender Bedeutung... Außerdem war die Geschichte nicht nur ein Festhalten ...

Textausschnitt: 2 DER HEILIGE AUGUSTINUS UND DER GOTTESSTAAT

328a Der "Gottesstaat" des heiligen Augustinus war, wie alle seine Bücher, eine Gelegenheitsschrift, die er in einer rein polemischen Absicht und zur Befriedigung eines speziellen Bedürfnisses schrieb. Aber in den vierzehn Jahren, in denen er daran arbeitete - 412 bis 426 - wurde sie aus einer Streitschrift zu einer großen Synthese der gesamten Geschichte der Menschheit und ihrer Bestimmung in Zeit und Ewigkeit. Es ist das eine große Werk des christlichen Altertums, das sich nach seiner eigenen Angabe mit dem Verhältnis des Staates und der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen zu den christlichen Grundsätzen befaßt; infolgedessen hat es einen nicht zu ermessenden Einfluß auf die Entwicklung des europäischen Denkens ausgeübt. Für Orosius wie für Karl den Großen, für Gregor I. und Gregor VII., den heiligen Thomas von Aquin und Bossuet blieb es der klassische Ausdruck des christlichen politischen Denkens und der christlichen Einstellung zu der Geschichte. Auch in der modernen Zeit hat es seine Bedeutung nicht verloren. Es ist die einzige Schrift der Kirchenväter, über die der weltliche Historiker niemals gänzlich hinweggeht und die im ganzen 19. Jahrhundert allgemein als Beweis für die Berechtigung galt, den heiligen Augustinus als den Begründer der Geschichtsphilosophie anzusehen. (Fs)

328b In jüngster Zeit hat es jedoch, besonders in Deutschland, eine Strömung gegeben, die diese Berechtigung bestreitet und die Methode des heiligen Augustinus als völlig antihistorisch bezeichnet, weil sie die Geschichte nach einem streng theologischen System auslegt und die gesamte menschliche Entwicklung als etwas betrachtet, das durch zeitlose und unwandelbare übernatürliche Prinzipien vorherbestimmt ist1. Gewiß ist der "Gottesstaat" keine philosophische Geschichtstheorie im Sinne einer rationalen Ableitung aus geschichtlichen Tatsachen. Der heilige Augustinus entdeckt nichts Neues durch die Geschichte; er sieht nur die Auswirkung universaler Prinzipien in ihr. Aber wir können mit Recht bezweifeln, ob Hegel oder irgendein anderer Philosoph des 19. Jahrhunderts etwas anderes getan hat. Sie leiteten ihre Theorien nicht aus der Geschichte ab, sondern legten ihre philosophischen Anschauungen in die Geschichte hinein. (Fs)

329a Was uns der heilige Augustinus gibt, ist eine Synthese der Weltgeschichte im Licht christlicher Prinzipien. Seine Geschichtstheorie ist streng aus seiner Lehre von der menschlichen Natur abgeleitet, die sich ihrerseits zwangsläufig aus seiner Theologie der Schöpfung und der Gnade ergibt. Sie ist keine rationale Lehre, die mit dem geoffenbarten Dogma beginnt und endet; aber sie ist rational in der strengen Logik ihrer Entwicklung und enthält eine absolute rationale und philosophische Lehre über das Wesen der Gesellschaft und des Gesetzes und über das Verhältnis des sozialen Lebens zu der Ethik. (Fs) (notabene)

329b Darin liegt ihre Neuheit. Denn sie verbindet zwei getrennte geistige Traditionen, die sich bis dahin als unvereinbar erwiesen hatten, zu einem zusammenhängenden System. Die griechische Welt besaß eine Gesellschaftslehre und eine politische Philosophie, aber sie war nie zu einer Geschichtsphilosophie gelangt. Der griechische Geist neigte mehr zu einer kosmologischen als zu einer historischen Betrachtungsweise. Nach der griechischen Auffassung hatte die Zeit nur wenig Bedeutung oder Wert. Sie war die bloße "Ziffer der Bewegung", ein unverständliches Element, das infolge der Unbeständigkeit und Wandelbarkeit der sinnlichen Dinge in die Wirklichkeit Eingang fand. Daher konnte sie keinen endgültigen oder geistigen Sinn haben. Sie ist nur insoferne verständlich, als sie regelmäßig ist, das heißt, nach einer wiederkehrenden Gleichheit strebt. Dieses Element der Wiederkehr entsteht durch den Einfluß der Himmelskörper, jener ewigen und göttlichen Existenzen, deren Bewegungen diese niedrigere Welt alles verdankt, was sie an Ordnung und Faßlichkeit besitzt. (Fs) (notabene)

329c Daher ist die Geschichte, insoferne sie aus einmaligen und einzelnen Ereignissen besteht, der Wissenschaft und Philosophie nicht würdig. Der Wert der Geschichte liegt nur in jenem Aspekt ihres Wesens, der unabhängig von der Zeit ist, in dem idealen Charakter des Helden, der idealen Weisheit des Gelehrten und der idealen Ordnung des guten Gemeinwesens. Die einzige geistige Bedeutung der Geschichte liegt in den Beispielen, die sie von der sittlichen Tugend und politischen Weisheit oder von deren Gegenteil gibt. Wie die griechische Kunst schuf auch die griechische Geschichte eine Reihe klassischer Typen, die das spätere Altertum als dauernden Besitz übernahm. Gewiß hatte Griechenland seine Geschichtsphilosophen, wie Thukydides und vor allem Polybius, aber auch für sie ist die Macht, welche die Geschichte beherrscht, die einer äußeren Notwendigkeit - Nemesis oder Tyche -, die die eigentliche Bedeutung der menschlichen Angelegenheiten eher verringert als vergrößert. (Fs)

330a Der Christ hingegen hatte keine Gesellschaftslehre oder politische Philosophie, aber er besaß eine Geschichtstheorie. Für seine Weltanschauung war die Zeit von ausschlaggebender Bedeutung. Der für das griechische Denken und für den modernen Rationalisten so anstößige Gedanke, daß Gott in die Geschichte eingreift und daß ein kleines, unkultiviertes semitisches Volk das Werkzeug eines unabhängigen göttlichen Zweckes wurde, war für ihn Mittelpunkt und Grundlage seines Glaubens. Zum Unterschied von den Theogonien und Mythologien, die die charakteristische Ausdrucksform der griechischen und orientalischen Religion waren, baute das Christentum seine Lehre von Anfang an auf einer heiligen Geschichte auf2. (Fs) (notabene)

330b Außerdem war die Geschichte nicht nur ein Festhalten vergangener Ereignisse; sie wurde als Offenbarung eines göttlichen Planes angesehen, der alle Zeitalter und Völker umfaßte. Die Wandlungen der weltlichen Geschichte, der Aufstieg und Untergang der Reiche und Völker waren, wie schon die jüdischen Propheten gelehrt hatten, dazu da, um Gottes endgültiger Absicht in bezug auf die Errettung Israels und die Errichtung Seines Reiches zu dienen. So lehrt das Neue Testament, daß die gesamte jüdische Ordnung nur eine Stufe im göttlichen Heilsplan war und daß die Schranke zwischen Juden und Heiden jetzt fallen mußte, damit die Menschheit zu einer organischen geistigen Einheit verbunden werden konnte3. Das Erscheinen Christi ist der Wendepunkt in der Geschichte. Es bedeutet "die Fülle der Zeiten"4, die Großjährigkeit der Menschen und die Erfüllung des göttlichen Planes. Von nun an war die Menschheit in eine neue Phase eingetreten. Das Alte war zu Ende und alles war neu geworden. (Fs) (notabene)

331a Daher lag in der bestehenden Ordnung der Dinge für den Christen nichts Endgültiges. Die Reiche der Welt wurden gerichtet und ihr letztes Schicksal war besiegelt. Das Gebäude war der Vernichtung preisgegeben und die Mine, die es zerstören sollte, war gelegt, wenn man auch den genauen Zeitpunkt der Explosion nicht kannte. Der Christ mußte den Blick auf die Zukunft richten, wie ein Diener, der auf die Rückkehr seines Herrn wartet. Er mußte sich von der bestehenden Ordnung lösen und sich auf die Ankunft des Gottesreiches vorbereiten. (Fs)

331b Das mag vom modernen Standpunkt so aussehen, als würde damit der Sinn der Geschichte ebenso aufgehoben wie durch die griechische Anschauung von der Bedeutungslosigkeit der Zeit. Wie Newman schreibt: "Nachdem der Christus gekommen war, mußten nur noch seine Heiligen in die Scheuer gesammelt werden. Kein höherer Priester, keine wahrere Lehre konnte mehr kommen. Das Licht und Leben der Menschen war erschienen, hatte gelitten und war auferstanden, und es blieb nichts mehr zu tun. Die Erde hatte ihr feierlichstes Ereignis erlebt und ihr erhabenstes Schauspiel gesehen und deshalb war die Endzeit da. Und wenn auch zwischen der ersten und zweiten Ankunft Christi Zeit verstreichen mag, so wird dies (wie ich es ausdrücken möchte) im Plan des Evangeliums nicht anerkannt; es ist sozusagen etwas Zufälliges. Wenn Christus sagt, Er werde bald kommen, so ist dieses 'Bald' keine zeitliche Bestimmung, sondern eine Bezeichnung für die natürliche Ordnung. Dieser jetzige Zustand, 'die gegenwärtige Bedrängnis', wie der heilige Paulus ihn nennt, ist immer dem Jenseits nahe und geht in dieses über5."

332a Andererseits war das Reich, auf das der Christ hoffte, wenn es auch ein geistiges und ewiges war, kein abstraktes Nirwana. Es war ein wirkliches Reich, das die Krönung und der Höhepunkt der Geschichte und die Vollendung des Schicksals der Menschheit sein sollte. Es wurde sogar oft in weltlicher und irdischer Form aufgefaßt, denn die meisten älteren Kirchenväter deuteten die Apokalypse im wörtlichen Sinn und glaubten, daß Christus mit Seinen Aposteln vor dem Jüngsten Gericht tausend Jahre lang auf Erden herrschen würde6. (Fs)

332b Diese Erwartung war so stark und so lebendig, daß das Neue Jerusalem schon über der Erde zu schweben schien, bereit, sich darauf herabzulassen. Tertullian erzählt, daß die Soldaten des Severus vierzig Tage lang seine Mauern im Morgenlicht am Horizont schimmern gesehen hatten, während sie durch Palästina marschierten. Eine solche Denkweise konnte leicht, wie bei Tertullian, zum visionären Fanatismus des Montanismus führen. Aber selbst in seinen Exzessen war er für die Rechtgläubigkeit weniger gefährlich als die spiritistische Theosophie der Gnostiker, die die gesamte geschichtliche Grundlage des Christentums auflöste; infolgedessen wurde sie von Apologeten wie Justinus Martyr und Irenäus als ein Bollwerk der konkreten Wirklichkeit der christlichen Hoffnung verteidigt. (Fs)

332c Überdies glaubten alle Christen, ob sie nun Chiliasten waren oder nicht, in der Kirche schon ein Unterpfand und eine Vorstufe des künftigen Gottesreiches zu besitzen. Sie waren nicht, wie andere religiöse Körperschaften der damaligen Zeit, eine durch einen gemeinsamen Glauben und einen gemeinsamen Gottesdienst verbundene Gruppe von Einzelmenschen, sie waren ein wirkliches Volk. Die ganze Fülle der im Alten Testament enthaltenen geschichtlichen Assoziationen und des sozialen Empfindens war von ihren nationalen und volksmäßigen Einschränkungen losgelöst und auf die neue, internationale geistige Gemeinschaft übertragen worden. Dadurch erhielt die Kirche zahlreiche Merkmale einer politischen Gesellschaft; das heißt, die Christen besaßen eine eigene, echte soziale Tradition und eine Art Patriotismus, der sich von dem für den weltlichen Staat, in dem sie lebten, unterschied. (Fs)

333a Dieser soziale Dualismus ist einer der auffallendsten Züge des frühen Christentums. Ja, er ist für das Christentum überhaupt charakteristisch, denn die Idee der zwei Gesellschaften und der doppelten Staatsbürgerschaft findet sich sonst nirgends in der gleichen Form. Sie drang tief in das Denken des heiligen Augustinus ein und wurde zum Grundthema des "Gottesstaates". Tatsächlich ist die Idee der zwei Städte des heiligen Augustinus nichts Neues, sondern ein unmittelbar von der Tradition übernommenes Erbe. In seiner frühchristlichen Form war dieser Dualismus jedoch viel einfacher und konkreter als später. Das mittelalterliche Problem des Nebeneinanderbestehens der zwei Gesellschaften und der zwei Autoritäten innerhalb der Christenheit entstand erst zu einer späteren Zeit. Statt dessen bestand der schroffe Gegensatz zwischen den beiden entgegengesetzten Ordnungen - dem Reich Gottes und dem Reich dieser Welt, der gegenwärtigen und der kommenden Zeit. Das Imperium war die Gesellschaft der Vergangenheit, und die Kirche war die Gesellschaft der Zukunft; und obwohl sie aufeinandertrafen und sich äußerlich vermischten, gab es keinen geistigen Kontakt zwischen ihnen. Zwar anerkannte der Christ, wie wir gesehen haben, die Mächte dieser Welt als von Gott eingesetzt und beobachtete einen strikten, wenn auch passiven Gehorsam gegen sie. Aber diese Treue zum Staat war eine rein äußerliche. Sie bedeutete einfach, daß die Kirche, wie der heilige Augustinus sagt, während ihrer Vermischung mit Babylon die äußere Ordnung des irdischen Staates anerkennen mußte, was sich zu ihrer beider Vorteil auswirkte - "utamur et nos sua pace"7. (Fs) (notabene)

334a Daher konnte es kein Band der geistigen Gemeinschaft oder gemeinsamen Staatsbürgerschaft zwischen den Mitgliedern der beiden Gesellschaften geben. Der Christ empfand sich in seinen Beziehungen zum Staat und zu der weltlichen Gesellschaft als Fremdling - peregrinus -; seine wahre Staatszugehörigkeit war die zu dem Reich Gottes. Tertullian schreibt: "Eure Staatszugehörigkeit, eure obrigkeitlichen Würden und sogar der Name eurer Kurie ist die Kirche Christi... Wir werden sogar vom Wohnen in diesem Babylon der Apokalypse abberufen, um wieviel mehr noch von einer Teilnahme an seinem Pomp ... Denn ihr seid ein Fremdling in dieser Welt und ein Bürger des himmlischen Jerusalem8."

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat; Afrika; Tertullian; Donatisten; eschatologischer, sozialer Dualismus (Au. vs. Origenes, Eusebius, Athanasius); Tyconius - Au. (apokalyptische Symbole -> philosophische Bedeutung)

Kurzinhalt: Wenn wir den "Gottesstaat" mit den Werken der großen griechischen Apologeten ... vergleichen, fällt uns sofort der Gegensatz seiner Methode auf. Er baut seine Behandlung des Themas ... auf dem eschatologischen und sozialen Dualismus ...

Textausschnitt: 337a Im Abendland aber entwickelte sich die christliche Denkart nach einer völlig anderen Richtung. Zur Zeit, als Origenes eine übersinnlich-spekulative Theologie und eine Philosophie der Religion schuf, konzentrierte sich die abendländische Kirche auf die konkreten Fragen ihres Gemeinschaftslebens. Vom verstandesmäßigen Standpunkt aus scheinen die Polemiken über die Disziplin und Ordnung in der Kirche, die das abendländische Denken beschäftigten, unfruchtbar und uninteressant im Vergleich zu den großen Fragen der Lehre, die im Osten erörtert wurden. Aber vom geschichtlichen Standpunkt aus sind sie der Beweis einer starken sozialen Tradition und eines autonomen und lebendigen Gemeinschaftslebens. (Fs)

337b Diese Tradition war nirgends stärker als in Afrika; ja, in bezug auf ihren literarischen und intellektuellen Ausdruck war Afrika eigentlich der Ursprungsort der abendländischen Tradition. Bei weitem der größte Teil der christlichen Literatur in lateinischer Sprache ist afrikanischer Herkunft; das übrige lateinische Abendland brachte, mit Ausnahme von Ambrosius und Hieronymus, keine Schriftsteller hervor, die sich mit den großen afrikanischen Gelehrten messen können. Daran war zweifellos die Tatsache schuld, daß Afrika einen nationaleren Charakter besaß als alle anderen abendländischen Provinzen. Die alte lybisch-phönizische Bevölkerung war zwar infolge der Überflutung durch die römische Kultur zurückgedrängt worden, aber sie bestand fort, und im späteren Römischen Reich begann sie, gleich den unterworfenen Völkern der östlichen Provinzen, ihre nationale Eigenart neuerlich geltend zu machen. Wie in Syrien und Ägypten fand dieses Wiederaufleben des nationalen Gefühles seinen Ausweg auf religiösem Gebiet. Es brachte zwar keine neue christliche Literatur in der Landessprache hervor wie in Syrien, weil die alte punische Sprache vorwiegend unter den Bauern und den ungebildeten Klassen fortlebte1, aber wenn es sich auch des Lateinischen bediente, war sein Inhalt weitaus origineller und charakteristischer als jener der syrischen und ägyptischen Literatur. (Fs)

338a Das zeigt sich schon in den Werken Tertullians, der vielleicht der originellste Geist war, den die afrikanische Kirche hervorgebracht hat. Neben den Gemeinplätzen Frontos und dem blumenreichen, preziösen Stil des Apulejus ist die Sprache Tertullians gleichzeitig belebend und wuchtig2. Es ist, als trete man aus einem literarischen Salon in die Schrecken eines Gewitters hinaus. Er will nicht den Gegensatz zwischen Kirche und Staat verringern, denn alle seine Hoffnungen sind auf den Untergang der gegenwärtigen Ordnung und auf das Kommen des Reiches der Heiligen gerichtet. Er hat auch keine Sympathien für die versöhnliche Haltung der Schule von Alexandrien gegenüber der griechischen Philosophie. "Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?" schreibt er. "Welche Übereinstimmung besteht zwischen der Akademie und der Kirche? Unsere Unterweisung kommt aus dem Vorhof Salomons, der lehrte, daß man den Herrn in der Einfalt des Herzens suchen muß. Fort mit allen Versuchen, aus stoischen, platonischen und dialektischen Zusammenklängen ein buntscheckiges Christentum zu schaffen. Wir brauchen keine wißbegierigen Disputationen, nachdem wir Christus Jesus zum Besitz erhalten haben3."

338b Dieser kompromißlose Geist blieb für die afrikanische Kirche charakteristisch, so daß Karthago zur Antithese Alexandriens in der Entwicklung des christlichen Denkens wurde. Es blieb ein Bollwerk der alten realistischen Eschatologie und des Glaubens an das Tausendjährige Reich, den nicht nur Tertullian, sondern auch Arnobius, Lactantius und Commodian teilten. Besonders die Schriften des letzteren zeigen, wie die apokalyptischen Gedanken der Christen von einem Gefühl der Feindlichkeit gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung und sogar gegen das Römische Reich durchsetzt werden können. In seinen seltsamen, barbarischen Versen, die trotzdem manchmal eine gewisse rauhe Größe besitzen, greift Commodian den Luxus und die Bedrückungsmethoden der Reichen an und frohlockt über das nahende Ende der heidnischen Weltmacht:

"Tollatur imperium, quod fuit inique repletum,
Quod per tributa mala diu macerabat omnes [eg: sic]
Haec quidem gaudebat, sed tota terra gemebat;
Vix tamen advenit illi retributio digna,
Luget in aeternum quae se jactabat aeterna4."

339a Derselbe unversöhnliche Geist zeigt sich in dem Märtyrerkult, der in Afrika besonders unter den niedrigeren Ständen ein außergewöhnlich hohes Maß erreichte. Gebildete Heiden sahen in den Märtyrern die Rivalen und Ersatzgestalten für die alten Götter und betrachteten ihre Verehrung als typisch für den barbarischen antirömischen oder antigriechischen Geist der neuen Religion. Maximus, der alte heidnische Gelehrte von Madaura, beklagte sich dem heiligen Augustinus gegenüber, daß er es nicht ertragen könne zu sehen, wie Römer die Tempel ihrer Vorfahren verließen, um an den Grabstätten von Verbrechern niedriger Abkunft mit gemeinen punischen Namen wie Mygdo, Lucitas und Namphanio und von anderen, mit einer endlosen, von Göttern und Menschen verabscheuten Namenliste ihre Andacht zu verrichten. Er schließt: "Es scheint mir derzeit fast, als habe eine zweite Schlacht von Actium begonnen, in der ägyptische Ungeheuer, denen ein baldiger Untergang bestimmt ist, es wagen, ihre Waffen gegen die Götter der Römer zu erheben5."

340a Im Grunde hatte die Christianisierung des Römischen Reiches den leidenschaftlichen und kompromißlosen Geist des afrikanischen Christentums nicht verändert. Im Gegenteil, der kirchliche Friede war in Afrika nur der Anlaß zu neuen Kämpfen. Die Donatistenbewegung entstand, wie so viele andere Schismen, aus einem örtlichen Streit über die Stellung derjenigen, die unter dem Druck der Verfolgung abgefallen oder in ihrer Treue wankend geworden waren. Aber das Eingreifen des römischen Staates machte aus einer Sache, die vielleicht ein unbedeutendes örtliches Schisma geblieben wäre, eine Bewegung von fast nationaler Bedeutung und stachelte den angeborenen Fanatismus des afrikanischen Geistes auf. Für die Donatisten war die katholische Kirche "die Kirche der Verräter6, die ihr Erstgeburtsrecht verkauft und sich mit den Fürsten dieser Welt zur Ermordung der Heiligen verbündet hatte". Sie selbst erhoben den Anspruch, die echten Vertreter der ruhmreichen Tradition der alten afrikanischen Kirche zu sein, denn auch sie wurden von der Welt verfolgt, auch sie waren eine Märtyrerkirche, der treu gebliebene Rest der Heiligen. (Fs)

340b Die afrikanische Kirche wurde von Christus berufen, um an seinem Leiden teilzunehmen, und die Verfolgung der Donatisten ist der erste Akt in dem endgültigen Kampf der Mächte des Bösen gegen das Reich Gottes. "Sicut enim in Africa factum est", schreibt Tyconius, "ita fieri oportet in toto mundo, revelari Antichristum sicut et nobis ex parte revelatum est." "Ex Africa manifestabitur omnis ecclesia7."

340c Aber die Donatistenbewegung war nicht nur ein geistiger Protest gegen jedes Kompromiß mit der Welt, sie weckte auch alle Kräfte der sozialen Unzufriedenheit und des nationalen Fanatismus. (Fs)
341a Die wilden Bauernscharen der Circumcellionen, die mit ihrem Kampfruf "Deo laudes" das Land durchzogen, waren in erster Linie religiöse Fanatiker, die eine Gelegenheit zum Martyrium suchten. Aber sie waren auch Verteidiger der Armen und Bedrückten; sie zwangen die Gutsbesitzer, ihre Sklaven freizulassen und ihre Schuldner zu enthaften, und wenn sie einen reichen Mann in seinem Wagen begegneten, zwangen sie ihn, seinen Platz seinem Diener zu überlassen, in wörtlicher Erfüllung der Worte des Magnificat: "deposuit potentes de sede et exaltavit humiles". In Wirklichkeit haben wir im Donatismus ein typisches Beispiel der Folgen einer ausschließlichen Betonung der apokalyptischen und weltfeindlichen Aspekte des Christentums, eine Tendenz, die sich später in den Exzessen der Wiedertäufer und einiger puritanischer Sekten wiederholte. (Fs) (notabene)

341b Diese mächtige, selbstsichere und kompromißlose Bewegung übte eine tiefe Wirkung auf das Leben und Denken des heiligen Augustinus aus. Die Lage der Kirche in Afrika war wesentlich verschieden von der in allen anderen Ländern. Die Katholiken waren nicht, wie in so vielen östlichen Provinzen, das herrschende Element in der Gesellschaft oder, wie in anderen Teilen des Abendlandes, die anerkannten Vertreter des neuen Glaubens gegenüber dem Heidentum. Zahlenmäßig waren sie wahrscheinlich den Donatisten gleich, aber geistig waren sie schwächer, da - mit Ausnahme von Optatus von Milevis - die ganze literarische Tradition des afrikanischen Christentums in den Händen der Donatisten lag; ja, in der Zeit vom Ausbruch des Schismas bis zu der des Optatus, einer Spanne von mehr als fünfzig Jahren, hatte es keinen einzigen literarischen Vertreter der katholischen Sache gegeben. (Fs)

341c Daher mußte der heilige Augustinus in den dreißig Jahren seines Kirchenlebens einen ununterbrochenen Kampf führen, nicht nur gegen das Heidentum und die offenen Feinde des Christentums, sondern auch gegen den Fanatismus und den Sektengeist seiner Mitchristen. Die Unterdrückung des Donatistenschismas war das Werk, dem er sein späteres Leben in allererster Linie widmete und naturgemäß beeinflußte es seine Anschauungen über das Wesen der Kirche und ihr Verhältnis zu der weltlichen Macht. Seit der Zeit Konstantins waren die Katholiken mit dem Staat verbündet und bauten hinsichtlich ihres Schutzes und der Niederwerfung der Schismatiker auf die Hilfe des weltlichen Armes. Daher konnte Augustinus nicht mehr an der für den afrikanischen Geist typischen Einstellung feindseliger Unabhängigkeit gegenüber dem Staat festhalten, in der die Donatisten noch immer verharrten. Trotzdem war er ein echter Afrikaner. Ja, man kann sagen, daß er in erster Linie ein Afrikaner und erst in zweiter ein Römer war; denn trotz seiner Loyalität gegenüber dem Römischen Reich hatte er nichts von dem spezifisch römischen Patriotismus an sich, den Ambrosius und Prudentius besaßen. Für ihn war Rom immer "das zweite Babylon"8, das oberste Beispiel menschlichen Stolzes und Ehrgeizes, und er scheint eine bittere Freude daran zu finden, die Verbrechen und Mißgeschicke seiner Geschichte zu berichten9. Dagegen äußert er oft seinen afrikanischen Patriotismus, besonders in seiner Erwiderung auf den Brief des Maximus von Madaura, den ich schon erwähnt habe und in dem er die punische Sprache gegen den Vorwurf der Barbarei verteidigt10. (Fs)

342a Zwar enthält der Geist des heiligen Augustinus nichts Provinzielles, denn er hatte, mehr als jeder andere abendländische Kirchenlehrer, klassische Kultur und insbesondere griechische Denkweise in sich aufgenommen. Aber er blieb trotzdem ein Afrikaner, der letzte und größte Vertreter der Tradition Tertullians und Cyprians, und als er es unternahm, das Christentum gegen die Angriffe der Heiden zu verteidigen, führte er nicht nur ihr Werk, sondern auch ihre Denkweise fort. Wenn wir den "Gottesstaat" mit den Werken der großen griechischen Apologeten, dem "Contra Celsum" des Origenes, dem "Contra Gentes" von Athanasius und dem "Praeparatio Evangelica" von Eusebius vergleichen, fällt uns sofort der Gegensatz seiner Methode auf. Er baut seine Behandlung des Themas nicht auf philosophischen und metaphysischen Argumenten auf, wie es die griechischen Kirchenlehrer getan hatten, sondern auf dem eschatologischen und sozialen Dualismus, der, wie wir gesehen haben, die älteste christliche Lehre kennzeichnete und dem die afrikanische Tradition treu geblieben war. (Fs)

343a Überdies stammt die Form, in der Augustinus diesen Dualismus ausdrückt und die den zentralen und einigenden Gedanken des ganzen Werkes bildet, ebenfalls aus einer afrikanischen Quelle, nämlich von Tyconius, dem originellsten donatistischen Schriftsteller des 4. Jahrhunderts11. Tyconius stellt die afrikanische Tradition in ihrer reinsten und unverfälschtesten Form dar. Er hat nichts mit der klassischen Kultur oder irgendwelchen philosophischen Ideen gemein; seine geistigen Quellen sind rein biblisch und jüdisch. Ja, seine Auslegung der Bibel ist jener der jüdischen Midrasch viel ähnlicher als die übliche Art der patristischen Exegese. Es ist ein Beweis für die Beiderseitigkeit des Geistes des heiligen Augustinus, daß er die dunkle und gewundene originelle Art Tyconius' ebenso schätzen konnte wie die durchsichtig klare, klassische Art Ciceros. Er wurde tief beeinflußt durch Tyconius, nicht nur in seiner Auslegung der Bibel12, sondern auch in seiner Theologie und in seiner Einstellung gegenüber der Geschichte, besonders in seiner zentralen Lehre von den zwei Städten. In seinem Kommentar zur Apokalypse hatte Tyconius geschrieben: "Siehe da, zwei Städte, die Stadt Gottes und die Stadt Satans. Eine davon will der Welt dienen, die andere will dieser Welt entfliehen. Die eine ist betrübt, die andere freut sich; eine entflammt, die andere ist entflammt; eine schlägt, die andere ist geschlagen; die eine, um dadurch gerechtfertigt zu werden, die andere, um das Maß ihrer Missetaten voll zu machen. Und beide streben gemeinsam, die eine, auf daß sie verdammt werde, die andere, auf daß sie gerettet werde13."

344a Dieser Gedanke hatte von Anfang an einen tiefen Eindruck auf das Denken des heiligen Augustinus gemacht. Schon im Jahre 390 in Tagaste beschäftigte er sich damit; im Jahre 400 verwendet er ihn in seiner Abhandlung "De Catechizandis Rudibus" und schließlich macht er ihn im "Gottesstaat" zum Thema seines Hauptwerkes. Aber der Gedanke hatte bei ihm eine tiefere Bedeutung angenommen als bei Tyconius. Für diesen waren die zwei Städte apokalyptische Symbole, die aus der Bilderwelt der Bibel abgeleitet und mit seinen realistischen eschatologischen Ideen verknüpft waren. Für Augustinus hingegen hatten sie eine eigene philosophische Bedeutung angenommen und waren mit einer rationalen soziologischen Theorie verbunden worden. Er lehrte, daß jede Gesellschaft ihr konstituierendes Prinzip in einem gemeinsamen Willen besitzt - einem Willen zum Leben, einem Willen zur Freude und vor allem in einem Willen zum Frieden. Er definiert ein Volk als "eine Vielheit vernunftmäßiger Geschöpfe, die durch die gemeinsame Wertschätzung der Dinge, die sie lieben, zu einer Einheit verbunden werden"14. Um daher zu erkennen, wie ein Volk beschaffen ist, müssen wir die Dinge betrachten, die es liebt. Ist die Gesellschaft in einer Liebe zum Guten verbunden, so wird sie gut sein; sind die Dinge, die sie liebt, schlecht, so wird sie schlecht sein. So ist das Sittengesetz des einzelnen und des sozialen Lebens gleich, denn wir können auf die Stadt wie auf den einzelnen Menschen dasselbe Prinzip anwenden - non faciunt bonos vel malos mores nisi boni vel mali amores. (Fs) (notabene)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat; Au.: Grundprinzip seiner Soziologie u. Geschichtstheologie; Wurzel des Dualismus (amor sui - Dei); 2 Willenstendenzen -> 2 Leben -> 2 Städte



Kurzinhalt: Hier und nur hier liegt die Wurzel des Dualismus: in der Gegenüberstellung des "natürlichen" Menschen, der für sich lebt und nur nach einem äußeren Glück und einem irdischen Frieden strebt, und des geistigen Menschen, der für Gott lebt ...

Textausschnitt: 345a So ist die Soziologie des heiligen Augustinus auf demselben psychologischen Prinzip aufgebaut, das sein ganzes Denken durchdringt - dem Prinzip der ausschlaggebenden Bedeutung des Willens und der Souveränität der Liebe. Die Macht der Liebe hat für die geistige Welt dieselbe Bedeutung wie die Schwerkraft für die Welt der Physik1. Wohin die Liebe einen Menschen zieht, dorthin muß er gehen und so muß er werden: pondus meum amor meus, eo feror quocumque feror. (Fs)

345b Und obwohl der Mensch scheinbar eine unendliche Zahl von Wünschen hat, lassen sie sich in Wirklichkeit auf einen einzigen reduzieren. Alle Menschen sehnen sich nach dem Glück, alle suchen den Frieden, und alle ihre Begierden und Abneigungen, ihre Hoffnungen und Befürchtungen sind auf dieses letzte Ziel gerichtet. Der einzige wesentliche Unterschied liegt in der Natur des ersehnten Friedens und Glückes; denn gerade infolge seiner geistigen Autonomie hat der Mensch die Fähigkeit, sein eigenes Wohl zu wählen: entweder durch die Unterordnung seines Willens unter die göttliche Ordnung seinen Frieden zu finden, oder alle Dinge in Beziehung zu der Befriedigung seiner eigenen Wünsche zu bringen und sich zum Mittelpunkt seines Universums zu machen - ein "verdunkeltes Bild der göttlichen Allmacht". Hier und nur hier liegt die Wurzel des Dualismus: in der Gegenüberstellung des "natürlichen" Menschen, der für sich lebt und nur nach einem äußeren Glück und einem irdischen Frieden strebt, und des geistigen Menschen, der für Gott lebt und nach einer geistigen Seligkeit und einem Frieden strebt, der von ewiger Dauer ist. Die beiden Willenstendenzen schaffen zwei Arten von Menschen und zwei Typen von Gesellschaften. So kommen wir schließlich zu der großen Verallgemeinerung, auf der das Werk des heiligen Augustinus beruht: "Zwei Leben erbauten zwei Städte - die irdische, die von der Selbstliebe zur Gottesverachtung erbaut wurde, und die himmlische, die von der Gottesliebe zur Selbstverachtung erbaut wurde2." (Fs) (notabene)

346a Aus dieser Verallgemeinerung erwächst die gesamte augustinische Geschichtstheorie, da die beiden Städte durch alle Veränderungen der Zeit hindurch von Anbeginn der Menschheit bestanden und sich vermischt haben und auch auf diese Weise bis zum Ende der Welt fortbestehen werden, wo es ihnen bestimmt ist, beim Jüngsten Gericht voneinander geschieden zu werden3. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat; Geschichte - Naherwartung: Kirchenväter (Tertullian): Origenes: Heilsgeschichte - kosmisches Drama; Eusebius (Konstantin als neuer David)

Kurzinhalt: Aber der Gottesstaat des Origenes ähnelt im Gegensatz zu dem des heiligen Augustinus mehr dem Weltstaat der Stoiker als dem Gottesstaat der jüdischen und christlichen Prophetie. Er fand seine Erfüllung in dem christlichen Reich Konstantins ...

Textausschnitt: 334b Gewiß war Tertullian ein Rigorist, aber in dieser Hinsicht zumindest unterscheidet sich seine Haltung nicht wesentlich von der des heiligen Cyprian oder der ältesten Tradition überhaupt. Im 3. Jahrhundert entstand jedoch eine wachsende Strömung zugunsten engerer Beziehungen der Christen zu der äußeren Welt und ihrer Annahme griechischer Denkweise und Kultur. Sie gipfelte in Origenes' Synthese des Christentums und des Hellenismus, die nicht nur einen tiefgehenden Einfluß auf die Theologie ausübte, sondern auch auf die soziale und politische Haltung der Christen. So schreibt Porphyrius, daß "Origenes zwar seiner Lebensweise nach ein Christ, seinem religiösen Denken nach aber ein Hellene war und insgeheim griechische Lehren in fremde Mythen einschmuggelte". (Fs)

334c Das ist selbstverständlich die Übertreibung einer feindseligen Kritik; trotzdem läßt sich nicht leugnen, daß Origenes' Einstellung zu der Geschichte und der Kosmologie vollständig griechisch ist. Er brach nicht nur vollkommen mit der Tradition des Glaubens an ein Tausendjähriges Reich, sondern auch mit dem konkreten Rationalismus der christlichen Eschatologie und ersetzte sie durch die kosmologischen Spekulationen der spätgriechischen Philosophie. Er faßte das Reich Gottes in einem metaphysischen Sinn als das Reich einer geistigen Wirklichkeit auf - als die übersinnliche und intelligible Welt. Die geschichtlichen Tatsachen der christlichen Offenbarung verloren infolgedessen ihren einmaligen Wert und wurden Symbole höherer immaterieller Wirklichkeiten - eine Art christlicher Mythos. An die Stelle der heiligen Geschichte der Menschheit vom Sündenfall bis zur Erlösung tritt, wie in den gnostischen Systemen, ein großes kosmisches Drama, in dem die himmlischen Geister aus ihrer immateriellen Seligkeit in die Knechtschaft der Materie geraten oder die Gestalt von Dämonen annehmen. Das Heil besteht nicht in der Befreiung des Leibes, sondern in der Befreiung der Seele aus den Fesseln der Materie und aus ihrer allmählichen Rückkehr durch die sieben planetarischen Himmel in ihre ursprüngliche Heimat. Infolgedessen gibt es keine wirkliche Einheit der Menschheit mehr, da sie aus einer Anzahl individueller Geister besteht, die sozusagen infolge ihrer Fehler in einem früheren Daseinszustand Menschen geworden sind. (Fs) (notabene)

335a Gewiß sind diese Gedanken nicht der Mittelpunkt von Origenes' Glauben. Sie finden ihr Gegengewicht in der Rechtgläubigkeit seiner Absicht und in seinem Bestreben, der katholischen Tradition treu zu bleiben. Trotzdem führen sie zwangsläufig zu einer neuen Haltung gegenüber der Kirche und zu einer neuen Anschauung über ihr Verhältnis zu der Menschheit. Die traditionelle Auffassung der Kirche als einer objektiven Gesellschaft, einem neuen Israel und einer Vorstufe des Gottesreiches trat in den Hintergrund zugunsten einer intellektuelleren Auffassung der Kirche als der Lehrmeisterin einer esoterischen Theorie oder Gnosis, die die menschliche Seele aus der Zeit in die Ewigkeit führt. Auch hier ist Origenes der Vertreter der griechisch-orientalischen Ideale, die in den Mysterienreligionen ihren vollen Ausdruck fanden. (Fs) (notabene)

335b Die Folge dieser Abweichung in der Betonung war eine Verringerung des Gegensatzes, der früher zwischen der Kirche und der weltlichen Gesellschaft bestanden hatte. Zum Unterschied von den älteren Kirchenvätern war Origenes völlig bereit, die Möglichkeit einer allgemeinen Bekehrung des Römischen Reiches zum Christentum anzuerkennen und in seiner Schrift gegen Celsus malt er ein leuchtendes Bild der Vorteile, die es genießen würde, wenn es unter dem christlichen Glauben zu einem großen "Gottesstaat" vereint wäre. Aber der Gottesstaat des Origenes ähnelt im Gegensatz zu dem des heiligen Augustinus mehr dem Weltstaat der Stoiker als dem Gottesstaat der jüdischen und christlichen Prophetie. Er fand seine Erfüllung in dem christlichen Reich Konstantins und seiner Nachfolger, wie wir es aus den Schriften Eusebius' von Cäsarea erkennen können, dem größten Vertreter der Anschauungen des Origenes in dem darauffolgenden Zeitalter. (Fs)

336a Eusebius geht in seiner Ablehnung des Chiliasmus und der alten, realistischen Eschatologie weiter als alle anderen Kirchenlehrer. Für ihn findet die Weissagung ihre entsprechende Erfüllung in den geschichtlichen Verhältnissen seiner eigenen Zeit. Das messianische Reich des Propheten Isaias ist das christliche Römische Reich, und Konstantin ist der neue David. Das neue Jerusalem aber, das der heilige Johannes wie eine für ihren Bräutigam geschmückte Braut vom Himmel herabschweben sah, ist für Eusebius nichts anderes als die Erbauung der Grabeskirche auf Konstantins Befehl1. (Fs) (notabene)

336b In einer solchen Haltung ist kein Platz für den alten christlichen und jüdischen sozialen Dualismus. Der Kaiser ist nicht nur der Anführer des christlichen Volkes, sein Reich ist das irdische Gegenstück und Spiegelbild der Herrschaft des Göttlichen Wortes. So wie das Ewige Wort im Himmel herrscht, so herrscht Konstantin auf Erden, indem er sie vom Götzendienst und Irrtum reinigt und die Seelen der Menschen bereitmacht, die Wahrheit zu empfangen. Die Reiche dieser Welt sind zum Reich Gottes und seines Christus geworden und diesseits der Ewigkeit bleibt nichts mehr zu tun übrig2. (Fs)

336c Man kann dies alles nicht nur als Schmeichelei eines Hofprälaten abtun. Das Ideal der Monarchie des Eusebius fußt auf einer großen philosophischen und geschichtlichen Tradition. Es geht einerseits auf die hellenistische Lehre von der Königswürde zurück, wie Dio Chrysostomus sie vertritt, andererseits auf die orientalische Tradition einer heiligen Monarchie, die so alt ist wie die Zivilisation selbst. Sie ist zwar nicht spezifisch christlich und ist völlig unvereinbar mit der streng religiösen Haltung von Männern wie Athanasius, die bereit waren, die Einheit des Reiches einem theologischen Prinzip zum Opfer zu bringen. Aber sie blieb trotzdem letzten Endes siegreich, zumindest im Osten; denn sie findet ihre Erfüllung in der unter der Herrschaft eines orthodoxen Kaisers stehenden unauflöslichen Verbindung von Kirche und Staat in Byzanz. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat (XV bis XVIII); Zusammenfassung der Weltgeschichte (Erbsünde; Christentum bringt gute Staatsbürger hervor); Au.: Definition: Staat (auf gemeinsamen Willen beruhend); Newman in den Bahnen Augustins


Kurzinhalt: Daher führt die Betrachtung der Geschichte den heiligen Augustinus dahin, den politischen Idealismus der Philosophen abzulehnen und Ciceros Behauptung anzuzweifeln, daß der Staat vorwiegend auf Gerechtigkeit beruhe.

Textausschnitt: 346b Im späteren Teil des "Gottesstaates" - in den Büchern XV bis XVIII - gibt der heilige Augustinus eine kurze Zusammenfassung der Weltgeschichte von diesem Gesichtspunkt aus. Einerseits verfolgt er die Geschichte der irdischen Stadt - des geheimnisvollen Babylon - im Lauf der Zeiten und findet ihre vollständigste Verkörperung in dem Reich der Assyrer und im Römischen Weltreich, "von denen alle anderen Reiche nur Ergänzungen sind". Andererseits verfolgt er die Entwicklung der himmlischen Stadt von ihren Anfängen bei den Patriarchen über die Geschichte Israels und die heilige Stadt des ersten Jerusalem bis zu ihrer letzten Verkörperung auf Erden in Gestalt der katholischen Kirche. (Fs) (notabene)

346c Die straffe Vereinfachung der Geschichte, die eine solche Skizze erfordert, unterstreicht naturgemäß die kompromißlose Schärfe der Denkweise des heiligen Augustinus. Auf den ersten Anblick scheint er, ebenso wie Tertullian und Commodian, den Staat und jede weltliche Zivilisation abzulehnen, da sie auf dem menschlichen Stolz und dem menschlichen Egoismus aufgebaut sind, und die einzig positiv zu wertende Gesellschaft in der Kirche und dem Reich der Heiligen zu sehen. In gewissem Sinn ergibt sich dieser Schluß aus der Lehre des heiligen Augustinus vom Menschen. Die Menschheit wurde an ihrer Wurzel verdorben. Sie ist Abfall geworden - massa damnata. Die Erlösung besteht darin, daß dem alten Stamm eine neue Menschheit aufgepfropft und auf den Trümmern der alten Welt eine neue erbaut wird. Daher sieht er in dem sozialen Leben der unerlösten Menschheit eine Flut ansteckender und erblicher Übel, gegen die die Macht des einzelnen ohne Hilfe vergeblich ankämpfen wird. "Doch ach", ruft er, "du Strom der menschlichen Gewohnheit! Wer stellte sich dir entgegen? Wie lange wirst du nicht versiegen? Wie lange noch treibst du die Söhne der Eva hinaus auf das große, fürchterliche Meer, das jene, die das Schiff bestiegen haben, kaum überqueren1?"

347a Diese Auffassung von der menschlichen Natur und der sozialen Last des Bösen findet ihre weitere Bekräftigung in dem Schauspiel der Weltgeschichte. Für Augustinus beruht sie wie für den heiligen Cyprian2 auf der Ungerechtigkeit; sie gedeiht durch Blutvergießen und Unterdrückung. Er teilte nicht den patriotischen Optimismus von Männern wie Eusebius oder Prudentius, denn er erkannte vielleicht klarer als alle anderen Schriftsteller des Altertums, um welchen Preis die Segnungen der Einheit des Imperiums erkauft worden waren. "Die herrschende Stadt", schreibt er, "bemüht sich stets, allen Überwundenen ihre Sprache aufzuerlegen, um eine größere Gesellschaft und eine größere Zahl an Dolmetschern auf beiden Seiten zu schaffen. Das mag richtig sein, aber wie viele Menschenleben hat es gekostet. Und angenommen, es ist geschehen, so ist das Schlimmste noch nicht vorüber, denn ... die Ausdehnung des Reiches erzeugte noch schlimmere Kriege ... Deshalb muß derjenige, der all dieses äußerste Leid und Blutvergießen nur mit Mitleid betrachten kann, zugeben, daß es ein Elend ist. Wer sie aber ohne ein Gefühl des Leides oder ein Nachdenken darüber ertragen kann, ist noch weit elender, weil er glaubt, das Glück eines Gottes zu empfinden, während er das natürliche Empfinden eines Menschen eingebüßt hat3."

347b Ebenso werden die gepriesenen Segnungen des römischen Rechtes nur durch eine Unzahl ungerechter Handlungen gegen Einzelmenschen, durch die Folter unschuldiger Zeugen und die Verurteilung Schuldloser erkauft. Der Richter würde es für unrecht halten, die Pflichten seines Amtes zu vernachlässigen, "aber er hält es niemals für unrecht, unschuldige Zeugen zu foltern und sie, wenn er sie zu ihren eigenen Anklägern gemacht hat, als schuldig zum Tode zu verurteilen"4. (Fs)

348a Daher führt die Betrachtung der Geschichte den heiligen Augustinus dahin, den politischen Idealismus der Philosophen abzulehnen und Ciceros Behauptung anzuzweifeln, daß der Staat vorwiegend auf Gerechtigkeit beruhe. Wäre dies der Fall, erklärt er, dann wäre Rom kein Staat, und nachdem man in keinem irdischen Reich wahre Gerechtigkeit findet, wird der einzig wahre Staat der Gottesstaat sein5. Um daher dieser letzten Folgerung zu entgehen, scheidet er alle sittlichen Elemente aus seiner Definition des Staates aus und definiert ihn an der früher erwähnten Stelle als etwas auf einem gemeinsamen Willen Beruhendes, ob nun das Ziel dieses Willens gut oder schlecht sei6. (Fs)

348b Der drastische Realismus dieser Definition hat mehrere moderne Schriftsteller abgestoßen, die sich mit Augustinus befaßten. Ja, ein so hervorragender Gelehrter auf dem Gebiet des politischen Denkens wie A. J. Carlyle gibt nur ungern zu, daß der heilige Augustinus wirklich meinte, was er sagte7 und zitiert die berühmte Stelle aus dem Buch IV, Kapitel 4: "Was sind schließlich Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden ?"8, um zu zeigen, daß die Gerechtigkeit für jeden echten Staat lebensnotwendig ist. Ihre wirkliche Tendenz scheint aber das genaue Gegenteil davon zu sein. Augustinus stellt fest, daß es keinen Unterschied zwischen dem Eroberer und dem Räuber gibt, mit Ausnahme des Umfangs ihrer Handlungen. Denn er fährt fort: "Sind denn Räuberbanden etwas anderes als kleine Staaten ?" Und er billigt die Antwort des Piraten an Alexander: "Ich mit meinem kleinen Schiff werde ein Räuber genannt, aber dich mit der großen Flotte nennen sie den siegreichen Feldherrn."

348c In Wirklichkeit enthalten die Anschauungen des heiligen Augustinus nichts Unlogisches oder moralisch Unwürdiges. Sie ergeben sich folgerichtig aus seiner Lehre über die Erbsünde; ja, sie sind in der gesamten christlichen sozialen Tradition enthalten und werden oft in der späteren christlichen Literatur ausgedrückt. Die berühmte Stelle in dem Brief Papst Gregors VII. an Hermann von Metz, die von vielen modernen Schriftstellern als Beweis seines Glaubens an den teuflischen Ursprung des Staates angesehen wird, ist ganz einfach eine Feststellung desselben Standpunktes, während Newman, der in dieser Beziehung wie in so vielen anderen ein treuer Anhänger der patristischen Tradition ist, dasselbe Prinzip in den schärfsten Worten bekräftigt: "Irdische Reiche", sagt er, "sind nicht auf der Gerechtigkeit, sondern auf der Ungerechtigkeit aufgebaut. Sie entstehen durch das Schwert, durch Piratengeist, Grausamkeit, Meineid, List und Betrug. Mit Ausnahme des Königreiches Christi hat es niemals ein Reich gegeben, das nicht in Sünde empfangen, geboren, genährt und aufgezogen wurde. Es hat auch keinen Staat gegeben, der nicht an Handlungen und Maximen gebunden war, deren Befolgung sein Verbrechen und deren Aufgabe sein Verderben ist. Welche Monarchie begann nicht durch Invasion oder Usurpation? Welche Revolution entstand ohne Eigennutz, Gewalt oder Heuchelei? Welche Volksregierung wird nicht von allen Strömungen hin und her getrieben, als hätte sie kein Gewissen und kein Verantwortungsgefühl? Welche Oligarchie ist nicht egoistisch und skrupellos? Wo gibt es militärische Stärke ohne Freude am Krieg? Wo gibt es Handel ohne eine Vorliebe für schmutzige Geschäfte, welche die Wurzel alles Übels sind9?" (Fs)

349a Aber aus dieser Verurteilung der herrschenden Ungerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft folgt nicht, daß Newman oder Augustinus damit sagen wollten, der Staat gehöre einer Sphäre an, in der es keine Moral gibt, und die Menschen dürften in ihren sozialen Beziehungen einem anderen Gesetz gehorchen als dem, das für ihr Einzelleben gilt. Im Gegenteil, Augustinus betont häufig, daß gerade das Christentum gute Staatsbürger hervorbringt und daß das einzige Heilmittel für die Übel der Gesellschaft dieselbe Kraft ist, die auch die moralische Schwäche der Einzelseele heilt. "Hierin liegt auch der Schutz des Wohles und Ansehens einer staatlichen Gemeinschaft; denn kein Staat ist vollkommen begründet und in seinem Fortbestand gewahrt, wenn nicht durch das Fundament und Band des Glaubens und einer festgefügten Einheit, in der das höchste und wahrste Gut, nämlich Gott, von allen geliebt wird und die Menschen einander aufrichtig in Ihm lieben, weil sie einander um Seinetwillen lieben10."

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat; sittlicher Dualismus, aber Festhalten an einer universalen, vernünftigen Ordnung (lex aeterna, Vorsehung); Au. - Tertullian - Origenes; Hymnus an Zeus von Kleanthes

Kurzinhalt: [Augustinus] ... Ebenso glaubt er, daß die Unordnung und Verwirrung der Geschichte nur scheinbar sind und daß Gott alle Ereignisse in seiner Weisheit zu einer universalen Harmonie ordnet, die dem Verstand der Kreatur nicht faßbar ist.

Textausschnitt: 350a Überdies unterscheidet sich der heilige Augustinus, wenn er auch den von der christlichen Lebensanschauung unzertrennlichen sittlichen Dualismus so stark betont, von den älteren Vertretern der afrikanischen Schule durch seine intensive Erkenntnis einer universalen und vernunftmäßigen Ordnung, welche die gesamte Natur zusammenhält und den Lauf der Sterne ebenso bestimmt wie den Aufgang und Untergang der irdischen Reiche. Dieser Glaube ist eines der grundlegendsten Elemente seines Denkens. Er beherrschte seinen Geist in den ersten Tagen seiner Bekehrung, als er die Abhandlung "De ordine" schrieb, und verließ ihn nicht bis zuletzt. Er findet seinen typischen Ausdruck in der folgenden Stelle aus dem "Gottesstaat": "Der wahre Gott, von dem alles Sein ist, Schönheit, Form und Zahl, Gewicht und Maß, Er, von dem alle Natur, gering und hervorragend, alle Samen der Formen, alle Formen der Samen, alle Bewegungen der Formen und Samen herrühren und Ursprung haben ... Er (sage ich), der nicht nur Himmel und Erde, nicht nur Engel und Menschen, sondern auch den inneren Bau des unscheinbarsten Wesen, ja die Feder eines Vogels, die Blüte einer Pflanze und das Blatt an einem Baum nicht ohne Ineinanderpassung seiner Teile und ohne eine Art von Frieden ließ - von diesem Gott darf niemand glauben, daß er die Rechte der Menschen und Herrschaft und Knechtschaft außerhalb der Gesetze seiner Vorsehung stellen wollte1."

350b Hier kommt Augustinus Origenes näher als Tertullian; ja, dieses grundlegende Konzept des universalen Gesetzes - lex aeterna - leitet sich aus rein griechischen Quellen her. Es ist die charakteristische griechische Idee der kosmischen Ordnung, die sich in der gesamten griechischen Tradition von Heraklit und Pythagoras bis zu den späteren Stoikern und Neuplatoni-kern findet und die Augustinus über Cicero und Plotin kennengelernt hatte2. Dieser griechische Einfluß zeigt sich vor allem in Augustinus' tiefem Sinn für die ästhetische Schönheit der Ordnung und in seiner Lehre, daß selbst das Böse und das Leiden der Welt ihre ästhetische Rechtfertigung in der universalen Harmonie der Schöpfung finden - ein Gedanke, den schon die großartigen Zeilen des Hymnus an Zeus von Kleanthes ausgedrückt hatten:

"Du kannst eben machen, was uneben ist, ordnen, was in Unordnung befindlich ist, und Unschönes ist für dich schön. Denn auf diese Weise vereinest du alle Dinge, das Gute mit dem Bösen, so daß aus ihnen allen eine vernunftgemäße Ordnung entsteht, die auf immer währet."

351a So konnte der heilige Augustinus die Geschichte von einem viel weiteren Gesichtspunkt aus betrachten als Tertullian oder die Donatisten. Er kann zugeben, daß auch die irdische Stadt ihren Platz in der universalen Ordnung hat und daß die sozialen Tugenden der weltlich Gesinnten, die von einem religiösen Standpunkt aus oft nur "prächtige Laster" sind, doch in ihrer eigenen Ordnung einen echten Wert besitzen und im sozialen Leben ihre entsprechenden Früchte tragen. Ebenso glaubt er, daß die Unordnung und Verwirrung der Geschichte nur scheinbar sind und daß Gott alle Ereignisse in seiner Weisheit zu einer universalen Harmonie ordnet, die dem Verstand der Kreatur nicht faßbar ist. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus; Gottesstaat: spirituelle Einheit des ganzen Weltalls und das Endziel der Schöpfung; Gst. - kosmos noetos; Au. - Origenes; Maß d. Zeit in der Seele (Beispiel: Lied); Mensch als Schöpfer d. Geschichte, Newman

Kurzinhalt: Augustinus sagt: "Christus ist der gerade Weg, auf dem der Geist dem kreisförmigen Irrgarten des heidnischen Denkens entflieht1." Aber obwohl der Glaube und die religiöse Erfahrung diese Veränderung erkannt hatten, fehlte ihr noch die philosophische ...

Textausschnitt: 351b Dieser philosophische Universalismus ist nicht auf Augustinus' Auffassung von der Ordnung der Dinge beschränkt; er beeinflußte auch seine Eschatologie und seine Lehre von der Kirche. Vor allem aber bestimmte er seine Behandlung des zentralen Themas seines großen Werkes - des "Gottesstaates" - und entfremdete ihn völlig dem religiösen Liberalismus der alten apokalyptischen Tradition. Für Augustinus ist der Gottesstaat nicht das konkrete Tausendjährige Reich der älteren Apologeten, noch ist er die sichtbare historische Kirche. Er ist eine übernatürliche und zeitlose Wirklichkeit, eine Gesellschaft, "deren Herrscherin die Wahrheit, deren Gesetz die Liebe und deren Dauer die Ewigkeit ist"1. Er ist älter als die Welt, da seine ersten und echtesten Bürger die Engel sind. Er ist so groß wie die Menschheit, da "Christus in allen aufeinanderfolgenden Zeitaltern derselbe Sohn Gottes ist, gleich ewig wie der Vater und die unwandelbare Weisheit, durch die jede vernünftige Seele - rationalis anima - selig wird". Infolgedessen wurde "jeder, der seit Anbeginn der Menschheit an Ihn glaubte und Ihn auf irgendeine Weise kannte und in frommer und gerechter Weise nach Seinen Geboten lebte, zweifellos durch Ihn gerettet, wann immer und wo immer er auch gelebt haben mag"2. (Fs) (notabene)

352a Daher ist der Gottesstaat ebenso umfassend wie die geistige Schöpfung, soweit er nicht durch die Sünde entheiligt wurde. Er ist im Grunde nichts Geringeres als die von der göttlichen Vorsehung geplante spirituelle Einheit des ganzen Weltalls und das Endziel der Schöpfung. (Fs) (notabene)
352b Diese Gedanken sind vollständig unvereinbar mit dem alten chiliastischen Glauben, der im Abendland noch sehr stark war und zu dem auch Augustinus sich früher bekannt hatte. Sie führten ihn dazu, daß er Tyconius' Deutung der entscheidenden Stelle in der Apokalypse zustimmte, wonach die irdische Herrschaft Christi nichts anderes ist als das Leben der Streitenden Kirche - eine Erklärung, die von da an im Abendland allgemeine Gültigkeit erlangte. Ja, er ging sogar noch weiter als Tyconius und die große Mehrheit der älteren Schriftsteller, indem er alle Versuche aufgab, den Zeitpunkt des Eintreffens der Weissagung in bezug auf die Zukunft chronologisch genau zu bestimmen und die herrschende Annahme von dem unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt ablehnte3. (Fs)

352c So beeinflußte Augustinus die christliche Eschatologie des Abendlandes ebenso entscheidend wie Origenes sie fast zweihundert Jahre früher im Osten beeinflußt hatte. Bis zu einem gewissen Grad verlief ihr Einfluß nach der gleichen Richtung. Für Augustinus wie für Origenes nahm das Ideal des Gottesreiches eine metaphysische Form an und wurde mit der letzten, zeitlosen Wirklichkeit des geistigen Seins identisch. Der augustinische Gottesstaat hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem neuplatonischen Begriff der geistigen Welt kósmos noEtós: ja, die christlichen Platoniker späterer Zeiten, die in gleichem Maße Jünger Augustinus' und Plotins waren, verquickten bewußt beide Ideen miteinander. So schreibt John Norris of Bemerton von seiner "Idealen Welt": "Du bist jenes glorreiche Jerusalem, dessen Fundamente auf den heiligen Hügeln stehen, den ewigen Bergen, ja den ewigen Wesenheiten und unwandelbaren Ideen der Dinge... Hier sind ta onta, die Dinge, die sind und die wahrhaftig und vor allem sind - quae vere summeque sunt -, wie der heilige Austin sagt, und zwar, weil sie notwendig und unveränderlich sind und weder nicht sein noch anders sein können. Hier leben, blühen und leuchten jene strahlenden und unvergänglichen Wirklichkeiten, von denen die Dinge dieser Welt nur das Abbild, das Spiegelbild, der Schatten und das Echo sind4."

353a Dieser platonische Idealismus machte tiefen Eindruck auf den Geist des heiligen Augustinus. Trotzdem ging er in dieser Richtung nie so weit wie Origenes. Denn sein Platonismus ließ sein Gefühl für die Wirklichkeit und die Bedeutung des gegeschichtlichen Prozesses unberührt. Für Origenes hingegen hatte der zeitliche Prozeß keinen Abschluß. Es gab eine unendliche Aufeinanderfolge von Welten, in denen die unsterbliche Seele ihren nie endenden Lauf verfolgte. Da "die Seele unsterblich und ewig ist, kann sie in den zahlreichen und endlos langen Zeiten der unmeßbaren und verschiedenen Welten vom höchsten Guten zum tiefsten Bösen herabsinken oder vom tiefsten Bösen wieder zum höchsten Guten emporgehoben werden"5. Das entspricht nicht ganz der klassischen griechischen Lehre, da Origenes, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe6, die Lehre von der Wiederkehr aller Dinge ausdrücklich als unvereinbar mit dem Glauben an einen freien Willen ablehnt. Es erinnert viel mehr an die hinduistische Lehre des Samsara - der unendlichen Kette von Existenzen, die das Ergebnis der eigenen Handlungen der Seele sind. Aber obwohl diese Lehre die Freiheit des Willens zuläßt, wirkt sie noch zerstörender auf die organische Einheit der Menschheit und die Bedeutung ihrer sozialen Bestimmung als die rein griechische. Daher lehnte der heilige Augustinus sie ebenso entschieden ab wie die Lehre von der zyklischen Wiederkehr. Er gibt zu, daß die Idee einer ständigen Wiederkehr eine natürliche Folge des Glaubens an die Ewigkeit der Welt ist; aber wenn wir an eine Schöpfung glauben, wie auch Origenes es tut, besteht weiter keine Notwendigkeit für die Lehre des "Kreislaufs der Seelen" oder für den Glauben, daß innerhalb der Zeit nichts Neues oder Endgültiges geschehen kann. Die Menschheit hat einen absoluten Anfang gehabt und geht einem absoluten Endziel zu. Es kann keine Wiederkehr geben. Was in der Zeit begonnen wurde, wird in der Ewigkeit vollendet werden7. Daher ist die Zeit kein ständig rotierendes Bild der Ewigkeit; sie ist ein Prozeß, der sich in einer bestimmten und unabänderlichen Richtung bewegt. (Fs)

354a Diese Erkenntnis der Einmaligkeit und Unabänderlichkeit des irdischen Prozesses - diese "Explosion der ständigen Zyklen" - ist eine der größten Leistungen des augustinischen Geistes. Diese veränderte Einstellung liegt zwar im Christentum selbst; denn die ganze christliche Offenbarung beruht auf irdischen Ereignissen, die trotzdem absolute Bedeutung und ewigen Wert besitzen. Wie der heilige Augustinus sagt: "Christus ist der gerade Weg, auf dem der Geist dem kreisförmigen Irrgarten des heidnischen Denkens entflieht8." Aber obwohl der Glaube und die religiöse Erfahrung diese Veränderung erkannt hatten, fehlte ihr noch die philosophische Analyse und Definition. Diese erhielt sie durch den heiligen Augustinus, der nicht nur der Begründer der christlichen Geschichtsphilosophie war, sondern tatsächlich der erste, der den Wert der Zeit erkannte9. (Fs) (notabene)

355a Seinen scharfen und tiefschürfenden Geist lockte es besonders, das Mysterium der Zeit zu betrachten, das so wesentlich mit dem Mysterium des geschaffenen Wesens verknüpft ist. Er empfand die Tragik der Veränderlichkeit ungemein stark - omnis quippe iste ordo pulcherrima rerum valde bonarum modis suis peractis transiturus est; et mane quippe in eis factum est et vespera10 -, aber er fühlte, daß eben diese Möglichkeit der betrachtenden Handlung zeigte, daß der Geist gewissermaßen über den Prozeß, den er betrachtete, hinauswuchs. Infolgedessen konnte er sich nicht mit der naiven Objektivität der griechischen Wissenschaft zufriedengeben, die die Zeit mit der Bewegung der Himmelskörper identifizierte11. Wenn die Bewegung von Körpern das einzige Maß der Zeit ist, wie können wir dann von Vergangenheit und Zukunft sprechen? Eine Bewegung, die eben vorübergegangen ist, hat aufgehört zu sein. Es bleibt nur die Gegenwart des flüchtigen Augenblicks, ein sich bewegender Punkt im Nichts. Daher, schließt er, findet man das Maß der Zeit nicht in den Dingen, sondern in der Seele; die Zeit ist die geistige Ausdehnung - distentio animae. (Fs) (notabene)

355b So ist die Vergangenheit die Erinnerung der Seele, die Zukunft ihre Erwartung und die Gegenwart ihre Aufmerksamkeit. Die Zukunft, die nicht ist, kann nicht lang sein; was wir unter einer langen Zukunft verstehen, ist eine lange Erwartung der Zukunft, und eine lange Vergangenheit ist eine lange Erinnerung an die Vergangenheit. "In dir, o Geist, messe ich die Zeiten... Den Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen und der, wenn sie vorübergegangen sind, bleibt: den messe ich als gegenwärtigen, und nicht die Dinge, die vorübergingen und ihn entstehen ließen. Ihn messe ich, wenn ich die Zeiten messe. Also sind die Zeiten entweder dieser Eindruck, oder ich messe die Zeiten nicht12."
356a Schließlich vergleicht er den Prozeß der Zeit mit dem Vortrag eines Liedes, das jemand auswendig weiß. Ehe der Vortrag beginnt, besteht er nur in der Erwartung; ist er vorbei, besteht er nur in der Erinnerung; aber während seines Verlaufes besteht er, wie die Zeit, in drei Dimensionen: "Das Leben dieser Tätigkeit spaltet sich in die Erinnerung an das, was ich vorgetragen, und in die Erwartung dessen, was ich vortragen werde; gegenwärtig ist nur meine Aufmerksamkeit, mit deren Hilfe, was zukünftig war, übertragen wird, auf daß es vergangen wird. In dem Maße, wie sich diese Tätigkeit abspielt, wird die Erwartung verkürzt, die Erinnerung verlängert, bis endlich die ganze Erwartung aufgezehrt ist, sobald die ganze Tätigkeit abgeschlossen in die Erinnerung übergegangen ist." Und was für dieses Lied gilt, das gilt ebenso für jede seiner Zeilen und Silben und für die längere Handlung, deren Teil es ist; es gilt für das ganze Leben der Menschen, das aus einer Reihe solcher Handlungen besteht und für die ganze Welt des Menschen, die die Summe der einzelnen Leben ist13. (Fs) (notabene)

356b Diese neue Theorie über die Zeit, die Augustinus begründete, ermöglichte auch eine neue Auffassung der Geschichte. Wenn der Mensch nicht der Sklave und das Geschöpf der Zeit ist, sondern ihr Herr und Schöpfer, dann wird auch die Geschichte ein schöpferischer Vorgang. Sie wiederholt sich nicht sinnlos, sie wird mit der zunehmenden Erfahrung des Menschen zu einer organischen Einheit. Die Vergangenheit stirbt nicht, sie wird in die Menschheit aufgenommen. Infolgedessen ist ein Fortschritt möglich, da das Leben der Gesellschaft und der Menschheit ebensosehr Kontinuität und Fähigkeit zu geistigem Wachstum besitzt wie das Leben des einzelnen. (Fs) (notabene)

356c Man kann die Frage stellen, wie weit der heilige Augustinus dies alles erfaßte. Viele moderne Schriftsteller leugnen, daß er die Möglichkeit des Fortschrittes erkannte oder daß er einen echten Sinn für die Geschichte besaß. Sie erklären, wie ich schon erwähnt habe, daß der "Gottesstaat" die Menschheit in zwei statische, ewige Ordnungen geteilt sieht, deren Schicksal von Anfang an vorherbestimmt ist. Aber diese Kritik beruht, glaube ich, auf einer falschen Auffassung der Einstellung des heiligen Augustinus zu der Geschichte. Augustinus hat sich zwar nicht mit dem Problem eines weltlichen Fortschrittes befaßt, aber seiner Meinung nach war die weltliche Geschichte vorwiegend nicht-fortschrittlich. Sie war das Schauspiel einer Menschheit, die ihrem eigenen Schwanz nachjagt. Die eigentliche Geschichte der Menschheit findet sich in dem Vorgang der Erleuchtung und Errettung, durch den die menschliche Natur erlöst wird und ihre geistige Freiheit wiedererhält. Er faßte diesen Vorgang auch nicht in einer abstrakten oder unhistorischen Weise auf. Denn er betont ständig die organische Einheit der Geschichte der Menschheit, die gleich dem Leben eines Einzelmenschen eine regelrechte Folge von Zeiten durchmacht14, und zeigt, wie die "Epochen der Welt auf wunderbare Weise durch die allmähliche Entwicklung des göttlichen Planes miteinander verknüpft sind15. "Denn Gott, der ebenso der unwandelbare Lenker wie der unwandelbare Schöpfer der wandelbaren Dinge ist, ordnet alle Ereignisse in Seiner Weisheit, bis die Schönheit des vollendeten Laufes der Zeit, dessen Teile die jedem Zeitalter angepaßten Ordnungen sind, wie die erhabene Melodie eines unendlich weisen Meisters des Gesanges vollendet sein wird16." (Fs) (notabene)

357a Es ist richtig, daß der heilige Augustinus, wie wir schon gesehen haben, im "Gottesstaat" immer den ewigen und übernatürlichen Charakter der himmlischen Stadt im Gegensatz zu der Veränderlichkeit und dem Bösen des irdischen Lebens betont. Man kann den "Gottesstaat" nicht mit der Kirche identifizieren, wie manche Schriftsteller es getan haben, da in der himmlischen Stadt kein Platz für das Böse oder Unvollkommene ist und es keine Vermischung der Sünder mit den Heiligen gibt. Andererseits ist es ein noch größerer Fehler, die beiden Begriffe vollkommen zu trennen und zu schließen, der heilige Augustinus habe der hierarchischen Kirche keinen absoluten und übernatürlichen Wert zuerkannt. Gewiß ist die Kirche nicht der ewige Gottesstaat, aber sie ist sein Organ und seine Vertreterin auf Erden. Sie ist der Punkt, an dem die übernatürliche geistige Ordnung sich in die Welt der Sinne einschaltet, die einzige Brücke, über die das Geschöpf von der Zeit zur Ewigkeit gelangen kann. Der Standpunkt des heiligen Augustinus ist in Wirklichkeit genau der gleiche, den Newman so oft äußert, wenn auch ihre Terminologie einigermaßen verschieden ist. Wie Augustinus betont auch Newman den geistigen und ewigen Charakter des Gottesstaates und betrachtet die sichtbare Kirche als seine irdische Verkörperung, "die unsichtbare Welt, durch die Gottes heimliche Macht und Sein Erbarmen in diese Welt eingreifen; und die Kirche, die man sieht, ist eben jener Teil von ihr, durch den sie eingreift. Sie gleicht den Inseln im Meer, die in Wirklichkeit nur die Gipfel der ewigen Hügel sind - hoch, groß, weit in die Tiefe ragend und von einer Wasserflut bedeckt17." (Fs) (notabene)

358a Weder beim heiligen Augustinus noch bei Newman führt diese Betonung des übernatürlichen und geistigen Charakters des Gottesstaates zu irgendeiner Herabwürdigung der hierarchischen Kirche. Newman nennt die Kirche eine staatliche Macht, "kein bloßes Glaubensbekenntnis oder eine Philosophie, sondern ein Gegenreich. Sie besetzte Land, sie erhob den Anspruch, über jene zu herrschen, über die bis dahin Regierungen dieser Welt unumstritten geherrscht hatten, und nur in dem Maß, als die Dinge diesem Reich einverleibt und dienstbar gemacht werden, als Könige und Fürsten, Edelleute und Staatenlenker, Kaufleute und Schriftsteller, der Handwerker, der Handelsmann und der Arbeiter sich vor der Kirche Christi demütigen und sich in den Worten des Propheten Isaias 'vor ihr mit dem Gesicht zur Erde niederwerfen und den Staub zu ihren Füßen küssen', wird die Welt lebendig und geistig, ein angemessener Gegenstand der Liebe und eine Ruhestätte für die Christen18."

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat: Kirche = 1000jähriges Reich der Apokalypse (Kritik v. Harnack) ; Newman; dynamische Kraft d. Gesellschaft: Wille; Korruption d. Willens -> soziales Übel; Gnade -> Widerherstellung des Willens -> soziales Gut; Kirche - Staat

Kurzinhalt: Der heilige Augustinus trennt das sittliche Leben niemals von dem sozialen. Die dynamische Kraft des einzelnen ebenso wie die der Gesellschaft liegt im Willen, und der Gegenstand ihres Willens bestimmt den sittlichen Charakter ihres Lebens.


Textausschnitt: 359a Der verstorbene Dr. Figgis hat in seinen ausgezeichneten Vorträgen über die politischen Aspekte des Gottesstaates des heiligen Augustinus auf diese Predigt Newmans hingewiesen, da sie zeige, wie weitgehend die spätere abendländische Tradition die vom heiligen Augustinus begründete politische Denkweise über die Kirche beibehalten hat. Aber auch hier stellt Newmans Lehre im Grunde nicht die Anschauungen seiner eigenen Zeit und auch nicht die des Mittelalters dar, sondern eine bewußte Erneuerung der patristischen augustinischen Lehre. Wir haben gesehen, wie das Frühchristentum und besonders die frühe abendländische Tradition einen intensiven sozialen Realismus in ihrer Eschatologie und ihrer Auffassung der Kirche und des Gottesreiches an den Tag legten. Der heilige Augustinus löste sich endgültig von der chiliastischen Tradition los und wendete sich einer völlig geistigen Eschatologie zu. Aber in seiner Einstellung gegenüber der Kirche hielt er an dem traditionellen sozialen Realismus fest. Ja, er verstärkte ihn noch dadurch, daß er die Kirche mit dem Tausendjährigen Reich der Apokalypse identifizierte: Ecclesia et nunc est regnum Christi regnumque caelorum1. Daher ist es die Kirche, in der die Weissagungen über das Himmelreich ihre Erfüllung finden und selbst jene, die sich scheinbar auf das Jüngste Gericht beziehen, lassen sich im Grunde auf "jene Ankunft des Erlösers anwenden, die sich in der gesamten gegenwärtigen Zeit in Seiner Kirche, das heißt, in Seinen Gliedern, da ja alles Sein Leib ist, allmählich vollzieht2."

"O beata ecclesia", schreibt er, "quodam tempore audisti, quodam tempore vidisti... Omnia enim quae modo complentur antea prophetata sunt. Erige oculos ergo, et diffunde per mundum: vide jam hereditatem usque ad terminos orbis terrae. Vide jam impleri quod dictum est: Adorabunt eum omnes reges terrae, omnes gentes servient illi3."

360a Das Senfkorn ist gewachsen, bis es größer wurde als alle Gewächse, und die Großen dieser Erde haben in seinen Zweigen gewohnt. Das Joch Christi ruht auf dem Nacken der Könige und wir haben gesehen, daß das Oberhaupt des größten Reiches, das die Welt gekannt hat, seine Krone ablegte und vor dem Grab des Fischers kniete4. (Fs)

360b Daher begründet Augustinus seine Forderung, die weltliche Macht gegen die Donatisten einzusetzen, nicht auf dem Recht des Staates, in religiöse Fragen einzugreifen, sondern auf dem Recht der Kirche, sich der Mächte dieser Welt zu bedienen, die Gott Seiner Weissagung zufolge Christus unterstellt hat. "Alle Könige der Erde werden Ihn anbeten und alle Völker werden Ihm dienen" - "et ideo hac Ecclesiae potestate utimur, quam ei Dominus et promisit et dedit5."

360c Für manche, besonders für Reuter und Harnack, schien diese Lobpreisung der sichtbaren Kirche völlig unvereinbar mit der augustinischen Gnadenlehre. Es ist auch schwierig, die Theologie des heiligen Augustinus zu verstehen, wenn wir sie vom Standpunkt der Prinzipien der Reformation aus betrachten. Aber wenn wir die modernen Entwicklungen beiseite lassen und seine Lehre von der Gnade und der Kirche von einem rein augustinischen Standpunkt aus betrachten, ist ihre Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit offenkundig. (Fs)

360d Der heilige Augustinus trennt das sittliche Leben niemals von dem sozialen. Die dynamische Kraft des einzelnen ebenso wie die der Gesellschaft liegt im Willen, und der Gegenstand ihres Willens bestimmt den sittlichen Charakter ihres Lebens. So wie die Korruption des Willens durch die Erbsünde bei Adam in der Vererbung durch das Fleisch zu einem sozialen Übel wird, das die gefesselte Menschheit in der gemeinsamen Sklaverei der Sinnlichkeit eint, so ist auch die Wiederherstellung des Willens durch die Gnade in Christus ein soziales Gut, das durch das Eingreifen des Heiligen Geistes in sakramentaler Form gespendet wird und die erneuerte Menschheit in einer freien geistigen Gemeinschaft unter dem Gesetz der Liebe eint. Die Gnade Christi findet sich nur in der "Gesellschaft Christi". "Woher", schreibt er, "würde der Gottesstaat seinen Ausgang nehmen, seinen Fortgang erfahren und seinen verdienten Abgang erleben, wenn das Leben der Heiligen kein gemeinschaftliches wäre6?" So ist die Kirche tatsächlich die im Kommen begriffene neue Menschheit, und ihre irdische Geschichte ist die der Erbauung des Gottesstaates, der seine Vollendung in der Ewigkeit findet. "Adhuc aedificatur templum Dei7." Infolgedessen ist die irdische Kirche trotz aller ihrer Unvollkommenheiten doch die vollkommenste Gesellschaft, die es auf Erden geben kann. Ja, sie ist die einzige echte Gesellschaft, weil sie die einzige ist, die einem spirituellen Willen entspringt. Die irdischen Reiche streben nach den irdischen Gütern. Die Kirche, und nur sie allein, strebt nach geistigen Gütern und nach einem Frieden, der ewig ist. (Fs)

Kommentar (28.07.10): Zum Ende des Absatzes oben: Was ist, wenn Priester und Pfarren ganz offensichtlich nicht mehr nach geistigen Gütern streben?

361a Es mag scheinen, als gäbe es in einer solchen Lehre nur wenig Platz für die Forderungen des Staates. Ja, man kann nicht leugnen, daß der Staat im Denken des heiligen Augustinus eine sehr untergeordnete Stellung einnimmt. In seiner schlimmsten Form ist er eine feindliche Macht, die Verkörperung der Ungerechtigkeit und der Selbstsucht. In seiner besten ist er eine völlig rechtmäßige und notwendige Gesellschaft, aber eine, die auf zeitliche und Teilziele beschränkt ist und die sich daher der größeren und universaleren Gesellschaft unterordnen muß, in der auch seine eigenen Mitglieder ihre wahre Staatsbürgerschaft finden. Im Grunde steht der Staat so ziemlich in demselben Verhältnis zur Kirche, in der eine Wohltätigkeitsgesellschaft oder eine Innung zum Staat steht. Er übt eine nützliche Tätigkeit aus und hat ein Anrecht auf die Treue seiner Mitglieder, aber er kann nie den Anspruch erheben, der größeren Gesellschaft gleichgestellt zu werden oder als ihr Vertreter zu fungieren8. (Fs)

362a Auf Grund dieser Anschauungen wurde der heilige Augustinus häufig als Schöpfer des mittelalterlichen theokratischen Ideals und sogar (von Reuter) als "Begründer des Katholizismus" angesehen9. In Wirklichkeit verdanken wir ihm mehr als jedem anderen das charakteristische abendländische Ideal der Kirche als einer dynamischen sozialen Macht im Gegensatz zu der statischen und metaphysischen Auffassung, die das byzantinische Christentum von ihr hatte. Aber daraus folgt nicht notwendig, daß der Einfluß des heiligen Augustinus dazu neigte, die sittliche Autorität des Staates zu schwächen und dem sozialen Alltagsleben seine geistige Bedeutung zu rauben. Wenn wir die Dinge nicht von dem engen Gesichtspunkt der rechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat betrachten, sondern wie der heilige Augustinus selbst es getan hat, vom Standpunkt der relativen Bedeutung des geistigen und des materiellen Elementes im Leben, so werden wir erkennen, daß seine Lehre eigentlich für die sittliche Freiheit und Verantwortung eintritt. Im Römischen Reich ebenso wie in den heiligen Monarchien des östlichen Typus wird der Staat zu einer übermenschlichen Macht erhoben, der gegenüber der einzelne keine Rechte und der Wille des einzelnen keine Macht hat. Im Osten erwies sich sogar das Christentum als machtlos, diese Tradition umzustoßen, und im Byzantinischen Reich wie in Rußland erhielt das alte orientalische Ideal eines allmächtigen heiligen Staates und eines passiven Volkes neuerlich die Sanktion der Kirche. Im Westen aber brach der heilige Augustinus entscheidend mit dieser Tradition, indem er dem Staat den Nimbus seiner Göttlichkeit nahm und das Prinzip der sozialen Ordnung im Willen des Menschen suchte. Dadurch ermöglichte die augustinische Lehre trotz all ihrer Jenseitigkeit zum erstenmal das Ideal einer auf der freien Persönlichkeit und einem gemeinsamen Streben nach sozialen Zielen beruhenden sozialen Ordnung. Mehr als uns bewußt ist verdanken daher die abendländischen Ideale der Freiheit, des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit dem tiefschürfenden Geist des afrikanischen Denkers, dem der weltliche Fortschritt und das wechselnde Schicksal des irdischen Staates gleichgültig waren, weil er "eine Stadt suchte, deren Fundamente von Gott erbaut und geschaffen sind". (Fs) (notabene)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Von d. protestantischen zur materialistischen Geschichtsdeutung; Neudeutung d. Dualismus v. Kirche u. Welt (Babylon = Rom); Stammbau des Marxismus; Marx - jüdische Wurzeln

Kurzinhalt: Sie ist einerseits ein Kind der Revolution, andererseits ein Kind des deutschen Idealismus, der selbst wieder der Sproß einer unerlaubten Verbindung zwischen der Philosophie der Aufklärung und dem und dem protestantischen Pietismus war.

Textausschnitt: 3 KARL MARX UND DIE DIALEKTIK DER GESCHICHTE

363a Zwischen dem Geist des Katholizismus und dem Geist der Geschichte besteht eine natürliche Affinität und Übereinstimmung, und nicht durch Zufall ist die moderne Geschichtstradition in der katholischen Kirche entstanden und entwickelt worden. Die Begründer der modernen Geschichtswissenschaft waren nicht die geistvollen Historiker der Renaissance, sondern Priester oder Mönche wie Tillemont, Muratori und Mabillon, deren Geschichtsstudium von der gleichen gewissenhaften und selbstlosen Frömmigkeit beseelt war wie ihre Religion. (Fs)

363b Die neue rationalistische und liberale Schule der Geschichte, die im 18. Jahrhundert entstand, hat eine große und nicht anerkannte Dankesschuld gegenüber dieser Tradition. Diese Schuld beschränkt sich nicht darauf, daß Gibbon der Schüler Tillemonts ist und daß Voltaire seine Abhandlung über die Universalgeschichte als Fortsetzung von Bossuets "Discours sur l'hi-stoire generale" schrieb. Der Einfluß geht viel tiefer. Er äußert sich in den neuen Lehren vom sozialen Fortschritt und der Erziehung der Menschlichkeit, die nichts anderes sind als eine Säkularisierung der katholischen Geschichtsdeutung und eine Verlagerung ihrer wesentlichen Motive in einen anderen Rahmen. "Was sind unsere Historien der Kultur, der Zivilisation, des Fortschrittes, der Menschheit, der Wahrheit anderes als die mit unserer Zeit in Einklang stehende Form der Kirchengeschichte, nämlich des Sieges und der Verbreitung des Glaubens, des Kampfes gegen die Mächte der Finsternis, der aufeinanderfolgenden Auffassungen des neuen Evangeliums, die in jeder Epoche andere sind", schreibt Croce, der selbst der letzte liberale Geschichtsphilosoph ist1. (Fs) (notabene)

364a In Wirklichkeit hat die liberale Geschichtsdeutung nicht nur den Universalismus und den Glauben an einen geistigen Zweck, der überall im Leben der Menschheit vorhanden ist, von der katholischen Tradition übernommen, sondern auch ihren Dualismus. Auch die liberale Geschichtsdeutung wird von dem Bild der zwei Städte beherrscht. Aber jetzt ist die Kirche die Verkörperung jener "reaktionären Kräfte", die das liberale Gegenstück zu den Mächten der Finsternis sind, und die Kinder der Welt sind die Kinder des Lichtes geworden. (Fs) (notabene)

364b Diese Umdeutung war jedoch nichts ganz Neues. Hinter ihr steht eine ähnliche gefühlsmäßige Haltung wie jene, die schon in der protestantischen Tradition zutage getreten war. Diese Tradition hatte in geschichtlicher Hinsicht nicht viel geleistet. Sie hatte keine Historiker hervorgebracht, die sich mit den großen Gelehrten der Gegenreformation und des Zeitalters Ludwigs XIV. vergleichen lassen. Aber sie führte etwas Neues in die christliche Geschichtsdeutung ein, das sofortige Folgen hatte. Das war ihre Identifizierung des päpstlichen Rom mit dem Babylon der Apokalypse, die praktisch ein Glaubensartikel - noch dazu ein sehr zentraler - aller reformierten Kirchen wurde. Es ist für uns heute schwer, uns das Bestehen dieser Überzeugung vorzustellen, die das protestantische Europa dreihundert Jahre lang beherrschte und die noch heute als unbewußte Strömung im protestantischen Denken fortlebt. Aber es ist leicht zu erkennen, daß sie das Wesen des christlichen Dualismus völlig veränderte, indem sie ihn aus dem Gegensatz zwischen Kirche und Welt in einen Konflikt zwischen den beiden Formen des Christentums verwandelte. Als dieser Schritt einmal getan war, als man die tausend Jahre lang rechtmäßig gewesene Kirche in das Reich des Antichrist verwiesen und die Albigenser und Waldenser mit den verfolgten Heiligen der Schrift identifiziert hatte, war es ein leichtes für die Aufklärung, einen Schritt weiterzugehen, die protestantischen Kirchen aus den Mauern zu vertreiben, was mit der katholischen Kirche schon geschehen war, und die Apostel des Freidenkertums zu Heiligen des Rationalismus zu machen. (Fs) (notabene)

365a Dieses Vorgehen war zumindest logischer als die protestantische Synthese von Apokalyptik und persönlichem Gericht. Aber es enthielt noch einen großen Überrest von Mystizismus, der zu dem herrschenden rationalistischen Element der liberalen Tradition nicht paßte. Die Religion des Fortschritts braucht eine theologische Basis, auch wenn es nur die farblose natürliche Theologie des Deisten und Freimaurers ist. Zunächst gewinnt das eine Element der Synthese die Oberhand und die idealistische Geschichtsphilosophie entsteht, die bei Schelling und Krause dazu neigt, echte religiöse Mystik zu werden. Dann tritt die rationalistische Grundlage wieder hervor und es kommt zu einer Reaktion gegen den Idealismus und einem Versuch, die Fortschrittslehre mit einem durchgreifenden Materialismus zu verbinden. Aber selbst in dieser materialistischen Form ist das apokalyptische Element noch deutlich spürbar, ja es ist oft dort am stärksten, wo die materialistische Basis am schärfsten hervortritt. (Fs)

365b Das klassische Beispiel dafür sind der marxistische Sozialismus und die materialistische Geschichtsdeutung, die dessen grundlegende Lehre bildet. Der Stammbaum dieser Lehre steht eindeutig fest. Sie ist einerseits ein Kind der Revolution, andererseits ein Kind des deutschen Idealismus, der selbst wieder der Sproß einer unerlaubten Verbindung zwischen der Philosophie der Aufklärung und dem protestantischen Pietismus war2. So hat sie beiderseits katholische Vorfahren, denn die Philosophie der Aufklärung leitet ihren Universalismus der Geschichte von der katholischen Tradition her, während die Tradition des Pietismus über die geistlichen Reformatoren und die Franziskanerspiritualen zu den Grundformen des christlichen Chiliasmus und der Apokalyptik zurückführt. Überdies bestehen offenkundige Verbindungen zwischen dem anderen Elternteil des Marxismus, der revolutionären Tradition und den sektenmäßigen und antikatholischen Formen der apokalyptischen Tradition. Alle diese Elemente sind in der marxistischen Philosophie enthalten und die eigentliche Kraft, die sie verbindet, ist weniger die innere Logik ihres Denkens als die prophetische Inbrunst und die flammende Überzeugung. Denn Karl Marx stammte aus dem Geschlechte der Propheten, trotz seiner Verachtung für alles, was nach Mystik oder religiösem Idealismus aussah. Er war einer jener aus Israel Verbannten wie Spinoza, deren Isolierung von der religiösen Gemeinschaft ihrer Väter ihr stolzes Bewußtsein einer prophetischen Mission noch steigerte. (Fs)

366a So erhielt die apokalyptische Tradition, die in ihrer säkularisierten Form dazu neigte, in einen vagen Idealismus auszuarten, aus diesem erneuten Kontakt mit dem jüdischen Geist ihre Kraft und konkrete Wirklichkeit zurück. Die messianische Hoffnung, der Glaube an die bevorstehende Vernichtung der Macht der Ungläubigen und an die Befreiung Israels waren für die Juden nicht nur ein Widerhall der biblischen Tradition; sie waren ihnen durch die jahrhundertelange Unterdrückung eines sozialen Impulses in den schmutzigen Ghettos Deutschlands und Polens in Fleisch und Blut übergegangen. Ebenso war der soziale Dualismus zwischen den Auserwählten und den Verdammten, zwischen dem Volk Jahwes und der universalen Macht der Ungläubigen, Gegenstand der eigenen, bitteren Erfahrung geworden, den die hundert kleinen Schikanen des Ghettolebens selbst den Unempfindlichsten zum Bewußtsein gebracht hatten. (Fs)

366b Jetzt hatten die Revolution und der Aufstieg des Liberalismus diesen Zustand beendet. Die Juden waren aus dem Ghetto in die Welt hinausgetreten und hatten in der neuen bürgerlichen Zivilisation das Bürgerrecht erhalten. In diesem Augenblick der jüdischen Geschichte tritt Karl Marx auf den Plan. Er hatte seine Zugehörigkeit zu der jüdischen Gemeinschaft verloren, denn er war der Sohn einer christlichen Konvertitin, aber er konnte sein jüdisches Erbe und seinen jüdischen Geist nicht verleugnen und der gehorsame Diener der Zivilisation der Ungläubigen werden, der sein Vater gewesen war. Sein ganzer Geist empörte sich gegen die Normen und Ideale der kleinlichen bürgerlichen Gesellschaft, in der er aufgewachsen war; aber dabei hatte er von der verbotenen Frucht des neuen Wissens gekostet und konnte ebensowenig zum Talmud wie in das Ghetto zurückkehren. Der einzige Weg der Flucht, der ihm offen blieb, war die revolutionäre Tradition, die damals auf der Höhe ihres Ansehens und ihrer Verbreitung stand. In ihr fanden seine bewußte Ablehnung der bürgerlichen Zivilisation und die tiefe Empörung seiner verdrängten religiösen Instinkte unmittelbare Befriedigung. (Fs)

367a Die drei grundlegenden Elemente des jüdischen Verhaltens in der Geschichte: der Gegensatz zwischen dem auserwählten Volk und der Welt der Ungläubigen, das unerbittliche göttliche Gericht über diese und die Wiedereinsetzug des ersteren im messianischen Reich - fanden sämtlich ihre entsprechenden Gegenstücke in dem revolutionären Glauben von Karl Marx. Der Bürger nahm die Stelle des Ungläubigen ein und die wirtschaftlich Armen - das Proletariat - traten an die Stelle der Armen im Geist des Neuen Testamentes. (Fs)

Ebenso entspricht die bevorstehende Umwälzung durch die soziale Revolution, die nicht durch menschliche Kraft und menschlichenWillen zustande kommt, sondern durch die immanente Dialektik der Geschichte, dem Tag von Jahwes Gericht und dem Urteil über die Ungläubigen, während das messianische Reich eine offensichtliche Parallele in der Diktatur desProletariates findet, die dauern wird, bis sie jede Herrschaft, Autorität und Macht vernichtet hat, und die schließlich ihr Reich der klassen- und staatenlosen Gesellschaft der Zukunft übergeben wird, die alles in allem sein wird. (Fs)
367b Diese soziale Apokalypse ist der eine Teil der marxistischen Gedankenwelt und, wie ich glaube, bei weitem der wichtigste. Der andere besteht aus den historischen und philosophischen Thesen, die sie verstandesmäßig rechtfertigen und die, ob sie nun in dem Gesamtsystem primärer oder sekundärer Natur sind, nach ihrem eigenen Wert beurteilt werden müssen. (Fs)

367b Diese soziale Apokalypse ist der eine Teil der marxistischen Gedankenwelt und, wie ich glaube, bei weitem der wichtigste. Der andere besteht aus den historischen und philosophischen Thesen, die sie verstandesmäßig rechtfertigen und die, ob sie nun in dem Gesamtsystem primärer oder sekundärer Natur sind, nach ihrem eigenen Wert beurteilt werden müssen. (Fs)


____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Marx; christliche Geschichtsphilosophie - Marxismus; Klassenkampf - Mysterium des Kreuzes; Herren der Geschichte - spirituelle Menschen; Menschwerdung: Fülle der Zeiten; Erlösung: nicht außerhalb d. Geschichte (Protestantismus)




Kurzinhalt: Die Menschen, die wirklich Geschichte machen, sind nicht an der Oberfläche der Ereignisse zu finden, unter den erfolgreichen Politikern oder den erfolgreichen Revolutionären. Diese sind die Diener der Ereignisse. Ihre Herren sind die spirituellen ...

Textausschnitt: 374c Die christliche Geschichtsphilosophie ähnelt dem Marxismus insoferne, als auch sie eine revolutionäre Auffassung von dem Ende des Geschichtsprozesses und eine apokalyptische Auffassung von dem Ende der Geschichte hat. Wie der Marxismus lehnt auch sie den statischen Idealismus der liberalen Tradition und den naiven Optimismus des humanistischen Ethos ab. Aber während die geschichtliche Dialektik des Marxismus vorwiegend materialistisch ist, ist die des Christentums vorwiegend spirituell -- ein Dialog zwischen Gott und dem Menschen --, und das Ende der Geschichte liegt nicht in der Geschichte selbst, sondern es entsteht durch das Hinausheben der Geschichte auf eine Ebene jenseits der Zeit. (Fs; tblStw: Geschichte) (notabene)

375a Überdies findet der christliche Dualismus, da er ein spiritueller ist, seine Lösung nicht im Klassenkampf oder in einem der weltlichen Konflikte der Geschichte, sondern in dem Mysterium des Kreuzes, das die äußeren Werte der Geschichte aufhebt und Sieg und Niederlage einen neuen Sinn verleiht. Die Menschen, die wirklich Geschichte machen, sind nicht an der Oberfläche der Ereignisse zu finden, unter den erfolgreichen Politikern oder den erfolgreichen Revolutionären. Diese sind die Diener der Ereignisse. Ihre Herren sind die spirituellen Menschen, von denen die Welt nichts weiß, die unbeachteten Werkzeuge der schöpferischen Tätigkeit des Geistes. Das höchste Beispiel dafür - der Schlüssel zu der christlichen Geschichtsauffassung - ist die Menschwerdung, die von der Welt unerkannte Gegenwart des Schöpfers der Welt in der Welt. Und obwohl dieses göttliche Eingreifen in den Lauf der Geschichte auf den ersten Anblick der weltlichen Geschichte jeden Sinn zu nehmen scheint, verleiht es ihr in Wirklichkeit zum ersten Mal einen absoluten geistigen Wert. Die Menschwerdung ist selbst in gewissem Sinn die göttliche Frucht der Geschichte - die Fülle der Zeiten - und findet ihre Fortführung und Vollendung in dem geschichtlichen Leben der Kirche. Denn die Erlösung der Menschheit ist nicht, wie der Protestantismus zu behaupten trachtete, eine isolierte, außerhalb der Geschichte stehende Handlung, die von der Menschheit nichts fordert als den rechtfertigenden Akt des Glaubens. Sie ist ein vitaler Prozeß der Wiedergeburt, der sich in der Wirklichkeit einer göttlichen Gemeinschaft verkörpert. Die Entstehung dieser göttlichen Gemeinschaft - die Schaffung einer neuen Menschheit - verleiht dem Geschichtsprozeß jenen absoluten Wert und jenes übernatürliche Ziel, das der Marxismus vergeblich in einem sozialen Glauben an ein Tausendjähriges Reich sucht - ein Glaube, der keine wahre Beziehung zu der materialistischen Lehre hat, auf der er angeblich beruht. (Fs)
(notabene)

376a Daher ist zwischen dem marxistischen Materialismus - selbst in seiner idealistischesten Form - und dem christlichen Glauben an Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde, den Erschaffer und Erlöser der Menschen, den Herrn und Spender des Lebens, keine Aussöhnung möglich. Wo dieser Glaube fehlt, wie es weitgehend in der modernen Welt der Fall ist, dort lebt der Mensch fern der Wirklichkeit; er lebt im Dunkel und seine gesamten verstandesmäßigen und politischen Systeme werden verzerrt und irreal. Das gilt für den Kommunismus, der, mehr als alle anderen geschichtlichen Systeme, versucht hat, seine neue Welt im Dunkel zu erbauen. Daher glaube ich, daß das letzte Urteil über den Kommunismus darin bestehen wird, daß sein für die neue Menschheit erbautes Haus kein Palast, sondern ein Gefängnis sein wird, weil es keine Fenster hat. Denn was der Mensch noch immer braucht und zutiefst ersehnt, ist das Kommen eines "Anbruchs aus der Höhe, zu leuchten denen, die in Finsternis und im Todesschatten sitzen, um unsere Füße zu leiten auf den Weg des Friedens".

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Toynbee; gleichwertgie Zivilisationen, Religionen als qualitatives Prinzip;

Kurzinhalt: ... daß die zyklischen Bewegungen, durch welche die Zivilisationen entstehen und untergehen, nicht die gesamte Geschichte bilden. Sie sind einem höheren Prinzip geistiger Universalität untergeordnet, das durch die Weltreligionen dargestellt wird.

Textausschnitt: 377c Hätte Toynbee ein vergleichendes Studium der gegenwärtigen Zivilisationen des Ostens und Westens und ihrer Vorläufer unternommen, so hätte er damit etwas sehr Wertvolles geleistet. Er hat aber weit mehr getan. Er hat sich an ein Studium aller jemals bestehenden Zivilisationen gewagt, um die Gesetze aufzufinden, die ihren Aufstieg und Untergang bestimmen, und die Zukunftsaussichten der Zivilisation festzustellen. Genau dasselbe hat Oswald Spengler vor mehr als dreißig Jahren versucht und trotz des ausgesprochenen Unterschiedes im Wesen und in der Weltanschauung der beiden zeigt Toynbees Theorie in ihrer ursprünglichen Form eine beträchtliche Ähnlichkeit mit Spenglers Kulturmorphologie. Beide stimmen darin überein, daß sie eine einheitliche Zivilisation leugnen, und beide betrachten die Zivilisationen als autonome Einheiten, die sich scharf voneinander und von der Welt der primitiven Gesellschaften unterscheiden, aus denen sie vermutlich hervorgegangen sind. Aber Toynbee, der seine einundzwanzig Zivilisationen als Einheiten derselben Art ansieht, die philosophisch gleichwertig sind und nebeneinander bestehen, geht nicht so weit wie Spengler, der seine Kulturen als Organismen im vollen biologischen Sinn ansieht, so daß "die Geschichte einer Kultur der Geschichte eines menschlichen Wesens oder eines Tiers, eines Baumes oder einer Blume völlig gleicht". (Fs)

378a Man kann sich der unerbittlichen Logik, mit der Spengler seine Theorie aufgestellt hat, und dem Temperament und der Beredsamkeit, mit denen er sie vorbrachte, nicht entziehen. Trotzdem wird das ganze, ungemein geistvolle Gebäude durch einen offenkundigen Trugschluß umgestoßen. (Fs)

378b Wenn Kulturen vollkommene und autonome Mikrokosmen sind, die ihre eigene, einmalige und nicht mitteilbare Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft besitzen, wie kann der Historiker dann jemals aus seiner eigenen Kultur heraustreten und den gesamten Prozeß von außen betrachten? So widerlegt Spenglers Geschichtsphilosophie sich selbst. Er zeigt, daß der einzelne niemals und unter keinen Umständen die Grenzen der Kultur überschreiten kann, der er angehört, und gleichzeitig bricht er sein eigenes Gesetz durch einen übermenschlichen Versuch, alle Kulturen der Welt von außen zu betrachten und das universale Gesetz aufzufinden, das ihren Aufstieg und Untergang und die gesamte Evolution ihrer Lebenszyklen bestimmt. (Fs) (notabene)

379a Toynbee erkennt die Sinnlosigkeit dieses philosophischen Gewaltstreiches, und obwohl er auf andere Weise dasselbe tut, versucht er doch niemals, die allen Kulturen gemeinsamen Elemente abzustreiten oder die Tatsache, daß Wissenschaft und Ethik die Grenzen der einzelnen Kultur überschreiten, zu leugnen. In diesem Fall ist es aber schwer einzusehen, wie man die einundzwanzig Kulturen als irgendwie gleichwertig betrachten kann, da sie offensichtlich nicht alle auf der gleichen Höhe wissenschaftlicher Errungenschaft oder ethischer Entwicklung stehen. Angenommen, jede Kultur ist ein faßliches Studiengebiet und verdient, um ihrer selbst willen als Gesamtheit und nicht bloß wegen ihrer Beiträge zu einer anderen Kultur untersucht zu werden, so werden dadurch nicht alle Kulturen philosophisch gleichwertig, genau so wenig wie die Tatsache, daß wir Staaten als autonome politische Einheiten studieren, bedeuten muß, daß sie einander in ihrem politischen Wert und ihrer sozialen Entwicklung gleichwertig sind. (Fs) (notabene)

379b So wurde ich bei der Lektüre von Toynbees ersten Bänden immer wieder durch die Schwierigkeit verwirrt, den ethischen Absolutismus seines Urteils mit dem kulturellen Relativismus seiner Theorie zu vereinbaren. Aber diese Schwierigkeit wurde jetzt durch die Veröffentlichung seiner letzten vier Bände aus der Welt geschafft. Denn in dem ersten dieser neuen Bände stellt er dort, wo er sich mit dem Thema universaler Staaten und Kirchen befaßt, das neue Prinzip auf, das eine grundlegende Änderung seiner früheren Anschauungen bedeutet und das seine "Study of History" aus einer relativistischen Phänomenologie gleichwertiger Kulturen in der Art Spenglers zu einer einheitlichen Geschichtsphilosophie macht, die sich mit jener der idealistischen Philosophen des 19. Jahrhunderts vergleichen läßt. (Fs)

379c Dieser Wandel, der sich schon im fünften Band ankündigt, bedeutet die Aufgabe seiner ursprünglichen Theorie einer philosophischen Gleichwertigkeit der Zivilisationen und die Einführung eines qualitativen Prinzips, das sich in den höheren Religionen verkörpert; diese höheren Religionen werden als Vertreter einer höheren Art von Gesellschaften angesehen, die in demselben Verhältnis zu den Zivilisationen stehen wie diese zu den primitiven Gesellschaften. Damit hört Toynbees Geschichtstheorie auf, zyklisch zu sein wie die Spenglers und wird eine progressive Reihe von vier Weltstufen, die von den primitiven Gesellschaften über die primären und sekundären Zivilisationen zu den höheren Religionen aufsteigen, in denen die Geschichte ihr Endziel erreicht. Nach seinen eigenen Worten kommt das Studium der Geschichte zu "einem Punkt, wo die Zivilisationen ihrerseits, wie die Kleinstaaten der modernen abendländischen Welt zu Beginn unserer Untersuchung, nicht sehr deutlich faßbare Studiengebiete für uns sind und ihre historische Bedeutung verloren haben, außer insofern sie dem Fortschritt der Religion dienen" (siehe Band VII, S. 449). (Fs)

300a Das ist eine revolutionäre Veränderung, und um ihre volle Bedeutung zu erkennen, müssen wir das komplizierte Verzeichnis der Zivilisationen und Religionen studieren, die in der Tabelle 7 des siebenten Bandes in fortlaufender Reihenfolge angeordnet sind und zeigen, wie Toynbees neue Theorie sein ursprüngliches System von einundzwanzig unabhängigen und gleichwertigen Kulturzyklen umwandelt. Sie enthält sechs Stufen:

1. Die primitiven Gesellschaften, deren Anzahl Legion ist;
2. die primitiven Zivilisationen, die jetzt durch die neuentdeckten Zivilisationen des Industales und Nordchinas von fünf auf sieben angewachsen sind;
3. die acht sekundären Zivilisationen, die durch ihre "dominierenden Minderheiten" oder durch die "äußeren Proletariate" aus den primitiven Zivilisationen entstanden sind; es sind die hellenische, syrische, hettitische, babylonische, indische und klassisch-chinesische Zivilisation in der Alten Welt, und die Zivilisationen von Yukatan und Mexiko in der Neuen;
4. die höheren Religionen, deren es scheinbar zwölf gibt, vom Christentum und dem Islam bis zum Isis-Osiris-Kult;
5. die acht tertiären Zivilisationen, zu denen unsere eigene und zwei andere christliche Zivilisationen - die russische und die östlich-orthodoxe -, zwei moslemische - die iranische und die arabische -, zwei fernöstliche und die indische gehören;
6. schließlich die sekundären höheren Religionen, die sich aus den tertiären Zivilisationen entwickeln und zu denen ungefähr ein Dutzend jüngere orientalische Bewegungen, wie die Religion der Sikhs, der Brahmo Samadsch, der Bahaiismus und andere mehr, gehören. (Fs)

381a Diese Einteilung der Zivilisationen und Religionen ist ungemein kompliziert und erfordert ein ziemlich eingehendes Studium, um sie im einzelnen zu verstehen. Aber eines zumindest ist klar: sie bedeutet, daß die zyklischen Bewegungen, durch welche die Zivilisationen entstehen und untergehen, nicht die gesamte Geschichte bilden. Sie sind einem höheren Prinzip geistiger Universalität untergeordnet, das durch die Weltreligionen dargestellt wird. So erhält die Geschichte von neuem den Charakter eines Fortschrittes und Zweckes und wird ein geistiger Evolutionsprozeß, wie Hegel und die anderen idealistischen Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts sie aufgefaßt haben. (Fs)

381b Diese Anschauung kommt dem Geschichtsbild des Durchschnittsmenschen viel näher als Spenglers relativistische Theorie. Denn wenn wir auch den vollen Optimismus der Fortschrittslehre des 19. Jahrhunderts verloren haben, so fällt es uns doch schwer, den Glauben an die Einheit der Geschichte und an die Existenz irgendeines gemeinsamen Maßstabes aufzugeben, nach dem die Leistungen und Mängel der verschiedenen Zivilisationen beurteilt werden können. Das gleiche gilt, wie ich glaube, für die Historiker; denn wenn sie auch Lord Actons großartige Vorstellung einer Weltgeschichte nicht mehr besitzen - die etwas anderes ist als die zusammengefaßte Geschichte aller Staaten und die den Verstand aufklärt und die Seele erhellt -, so glauben sie trotzdem an die Einheit der Geschichte und lehnen einen völligen Relativismus wie den Spenglers fast einhellig ab. (Fs)

381c Trotzdem glaube ich, daß weder der Durchschnittsmensch noch der Berufshistoriker Toynbees Geschichtsphilosophie in ihrer abschließenden Form gelten lassen werden. Sie ist zu dunkel und zu gelehrt für den einen und zu spekulativ und ideologisch für den anderen. Wenige Historiker werden bereit sein, das Schema seiner Einteilung anzuerkennen, durch das er zu seiner Gesamtzahl von einundzwanzig Zivilisationen kommt. Es scheint ein willkürliches Vorgehen, aus den drei oder vier aufeinanderfolgenden Stufen der chinesischen Kultur drei verschiedene Zivilisationen zu machen, und das gleiche gilt für seine drei christlichen Zivilisationen - die abendländische, die östlich-orthodoxe und die russisch-orthodoxe. Wenn alle diese als getrennte Zivilisationen angeführt werden, warum sollen dann die Zivilisation Koreas mit der Japans identisch erklärt oder die sehr ausgeprägte Kultur Tibets oder die Burmas und Siams in dem Verzeichnis nicht getrennt angeführt werden? Man hätte gedacht, daß Rußland und Europa oder das moslemische Persien und das moslemische Syrien näher miteinander verwandt wären als Tibet oder Burma mit Indien. (Fs)

382a Vor allem aber wird der Historiker voraussichtlich gegen Toynbees Auffassung Einspruch erheben, daß die tertiären Zivilisationen durch die höheren Religionen abgelöst werden. Nach dieser Theorie hat die Zivilisation ihren Zweck in ihrer sekundären Phase durch die Hervorbringung der höheren Religionen erfüllt. Damit hat sie, wie Toynbee sagt, ihren Auftrag erschöpft, und eine neue und höhere Form der Gesellschaft, die der Weltkirchen, tritt an ihre Stelle. Die tertiären Zivilisationen haben daher keine historische Funktion; sie sind überflüssige Wiederholungen einer früheren Phase der Geschichte und für den Historiker nicht von wesentlichem Wert. Laut Toynbee(siehe Band VII, S. 448) besteht der Prozeß der Geschichte aus vier Phasen und nicht mehr: Erstens den primitiven Gesellschaften, zweitens den primitiven Zivilisationen, drittens den sekundären Zivilisationen und viertens den höheren Religionen. (Fs)

382b Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendeine Anschauung soviel Widerspruch von seiten des durchschnittlichen Historikers hervorrufen wird wie diese. Denn diese tertiären Zivilisationen bilden das Hauptgebiet der modernen geschichtswissenschaftlichen Forschung. Wenn sie, wie Toynbee sagt, für sein Studium "vollständig unwesentlich geworden sind" (siehe Band VII, S. 449), so genügt das, um seine Geschichtstheorie in den Augen der Historiker zu verurteilen. (Fs)

382d Es ist sicher schwer zu glauben, daß diese jüngstvergangenen und gegenwärtigen Zivilisationen weniger historische Bedeutung haben sollen als die hettitische oder die Zivilisation Yukatans. Auch ist Toynbee in dieser Hinsicht nicht ganz konsequent, denn ein sehr großer Teil seines Geschichtsstudiums ist diesen tertiären Zivilisationen, insbesondere den beiden islamischen und den drei christlichen, gewidmet; und obwohl vieles von dem, was er über die moderne abendländische Zivilisation sagt, absprechend und kritisch ist, so ist es nicht ganz richtig. Es bleibt noch immer genug auf der positiven Seite übrig, um ihren Anspruch auf historische Bedeutung zu rechtfertigen. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Toynbee: Gleichwertigkeit der höheren Religionen (Kritik daran)

Kurzinhalt: So tritt an Stelle von Toynbees ursprünglichem Prinzip der philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen das Prinzip der theologischen Gleichwertigkeit der höheren Religionen.

Textausschnitt: 383a Jedenfalls stimme ich - vielleicht gegen die Mehrheit der modernen Historiker - Toynbees zentralem Thema zu, daß nämlich die Zivilisation dazu da ist, um der Religion zu dienen und nicht umgekehrt. Aber das bedeutet nicht, daß die Zivilisation verschwinden und durch eine Kirche ersetzt werden muß, so wie in der marxistischen Geschichtslehre der Staat verschwindet und durch die klassenlose Gesellschaft ersetzt wird. Solange es Menschen auf Erden gibt, muß es Zivilisationen und Kulturen geben, und die Tatsache, daß eine Zivilisation die Wahrheit einer Weltreligion anerkennt, macht sie deshalb nicht notwendig zu einer Kirche. (Fs)

383b Aber ebensowenig können die höheren Religionen dem Schicksal der Zivilisationen gleichgültig gegenüberstehen, denn wenn eine Religion eine Wirklichkeit ist, muß sie unfehlbar trachten, die Zivilisation, mit der sie verbunden ist, im Sinne ihrer ethischen Werte und geistigen Zwecke umzuwandeln. Ich glaube, daß Toynbees Einwand gegen diese Zivilisationen darin besteht, daß sie Hindernisse auf dem Weg zu der Einheit der Welt sind, aber das ist eigentlich mehr eine Kritik an den höheren Religionen als an den Zivilisationen, die sie möglicherweise anregen. Seiner Meinung nach versagen das Christentum und der Islam durch ihre Exklusivität, und der wahre Weg zur geistigen Einheit ist der des Mahayana Buddhismus, der die Vielfalt und Gleichwertigkeit der Wege anerkennt, die zur geistigen Wirklichkeit führen. So tritt an Stelle von Toynbees ursprünglichem Prinzip der philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen das Prinzip der theologischen Gleichwertigkeit der höheren Religionen. (Fs)

384a Ich glaube auch nicht, daß Toynbees Beschränkung der Geschichte auf die Theologie (um ein Wort Roger Bacons zu gebrauchen) bei den Theologen und vergleichenden Religionswissenschaftern mehr Anerkennung finden wird als bei den Historikern. So wie diese es schwer finden, sein Verzeichnis der Kulturen anzuerkennen, so werden jene bei seiner Aufzählung der primären und sekundären Religionen stutzen. Erstens ist es schwer einzusehen, warum er seine Kategorie der lebenden Religionen auf vier - das Christentum, den Islam, den Hinduismus und den Mahayana Buddhismus - beschränkt. Nur wenige Religionswissenschafter werden dem Judentum das Recht absprechen, als lebende Religion angesehen zu werden. Und im Fall des Buddhismus scheint es Willkür, jene Form auszuschließen, die noch heute die herrschende Religion Ceylons, Burmas, Siams und Kambodschas ist und die in Wirklichkeit heute viel lebendiger wirkt als der Mahayana Buddhismus, der jetzt in China fast im Aussterben begriffen ist und nur noch in Japan, Tibet und Nepal fortlebt. (Fs)

384b Toynbee erklärt seine Auswahl damit, daß dieser ältere Buddhismus keine lebende Religion, sondern nur ein fossiler Überrest der indischen Kultur ist. Ebenso betrachtet er das Judentum als einen Überrest der syrischen Kultur. Aber was immer an dieser Anschauung soziologisch richtig sein mag, so bietet sie doch keine entsprechende Grundlage für ein religiöses Urteil. Wenn die Thora oder der Achtfache Weg Bahnen sind, die noch von lebenden Menschen gläubig und voll Andacht beschritten werden, so sind sie lebende Religionen, wenn sie auch noch so alt sind und noch so viele Merkmale ausgestorbener Kulturen an sich haben. (Fs)

384c Und wenn es ungerechtfertigt scheint, die Religion auf diese vier Beispiele zu beschränken, so wird der Theologe wahrscheinlich Toynbees Versuchen, diese vier durch psychologische Deutung und theologische Synkretisierung auf eine zu reduzieren, noch kritischer gegenüberstehen. Es ist begreiflich, daß Toynbee sich durch die Aufgabe des relativistischen Prinzips einer philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen an die höheren Religionen halten muß, um ein Prinzip zu finden, das seine Studien auf einen einheitlichen Nenner bringt. Denn, wie er sagt, "die Geschichte der Religion scheint ein Prinzip der Einheit und des Fortschrittes zu enthalten im Gegensatz zu der Vielfalt und den Wiederholungen in der Geschichte der Kulturen" (siehe Band VII, S.425-426). Aber wenn er darüber hinausgeht und die wesentliche Identität aller bestehenden Formen der höheren Religionen beweisen will, vereinfacht er das Bild in übermäßiger Weise und erliegt der Versuchung, den Beweis seiner Theorien zu erzwingen, um ihn mit seiner Idee in Einklang zu bringen. (Fs)

385a Denn wenn es schon bei seiner ursprünglichen These von der philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen Schwierigkeiten gab, so sind die Einwände gegen die theologische Gleichwertigkeit der höheren Religionen noch schwerwiegender. Bei dem Studium der Kulturen befaßt sich der Historiker mit einem Gebiet, das zeitlichen und räumlichen Beschränkungen unterworfen ist und nach historischen Kriterien beurteilt werden kann. Aber bei den Weltreligionen befindet er sich in einer Welt, die von Natur aus über die Sphäre der Geschichte hinausgeht und dem empirischen Studium nicht zugänglich ist. Wenn überhaupt, dann müssen diese Religionen theologisch untersucht werden, und wenn wir die Weltreligionen vom theologischen Standpunkt aus überblicken, sehen wir, daß sie weder identisch sind noch konvergieren, sondern daß sie zumindest zwei einander ausschließende und widersprechende Lösungen der religiösen Frage darstellen. (Fs)

385b Einerseits passen die Religionen des Fernen Ostens - der Hinduismus und der Mahayana Buddhismus - ganz gut in Toynbees Ideal einer religiösen Synkretisierung. Aber das ist deshalb, weil sie die Bedeutung der Geschichte leugnen und eine Traumwelt kosmologischer und mythologischer Phantasiebilder schaffen, in der Äonen und Weltalle in schwindelerregender Verwirrung aufeinanderfolgen und in der die Einheit Gottes und die historische Persönlichkeit Buddhas in einer Wolke mythologischer Gestalten von Buddhas und Bodhisattvas, Göttern und Saktis, Halbgöttern und Geistern verlorengehen. Dagegen haben die drei höheren Religionen des Abendlandes - das Judentum, das Christentum und der Islam - einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Sogar ihre Existenz ist an die historische Wirklichkeit ihrer Gründer und an die Schaffung eines einmaligen Verhältnisses zwischen dem Einen Gott und Seinem Volk gebunden. (Fs)

386a So würde jede Synkretisierung zwischen Religionen dieser beiden Typen unfehlbar zur Absetzung der monotheistischen Religionen und zu ihrem Aufgehen in den patheistischen oder polytheistischen führen. Ein solcher Vorgang ist wohl denkbar, aber wir haben keinen geschichtlichen Grund, ihn für wünschenswert oder richtig zu halten. Bis jetzt ist der Hauptstrom der Geschichte nach der entgegengesetzten Richtung verlaufen und die exklusiven monotheistischen Religionen haben das Gebiet ihres Einflusses ständig auf Kosten der anpassungsfähigeren erweitert. Zwar gehören Toynbees sekundäre höhere Religionen größtenteils dem synkretisierten Typus an, aber mit Ausnahme der Sikhreligion ist es ihnen nicht gelungen, sich durchzusetzen, und ihr Erfolg war mehr militärisch und politisch als rein religiös. (Fs)

386b Daher scheint das Prinzip der theologischen Gleichwertigkeit der höheren Religionen durch das Studium der Geschichte ebensowenig gerechtfertigt wie die philosophische Gleichwertigkeit der Kulturen. In bezug auf diese ist Toynbee jetzt dazu gelangt, die qualitative Differenzierung der Kulturen nach dem Grad ihrer Unterwerfung unter höhere geistige Ziele anzuerkennen, und trotz seiner Skepsis in bezug auf die geistige Daseinsberechtigung der abendländischen Zivilisation gibt er die überraschende Tatsache zu, daß sie die einzige noch bestehende Vertreterin dieser Gattung ist, die sich nicht in einem Zustand der Auflösung befindet. Obwohl es keineswegs sicher ist, daß unsere Kultur stark oder klug genug ist, um eine friedliche Weltordnung zu schaffen, kann man sich nur schwer vorstellen, daß ihre Leistungen jemals vollständig verschwinden könnten, es sei denn durch die Vernichtung der Zivilisation als solcher. (Fs)

386c Ebenso wie die abendländische Kultur das wirksame Werkzeug für die Einheit der Welt auf materiellem, technischem und wirtschaftlichem Gebiet war, so hat das Christentum fast zweitausend Jahre lang für die geistige Einheit der Menschheit im Reich Gottes gearbeitet. Auch wenn das Christentum versagt, haben wir keinen Grund, anzunehmen, daß eine östliche Synkretisierung, wie der Mahayana Buddhismus oder eine christliche Gnosis an seine Stelle treten werden. Seine einzige wirksame Nebenbuhlerin ist eine weltliche Gegenreligion wie der Kommunismus, die die Vernichtung aller höheren Religionen bedeuten würde. (Fs) (notabene)

387a Das politische Erwachen Asiens und das Wiederaufleben des östlichen Nationalismus war von einer verständlichen Reaktion gegen die Missionstätigkeit des Abendlandes begleitet, aber sie entstand nicht durch irgendein bemerkenswertes Aufleben der höheren Religionen des Fernen Ostens, geschweige denn des Mahayana Buddhismus. Es ist eine politische Erscheinung, die von der Reaktion gegen den abendländischen Imperialismus und Kolonisationsgeist nicht zu trennen ist. Auf der Ebene der höheren Kultur sind abendländische Ideen in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren weit rascher vorgedrungen als je zuvor. Und obwohl dies keinerlei Ausbreitung der abendländischen Religionen bedeutet, so bedeutet es den fortschreitenden Verfall der alten religiösen Kulturen des Ostens, wie Nirad Chaudhuri es sehr eindrucksvoll in seinem Buch "The Autobiography of an Unknown Indian" (1951) dargelegt hat, das jeder Historiker, der sich für diese Fragen interessiert, von unschätzbarem Wert finden wird. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa, 3 Zivilisationen: Griechenland, Rom - christlichen Mittelalter - europäischen Völkergemeinschaften (15. - 19 Jhdt.); Ausweitung Europas durch: Wirtschaft, Wissenschaft, politische, soziale Institutionen

Kurzinhalt: ... "Europa" eine spezifisch moderne, von den Gelehrten der Renaissance eingeführte Bezeichnung ... So wurden "Europa" und Zivilisation austauschbare Begriffe. Die Türken waren "Barbaren", aber die Moskowiter auch.

Textausschnitt: 5 EUROPA IM SCHATTEN

392b Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ist der Wunsch nach einer Weltgeschichte ständig gewachsen. Die alten Formen einer Geschichte der einzelnen Völker genügten einem Zeitalter nicht mehr, das historische Reiche wie faule Baumstämme stürzen und neue Staaten und Nationen wie Pilze aus dem Boden schießen gesehen hatte. Dabei ist es zweifelhaft, ob es heute schon möglich ist, eine Weltgeschichte im vollen Sinne des Wortes zu schreiben. Zu viele Spuren sind noch kaum aufgegriffen und noch mehr nur teilweise oder in einseitiger Weise verfolgt worden. Vor allem gibt es kein gebildetes Publikum, das die Geschichte verschiedener Zivilisationen miteinander vergleichen und gegenseitig abwägen kann. Die Geschichte des Ostens ist noch immer das Reservat einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Fachgelehrten, die die östlichen Sprachen beherrschen und die nur wenig Gemeinsames haben. (Fs)

392c Unter diesen Umständen können wir höchstens hoffen, zu der Geschichte einer einzelnen Zivilisation zu gelangen. Hier scheint die europäische Kultur den besten Ausgangspunkt für ein Herantreten an die Weltgeschichte zu bieten, denn ihr verwandelnder Einfluß auf die anderen Weltkulturen war weit größer als der irgendeiner Zivilisation des Ostens. Teilweise war dies, weil die geographischen Eigenheiten Europas es kulturellen Kontakten besonders zugänglich gemacht haben, wenn man auch den dynamischen Charakter nicht übersehen darf, den die europäischen Völker selbst an den Tag gelegt haben. Jedenfalls kann man "Europa" von vielen Gesichtspunkten aus betrachten und unter diesen ist der geographische keineswegs der wichtigste. Vom Gesichtspunkt des kulturellen Erbes aus gesehen, ist Europa ein Bindeglied zwischen dem alten Osten, der Wiege der höheren Zivilisation, und der neuen Welt der über die Meere reichenden, überstaatlichen Kultur. Selbst wenn wir das ganze Gebiet der prähistorischen Zeit und der überstaatlichen Kultur des gegenwärtigen Jahrhunderts ausscheiden, werden wir sehen, daß wir es nicht mit einer Zivilisation, sondern mit dreien zu tun haben: erstens der von den Griechen geschaffenen, von den Römern in ein System gebrachten und nach dem Westen getragenen Kultur des Mittelmeerraumes, zweitens der Kultur des christlichen Mittelalters und drittens der Kultur der europäischen Völkergemeinschaften, wie sie vom 15. bis zum 19. Jahrhundert bestanden. (Fs)

393a Nur diese dritte Kultur ist europäisch im vollen Sinne des Wortes. Trotz dem griechischen Ursprung des Wortes und seiner gelegentlichen Verwendung im Mittelalter ist "Europa" eine spezifisch moderne, von den Gelehrten der Renaissance eingeführte Bezeichnung, die das neue Orbis terrarum von dem alten unterscheiden sollte. Die Ursprungsländer der griechischen Kultur waren verloren gegangen, aber die Gelehrten träumten, zuerst in Italien und dann in den Ländern nördlich der Alpen, von einer neuen Blüte der klassischen Tradition. So war für sie "Europa" kein Kontinent, sondern die verhältnismäßig kleine Völkergemeinschaft, die dieselben Ideale einer literarischen Kultur und einer gesitteten Haltung besaß. So wurden "Europa" und Zivilisation austauschbare Begriffe. Die Türken waren "Barbaren", aber die Moskowiter auch. Thomas Morus und Kardinal Pole waren humanistische und gebildete Menschen, aber Bessarion, der Grieche aus Kleinasien, war es ebenfalls. (Fs)

394a Der ideologische Begriff "Europa" hat sich fast bis in unsere Zeit, erhalten, so daß mit der Ausdehnung des Einflußgebietes auch der Begriff "Europa" wuchs. Jetzt aber erlebt die moderne Welt eine Zeit der akuten kulturellen Krise, die alle Kontinente, Rassen und Völker in Mitleidenschaft zieht und die besonders schwerwiegend für jene Völker ist, welche die Tradition der abendländischen Kultur übernommen haben. In den letzten Jahrhunderten hat die Ausbreitung der europäischen Völker durch Eroberung und Kolonisation, Handel und Industrie, Wissenschaft und Technik die Welt vereinheitlicht wie nie zuvor und hat die Grundlage für eine Weltzivilisation geschaffen. Aber im Augenblick, wo dieser Prozeß sich seinem Höhepunkt näherte, wurden die politischen und wirtschaftlichen Kräfte Europas durch vier Jahrzehnte Krieg und Revolution erschüttert. Heute hat Europa seine politische Vormachtstellung verloren und die Großmächte des 19. Jahrhunderts haben entweder aufgehört zu bestehen oder sie wurden durch den Aufstieg der neuen Weltmächte, die ganze Kontinente beherrschen und deren Bevölkerung nach Hunderten von Millionen zählt, in den Schatten gestellt und zur Unbedeutendheit verurteilt. (Fs)

394b Dieses Ende des europäischen Zeitalters entstand nicht nur durch den Abstieg der politischen und wirtschaftlichen Macht der europäischen Völker; es ist auch die Folge des verlorengegangenen Glaubens an die Einmaligkeit der europäischen Kultur und der Forderung der östlichen und außereuropäischen Völker nach kultureller Gleichberechtigung. Das ist eine revolutionäre Veränderung, denn bis dahin, ja bis in unsere eigene Zeit, wurde die Identität der europäischen Kultur mit der Zivilisation fast nicht angezweifelt, nicht nur von dem einfachen Mann, sondern auch von dem Gelehrten und dem Mann der Wissenschaft. Heute hat sich dies alles geändert. Europa wurde nicht nur durch die ungeheuren Mächte, die aus seinem Schoß hervorgegangen sind, zur Unbedeutendheit verdammt, sondern es ist schwer, irgendein, wenn auch noch so schwaches und unterentwickeltes Volk zu finden, das den Anspruch Europas auf kulturelle Überlegenheit anerkennt. Selbst Völker, die erst gestern dem Dunkel der afrikanischen Barbarei entronnen sind, betrachten sich jetzt den alten abendländischen Herren der Erde gegenüber als kulturell ebenbürtig oder überlegen. (Fs)

395a Trotzdem ist auch diese neue Ordnung der kulturellen Gleichheit eine Schöpfung Europas und ein Teil des europäischen Erbes. Die Welle des Defaitismus, die Westeuropa ergriffen hat, und der aggressive Nationalismus der außereuropäischen Völker sind sekundäre Erscheinungen im Vergleich zu den großen Veränderungen, die das Leben der Menschheit verwandeln. Aber diese Veränderungen sind das Werk des abendländischen Menschen und der von ihm geschaffenen Wissenschaft und Technik, Institutionen und Ideen. Ob es gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Wir wissen noch nicht, ob es die Grundlage einer neuen Weltordnung sein wird oder ob der abendländische Mensch, wie Frankenstein, ein Ungeheuer hervorgebracht hat, das ihn umbringen wird. (Fs)

395b Für den Christen muß die Antwort hauptsächlich von den geistigen Faktoren abhängen, vor allem davon, ob die neue Zivilisation dem Einfluß des Christentums zugänglich ist oder nicht. Denn das Christentum war der Mittelpunkt des gesamten Komplexes der europäischen Kultur, um den die anderen Elemente kreisten, und solange dieser Mittelpunkt besteht, ist die Kontinuität der Kultur und die Erhaltung ihres geistigen Erbes gesichert. Derzeit aber sind die Aussichten für eine solche Entwicklung ungünstig. Das große Zeitalter der abendländischen Expansion war auch das Zeitalter der Verweltlichung der abendländischen Kultur. Gegenstand dieser Ausbreitung waren erstens die abendländische politische und wirtschaftliche Macht, zweitens die abendländische Wissenschaft und Technik und drittens die abendländischen politischen Institutionen und sozialen Ideale. Auch das Christentum hat sich ausgebreitet, aber lange nicht so stark. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa, Liberalismus; überstaatliche Kultur - Körper ohne Seele; Rom: Verfall - geistige Erneuerung

Kurzinhalt: Im 19. Jahrhundert war der Liberalismus - der Glaube an den Fortschritt und die Aufklärung, an die Freiheit und Menschlichkeit - die tatsächliche Religion der abendländischen Kultur... gleicht die überstaatliche Kultur der modernen Welt einem Körper ...

Textausschnitt: 395c Im 19. Jahrhundert war der Liberalismus - der Glaube an den Fortschritt und die Aufklärung, an die Freiheit und Menschlichkeit - die tatsächliche Religion der abendländischen Kultur. (Fs) (notabene)
396a Es gelang ihm, auf der ganzen Welt Menschen zu sich zu bekehren - in Indien und im Nahen Osten, in Japan und in China. Jetzt aber, wo der Liberalismus im Schwinden ist und nicht mehr die Kraft hat, die Welt zu einigen, gleicht die überstaatliche Kultur der modernen Welt einem Körper ohne Seele, und in das Vakuum treten neue, totalitäre Ideologien wie der Kommunismus, die drohen, die Welt zu spalten, anstatt sie zu einigen. (Fs) (notabene)

Es scheint daher derzeit unwahrscheinlich, daß es Europa gelingen wird, seine kulturelle Tradition den neuen Völkern weiterzugeben so wie Rom seine Tradition der mittelalterlichen Weltweitergegeben hat. Trotzdem muß man sich vor Augen halten, daß die Aussichten im 3. Jahrhundert n. Chr. nicht besser waren. Ein Römer der damaligen Zeit, der das Versagen des Imperiums gegenüber den Einfällen der Barbaren im Westen und der wachsenden Macht des persischen Reiches im Osten miterlebte, hätte sich niemals vorstellen können, daß Rom der Mittelpunkt eines neuen geistigen Reiches im Abendland werden könnte oder daß das neue Rom am Bosporus, das damals noch gar nicht bestand, dazu ausersehen war, die Tradition des Römischen Reiches und der griechisch-christlichen Kultur über ein Jahrtausend lang fortzusetzen. (Fs)

396b Tatsächlich wird das Schicksal der Zivilisation nicht ausschließlich und nicht einmal vorwiegend durch politische und wirtschaftliche Ursachen bestimmt. Das Zeitalter des Verfalls des Römischen Reiches war auch ein Zeitalter der geistigen Erneuerung, das nicht nur dem mittelalterlichen Christentum, sondern auch der Zivilisation Byzanz' und des Islams den Weg bereitete. Es erwies sich als die große Wasserscheide, wo die Ströme der westlichen und östlichen Kultur sich teilten, und es bestimmte die Kanäle, durch die sie tausend Jahre lang fließen sollten. (Fs)

396c Auch unsere Zeit ist ein Zeitalter des Überganges, in dem sich die Grenzen zwischen Ost und West verschieben und eine neue Welt in Schmerzen aus den Trümmern der alten entsteht. Am wichtigsten sind jedoch nicht die Veränderungen im Gleichgewicht der Mächte und in den internationalen Beziehungen, sondern die tieferen Veränderungen, die unter der Oberfläche der politischen Ereignisse vor sich gehen und die wir oft fast gar nicht bemerken. Denn die geistigen Kräfte, von denen die Lebenskraft einer Zivilisation abhängt, äußern sich oft in unerwarteten Formen, die der Aufmerksamkeit der Journalisten und Historiker entgehen. Um sie zu erkennen, muß man unsere Zivilisation als Ganzes in der Vergangenheit und Gegenwart betrachten und feststellen, welches die gestaltenden Elemente in dem abendländischen Kulturprozeß waren und wie weit sie heute noch fortbestehen. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa; Zivilisation des Abendlandes: Verkörperung einer doppelten Tradition; christlichen Tradition: Impulse für die moderne Welt (Humanismus, Wissenschaft usw.)

Kurzinhalt: Beide Elemente bestehen in jeder Entwicklungsphase der abendländischen Kultur nebeneinander, sei es in einer gegenseitigen Spannung, sei es im Gleichgewicht zueinander. Es gibt Zeiten, wo das eine Element dominiert und das andere fast ...

Textausschnitt: 397a Nun ist die Zivilisation des Abendlandes die Verkörperung einer doppelten Tradition. Einerseits erbt sie die Tradition der klassischen Kultur Roms und des Hellenismus, andererseits ist sie die Erbin des Christentums und einer religiösen Tradition, die über die antike Welt hinaus in den alten Osten zurückreicht. Von der einen Seite hat Europa die Tradition der griechischen Philosophie und Wissenschaft, des römischen Rechtes und der römischen Literatur übernommen, von der anderen hat es seine sittlichen Werte und geistigen Ideale, seine Begriffe von Gott und dem Menschen, der göttlichen Vorsehung und der menschlichen Verantwortung empfangen. Beide Elemente bestehen in jeder Entwicklungsphase der abendländischen Kultur nebeneinander, sei es in einer gegenseitigen Spannung, sei es im Gleichgewicht zueinander. Es gibt Zeiten, wo das eine Element dominiert und das andere fast ausschließt, so wie im frühen Mittelalter die christliche Tradition vorherrscht und wie im Zeitalter der Renaissance die klassische Tradition vorherrscht. Um einen Ausdruck aus der Biologie zu verwenden: Es gibt in jeder Kultur dominante und rezessive Elemente, und ein Element, das während eines ganzen Zivilisationszeitalters rezessiv war, kann später wieder auftauchen und in der künftigen Zivilisation dominieren. Aber das zweite, rezessive Element ist immer vorhanden und trägt Wesentliches zu der Leistung des dominanten Partners bei. So wäre das Werk des heiligen Thomas von Aquin nie möglich gewesen ohne den griechischen Beitrag Aristoteles', und das Drama der Renaissancezeit in England und Spanien verdankt der christlichen Vergangenheit ebensoviel wie der klassischen Überlieferung. (Fs) (notabene)

398a Dagegen kann man einwenden, daß dies für die jetzige Zeit nicht mehr zutrifft, daß die Leistungen der modernen abendländischen Zivilisation auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik und der politischen und sozialen Reform eine revolutionäre Veränderung der menschlichen Geschichte bilden, die mit der Vergangenheit nichts zu tun hat. Jedenfalls ist es richtig, daß die weltliche Ideologie, die in den letzten zwei Jahrhunderten die öffentliche Meinung des Westens so stark geformt hat, diese Anschauung einprägte und die traditionellen Elemente in der abendländischen Kultur herabsetzte oder verurteilte. (Fs)

398b Nichtsdestoweniger war diese Haltung eine einseitige und durch die jeweiligen Bedürfnisse der Parteien und Klassen bedingt, die mit dem alten Regime in Konflikt standen. Vom streng historischen Gesichtspunkt aus kann kein Zweifel darüber herrschen, daß die neueren Entwicklungen der abendländischen Kultur tief in der europäischen Vergangenheit verwurzelt sind. (Fs) (notabene)

398b Selbst die liberale Bewegung mit ihrem humanitären Idealismus und ihrem Glauben an das Naturgesetz und die Menschenrechte verdankt ihren Ursprung einer außergewöhnlichen Verbindung zwischen der humanistischen Tradition und einem von christlichen Moralbegriffen, wenn auch nicht vom christlichen Glauben getragenen religiösen Ideal. Wie ich in meinem Buch "Religion and Progress" dargelegt habe, erhielt die ganze Entwicklung des Liberalismus und des Humanitätsprinzips, die in der Geschichte der modernen Welt eine so ungeheure Rolle gespielt hat, ihren geistigen Impuls von der christlichen Tradition, an deren Stelle sie treten wollte. Aber wenn diese Tradition verschwindet, geht dieser geistige Impuls verloren und an die Stelle des Liberalismus tritt die Primitivität und amoralische Ideologie des totalitären Staates. (Fs)

398c Ebenso war die moderne wissenschaftliche Bewegung ein Ergebnis der abendländischen humanistischen Kultur, und auch heute noch enthält sie Spuren ihrer Herkunft. Gewiß kann die moderne Technik von der humanistischen Kultur losgelöst und als reines Werkzeug irgendeiner Macht verwendet werden, die sich ihrer zu einem beliebigen Zweck bedienen will. Sie kann daher ebenso zur Vernichtung wie im Dienst des Menschen verwendet werden, wie wir es an dem Ausbau der Atomkraft zum Bau von Waffen für dessen Massenvernichtung sehen. Aber das gilt nicht für die Wissenschaft als solche; viele Gelehrte sind sich des tragischen Widerspruches zwischen den humanistischen Idealen, aus denen die abendländische Wissenschaft hervorgegangen ist, und den unmenschlichen Folgen einer Wissenschaft, die als Werkzeug einer Macht verwendet wird und zum Zerrbild wird, voll bewußt. (Fs)

399a Dies ist überdies nur eine Seite der modernen Wissenschaft. Der gleiche Geist, der den Menschen dazu trieb, die Natur durch die Wissenschaft zu besiegen, und der zu der äußeren Vereinheitlichung der Welt führte, hat auch ein neues Verständnis der Welt und die Entdeckung und das Studium der menschlichen Kultur mit sich gebracht. (Fs)

399b Eines der fruchtbarsten Ergebnisse dieses Studiums der Kultur durch die abendländische Wissenschaft sind die neuen Kenntnisse über die alten Zivilisationen des Ostens. Die meisten Berichte über die Geschichte der abendländischen Zivilisation widmen diesen außereuropäischen Aspekten des europäischen Erbes nicht genug Aufmerksamkeit. Wenn wir unsere eigene Kultur mit jener der römisch-hellenistischen Welt vergleichen, sehen wir, daß nicht das am bedeutsamsten ist, was in Europa selbst geschieht, sondern die Veränderungen am Rand der abendländischen Expansionszone. Denn die späteren Phasen der kulturellen Durchdringung Asiens durch Europa bilden einen Prozeß von ebensolcher Bedeutung wie die Durchdringung des Ostens im Altertum durch den Hellenismus. Aber in den meisten Werken über die moderne europäische Geschichte findet man nichts oder nur sehr wenig über diesen Vorgang und seine Auswirkungen in Gestalt der großen Ausbreitung der christlichen Missionen im Osten oder die Leistungen der großen europäischen Archäologen, Philologen und Orientalisten, die die Literatur und Kultur der Länder des Ostens erschlossen und gedeutet haben. Trotzdem ist dieses große Werk, das im 16. Jahrhundert begann, als Matteo Ricci zuerst abendländische Wissenschaft nach China brachte und Europa die chinesische Kultur erschloß, nicht weniger bedeutsam als das der Eroberer und Politiker. Es erweiterte nicht nur die Grenzen der abendländischen Zivilisation in ungeheurer Weise und legte das Fundament für ein neues Verständnis zwischen Ost und West, sondern es gab auch den außereuropäischen Völkern ein neues Verständnis für ihre eigene Vergangenheit. Ohne dieses Verständnis wäre dem Osten die Größe seines Erbgutes nicht zum Bewußtsein gekommen und die Erinnerungen an die ältesten Zivilisationen Asiens lägen weiter im Staub begraben. (Fs)

400a Das ist ein bleibendes Erbe für die ganze östliche und westliche Welt, das die politischen Ideologien und die Wirtschaftsreiche überdauern wird. Heute ist es Sitte, die Beziehungen zwischen Ost und West im Licht kolonialer Ausbeutung und nationalistischer Reaktion zu betrachten, und wenn das europäische Erbe weiter nichts wäre, so könnte man es abschreiben wie die Ölkonzessionen und investierten Kapitalien, die enteignet werden. Aber das kulturelle Erbe Europas ist nicht auf Europa beschränkt, so wie das der klassischen Welt nicht auf den Mittelmeerraum beschränkt war. Wenn auch die politische Vormachtstellung Europas verloren ging, übernehmen Amerika und Asien noch weiter die Tradition der europäischen Kultur, so wie Westeuropa und der Mittlere Osten auch nach dem Untergang des Römischen Reiches die Traditionen der römischen und hellenistischen Kultur übernahmen. Das bleibende Erbe Europas ist, wie das des Hellenismus, ein geistiges. Es hat die Welt verändert, weil es den Geist der Menschen verändert hat. Verlust an Macht bedeutet nicht Verlust an Wissen, und selbst wenn Europa aufhört, ein Machtzentrum der Welt zu sein, werden die in Europa entstandenen geistigen Mächte auch weiterhin die Welt beeinflussen, ob nun die neuen Herren der Welt ihre Dankesschuld erkennen oder nicht. Der Einfluß des Hellenismus erlosch nicht mit der Eroberung Griechenlands durch die Römer und auch nicht mit dem Untergang Roms oder des Byzantinischen Reiches, und so muß es auch mit dem europäischen Erbe geschehen. (Fs)

400b Die schöpferische Weiterentwicklung dieses Erbes hängt von der Lebenskraft der geistigen Mächte ab, die die Leistungen der europäischen Kultur ausgelöst haben - der religiösen Tradition des Christentums und der geistigen Tradition des Humanismus. Diese aber leben auch heute noch. Sie leben innerhalb und außerhalb Europas, einerseits in der katholischen Kirche und andererseits in der abendländischen Tradition der Wissenschaft, Forschung und Literatur. Auf diese beiden Kräfte müssen wir unsere Hoffnungen setzen für die Entstehung einer neuen Weltzivilisation, die die Völker und Kontinente in einer allumfassenden geistigen Gemeinschaft einigen wird. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Dawson: sein Geschichtsbild; 4 Zeitalter: primitiven Kultur, archaische Zivilisation, Weltreligionen, abendländische Wissenschaften


Ursachen für die Veränderung in der Weltanschauung;

Kurzinhalt: Laut Dawson gibt es vier große Zeitalter in der Entwicklung der Menschheit, deren jedes durch eine andere Auffassung des Universums gekennzeichnet ist... Die Veränderungen, die das vierte große Zeitalter der Weltgeschichte herbeiführte, hatten ihre ...

Textausschnitt: 402a Obwohl Dawson die Möglichkeit ausdrücklich geleugnet hat, derzeit eine die ganze Welt umfassende Geschichte zu schreiben1, die allen kulturellen Traditionen gerecht würde, enthält sein gesamtes Werk doch eine Auffassung über die Entwickung der Weltgeschichte, die, unserer Meinung nach, hier am Schluß des vorliegenden Bandes dargelegt werden sollte. (Fs)

Dawsons Auffassung über die Bewegung der Weltgeschichte kreist um die großen Veränderungen, die in dem Weltbild des Menschen vorgegangen sind und die ihren Ausdruck in dem Leben bestimmter Gesellschaften und Kulturen gefunden haben. (Fs)

402b Laut Dawson gibt es vier große Zeitalter in der Entwicklung der Menschheit, deren jedes durch eine andere Auffassung des Universums gekennzeichnet ist. Die erste Stufe ist die der primitiven Kultur, die zweite die der Entstehung der archaischen Zivilisation in Ägypten, Mesopotamien und Kleinasien, die dritte die der Entstehung und Verbreitung der Weltreligionen und die vierte die der Entstehung der Wissenschaften in der abendländischen Zivilisation. Diese vierte Stufe ist, nach Dawsons Anschauung, eng mit der christlichen Auffassung vom Menschen und dem Weltall verbunden. (Fs)

402c Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Stufe der Weltgeschichte ist der zwischen dem durch keinerlei Denken beschwerten Weltbild der primitiven Sammler und Jäger und dem der Kenntnis der Naturgesetze, die die Grundlage der archaischen Kultur bildete. Über dieses Zusammenwirken des Menschen mit den Naturgesetzen, das zu der Entwicklung des fortgeschrittenen Ackerbaues, der Verarbeitung der Metalle und der Entstehung der Schrift und des Kalenders geführt hat, schreibt Dawson:

"Es bestimmte jahrtausendelang den Fortschritt der Zivilisation und hörte erst mit der Entstehung einer Weltanschauung auf, die im 6. und 5. Jahrhundert, dem Zeitalter der jüdischen Propheten und griechischen Philosophen, Buddhas und Konfuzius', die Alte Welt zu verwandeln begann - einem Zeitalter, in dem sich der Anbruch einer neuen Welt ankündigt2."

403a Welche Ursachen führten zu der Veränderung der Weltanschauung, die den Übergang von dem zweiten zum dritten großen Zeitalter der Weltgeschichte bezeichnet? Eine davon waren die Grenzen der archaischen Zivilisation selbst. Durch ihr Zusammenwirken mit den Vorgängen der Natur hatte sie einen ungeheuren äußeren Fortschritt bewirkt, "vielleicht im Verhältnis den größten, den die Welt je erlebt hat", sagt Dawson. Trotzdem "war jede Kultur mit einer absolut feststehenden Form verbunden, von der sie sich nicht loslösen ließ. Aber als sie ihre inneren Kräfte erkannt hatte, wurde sie stationär und unfortschrittlich3". Das führte zu einer so vollständigen Identifizierung der Religion mit der Sozialordnung, daß sowohl die Religion wie die Kultur behindert wurden; jene verlor ihren geistigen Charakter und diese wurde durch die Fesseln der religiösen Überlieferung so eingeengt, "daß der Sozialorganismus so starr und leblos wurde wie eine Mumie"4. Gegen diese Starrheit der archaischen Religionkulturen und die Leugnung des transzendenten Charakters der geistigen Wirklichkeit lehnten sich die großen Weltreligionen auf. (Fs) (notabene)

403b Aber in ihrem Bestreben, die Unabhängigkeit des Geistes von der äußeren Ordnung zu betonen, irrten die Weltreligionen oft nach der entgegengesetzten Richtung ab, indem sie Lehren aufstellten, die der Religion als sozialer Macht ebenso abträglich waren. Durch ihre Verurteilung der Materie und des Leibes, ihre Flucht vor der Natur und der Welt der Sinne, ihre Leugnung der Wirklichkeit der Welt und des Wertes der Sozialordnung führten die neuen Religionen zu einer Schwächung, wenn nicht Zerstörung der Brücke, die die archaische Zivilisation zwischen Religion und Kultur erbaut hatte. Ja, die äußere Zivilisation des Ostens verdankte ihren Fortbestand im Grunde größtenteils dem Weiterleben der Traditionen der archaischen Naturreligionen. Dawson schreibt über die Wirkungen der neuen Weltreligionen auf den äußeren Fortschritt:

"Die großen Leistungen der neuen Kultur liegen auf dem Gebiet der Literatur und Kunst. Aber vom äußeren Standpunkt aus ist es mehr ein Ausbreiten als ein Fortschritt. Die neue Kultur gab einfach dem Material, das sie von der archaischen Zivilisation übernommen hatte, eine neue Form und einen neuen Inhalt. In allen wesentlichen Dingen hatte Babylonien zur Zeit Hammurabis und sogar schon früher einen Höhepunkt äußerer Zivilisation erreicht, der in Asien seither niemals übertroffen wurde. Nach der Blüte der Kunst im frühen Mittelalter wurden die großen, von der Religion bestimmten Kulturen stationär und sogar dekadent5. (Fs)

404a Die Veränderungen, die das vierte große Zeitalter der Weltgeschichte herbeiführte, hatten ihre Ursprünge im westlichen Europa und lassen sich ohne ein Studium der in diesem Raum entstandenen neuen christlichen Kultur nicht verstehen. Im Gegensatz zu der Spaltung zwischen Religion und Kultur, die in größerem oder geringerem Maß bei den Religionen des Ostens eintrat, war das Christentum infolge seiner Lehre von der Menschwerdung besser geeignet, die einander widerstreitenden Forderungen der geistigen und der äußeren Ordnung miteinander zu versöhnen. Die geistige Welt konnte ihren transzendenten Charakter beibehalten und gleichzeitig die Welt der Menschen mit ihrer dynamischen Kraft durchdringen. Dawson stellt die Wirkungen dieser Tatsache auf die soziale und kulturelle Entwicklung der abendländischen Zivilisation fest:

"Ihr religiöses Ideal war nicht die Verehrung zeitloser und unwandelbarer Vollkommenheit, sondern ein Geist, der danach strebt, sich in der Menschheit zu verkörpern und die Welt zu verändern. Im Abendland erstarrte die geistige Macht nicht in einer geheiligten Sozialordnung, wie es der Staat des Konfuzius in China und das Kastenwesen in Indien waren. Sie hat soziale Freiheit und Autonomie erworben und daher war ihre Tätigkeit nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt, sondern übte weitreichende Wirkungen auf alle Seiten des sozialen und intellektuellen Lebens aus6. (Fs)

405a Dawson erkennt, daß das angestrebte Ziel, die Versöhnung der Macht des Geistes und der ihm widerstrebenden Institutionen der zeitlichen Ordnung, zu keiner Zeit der abendländischen Geschichte entsprechend verwirklicht wurde. Trotzdem war sie die treibende Kraft, die hinter den einmaligen Leistungen der abendländischen Kultur stand, und sie hat diese Kultur in der übrigen Welt wie unter ihren eigenen Völkern zu einer verwandelnden Gewalt gemacht. (Fs)

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa; psychologische Grundlage der sozialen und äußeren Vorgänge; Hinduismus: Id; Buddhismus: Super-Ego + Todesimpuls; Christentum: Super-Ego -> dynamischer sozialen Kraft


Kurzinhalt: Mit anderen Worten: Die christliche Tradition hat aus dem Gewissen des einzelnen eine selbständige Kraft gemacht, die die Allmacht der gesellschaftlichen Sitte verringert und den Sozialprozeß neuen Einzelinitiativen zugänglich macht1.

Textausschnitt: 405b In einem seiner Aufsätze aus jüngerer Zeit weist Dawson auf eine psychologische Grundlage der sozialen und äußeren Vorgänge hin, die durch die abendländische Zivilisation eingeleitet wurden und die schließlich auf andere Teile der Welt übergriffen. Durch den Einfluß des christlichen Ethos auf die Psyche des einzelnen Menschen entwickelte sich die neue Einstellung zum Leben, die zum Ursprung der neuen Kultur und der ungeheuren, von ihr bewirkten sozialen Veränderung wurde. (Fs)

"Auch heute noch beschäftigt man sich sehr wenig mit der tiefen Umwälzung in der psychologischen Grundlage der Kultur, durch die die neue Gesellschaft des abendländischen Christentums entstand. In Begriffen der Freud'schen Psychologie ausgedrückt, war das, was eintrat, eine Übersetzung der Religion aus der Sphäre des Id in die des Super-Ego ... (Fs)

Mit der Annahme des Christentums wurden die alten Götter und ihre Riten als Manifestationen der Mächte des Bösen abgelehnt. Die Religion war nicht mehr eine instinktive Huldigung an die dunkle Unterwelt des Id. Sie wurde ein bewußtes und dauerndes Bestreben, das menschliche Betragen den Forderungen nach einem objektiven Sittengesetz und einem Akt des Glaubens an ein neues Leben und an sublimierte Vorbilder der geistigen Vollkommenheit anzupassen1. (Fs)

405c Wenn aber alle Zivilisationen sich von der Barbarei durch die größere Bedeutung, die sie dem Super-Ego zuerkennen, und durch die verstandesmäßige Beherrschung instinktiver Impulse mittels einer geordneten Erkenntnis ihrer Bedeutung unterscheiden, wodurch unterscheidet sich dann das Christentum von den Religionen, die die Grundlagen der anderen Weltkulturen bilden? Ist seine psychologische Grundlage nicht dadurch, daß es die höheren Forderungen des Super-Ego gegen das Id unterstützt, mit der ihren identisch? Nein, würde Dawson erwidern, man kann deutliche Unterschiede in der Beziehung zwischen diesen beiden Kräften im sittlichen Kosmos der verschiedenen Weltreligionen feststellen. (Fs) (notabene)

"In manchen Fällen hat, wie im Hinduismus, der scharfe Bruch mit den Kräften des Id, der charakteristisch für die Bekehrung des Abendlandes war, niemals stattgefunden, und das Leben wird nicht als ein Prozeß des sittlichen Strebens und der Disziplin aufgefaßt, sondern als Ausdruck einer kosmischen Libido wie im Tanz Schivas. (Fs)

Andererseits sehen wir im Buddhismus ein sehr hoch entwickeltes Super-Ego. Aber hier ist das Super-Ego mit dem Todesimpuls verbunden, so daß die Versittlichung des Lebens gleichzeitig ein regressiver Prozeß ist, der im Nirwana kulminiert2."

406a Die abendländische Kultur hat zwar religiöse Bewegungen erlebt, die eine ähnliche Tendenz aufweisen, wie zum Beispiel der Manichäismus und das Albigensertum, doch waren diese nur exzentrische Entwicklungen, die für die zentrale religiöse Tradition des Abendlandes nicht typisch sind. Diese Tradition hat zu der Entstehung eines anderen Persönlichkeitstypus geführt wie jene, die für die anderen Weltkulturen charakteristisch sind. (Fs)

"Aber der charakteristische Zug der abendländischen Zivilisation war immer ein Geist sittlicher Aktivität, durch den das einzelne Super-Ego zu einer dynamischen sozialen Kraft wurde. Mit anderen Worten: Die christliche Tradition hat aus dem Gewissen des einzelnen eine selbständige Kraft gemacht, die die Allmacht der gesellschaftlichen Sitte verringert und den Sozialprozeß neuen Einzelinitiativen zugänglich macht3."

____________________________

Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa; 13. Jhdt.: Christentum, soziale Dynamik - Franziskus, Thomas, Rober Bacon; Renaissance, christliche Ursprünge; Expansion abendländischer Zivilisation - Erschöpfung der geistigen Quellen; östliche Religionen; Joseph de Maistre


Kurzinhalt: So steht nach Dawsons Auffassung die kulturelle Entwicklung des Abendlandes im Mittelpunkt der Weltgeschichte, und es war der dynamische Einfluß Europas und seines Sprosses in der Neuen Welt, der die jetzige Möglichkeit für die Entstehung einer ...

Textausschnitt: 406b Aber obwohl diese soziale Dynamik im Christentum von Anfang an enthalten war und den Impuls für die Bekehrung der alten Welt und die Weitergabe der christlichen Kultur an neue Völker in den dunklen Zeiten der Barbarei und der Angriffe des Islams bildete, wurde ihre Bedeutung erst im 13. Jahrhundert voll erkannt. In der Geistigkeit des heiligen Franziskus, in der die Mentalität des christlichen Humanismus ihren höchsten Ausdruck fand, in der philosophischen Synthese des heiligen Thomas, die Vernunft und Glauben vereinte und die Grundlage für ein wissenschaftliches Herantreten an die Wirklichkeit schuf, und in dem Weltbild Roger Bacons, der in der wissenschaftlichen Erfindung eine schöpferische Kraft von unberechenbarer Macht sah, gelangte die neue Auffassung der Wirklichkeit schließlich zur Reife1. (Fs)

407a Von diesem Standpunkt aus liegt die Bedeutung des 12. und 13. Jahrhunderts darin, daß sie zum ersten Mal die christliche Kultur in neuen, dynamischen und sozialen Formen verkörpern. Denn die erste christliche Kultur - die des byzantinisch-patristischen Zeitalters - war das Ergebnis der Anwendung christlicher Ideen auf eine schon reife und statische Kultur. Aus diesem Grund konnte die soziale Dynamik des Christentums in der Gesellschaft und Kultur des Byzantinischen Reiches keinen entsprechenden Ausdruck finden. (Fs)

407b Die darauffolgende Entwicklung der abendländischen Kultur seit der Renaissance ist die Folge der Entstehung dieser neuen, dynamischen, abendländischen christlichen Gesellschaft und Kultur. Denn mit der Renaissance begann jene große Expansion der abendländischen Zivilisation, nicht nur geographisch, sondern auch auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik, die der hervorstechende Zug der letzten vier Jahrhunderte der Weltgeschichte war. Mit dieser Bewegung strebt das vierte Zeitalter der Welt nach seiner äußeren Verwirklichung. Die Einmaligkeit dieser durch den abendländischen Menschen geschaffenen Epoche steht in unmittelbarer Beziehung zu den missionarischen Zielen, die dem Geist der abendländischen Kultur durch mehr als tausend Jahre christlicher Lehre eingepflanzt wurden; die neue, durch die Renaissance eingeführte Kultur wurzelte besonders in den sozial-religiösen Idealen des Mittelalters. Der abendländische Humanismus und die abendländische Wissenschaft, die abendländischen Entdeckungen und Kolonisationen waren keine schnell reifenden Treibhausfrüchte, sondern die Früchte einer tausendjährigen sorgfältigen Pflege, "das Ergebnis der Bemühungen von Jahrhunderten, die den jungfräulichen Boden des Abendlandes bebaut und den Samen in breitem Wurf über das Antlitz der Erde gestreut haben2". (Fs)

408a Trotz der Auffassung, daß die Renaissance in erster Linie eine Auflehnung gegen die christliche Vergangenheit war (eine Anschauung, die heute von den Gelehrten größtenteils fallen gelassen wurde, die aber noch einen großen Einfluß auf das Denken vieler Nichthistoriker ausübt3, weist Dawson darauf hin, daß die gesamte Kulturepoche, die die Renaissance einleitete und die sich noch im 19. Jahrhundert fortsetzte, nicht zu verstehen wäre, würde man sie von ihren christlichen Ursprüngen trennen. (Fs)

"Die großen Männer der Renaissance waren geistige Menschen, selbst wenn sie noch so tief in die zeitliche Ordnung verstrickt waren. Von den angestauten Quellen ihrer christlichen Vergangenheit erhielten sie die Kraft, die äußere Welt zu erobern und die neue geistige Kultur zu schaffen."
Was ich hier an dieser (vor achtzehn Jahren geschriebenen) Stelle über die Ursprünge der humanistischen Kultur gesagt habe, scheint mir ebenso für das Zeitalter der Aufklärung und das 19. Jahrhundert zu gelten, wo die abendländische Kultur die Welt eroberte und verwandelte ... (Fs)

Die Aktivität des abendländischen Geistes, die sich ebenso in den wissenschaftlichen und technischen Erfindungen wie in den geographischen Entdeckungen äußerte, war nicht nur das natürliche Erbteil eines bestimmten biologischen Typus; sie war das Ergebnis eines langen Erziehungsprozesses, der die Richtung des menschlichen Denkens allmählich veränderte und die Möglichkeiten des sozialen Handelns erweiterte4."

408b So steht nach Dawsons Auffassung die kulturelle Entwicklung des Abendlandes im Mittelpunkt der Weltgeschichte, und es war der dynamische Einfluß Europas und seines Sprosses in der Neuen Welt, der die jetzige Möglichkeit für die Entstehung einer weltumfassenden Gesellschaft geschaffen hat. Während viele zeitgenössische Geschichtsphilosophen entweder an dem Abendland verzweifeln oder es wegen seiner Sünden und seiner Mängel so sehr tadeln, daß sie es sittlich und geistig tiefer einstufen als den Osten (siehe zum Beispiel Mullers "Uses of the Past" oder Toynbees "The World and the West" als Vertreter dieser Richtung), erklärt Dawson, daß die abendländische Kultur sich trotz ihrer Weltlichkeit und ihres Eigennutzes durch eine sittliche Tatkraft und geistige Dynamik auszeichnet, die sie von ihrer christlichen Vergangenheit übernommen hat, und daß diese Tatkraft zu der Verbreitung der Institutionen des Abendlandes über den restlichen Erdball geführt und die anderen Kulturen zu Teilen einer einzigen Welt der kulturellen Weitergabe gemacht hat. Wir können daher durch ein Verständnis Europas die Kräfte begreifen, welche die Schicksale der modernen Welt gestalten; denn selbst jene Bewegungen, die sich gegen das Abendland auflehnen, verdanken ihre Ursprünge dem Einfluß des Abendlandes und hätten sich ohne den europäischen Einfluß nicht nach ihrer jetzigen Richtung entwickeln können. Dawson hat darüber vor einigen Jahren in einem Aufsatz folgendes geschrieben:

"Die Auflehnung des Ostens gegen die Vormachtstellung Europas ist selbst größtenteils durch den Einfluß des Abendlandes entstanden. Ihre Ideologie ist rein europäisch und hat nichts mit den kulturellen Traditionen der Völker zu tun, die sie befreien will. Selbst auf dem Gebiet der Literatur sind die Führer des östlichen Denkens, sofern es europäischem Geist entstammt, Männer abendländischer Kultur und Bildung. Der zentrale Faktor in der Gesamtsituation der Beziehungen zwischen Ost und West ist nicht der verhältnismäßig geringe und oberflächliche Kult östlicher Ideen im Westen, sondern die unvergleichlich stärkere und weitreichendere Verbreitung westlicher Ideen im Osten, wo die traditionellen Kulturen bis auf ihre Grundlagen erschüttert wurden5."

409a Aber der Einfluß des Westens auf den Osten war nicht nur ein subversiver. Durch die Arbeiten europäischer Archäologen und Sprachforscher haben die Zivilisationen des Ostens die Größe ihrer eigenen Geschichte und Kultur erkannt und einen klareren Blick für ihre Eigenart gewonnen. Dawson bewertet die Auswirkung der europäischen Forschungsarbeit in dem letzten Aufsatz des vorliegenden Bandes folgendermaßen:

"Es erweiterte nicht nur die Grenzen der abendländischen Zivilisation in ungeheurer Weise und legte das Fundament für ein neues Verständnis zwischen Ost und West, sondern es gab auch den außereuropäischen Völkern ein neues Verständnis für ihre eigene Vergangenheit. Ohne dieses Verständnis wäre dem Osten die Größe seines Erbgutes nicht zum Bewußtsein gekommen, und die Erinnerung an die ältesten Zivilisationen Asiens lägen weiter im Staub begraben. (Fs)

Das ist ein bleibendes Erbe für die ganze östliche und westliche Welt, das die politischen Ideologien und Wirtschaftsreiche überdauern wird6."

410a Nichtsdestoweniger kann man das Ausmaß, in dem die weltliche Kultur des Abendlandes die traditionellen Kulturen des Ostens bedroht, nicht ignorieren oder verkleinern. Trotz den optimistischen Anschauungen von Schriftstellern wie Muller und Northrop über ihre Zukunft und der Meinung einiger, daß sich die Religionen des Ostens bei einer Vermischung der Kulturen und Religionen, wie sie gegenwärtig stattfindet, widerstandsfähiger erweisen werden als das Christentum, bestehen Anzeichen dafür, daß die östlichen Religionkulturen in ein Stadium des Niederganges und des Rückzuges vor der verweltlichten Zivilisation eingetreten sind, von dem sie sich nur schwer erholen werden. (Fs)

410b Infolgedessen laufen die östlichen Religionen heute Gefahr, durch weltliche Bewegungen, die aus der abendländischen Kultur hervorgegangen sind, besiegt zu werden. Die Ursache dieser Schwäche der östlichen Religionen liegt in dem Verlust ihres organischen Zusammenhanges mit dem Leben des Volkes. Dawson schrieb darüber in einem kürzlich erschienenen Aufsatz, der sich mit der Ausbreitung des Kommunismus befaßt: "Wenn der Kommunismus in diesem Licht (das ist als eine Religion) betrachtet wird, warum hat er dann eine solche Anziehung für die Asiaten, die genügend wirklich theologische Religionen haben? Die Antwort darauf ist, meiner Meinung nach die, daß die großen Religionen des Ostens kulturell nicht mehr aktiv sind und von dem Leben der Gesellschaft und der gegenwärtigen Kultur getrennt wurden7."

411a Dawson weist auf ihre schwierige Lage in der folgenden Stelle hin:
"So wie sich der Hellenismus während der hellenistischen und römischen Zeit allmählich immer mehr ausbreitete, bis er die gesamte antike Welt erfaßte, so hat sich auch die abendländische Kultur in den letzten fünfhundert Jahren so ausgebreitet, daß sie die gesamte moderne Welt umfaßt. Und wie die antike Welt schließlich durch die Entstehung des Islams in zwei Hälften zerfiel, so zerfällt die moderne Welt durch die Entstehung des Kommunismus in zwei Hälften. (Fs)

Daher glaube ich, daß die großen östlichen Weltreligionen heute eine Stellung einnehmen, die derjenigen der Religionen des Ostens im Altertum - Ägyptens, Babyloniens und Kleinasiens - in der Welt Roms entspricht. Wenn dies stimmt, so sind die ernstesten Rivalen des Christentums in der heutigen Zeit nicht die alten Religionen des Ostens, sondern die neuen politischen Ersatzreligionen, wie der Kommunismus, der Nationalismus usw. Man kann der Dringlichkeit dieser Frage, von der die ganze Zukunft der Welt abhängt, nicht entfliehen8."

411b Aus der Perspektive der Weltgeschichte und einem Vergleich der gegenwärtigen Lage der östlichen Religionen mit den revolutionären Entwicklungen bei der Entstehung des Islams im 7. Jahrhundert n. Chr. sieht Dawson für die traditionellen religiösen Kulturen des Ostens eine sehr akute Gefahr voraus, und nicht nur für sie, sondern auch für das Christentum. (Fs)

411c Der Unterschied aber, der vielleicht eine günstigeres Folge erhoffen läßt, ist der, daß die dynamische Kraft des Islams einem leidenschaftlich angehangenen Glauben entstammte und die Sanktion einer übernatürlichen Wirklichkeitsordnung besaß, während der Kommunismus trotz seiner quasi-religiösen Motivierung vorwiegend irdisch denkt und an nichts Höheres appellieren kann als an die Hoffnung des Menschen auf ein materialistisches Utopia. (Fs)

411d Die Widerstandskraft der östlichen Religionen gegen den Ansturm weltlicher Ideologien wird daher im Verhältnis zu ihrer Kraft stehen, ihren religiösen Charakter zu bewahren und gleichzeitig einen neuen Kontakt mit dem täglichen Leben zu finden. Ob dies angesichts der "Unbeteiligtheit" möglich ist, die die Religion des Ostens in der Vergangenheit sehr deutlich gezeigt hat, kann nur die Zukunft lehren. (Fs)

412a Für Dawson liegt die Bedeutung des gegenwärtigen Augenblickes der Geschichte darin, daß die Zivilisation des Westens durch ihre technischen Erfindungen und durch ihre ideologische Wirkung imstande war, die Schranken niederzureißen, die die abgeschlossenen Kulturen der großen Weltreligionen früher voneinander trennten, und sie zu einer neuen und größeren, interkulturellen Gesellschaft zusammengefaßt hat. Aber in diesem Prozeß der Entwicklung und Expansion hat die westliche Zivilisation die Berührung mit den geistigen Quellen ihrer schöpferischen Kraft immer mehr verloren. Daher ist der Augenblick ihres größten äußeren Sieges auch der Zeitpunkt ihrer größten geistigen Krise. (Fs) (notabene)

"Die Ereignisse der letzten Jahre kündigen entweder das Ende der Geschichte der Menschheit oder einen Wendepunkt in ihr an. Sie haben uns in flammender Schrift gewarnt, daß unsere Zivilisation gewogen und zu leicht befunden wurde und daß der Fortschritt, der sich durch die von geistigen Zielen und sittlichen Werten losgelöste Wissenschaft und Technik erzielen läßt, eine unverrückbare Grenze hat9."

412b Und doch ist diese Krise der Kultur eine Zeit, in der Europa die ihm gebotene Gelegenheit nützen und der neuen, weltumfassenden Gesellschaft, die jetzt im Entstehen ist, Gestalt und Richtung geben kann. Wissenschaft und Technik, die der abendländischen Zivilisation ihre Entstehung verdanken, müssen nicht Werkzeuge zur Vernichtung der Menschheit werden; sie können auch dem höheren Zweck einer Zusammenfassung der Menschheit zu einer übernationalen geistigen Gemeinschaft dienstbar gemacht werden. (Fs)

412d Die große Revolution des 18. Jahrhunderts, die die moderne Zeit einleitete und die mehr als tausendjährige politische und soziale Struktur Europas über den Haufen warf, glich in vieler Hinsicht der jetzigen Zeit. Die Heere der Französischen Revolution und später die Napoleons untergruben oder vernichteten die alten Monarchien, sie schafften die Leibeigenschaft ab und weckten in den Herzen fast aller Völker den Nationalismus. In unserer Zeit hat das Eindringen des europäischen Nationalismus und der abendländischen Ideologien in Asien und Afrika und die Ausbreitung der europäischen revolutionären Tradition ähnliche Wirkungen ausgeübt wie sie die Französische Revolution in den letzten hundertfünfzig Jahren auf Europa und den amerikanischen Kontinent ausgeübt hat. Die Ideale der politischen Freiheit, der Selbstbestimmung der Völker und der sozialen Gleichheit sind bis zu den entferntesten Völkern vorgedrungen, bis sie jetzt praktisch universale Geltung erlangt haben. (Fs)

413a Es ist daher richtig, daß Christopher Dawson auf das Zeitalter der Französischen Revolution zurückblickt, um das Wesen unserer eigenen Zeit und ihre Bedeutung für die Weltgeschichte zu erkennen. Die Reaktion eines der tiefsten konservativen Denker jener Zeit auf die Revolutionen, die in seine Lebensweise eingebrochen waren, deutet die Haltung an, die Dawson heute den Völkern des Abendlandes empfiehlt:

"Vor mehr als hundert Jahren erkannte Joseph de Maistre, der letzte Vertreter des alten, vor-nationalistischen Europa, ein Verbannter in der Stadt Peters des Großen und Lenins, mit fast prophetischem Blick die Bedeutung der Revolutionen, die sein eigenes Glück zerstört und die traditionelle Ordnung des europäischen Lebens, die ihm so teuer war, zerschlagen hatten. Frankreich und England, so schreibt er, wurden trotz ihrer gegenseitigen Abneigung veranlaßt, gemeinsam an derselben Aufgabe zu arbeiten. Während die Französische Revolution den Samen der französischen Kultur nach ganz Europa trug, hat England die europäische Kultur nach Asien gebracht und den Anstoß gegeben, daß Newtons Werke in der Sprache Mohammeds gelesen wurden. Der gesamte Osten fügt sich der Überlegenheit Europas und die Ereignisse haben England eine fünfzehntausend Meilen lange gemeinsame Grenze mit China und Tibet gegeben. Der Mensch in seiner Unwissenheit täuscht sich oft in bezug auf die Ziele und Wege, die Kräfte und Widerstände, die Werkzeuge und Hindernisse. Manchmal versucht er, eine Eiche mit einem Taschenmesser zu fällen, und manchmal schleudert er eine Bombe, um ein Schilfrohr zu knicken. Aber die Vorsehung kennt kein Schwanken und erschüttert die Welt nicht umsonst. Alles deutet darauf hin, daß wir uns auf eine große Einheit zu bewegen, die wir, um eine religiöse Ausdrucksform zu wählen, von fern preisen müssen. Wir wurden auf schmerzliche Art und gerechterweise zerschlagen, aber wenn meine Augen würdig befunden wurden, die göttliche Absicht zu erkennen, wurden wir nur zerschlagen, um eins zu werden10." (E10; 30.09.2010)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt