Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 20a-28a Stichwort: Positivismus: Gründe, Folgen, theoretisches Problem d. P.; Unterordnung der Theorie unter die Methode; Materialhuberei Kurzinhalt: ... daß eine Erforschung der Wirklichkeit nur dann wissenschaftlichen Charakter habe, wenn sie die Methoden der Naturwissenschaft anwendet; die zweite Annahme ist die eigentliche Gefahrenquelle, ... Textausschnitt: 2. Die zerstörende Wirkung des Positivismus
20a Die Bewegung der theoretischen Erneuerung ist weder in ihrem Umfang noch in ihren Leistungen allgemein bekannt. Und wenn dies auch nicht die Gelegenheit für eine Beschreibung ist (die, wenn sie angemessen sein sollte, zu erheblichem Umfang anwachsen müßte), so muß doch einiges über ihre Ursachen und Ziele gesagt werden, und die Fragen zu beantworten, die sich dem Leser der folgenden Untersuchungen aufdrängen werden. (Fs)
20b Wenn die Prinzipien der politischen Wissenschaft wiederhergestellt werden sollen, so ist damit impliziert, daß das Bewußtsein der Prinzipien verloren gegangen ist. Die Bewegung der theoretischen Erneuerung ist in der Tat als eine Genesung von der Zerstörung der Wissenschaft durch den Positivismus, der für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch war, zu verstehen. Die zerstörende Wirkung des Positivismus hat ihre Ursache in den folgenden zwei Grundannahmen:
20c (1) Die glänzende Entfaltung der Naturwissenschaften war, neben anderen Faktoren, mitverantwortlich für die Annahme, daß die Methoden der mathematisierenden Wissenschaften von der Außenwelt durch besondere Leistungsfähigkeit ausgezeichnet seien, und daß die anderen Wissenschaften ähnliche Erfolge erzielen würden, wenn sie dem Beispiel folgten. Dieser Glaube für sich allein wäre eine harmlose Idiosynkrasie gewesen; er hätte sein natürliches Ende gefunden, sobald die enthusiastischen Bewunderer der Mustermethode versucht hätten, sie auf ihre eigene Wissenschaft anzuwenden, und wenn die erwarteten Erfolge ausgeblieben wären. (Fs)
(2) Der Glaube wurde jedoch gefährlich, weil er sich mit der zweiten Annahme verband, daß die naturwissenschaftlichen Methoden ein Kriterium für theoretische Relevanz lieferten. Erst aus der Verbindung der beiden Annahmen ergab sich die bekannte Reihe der Behauptungen: daß eine Erforschung der Wirklichkeit nur dann wissenschaftlichen Charakter habe, wenn sie die Methoden der Naturwissenschaft anwendet; daß die Probleme, die in anderen als naturwissenschaftlichen Termini ausgedrückt werden müssen, Scheinprobleme seien; daß im besonderen metaphysische Fragen, auf die eine Antwort mit den Mitteln der Wissenschaften von Phänomenen der Außenwelt nicht möglich ist, nicht gestellt werden dürften; daß Seinsbereiche, die der Erforschung mit naturwissenschaftlichen Methoden unzugänglich sind, irrelevant seien; und, in äußerster Konsequenz, daß Seinsbereiche dieser Art nicht existierten. (21; Fs)
21b Die zweite Annahme ist die eigentliche Gefahrenquelle, insofern als sie die Theorie der Methode unterordnet und damit den Sinn der Wissenschaft verkehrt. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der positivistischen Destruktion; und sie hat noch bei weitem nicht die Beachtung gefunden, die sie verdient. (Fs) (notabene)
22a Wissenschaft ist die Suche nach der Nahrheit betreffend das Wesen der verschiedenen Seinsbereiche. Wissenschaftlich relevant ist daher alles, was zum Erfolg dieser Suche beiträgt. Tatsachen sind insofern relevant, als ihre Kenntnis zur Erkenntnis des Wesens beiträgt, während Methoden insofern adäquat sind, als sie mit Erfolg als Mittel zu diesem Zweck angewendet werden können. Verschiedene Gegenstände der Untersuchung erfordern verschiedene Methoden. Ein Staatswissenschaftler, der sich mit den Problemen der platonischen Politeia beschäftigt, wird nicht viel Verwendung für mathematische Methoden haben; ein Biologe, der eine Zellstruktur untersucht, wird nicht viel Verwendung für die Methoden der klassischen Philologie oder die Prinzipien der Hermeneutik haben. Diese Aussagen sind trivial - aber die Mißachtung trivialer Wahrheiten dieser Klasse ist eines der typischen Merkmale der positivistischen Haltung, und darum ist es gelegentlich nötig, das Selbstverständliche breitzutreten. Es mag vielleicht ein Trost sein, daß Mißachtung dieser Art ein permanentes Problem in der Geschichte der Wissenschaft ist; schon Aristoteles mußte gewisse Charaktere seiner Zeit daran erinnern, daß ein "gebildeter Mann" in einer Abhandlung über Politik nicht die Exaktheit des mathematischen Typus erwarten wird. (Fs)
22b Wenn nicht die Adäquanz einer Methode an ihrer Brauchbarkeit für den Zweck der Wissenschaft gemessen wird, sondern umgekehrt die Verwendung einer bestimmen Methode zum Kriterium des Wissenschaftscharakters einer Untersuchung gemacht wird, dann ist der Sinn der Wissenschaft als wahrheitsgemäßer Aussage über die Struktur der Wirklichkeit, als der theoretischen Orientierung des Menschen in seiner Welt, und als des großen Werkzeugs, mit dessen Hilfe der Mensch zum Verständnis seiner eigenen Stellung im All gelangt, verloren. Wissenschaft geht von der vorwissenschaftlichen Existenz des Menschen aus; von seiner Teilnahme an der Welt mit seinem Leib, seiner Seele, seinem Intellekt und seinem Geist; von seinem ursprünglichen Griff in alle Seinsbereiche, der ihm dadurch gesichert ist, daß seine eigene Natur ihrer aller Abriß ist. Und von dieser ursprünglich kognitiven Teilnahme, noch stürmisch getrübt durch Leidenschaft, steigt der beschwerliche Weg an, die methodos, zur leidenschaftslosen Schau der Seinsordnung in der theoretischen Haltung. Die Frage, ob im konkreten Fall der eingeschlagene Weg der richtige war, kann jedoch nur entschieden werden im Rückblick vom leidenschaftslos erkennenden Ende zu seinem noch leidenschafterfüllten Anfang. Wenn die Methode das anfangs nur trübe Geschaute zu wesenhafter Klarheit gebracht hat, dann war sie adäquat; wenn sie diesen Zweck nicht erfüllt hat, oder wenn sie auch nur zu wesenhafter Klarheit etwas gebracht hat, woran wir ursprünglich konkret nicht interessiert waren, darin war sie inadäquat. Wenn wir z. B. in unserer vorwissenschaftlichen Teilnahme an der Ordnung einer Gesellschaft, in unseren vorwissenschaftlichen Erlebnissen von Recht und Unrecht, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, den Wunsch empfinden sollten, zum theoretischen Verständnis der Quelle der Ordnung und ihrer Geltung vorzudringen, dann werden wir vielleicht im Verfolg unserer Bemühungen die Theorie entwickeln, daß die Gerechtigkeit der Ordnung unter Menschen von ihrer Teilnahme am platonischen agathon, oder dem aristotelischen nous, oder dem stoischen logos oder der thomistischen ratio aeterna abhängt. Und wenn auch, aus diesem oder jenem Grunde, keine der Theorien uns völlig befriedigt, so wissen wir doch, daß wir auf der Suche nach einer Antwort dieser Art sind. Wenn uns der Weg jedoch zu der Erkenntnis führt, daß die Ordnung der Gesellschaft durch nichts bestimmt wird als durch Furcht und Willen zur Macht, dann wissen wir, daß wir irgendwo im Zuge der Untersuchung das Wesentliche des Problems verloren haben - wie immer wertvoll das Ergebnis auch zur Klärung anderer Aspekte der Sozialordnung sein mag. Im Rückblick von der Antwort auf die Frage erkennen wir daher, daß die Methoden einer Psychologie der Motive für die Klärung dieses Problems nicht adäquat sind, und daß es in diesem Falle besser wäre, sich auf die Methoden der metaphysischen Spekulation und theologischen Symbolisierung zu verlassen. (Fs)
24a Die Unterordnung der theoretischen Relevanz unter die Methode verkehrt prinzipiell den Sinn der Wissenschaft. Und der Sinn wird verkehrt, gleichgültig welche Methode im Einzelfall als Modell genommen wird. Das Prinzip der Verkehrung muß sorgfältig von seinen zahlreichen Erscheinungsformen unterschieden werden, denn ohne diese Unterscheidung ist es kaum möglich, die historische Erscheinung des Positivismus in ihrem Wesen und Umfang zu verstehen; daß diese Unterscheidung nicht gemacht wird, ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß eine zureichende Studie dieser bedeutsamen Phase westlicher Geistesgeschichte bis heute noch nicht vorliegt. Wenn auch eine solche Studie hier nicht gegeben werden kann, so müssen doch die Hauptlinien, denen sie zu folgen hätte, herausgearbeitet werden, um die Mannigfaltigkeit der positivistischen Phänomene in den Blick zu bringen. (Fs)
24b Die Analyse würde falsch ansetzen, wenn der Positivismus als die Doktrin dieses oder jenes hervorragenden positivistischen Denkers definiert würde - etwa als das Comte'sche System. Die Spezialform der Verkehrung würde das Prinzip verwischen; und verwandte Phänomene könnten nicht als solche erkannt werden, weil auf der Ebene der Doktrinen die Anhänger verschiedener Mustermethoden sich bekämpfen. Es empfiehlt sich daher, von dem Eindruck auszugehen, den das Newton'sche System auf westliche Intellektuelle wie Voltaire gemacht hat. Diese Erschütterung sollte als das emotionale Zentrum betrachtet werden, von dem das Prinzip der Verkehrung, wie auch der Sonderfall des Modells der Physik, unabhängig voneinander oder in Verbindung, ausstrahlen konnten; und die Wirkungen sollten verfolgt werden, welche Form auch immer sie annehmen mögen. Dieses Verfahren empfiehlt sich vor allem deshalb, weil der Versuch, die Methoden der mathematischen Physik im strengen Sinne auf die Sozialwissenschaften zu übertragen, kaum jemals unternommen worden ist, aus dem guten Grund, weil er allzu offensichtlich fehlschlagen würde. Die Idee, ein "Gesetz" der sozialen Phänomene zu finden, das in seiner Funktion dem Gravitationsgesetz in der Newton'schen Physik entspräche, ist nie über die Stufe verworrenen Geredes in der napoleonischen Ara hinausgekommen. Zu Comtes Zeit hatte sich die Idee schon zum "Gesetz" der drei Phasen beruhigt, d. h. sie war zu einem Stück falscher Spekulation über den Sinn der Geschichte geworden, das sich selbst als die Entdeckung eines empirischen Gesetzes interpretierte. Charakteristisch für die frühe Aufspaltung des Problems ist das Schicksal des Ausdrucks physique sociale. Comte wollte ihn für seine positivistische Spekulation verwenden; aber seine Absicht wurde dadurch vereitelt, daß Quételet sich den Ausdruck für seine eigenen statistischen Untersuchungen aneignete. Das Gebiet der sozialen Phänomene, die in der Tat der Quantifizierung zugänglich sind, begann sich von jenem anderen Gebiet zu scheiden, in dem die spielerische Nachahmung der Physik ein Zeitvertreib für Dilettanten in beiden Wissenschaften ist. Wenn also der Positivismus im strengen Sinne ausgelegt wird, nämlich als Entwicklung der Sozialwissenschaft durch den Gebrauch mathematisierender Methoden, dann könnte man zu dem Schluß gelangen, daß es Positivismus niemals gegeben hat; faßt man ihn dagegen als die Absicht auf, die Sozialwissenschaften "wissenschaftlich" zu machen durch den Gebrauch von Methoden, die denjenigen, welche die Wissenschaften von den Phänomenen der Außenwelt anwenden, möglichst ähnlich sind, dann werden die Ergebnisse dieser Absicht (wenn auch nicht beabsichtigt) sehr mannigfaltig sein. (Fs)
26a Das theoretische Problem des Positivismus mußte mit einiger Sorgfalt formuliert werden. Seine einzelnen Erscheinungsformen bedürfen nur kurzer Aufzählung, nachdem die sie verbindende Einheit klar erfaßt wurde. Wird die Methode als Kriterium der Wissenschaftlichkeit angewendet, so wird damit die theoretische Relevanz aufgehoben. In der Folge werden alle sich auf Tatsachen beziehenden Urteile ohne Rücksicht auf ihre Relevanz zur Würde der Wissenschaftlichkeit erhoben, soferne sie sich durch korrekte Anwendung einer Methode ergeben. Da das Meer von Tatsachen unerschöpflich ist, wird eine ungeheuere Ausdehnung der Wissenschaft, im soziologischen Sinne, möglich; zahllose szientistische Techniker finden Beschäftigung und produzieren phantastische Massen von irrelevantem Wissen durch enorme Forschungsprojekte, deren interessantestes Merkmal ihre quantifizierbaren Kosten sind. Man gerät leicht in Versuchung, sich diese üppigen Blüten des späten Positivismus näher zu besehen und einige Erwägungen über den Hain des Akademos anzustellen, in dem sie sich entfalten; aber die Askese des Theoretikers will uns solche Gärtnerfreuden nicht gestatten. Hier geht es um das Prinzip, daß alle Tatsachen gleichwertig sind - wie es gelegentlich formuliert wurde -, wenn sie nur auf dem Wege der Methode sichergestellt wurden. Die Anhäufung irrelevanter Fakten erfordert jedoch nicht unbedingt die Anwendung statistischer Methoden; sie kann ebensowohl unter dem Deckmantel kritischer Methoden auf dem Gebiete der politischen Geschichte, der Beschreibung von Institutionen, der Ideengeschichte oder in den verschiedenen Zweigen der Sprachwissenschaft stattfinden. Die Anhäufung theoretisch nicht ausgewerteter und vielleicht nicht auswertbarer Fakten, dieser Auswuchs, für den in Deutschland das Wort Materialhuberei geprägt wurde, ist also die erste der Erscheinungsformen des Positivismus; und wegen ihrer Allgegenwart ist sie von viel größerer Bedeutung als gewisse reizvolle Kuriositäten wie z. B. die Einheitswissenschaft. (Fs)
27a Größere Forschungsunternehmen, die nichts als irrelevantes Material enthalten, kommen jedoch, wenn überhaupt, so doch sehr selten vor. Selbst im ungünstigsten Falle wird sich hie und da eine relevante Seite finden, und Gold mag in ihnen verborgen sein, das darauf wartet, eines Tages von einem Gelehrten, der seinen Wert erkennt, entdeckt zu werden. Ein Fall völliger Irrelevanz ist so gut wie unmöglich, weil das Phänomen des Positivismus sich in einer Kultur mit theoretischen Traditionen ereignet; und auch die umfangreichste und wertloseste Materialsammlung hängt noch an einem Faden, der sie mit der Tradition verbindet. Auch dem hartgesottensten Positivisten wird es kaum gelingen, ein völlig wertloses Buch über das amerikanische Verfassungsrecht zu schreiben, solange er sich mit einiger Gewissenhaftigkeit an die Argumentlinien und die Präzedenzfälle hält, die in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes vorgegeben sind. Wenn das Buch auch ein trockener Bericht sein mag und die Argumente der Richter (die nicht immer die besten Theoretiker sind) nicht auf eine kritische Theorie der Politik und des Rechtes bezogen werden, wird das Material zur Unterwerfung zumindest unter sein eigenes Relevanzsystem zwingen. (Fs)
28a Viel tieferen Schaden als die leicht erkennbare Anhäufung von Trivialitäten hat die zweite Erscheinungsform des Positivismus, die Anwendung unzulänglicher theoretischer Prinzipien auf relevantes Material, angerichtet. Hoch angesehene Forscher haben ihre Gelehrsamkeit auf die Auswertung historischer Stoffe gewandt und doch ein gut Teil ihrer Mühe vertan, weil ihre Auswahl- und Interpretationsprinzipien, ohne solide theoretische Grundlage, sich aus dem Zeitgeist, aus politischen Neigungen oder aus persönlichen Idiosynkrasien herleiteten. Zu den Werken dieser Klasse zählen die Geschichten der griechischen Philosophie, die aus den Quellen in erster Linie einen "Beitrag" zur Entwicklung der westlichen Wissenschaft herauszogen; die Abhandlungen über Platon, die in ihm einen Vorläufer neukantischer Logik oder, je nach der politischen Zeitmode, einen Konstitutionellen, einen Utopisten, Sozialisten oder Faschisten entdeckten; die Geschichten der politischen Ideen, die Politik im Sinne des westlichen Konstitutionalismus definierten und dann nur wenig politische Theorie im Mittelalter entdecken konnten; oder die andere Variante, die im Mittelalter einen erheblichen "Beitrag" zur Verfassungslehre der Neuzeit fand, jedoch völlig die politischen Sektenbewegungen außer acht ließ, die in der Zeit der Reformation an die institutionelle Oberfläche durchbrachen; oder ein Riesenunternehmen wie Gierkes Genossenschaftsrecht, das erheblich entwertet wurde durch die Überzeugung seines Autors, die Geschichte des politischen und rechtlichen Denkens bewege sich schicksalhaft auf seine eigene Theorie der Realperson als ihren Höhepunkt zu. In Fällen dieser Art entstand der Schaden nicht durch Anhäufung wertlosen Materials; im Gegenteil, die Werke dieser Klasse sind häufig unentbehrlich gerade wegen ihrer zuverlässigen Tatsacheninformationen (bibliographische Angaben, kritische Feststellung der Texte etc.). Der Schaden entstand vielmehr durch die Interpretation. Der Inhalt einer Quelle z. B. mag korrekt wiedergegeben sein, soweit er wiedergegeben wird, und doch kann der Bericht ein völlig falsches Bild zeichnen, weil er wesentliche Teile ausläßt; und er läßt sie aus, weil die unkritischen Interpretationsprinzipien es nicht zulassen, sie als wesentlich zu erkennen. Unkritische Meinungen (doxai im platonischen Sinne) sind kein Ersatz für Theorie. (Fs)
Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 29a-32a Stichwort: Positivismus; "Werturteil" - Tatsachenurteil; "wertfreie" politische Wissenschaft, Ausschaltung d. Werturteile; Ethik. Politik (nicht mehr): Wissenschaft von der Ordnung, in der das menschliche Wesen seine maximale Aktualisierung erreicht Kurzinhalt: Der Ausdruck "Werturteil" ist an sich sinnlos; er empfängt seinen Sinn nur aus einer Situation, in der er den Tatsachenurteilen gegenübergestellt wird; und diese Situation wurde durch das positivistische Dogma geschaffen, nur Tatsachenurteile ... Textausschnitt: 29a Die dritte Erscheinungsform des Positivismus war die Entwicklung der Methodologie, vor allem während des Halbjahrhunderts 1870-1920 Diese Bewegung war insoferne eine Phase des Positivismus, als sie die Verkehrung der Relevanz durch den Übergang von der Theorie zur Methode zum Prinzip erhob. Gleichzeitig jedoch trug sie zur Überwindung des Positivismus bei, indem sie die Relevanz der Methode verallgemeinerte und dadurch das Verständnis der spezifischen Adäquanz verschiedener Methoden für verschiedene Wissenschaften wiedergewann. Denker wie z. B. Husserl oder Cassirer waren, was ihre Geschichtsphilosophie anbelangt, noch Positivisten der Comte'schen Richtung; aber Husserls Kritik des Psychologismus und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen waren bemerkenswerte Schritte auf dem Wege zur Wiederherstellung der theoretischen Relevanz. Die Bewegung als Ganzes ist also viel zu verwickelt, um Verallgemeinerungen ohne sorgfältige und eingehende Qualifikationen zu gestatten. Ein Problem der Methodologie kann und muß jedoch herausgehoben werden, weil es von besonderer Bedeutung für die Zerstörung der Wissenschaft war, nämlich der Versuch, die politische Wissenschaft (und die Sozialwissenschaften im allgemeinen) durch rigorose Ausschaltung aller "Werturteile" "objektiv" zu machen. (Fs)
30a Um über diesen Punkt Klarheit zu erlangen, muß man sich vor allem vergegenwärtigen, daß die Bezeichnungen "Werturteil" und "wertfreie Wissenschaft" vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht- zum philosophischen Vokabular zählten. Der Ausdruck "Werturteil" ist an sich sinnlos; er empfängt seinen Sinn nur aus einer Situation, in der er den Tatsachenurteilen gegenübergestellt wird; und diese Situation wurde durch das positivistische Dogma geschaffen, nur Tatsachenurteile betreffend die phänomenale Welt seien "objektiv", während Urteile über die richtige Ordnung von Mensch und Gesellschaft "subjektiv" seien. Nur Urteile der ersten Art könnten als "wissenschaftlich" gelten, während die der zweiten Art persönliche Vorzugsakte und Entscheidungen ausdrückten, die einer kritischen Verifizierung nicht fähig und darum ohne objektive Gültigkeit seien. Diese Einteilung der Urteile war jedoch sinnvoll nur, solange das positivistische Dogma grundsätzlich anerkannt wurde; und es konnte nur von Denkern anerkannt werden, die mit der klassischen und christlichen Wissenschaft vom Menschen nicht vertraut waren. Denn weder die klassische noch die christliche Ethik und Politik enthalten "Werturteile"; sie arbeiten vielmehr empirisch und kritisch die Ordnungsprobleme durch, die sich aus der philosophischen Anthropologie als einem Teil der allgemeinen Ontologie herleiten. Erst als die Ontologie als Wissenschaft verlorengegangen war und in der Folge die Ethik und Politik nicht mehr als Wissenschaft von der Ordnung, in der das menschliche Wesen seine maximale Aktualisierung erreicht, aufgefaßt werden konnten, fiel dieser Wissensbereich unter den Verdacht subjektiver, unkritischer Meinung. (Fs) (notabene)
31a Insoferne die Methodologen das positivistische Dogma anerkannten, trugen sie ihr Teil zur Zerstörung der Wissenschaft bei. Zugleich aber versuchten sie energisch, die Geschichts- und Sozialwissenschaften aus der Mißachtung wieder herauszuholen, ich die sie infolge ihres zerstörten Zustandes nicht ganz ohne Grund geraten waren. Denn wenn die episteme zerstört ist, hören die Menschen nicht auf, über Politik zu reden, aber sie müssen sich dann der Form der doxa bedienen. Und in der Form der doxa wurden eben die "Werturteile" ausgesprochen, die das Bedenken der Methodologen erregten. Der Versuch der Methodologen, den Sozialwissenschaften durch die Ausschaltung des unkritischen Meinens der Zeit wieder Geltung zu verschaffen, hat also immerhin das Bewußtsein kritischer Maßstäbe wachgerufen, wenn ihm auch die Wiederbegründung einer Ordnungswissenschaft nicht gelungen ist. Die Theorie der Werturteile wie auch der Versuch, eine "wertfreie" Wissenschaft zu begründen, wirkten sich daher ambivalent aus. Insoferne als der Angriff auf Werturteile ein Angriff auf die unkritischen Meinungen war, die unter dem Decknhantel der politischen Wissenschaft auftraten, hatte er die heilsame Wirkung einer theoretischen Säuberung. Insoferne als unter den Begriff von Werturteilen die Gesamtheit der klassischen und christlichen Metaphysik und vor allem die philosophische Anthropologie subsumiert wurden, konnte der Angriff zu nichts Geringerem als dem Eingeständnis führen, daß es eine Wissenschaft von menschlicher und sozialer Ordnung nicht gebe. (Fs)
32a Die Mannigfaltigkeit der Versuche hat heute, da die großen methodologischen Kämpfe abgeflaut sind, im einzelnen an Interesse verloren. Im allgemeinen waren die Versuche von dem Prinzip geleitet, die "Werte" aus der Wissenschaft zu entfernen und ihnen den Status fragloser Axiome oder Hypothesen zuzuschreiben. So wurden z. B. unter der Annahme, der "Staat" sei ein Wert, die politische Geschichte und die politische Wissenschaft als "objektiv" legitimiert, soweit sie Beweggründe, Handlungen und Bedingungen erforschten, die Einfluß auf die Schaffung, Erhaltung und Vernichtung von Staaten hatten. Es liegt auf der Hand, daß dieses Prinzip zu dubiosen Ergebnissen führen mußte, wenn die Wahl des legitimierenden Wertes in das Ermessen des Wissenschaftlers gestellt wurde. Denn wenn die Wissenschaft als die Erforschung von Tatsachen in Beziehung auf einen Wert definiert wird, dann gibt es ebenso viele Arten politischer Geschichte und politischer Wissenschaft als es Gelehrte mit verschiedenen Ideen darüber, was wertvoll ist, gibt. Die Tatsachen, die als relevant gelten, weil sie auf die Werte eines Fortschrittsgläubigen bezogen werden können, sind nicht die gleichen Tatsachen, die ein Konservativer als relevant ansieht; und die für einen Vertreter der freien Wirtschaft relevanten Fakten sind nicht notwendig relevant für einen Marxisten. Weder die äußerste Sorgfalt, die konkrete Arbeit "wertfrei" zu halten, noch die gewissenhafteste Beobachtung kritischer Methoden bei der Feststellung von Tatsachen und Kausalbeziehungen, konnte das Absinken der historischen und politischen Wissenschaften in den Sumpf des Relativismus verhindern. Es wurde sogar die Ansicht vertreten - sie fand weite Zustimmung -, daß jede Generation die Geschichte neu schreiben müsse, weil die "Werte", die die Auswahl der Probleme und Stoffe bestimmen, sich wandeln. Wenn die unvermeidliche Verwirrung nicht noch größer war als sie tatsächlich wurde, muß der Grund wiederum in dem Einfluß einer Kulturtradition gesucht werden, welche die Vielgestaltigkeit unkritischer Meinungen in ihren Rahmen zwang. (Fs)
Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 33a-38a Stichwort: Max Weber: wertfreie Wissenschaft; "Verantwortungsethik", Dämonie, Gesinnungsethik, Religionssoziologie Kurzinhalt: ... ob die dämonischen Werte nicht vielleicht gerade deshalb dämonisch seien, weil sie "gesinnungsethischen", nicht "verantwortungsethischen" Charakter haben? Textausschnitt: Aus 36a: Als Musterbeispiel der "Gesinnungsethik" verstand er eine, nicht gerade glücklich definierte, christliche "überweltliche" Moral; die Frage, ob die dämonischen Werte nicht vielleicht gerade deshalb dämonisch seien, weil sie "gesinnungsethischen", nicht "verantwortungsethischen" Charakter haben, weil sie sich den Charakter göttlichen Auftrags für einen menschlichen Wunschtraum anmaßten - dieses Problem hat Weber nie berührt.
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33a Was die politische Wissenschaft betrifft, so gelangte die Bewegung der Methodologie in der Person und dem Werk Max Webers zu ihrem immanent-logischen Abschluß. Eine ausführliche Charakterisierung kann in diesem Zusammenhang nicht unternommen werden. Nur einige der Züge, die ihn als Denker zwischen Abschluß und Neubeginn kennzeichnen, sollen aufgezeigt werden. (Fs)
33b Wertfreie Wissenschaft bedeutete für Weber die Erforschung von Ursachen und Wirkungen, die Konstruktion von Idealtypen des Handelns und der Institutionen, und insbesondere die Konstruktion typischer Kausalbeziehungen. Eine solche Wissenschaft wäre nicht in der Lage, jemandem zu sagen, ob er ein Wirtschaftsliberaler oder ein Sozialist, ein konstitutioneller Demokrat oder ein marxistischer Revolutionär sein solle, aber sie könnte ihm sagen, welche Folgen es hätte, wenn er die von ihm bevorzugten Werte in die politische Praxis umsetzen wollte. Auf der einen Seite standen also die "Werte" politischer Ordnung, jenseits kritischer Wertung; auf der anderen Seite eine Wissenschaft von der Struktur der sozialen Wirklichkeit, die als technisches Wissen von einem Politiker verwertet werden konnte. Indem Weber die Frage einet "wertfreien" Wissenschaft bis zu diesem pragmatischen Punkt zuspitzte, hob er die Debatte wieder über die methodologischen Streitigkeiten hinaus auf die Ebene theoretischer Relevanz. Es verlangte ihn nach der Wissenschaft, weil er Klarheit über die Welt suchte, an der er leidenschaftlich teilnahm; es drängte ihn wieder zum Wesentlichen. Seine Wahrheitssuche kam jedoch über die Ebene des pragmatischen Handelns nicht hinaus. Denn in dem intellektuellen Klima der methodologischen Debatte mußten die "Werte" als fraglos hingenommen werden und die Suche konnte nicht bis zur Betrachtung der Ordnung vordringen. Die ratio der Wissenschaft erstreckte sich für Weber nicht auf die Prinzipien, sondern nur auf die Kausalität des Handelns. (Fs)
34a Die neue Empfindlichkeit für theoretische Relevanz konnte sich darum nur in der Schöpfung der Kategorien von "Verantwortung', und "Dämonie" in der Politik ausdrücken. Weber erkannte die "Werte" als das,, was sie waren, nämlich als ordnende Ideen für das politische Handeln, aber er verlieh ihnen den Status "dämonischer" Entscheidungen jenseits des rationalen Arguments. Die Wissenschaft konnte mit der Dämonie der Politik nur fertig werden, indem sie den Politikern die Augen für die Folgen ihrer Handlungen öffnete und indem sie an ihr Verantwortungsgefühl appellierte. Diese "Verantwortungsethik" Webers ist durchaus nicht gering zu achten. Sie zielte darauf ab, den revolutionären Eifer verbohrter politischer Intellektueller, vor allem nach 1918, zu dämpfen; sie versuchte ihnen klarzumachen, daß Ideale weder die Mittel noch die Folgen von Handlungen rechtfertigen, daß Handlung in Schuld verstrickt, und daß die Verantwortung für politische Folgen voll und ganz auf dem ruht, der sich zu ihrer Ursache macht. Darüber hinaus enthüllte sie, durch ihre Diagnose als "dämonisch", den irrationalen Charakter der fraglosen "Werte" und stellte fest, daß die Politik der Zeit in der Tat zu einem Feld dämonischer Unordnung geworden war. Die glatte Geschmeidigkeit, mit der dieser Aspekt des Weber'schen Werkes von denen, die er angeht, ignoriert wurde und noch wird, ist der beste Beweis für seine Wichtigkeit. (Fs)
35a Hätte Weber lediglich aufgedeckt, daß eine "wertfreie" politische Wissenschaft keine Ordnungswissenschaft ist und daß "Werte" dämonische Entscheidungen sind, so könnte die Größe seines Werkes (die mehr geahnt als begriffen wird) bezweifelt werden. Sein Aufstieg zum Wesen hätte dort Halt gemacht, wo der Seitenweg abzweigt, der heute "Existenzialismus" genannt wird - ein Ausweg für die Ratlosen, der in der jüngsten Vergangenheit durch das Werk Sartres internationale Mode wurde. Weber ging jedoch sehr viel weiter - wenn auch der Interpret seines Werkes sich in der schwierigen Lage befindet, daß er die positive Leistung aus den intellektuellen Konflikten und Widersprüchen, in die Weber sich verwickelt hat, herauslösen muß. (Fs)
35b Das Abtasten des soeben beschriebenen Problems einer wertfreien Wissenschaft nötigt zu mehr als einer Frage. Webers Auffassung der Wissenschaft implizierte z. B., daß eine soziale Beziehung zwischen Wissenschaftler und Politiker bestehe, wie sie in der Institution einer Universität lebendig wird, wenn der Wissenschaftler als Lehrer seine Studenten, die zukünftigen homines politici, über die Struktur der politischen Wirklichkeit unterweist. Nun mag die Frage gestellt werden: was ist der Zweck dieser Unterweisung? Webers Wissenschaft ließ ja angeblich die politischen Werte der Studenten unangetastet, da Werte jenseits der Wissenschaft lägen. Da sie sich nicht auf politische Prinzipien erstreckte, konnte die Wissenschaft nicht jene der Studenten formen. Konnte sie aber vielleicht indirekt die Studenten anregen, ihre Werte zu revidieren, wenn sie gewahr würden, welch ungeahnte und vielleicht unerwünschte Konsequenzen ihre politischen Ideen in der Praxis hätten? In diesem Fall aber dürften die Werte der Studenten nicht als so dämonisch fixiert angenommen werden, daß ein Aufruf zum Urteilen nicht mehr möglich wäre. Und was könnte ein Urteil, durch das ein Wert dem andern Wert vorgezogen würde, anderes sein als ein Werturteil? Waren also rationale Werturteile doch möglich? Das Lehren einer wertfreien politischen Wissenschaft an einer Universität wäre ein sinnloses Unterfangen, wenn es nicht drauf abzielte, die Werte der Studenten dadurch zu beeinflussen, daß ihnen ein objektives Wissen von der politischen Wirklichkeit vermittelt wird. In seiner Eigenschaft als der große Lehrer strafte Weber die Ideen Lügen, die er über die Werte als dämonische Entscheidungen entwickelt hatte. (Fs)
36a Inwieweit Webers Methode des Lehrens wirksam werden konnte, ist eine andere Frage. Denn erstens war sie ein Lehren auf indirekte Weise, da Weber eine eindeutige Darlegung positiver Ordnungsprinzipien vermied; und zweitens hätte selbst das Lehren durch direkte Erörterung der Prinzipien nicht wirksam werden können, wenn der Student in seiner Stellungnahme tatsächlich dämonisch fixiert war. Weber als Erzieher konnte nur an das Gefühl einer letzten Scheu (an die aristotelische aidos) im Studenten appellieren, um ihn zu rationalen Überlegungen zu bewegen. Wie aber, wenn der Student ein solches Gefühl gar nicht hatte? Wenn der Appell an seinen Verantwortungsgeist ihm nur Unbehagen verursachte, ohne einen Gesinnungswandel herbeizuführen? Oder wenn der Appell nicht einmal Unbehagen auslöste, sondern nur den Hörer bewegte, auf das zurückzufallen, was Weber "Gesinnungsethik" nannte, nämlich auf die These, sein Glaube enthielte in sich die eigene Rechtfertigung, so daß die Folgen nicht zählten, wenn die Absicht der Handlung richtig war? Diese Frage hat Weber ebenfalls nicht geklärt. Als Musterbeispiel der "Gesinnungsethik" verstand er eine, nicht gerade glücklich definierte, christliche "überweltliche" Moral; die Frage, ob die dämonischen Werte nicht vielleicht gerade deshalb dämonisch seien, weil sie "gesinnungsethischen", nicht "verantwortungsethischen" Charakter haben, weil sie sich den Charakter göttlichen Auftrags für einen menschlichen Wunschtraum anmaßten - dieses Problem hat Weber nie berührt. Eine Diskussion solcher Fragen wäre nur auf der Ebene der philosophischen Anthropologie möglich gewesen, vor der Weber zurückscheute. Wenn er aber auch vor einer Diskussion zurückschreckte, so hatte er sich doch durch die bloße Tatsache seines Unternehmens entschieden, in die rationale Auseinandersetzung mit den Werten einzutreten. (Fs) (notabene)
37a Der Konflikt der ratio mit den fraglosen Werten politischer Intellektueller hatte seinen Ursprung im Unternehmen einer objektiven Wissenschaft von der Politik. Die ursprüngliche Konzeption einer wertfreien Wissenschaft löste sich auf. Für die Methodologen vor Max Weber konnte eine historische und soziale Wissenschaft wertfrei sein, weil ihr Objekt durch die "wertbeziehende Methode" konstituiert wurde; innerhalb des so konstituierten Bereiches sollte dann der Wissenschaftler ohne Werturteile arbeiten. Weber sah, daß es in der Politik seiner Zeit eine Vielzahl widerstreitender "Werte" gab; jeder von ihnen konnte verwendet werden, um ein "Objekt" zu konstituieren. Das Ergebnis war dann der schon erwähnte Relativismus. Die politische Wissenschaft wurde zu einer Apologie dubioser Vorstellungen politischer Intellektueller herabgewürdigt: Wie vermied nun Weber eine solche Degradierung (denn er vermied sie in der Tat)? Wenn keiner der sich widerstreitenden Werte für ihn den Bereich der Wissenschaft konstituierte, wenn er sich seine Integrität gegenüber den politischen Werten des Tages bewahrte, welches waren dann die Werte, die seine Wissenschaft begründeten? Eine erschöpfende Antwort auf diese Fragen würde über den Rahmen der vorliegenden Studie hinausgehen. Nur das Prinzip seines Verfahrens soll veranschaulicht werden. (Fs)
38a Die "Objektivität", soweit Webers Wissenschaft sie aufweist, konnte sich nur von den authentischen Ordnungsprinzipien, wie sie in der Menschheitsgeschichte entdeckt und erarbeitet waren, herleiten. Da in der geistigen Situation Webers die Existenz einer Ordnungswissenschaft nicht zugegeben werden konnte, mußte ihr Inhalt (oder soviel davon wie möglich) dadurch eingeführt werden, daß man die historischen Ausdrücke, die er gefunden hatte, als Tatsachen und Kausalfaktoren in der Geschichte anerkannte. Während Weber als Methodologe der wertfreien Wissenschaft bekannte, er verfüge über keine Beweise gegen einen politischen Intellektuellen, der sich "dämonisch" dem Marxismus als dem von ihm erwählten Wert verschrieben hatte, untersuchte er als empirischer Soziologe die protestantische Ethik und demonstrierte, daß religiöse Überzeugungen in der Entwicklung des Kapitalismus eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben, und nicht etwa umgekehrt die Wirtschaftsethik durch die Produktionsverhältnisse bestimmt war. Auf den vorangegangenen Seiten wurde wiederholt betont, daß die methodische Willkür nicht in völlige Irrelevanz wissenschaftlichen Arbeitens ausartete, weil der Drück theoretischer Traditionen ein ausschlaggebender Faktor in der Auswahl des Materials und der Probleme blieb. Dieser Druck, könnte man sagen, wurde von Weber zu einem Prinzip erhoben. Die drei Bände seiner Religionssoziologie z. B. warfen gewaltige Massen mehr oder weniger klar gesehener Wahrheiten über die menschliche und soziale Ordnung in die Debatte über die Struktur der Realität. Dadurch, daß er die unbestreitbare Tatsache herausstellte, daß Wahrheiten über die Ordnung - und nicht etwa nur Macht und Reichtum oder Furcht und Täuschung - Faktoren in der Ordnung der Realität sind, konnte ansatzweise so etwas wie eine Rationalität der Wissenschaft zurückgewonnen werden, wenn die Prinzipien auch nur durch die Hintertüre des "Glaubens", an dem sich das Handeln orientiert, Einlaß fanden und darum nur indirekt in Konflikt mit Webers "Werten" der Zeit geraten konnten. (Fs)
Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 39a-40a Stichwort: Max Weber: Standard d. Objektivität; Ordnungswahrheiten als historische Tatsachen; Mittelalter - Religionssoziologie Kurzinhalt: Man kann sich kaum ernsthaft mit dem Studium des mittelalterlichen Christentums befassen, ohne unter seinen "Werten" den Glauben an eine rationale Wissenschaft von der menschlichen und sozialen Ordnung und vor allem vom Naturrecht zu entdecken. Ja ... Textausschnitt: 39a Weber kümmerte sich nicht um die theoretischen Schwierigkeiten, in die sein Vorgehen ihn verwickelte. Wenn die "objektive" Untersuchung historischer Prozesse z. B. ergab, daß die materialistische Geschichtsauffassung falsch war, dann gab es offenbar einen Standard der Objektivität, nach dem die Konstitution des Gegenstandes der Wissenschaft durch die "Beziehung" von Tatsachen und Problemen auf den "Wert" eines Marxisten nicht zulässig war; oder - um es ohne methodologischen Jargon zu sagen - ein Gelehrter durfte nicht Marxist sein. Wenn, aber die kritische Objektivität es einem Wissenschaftler verbot, Marxist zu sein, konnte dann überhaupt irgend jemand Marxist sein, ohne die Rationalität aufzugeben, zu der er als verantwortlicher Mensch verpflichtet war? Auf solche Fragen finden sich in Webers Werk keine Antworten. Die Zeit war noch nicht gekommen, in der man klipp und klar hätte aussprechen dürfen, der "historische Materialismus" sei nicht eine Theorie; sondern eine Verfälschung der Geschichte, oder ein "materialistischer" Interpret der Politik sei ein Ignorant. der die Elemente der Wissenschaft nicht beherrsche. Als zweite Komponente in der "Dämonie" der Werte beginnt sich, von Weber nicht als solche erkannt, eine kräftige Portion von Unwissenheit herauszustellen; und der politische Intellektuelle, der "dämonisch" die Entscheidung für seinen Wert trifft, nimmt bedenklich die Gestalt eines größenwahnsinnigen Ignoranten an. Es scheint fast, daß "Dämonie" eine Eigenschaft ist, die ein Mensch im umgekehrten Verhältnis zum Radius seines relevanten Wissens besitzt. (Fs)
40a Der gesamte Ideenkomplex - von "Werten", "Wertbeziehung", "Werturteilen" und "wertfreier Wissenschaft" -schien in Auflösung begriffen zu sein. Weber hatte eine "Objektivität" der Wissenschaft wiedergewonnen, die sich offensichtlich nicht mehr in das Schema der methodologischen Debatte einfügte. Und trotzdem. konnten nicht einmal seine religionssoziologischen Studien ihn bewegen, den entscheidenden Schritt auf eine Ordnungswissenschaft hin zu tun. Der letzte Grund seines Zögerns, wenn nicht seiner Furcht, bleibt undurchsichtig im Werk; aber der Punkt, an dem er Halt machte, ist klar erkennbar. Seine religionssoziologischen Studien haben, abgesehen von anderen Gründen, immer als eine tour de forte Bewunderung hervorgerufen. Die Fülle des Materials, das er in diesen umfangreichen Studien über den Protestantismus, den Konfuzianismus, den Taoismus, den Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und das Judentum, die noch durch eine Abhandlung über den Islam vervollständigt werden sollten, verarbeitete, ist in der Tat achtunggebietend. Angesichts einer so gewaltigen Leistung ist vielleicht nicht genügend beachtet worden, daß die Reihe dieser Untersuchungen ihren Gesamtton von einem bezeichnenden Verzicht empfängt - von dem Verzicht auf das vorreformatorische Christentum. Der Grund für diese Auslassung dürfte durch die folgende Überlegung klar werden: Man kann sich kaum ernsthaft mit dem Studium des mittelalterlichen Christentums befassen, ohne unter seinen "Werten" den Glauben an eine rationale Wissenschaft von der menschlichen und sozialen Ordnung und vor allem vom Naturrecht zu entdecken. Ja noch mehr: Diese Wissenschaft war nicht nur eine Sache des "Glaubens", daß sie geschaffen werden könnte, sie war in der Tat als ein Werk der Vernunft durchgearbeitet vorhanden. Hier wäre Weber auf das Faktum der Ordnungswissenschaft gestoßen, ebenso wie er darauf gestoßen wäre, wenn er sich ernsthaft mit der griechischen Philosophie befaßt hätte. Webers Bereitschaft, Ordnungswahrheiten als historische Tatsachen einzuführen, machte halt vor der griechischen und der mittelalterlichen Metaphysik. Um die politische Wissenschaft eines Platon, Aristoteles oder Thomas zu "Werten" unter anderen herabzuwürdigen, hätte ein gewissenhafter Gelehrter erst zeigen müssen, daß ihr Anspruch auf Wissenschaftscharakter unbegründet sei. Und dieser Versuch, wenn er unternommen wird, überwindet sich selbst: denn wenn der Kritiker soweit in die Metaphysik eingedrungen ist, daß seine Kritik Gewicht hat, ist er selbst Metaphysiker geworden. Der Angriff auf die Metaphysik kann mit gutem Gewissen nur dann gewagt werden, wenn man ihn von der sicheren Distanz unvollständigen Wissens her unternimmt. Der Horizont von Webers empirischer Soziologie .war außerordentlich weit; um so deutlicher werden in seiner Vorsicht, ihrem entscheidenden Kern zu nahe zu kommen, die positivistischen Schranken sichtbar. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 41a-42a Stichwort: Max Weber: Zweideutigkeit d. Werkes; Beachtung d. positivistischen Tabus; Weber (das gelobte Land) - Nietzsche Kurzinhalt: Max Webers Werk kann als ein Versuch bezeichnet werden, die politische Wissenschaft aus der Verstrickung in die Irrelevanz der Methode zu befreien und ihr wieder zu theoretischer Ordnung zu verhelfen. Die neue Theorie, um die er sich bemühte, konnte ... Textausschnitt: 41a Das Ergebnis von Webers Werk war zweideutig. Er hatte das Prinzip einer wertfreien Wissenschaft ad absurdum geführt. Ihr Programm, den Gegenstand der Wissenschaft durch "Wertbeziehung" zu begründen, konnte nur unter der Bedingung verwirklicht werden, daß ein Gelehrter gewillt war, sich für einen bestimmten "Wert" als Bezugspunkt zu entscheiden. Weigerte sich der Wissenschaftler aber, sich für einen "Wert" zu entscheiden, stellte er alle "Werte" gleich (wie Weber es tat), und machte er sie sogar zu sozialen Tatsachen unter anderen - dann konnten die zum Objekt gewordenen "Werte" nicht mehr das Objekt der Wissenschaft konstituieren. Diese Abschaffung der "Werte" als Konstituenten der 'Wissenschaft führte zu einer theoretisch unhaltbaren Situation, denn das Objekt der Wissenschaft hat ja schließlich doch eine "Konstitution", und zwar durch das Wesen, auf das wir uns in unserer Wahrheitssuche hinbewegen. Da aber das positivistische Üel die Anerkennung einer Wissenschaft vom Wesen, einer echten episteme, nicht zuließ, mußten die Ordnungsprinzipien als historische Fakten eingeführt werden. Als Weber das große Gebäude seiner "Soziologie" (d. h. der positivistischen Flucht vor der Ordnungswissenschaft) errichtete, behandelte er keineswegs alle "Werte" als gleich. Er legte nicht eine wertlose Sammlung von Nichtigkeiten an, sondern wählte sinnvoll die Phänomene, die in der Menschheitsgeschichte "wichtig" waren; er konnte sehr wohl zwischen Hochkulturen und Nebenentwicklungen, zwischen "Weltreligionen" und unbedeutenden religiösen Phänomenen, unterscheiden. Wenn ihm auch ein durchdachtes Prinzip der Theoretisierung fehlte, so ließ er sich doch nicht von "Werten" leiten, sondern von der auctoritas majorum und von seinem eigenen Gefühl für das Bedeutende. (Fs)
42a Max Webers Werk kann als ein Versuch bezeichnet werden, die politische Wissenschaft aus der Verstrickung in die Irrelevanz der Methode zu befreien und ihr wieder zu theoretischer Ordnung zu verhelfen. Die neue Theorie, um die er sich bemühte, konnte jedoch nicht klare Gestalt finden, weil er mit peinlicher Genauigkeit das positivistische Tabu gegenüber der Metaphysik beachtete. Durch Webers Bemühungen um theoretische Klarheit wurde jedoch etwas anderes klar. Durch sein ganzes Werk hindurch kämpfte er um die Gestaltung seiner Theorie durch die Konstruktion von "Typen". Die verschiedenen Phasen, durch die der Kampf hindurch ging, können hier nicht behandelt werden. In der letzten Phase verwandte er Typen "rationalen Handelns" als Standardtypen und konstruierte dann weitere Typen der Abweichungen vom Standard der Rationalität. Dieses Verfahren war dadurch motiviert, daß Weber die Geschichte als eine Entwicklung zur Rationalität und seine eigene Zeit als den Höhepunkt der "rationalen Selbstbestimmung" des Menschen verstand. In verschiedenen Graden der Vollständigkeit führte er diesen Gedanken aus für die Wirtschaftsgeschichte, die politische Geschichte und die Religionsgeschichte und sehr erschöpfend für die Musikgeschichte. Die Grundkonzeption leitete sich offensichtlich von Comtes Geschichtsphilosophie her; und Webers eigene Geschichtsdeutung könnte zu Recht als das letzte der großen positivistischen Systeme verstanden werden. Bei Webers Durchführung des Themas wird jedoch ein neues Motiv vernehmbar. Für Comte war der Gang der Menschheit von der Theologie über die Metaphysik zur Rationalität der positiven Wissenschaft eine eindeutig progressive Entwicklung; für Weber war er ein Prozeß der Entzauberung und Entgöttlichung der Welt. Durch den Unterton seines Bedauerns über das Schwinden des göttlichen Zaubers aus der Welt, durch sein resigniertes Anerkennen des Rationalismus als eines Schicksals, das zwar zu tragen aber nicht zu wünschen sei, durch die gelegentliche Klage darüber, daß seine Seele religiös unmusikalisch sei, verriet er seine Bruderschaft im Leiden Nietzsches - wenn auch, trotz seiner Konfession, seine Seele ausreichend religiös musikalisch war, um nicht Nietzsche in dessen tragische Revolte zu folgen. Er wußte, wonach es ihn verlangte, aber er konnte nicht dahin gelangen; er sah das gelobte Land, aber er durfte es nicht betreten. (Fs)
Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 44a-48a Stichwort: Max Weber; Restauration d. Wissenschaft d. Politik; moderner Irrationalismus; Wandlungen im religiösen Erleben Kurzinhalt: Was Weber in der Nachfolge Comtes als modernen Rationalismus auffaßte, müßte neu interpretiert werden als moderner Irrationalismus Textausschnitt: 4. Die Restauration von der Wissenschaft der Politik
44a Mit Max Webers Werk war der Positivismus zu seinem inneren Abschluß gekommen, und die Richtung begann sich abzuzeichnen, in der eine Erneuerung der politischen Wissenschaft sich bewegen würde. Die Korrelation zwischen dem konstituierenden "Wert" und der konstituierten "wertfreien" Wissenschaft war zusammengebrochen; die "Werturteile" hatten wieder in die Wissenschaft zurückgefunden in der Form des Glaubens, an dem sich das Handeln orientiert und dadurch die Einheiten der Sozialordnung schafft. Die letzte Bastion war Webers Überzeugung, die Geschichte bewege sich auf einen Typus der Rationalität zu, der Religion und Metaphysik in das Reich des "Irrationalen" verbanne. Und diese Bastion war nicht allzu stark, sobald man sich klar wurde, daß niemand verpflichtet war, sich in ihr zu verschanzen; man konnte ihr den Rücken kehren und die Rationalität der Metaphysik und im besonderen der philosophischen Anthropologie neu entdecken, d. h. jener Wissenschaftsbereiche, von denen Max Weber sich geflissentlich ferngehalten hat. (Fs)
44b Das Rezept ist jedoch einfacher als seine Anwendung. Denn Wissenschaft ist nicht die einsame Leistung dieses oder jenes Forschers; sie ist ein kooperatives Unternehmen. Wirksame Arbeit ist nur im Rahmen einer Tradition geistiger Kultur möglich. Wenn die Wissenschaft so völlig ruiniert ist, wie dies um 1900 der Fall war, dann ist die Wiedergewinnung theoretischer Grundlagen schon für sich eine beträchtliche Aufgabe, ganz zu schweigen von der Materialmasse, die neu bearbeitet werden muß, um die Relevanzordnung der Tatsachen und Probleme wiederherzustellen. Ferner dürfen die menschlichen Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden: die Entwicklung neuer, der Konvention zuwiderlaufender Ideen wird unvermeidlich auf den Widerstand der Umgebung stoßen. Ein Beispiel möge die Natur dieser verschiedenen Schwierigkeiten verständlich machen. (Fs) (notabene)
45a Wie soeben dargelegt wurde, verstand Weber Geschichte noch als ein Wachsen der Rationalität im positivistischen Sinne. Von einer Ordnungswissenschaft her gesehen ist jedoch der Ausschluß der scientia prima aus dem Bereich der Vernunft nicht ein Wachsen, sondern ein Rückgang der Rationalität. Was Weber in der Nachfolge Comtes als modernen Rationalismus auffaßte, müßte neu interpretiert werden als moderner Irrationalismus. Schon diese Umkehrung allgemein akzeptierter Wortbedeutungen würde auf Widerstand stoßen. Aber eine Neuinterpretation könnte an diesem Punkt nicht Halt machen. Die Ablehnung hoch entwickelter Wissenschaften und der Rückzug auf eine niedrigere Rationalitätsstufe hat erlebnismäßig tiefgehende Motive. Eine genauere Untersuchung würde gewisse Wandlungen im religiösen Erleben als die tiefste Ursache für das Widerstreben enthüllen, die ratio von Ontologie und philosophischer Anthropologie anzuerkennen; und in der Tat begann in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Erforschung des Sozialismus als religioser Bewegung, eine Erforschung, die sich später zum umfassenden Studium totalitärer Bewegungen als neuer Mythen oder Religionen ausweitete. Die Untersuchung würde darüber hinaus zu dem allgemeinen Problem der Beziehungen zwischen Rationalitätstypen und Typen religiöser Erfahrung führen. Manche religiöse Erfahrungen würden als höher, andere als niedriger zu klassifizieren sein nach dem Maßstab des Rationalitätsgrades, den sie in der Interpretation der Wirklichkeit zulassen. Die religiösen Erfahrungen der griechischen Philosophie und des Christentums würden hoch zu werten sein, weil sie die Entfaltung der Metaphysik zulassen; die religiösen Erfahrungen von Comte und Marx würden als niedrig eingestuft werden, weil sie die metaphysische Fragestellung verbieten. Solche Erwägungen würden das positivistische Bild der Entwicklung von einer frühen religiösen oder theologischen Phase der Menschheit bis zur Höhe der positiven Wissenschaft radikal umstoßen. Nicht nur würde die Linie der Entwicklung, zumindest für die Neuzeit, von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe der Rationalität verlaufen, sondern darüber hinaus müßte dieser Abstieg der ratio als die Folge geistigen Rückschrittes aufgefaßt werden. Damit würde eine Deutung westlicher Geschichte, die in Jahrhunderten entstanden war, revolutioniert werden. Und eine Revolution solchen Ausmaßes würde auf die Opposition "progressiver" Elemente stoßen, die sich plötzlich in der Lage rückschrittlicher Irrationalisten befänden. (Fs) (notabene)
46a Die Möglichkeiten einer Neuinterpretation des Rationalismus sowie der positivistischen Geschichtsauffassung wurden im Modus des Konjunktivs formuliert, um den prekären, hypothetischen Charakter einer Erneuerung der politischen Wissenschaft um die Jahrhundertwende anzudeuten. Ideen dieser Art waren im Umlauf; aber von der Gewißheit, daß es mit der Lage der Wissenschaft nicht zum Besten bestellt war, bis zu der genauen Erkenntnis der Natur des Übels war ein weiter Weg zurückzulegen; und ebenso weit war der Weg von ersten Mutmaßungen über die einzuschlagende Richtung bis zur Erreichung des Ziels. Eine große Zahl von Vorbedingungen mußten erfüllt sein, ehe die konjunktivischen Erwägungen in die Form indikativischer Aktion übertragen werden konnten. Das Verständnis für die Ontologie wie auch die rein handwerksmäßige Technik des Philosophierens mußten neu erworben, und vor allem mußte die philosophische Anthropologie wieder als Wissenschaft neu begründet werden. Mit Hilfe der wiedergewonnenen Maßstäbe wurde es dann möglich, in sachlicher Hinsicht die Irrationalität der positivistischen Position im einzelnen präzis zu beschreiben. Zu diesem Zweck mußten die Werke der führenden positivistischen Denker sorgfältig analysiert werden, um den entscheidenden Punkt ihrer Ablehnung rationaler Argumente genau festzustellen; man mußte z. B. die Stellen in den Werken von Comte und Marx aufzeigen, an denen diese Denker die Gültigkeit der metaphysischen Fragestellung anerkannten, sich aber weigerten, sich ihr zu beugen, weil sie dadurch ihr irrationales Meinen und ihre Absichten gefährdet hätten. Wenn die Untersuchung weiter bis zu den Motiven des Irrationalismus vordrang, mußte das positivistische Denken, wiederum auf Grund der Quellen, als eine Variante des Theologisierens genauer bestimmt werden; und schließlich mußten die zugrunde liegenden religiösen Erlebnisse diagnostiziert werden. Diese Diagnose wieder konnte nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn eine allgemeine Theorie religiöser Phänomene so weit ausgearbeitet war, daß sie die Subsumierung der konkreten Fälle unter Typen gestattete. Die allgemeine These betreffend den Zusammenhang zwischen Rationalitätsgraden und religiösen Erfahrungen, ferner auch der Vergleich mit griechischen und christlichen Beispielen, erforderten ein erneutes Studium der griechischen Philosophie, welches den Zusammenhang zwischen der Entfaltung der griechischen Metaphysik und den religiösen Erfahrungen der Philosophen, die sie entwickelt haben, herausstellte; und ein erneutes Studium der mittelalterlichen Philosophie mußte den entsprechenden Zusammenhang für den Fall des Christentums feststellen. Darüber hinaus mußten die charakteristischen Unterschiede von griechischer und christlicher Metaphysik aufgezeigt werden, die den Unterschieden der religiösen Erfahrung zugeschrieben werden konnten. Und erst nachdem alle diese vorbereitenden Studien durchgeführt, nachdem die Begriffe für die Behandlung der Probleme konstruiert und die Urteile durch die Quellen gestützt waren, konnte man sich der abschließenden Aufgabe zuwenden, die Ordnung der Geschichte, in welche diese mannigfaltigen Phänomene sich eingliedern ließen, theoretisch verständlich zu machen. (Fs) (notabene)
48a Die Aufgabe der Erneuerung ist tatsächlich unternommen worden; und heute ist sie soweit gediehen, daß zumindest die Grundlagen für eine neue Ordnungswissenschaft gelegt sind. Eine eingehende Schilderung des weitgespannten Unternehmens geht über den hier vorgesehenen Rahmen hinaus - sie müßte zu einer umfassenden Geschichte der Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anwachsen. Die folgenden Untersuchungen über das Repräsentationsproblem haben den Zweck, den Leser mit dieser Bewegung sowie auch mit der Verheißung, die sie für die Erneuerung der politischen Wissenschaft bedeutet, bekannt zu machen. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 77b-79a Stichwort: Zusammenfassung: deskriptive (konstitutionelle) - existentielle Repräsentation Kurzinhalt: .. daß eine politische Gesellschaft existent wird, wenn sie sich artikuliert und einen Repräsentanten hervorbringt Textausschnitt: 9. Zusammenfassung
77b Die Analyse der Repräsentation auf dieser Ebene ist erschöpft. Die Zusammenfassung ihrer Ergebnisse kann kurz gehalten werden. (Fs)
77c Wir haben der Reihe nach die Repräsentation im deskriptiven und im existentiellen Sinne behandelt. Der Übergang vom ersten Typus zum zweiten war deshalb nötig, weil die bloße Beschreibung der äußeren Realisierung einer politischen Gesellschaft die fundamentale Frage ihrer Existenz nicht berührte. Die Frage nach den Bedingungen der Existenz führte sodann zu den Problemen der Artikulierung sowie zum Verständnis der engen Beziehung zwischen den Typen der Artikulierung und der Repräsentation. Das Resultat dieser Analyse läßt sich in der Definition ausdrücken, daß eine politische Gesellschaft existent wird, wenn sie sich artikuliert und einen Repräsentanten hervorbringt. Wird diese Definition akzeptiert, so ergibt sich, daß der deskriptive Typus repräsentativer Institutionen nur die äußere Realisierung eines speziellen Artikulations- und Repräsentationstypus umfaßt. In der kritischen Wissenschaft wird es daher ratsam sein, den Gebrauch des Ausdrucks "Repräsentation" auf seinen existentiellen Sinn zu beschränken. Nur wenn sein Gebrauch auf diese Weise eingeschränkt wird, wird die Artikulierung der Gesellschaft als das existentiell alles beherrschende Problem deutlich sichtbar, und nur dann werden die sehr speziellen historischen Bedingungen verständlich, unter denen sich die gemeinhin als solche bezeichneten repräsentativen Institutionen entwickeln können. Es wurde bereits angedeutet, daß sie nur in der griechisch-römischen und in der westlichen Kultur auftreten; und die Bedingung ihrer Entwicklung wurde vorläufig als der Prozeß formuliert, in dem sich das Individuum zur vertretbaren Einheit artikuliert. Im Lauf der Analyse tauchten ferner eine Reihe von Problemen auf, die zunächst nicht weiter verfolgt werden konnten - wie z. B. das Symbol "Volk", Fortescues intencio populi mit ihren immanentistischen Implikationen, und die Beziehung eines geschlossenen Reiches zur spiritualen Repräsentation des Menschen in der Kirche. Diese nur kurz gestreiften Probleme werden im weiteren Verlauf der Untersuchungen wieder aufgegriffen werden. (Fs) (notabene)
78a Die adäquate Begriffsdifferenzierung erwies sich jedoch als von nicht ausschließlich theoretischem Interesse. Die ungenügende Unterscheidung zwischen elementaren und existentiellen Problemen war als Tatsache in der politischen Realität zu beobachten. Als Realitätsfaktor wirft diese Konfusion ein Sonderproblem auf. Der Anspruch, daß unter dem Symbol "Repräsentation" nur ein Sonderfall von Artikulierung verstanden werden dürfte, ist ein Symptom von politischem und kulturellem Provinzialismus. Und provinzielle Engstirnigkeiten dieser Art können, wenn sie die Struktur der Realität verdunkeln, gefährlich werden. Hauriou gab nachdrücklich zu verstehen, daß Repräsentation im deskriptiven Sinn keine Sicherheit gegen existentielle Auflösung und Neuartikulierung einer Gesellschaft gewährleistet. Wenn ein Repräsentant seine existentielle Aufgabe nicht erfüllt, wird ihn keine konstitutionelle Legalität seiner Stellung retten können; wenn eine schöpferische Minorität, um mit Toynbee zu sprechen, zu einer herrschenden Minorität geworden ist, gerät sie in die Gefahr, durch eine neue schöpferische Minorität verdrängt zu werden. Die Vernachlässigung dieses Problems hat in der Praxis in unserer Zeit bedeutsam zu den inneren Umwälzungen in den westlichen politischen Gesellschaften beigetragen, wie auch zu deren gewaltigen Auswirkungen auf der internationalen Ebene. (Fs)
79a Die Außenpolitik der westlichen Demokratien ist an den internationalen Wirren mitschuldig durch ihr aufrichtiges, aber naives Bemühen, die Übel der Welt zu heilen durch die Ausdehnung repräsentativer Institutionen im deskriptiven Sinn auf Länder, denen die existentiellen Voraussetzungen für sein Funktionieren noch fehlen. Diese Politik läßt sich nicht aus den Schwächen einzelner Staatsmänner erklären - obwohl auch solche Schwächen deutlich erkennbar sind. Sie ist vielmehr symptomatisch für einen Widerstand, der Realität ins Gesicht zu sehen, der in den Gefühlen und Meinungen unserer zeitgenössischen westlichen Gesellschaften tief verwurzelt ist. Nur weil diese Schwächen Symptome eines Massenphänomens sind, kann man mit Recht von einer Krise der westlichen Zivilisation sprechen. Die Ursachen dieser Erscheinung werden im Verlauf der folgenden Untersuchung ausführlich behandelt werden; ihre kritische Erforschung setzt aber ein genaues Wissen um die Beziehungen zwischen Theorie und Wirklichkeit voraus. Wir müssen daher die Beschreibung der theoretischen Situation, die zu Beginn dieses Kapitels unvollständig geblieben war, wieder aufnehmen. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 81a-82a Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 1; Symbolik der Gesellschaft und Wahrheit der Theorie; ein Theoretiker als außerhalb der sozilane Realität? Kurzinhalt: Die Symbole, in denen eine Gesellschaft den Sinn ihrer Existenz aussagt, wollen wahr sein. Wenn nun der Theoretiker zu einer anderen Aussage gelangt, so gelangt er damit zu einer anderen Wahrheit betreffend den Sinn der menschlichen Existenz in der ... Textausschnitt: II. Repräsentation und Wahrheit
1. Die Symbolik der Gesellschaft und die Wahrheit der Theorie
81a Bei ihrem ersten Ansatz hielt sich die Analyse an die aristotelische Methode einer Untersuchung von Sprachsymbolen, wie sie in der politischen Wirklichkeit vorkommen, in der Hoffnung, daß dieses Verfahren der Klärung zu kritisch haltbaren Begriffen führen würde. Die Gesellschaft war ein sinnerfülltes Kosmion, von innen her erhellt durch seine Selbstinterpretation. Da nun diese kleine sinnhaltige Welt eben der Gegenstand war, den die politische Wissenschaft zu erforschen hatte, schien die Methode, die von den in der Wirklichkeit vorhandenen Symbolen ausgeht, zumindest den Gegenstand sicherzustellen. (Fs)
81b Die Sicherstellung des Gegenstandes ist aber nicht mehr als der erste Schritt in der Untersuchung, und ehe wir uns weiter vorwagen, muß festegestellt werden, ob überhaupt ein Weg vorhanden ist und wohin dieser führt. Eine Anzahl von Annahmen wurden gemacht, die nicht ohne nähere Begründung hingenommen werden können. Es wurde vorausgesetzt, daß man von sozialer Realität sprechen könne und von einem Theoretiker, der sie erforsche, von kritischer Klärung und theoretischen Zusammenhängen, von Symbolen der Theorie, die aber nicht identisch mit den in der Wirklichkeit vorhandenen Symbolen zu sein schienen, und von Begriffen, die sich einerseits auf die Wirklichkeit bezogen, andererseits ihre Bedeutung von der Wirklichkeit, durch die mysteriöse Methode der kritischen Klärung, herleiteten. Eine ganze Reihe von Fragen drängt sich auf. Ist es möglich, daß ein Theoretiker eine Person außerhalb der sozialen Realität ist, oder ist er nicht vielmehr ein Teil von ihr? Und wenn er der Realität angehören sollte, in welchem Sinne kann diese dann sein Objekt sein? Und wie geht er eigentlich bei einer Klärung der in der Realität vorhandenen Symbole vor? Wenn er lediglich Unterscheidungen einführt, Äquivokationen beseitigt, aus zu allgemein gehaltenen Urteilen den richtigen Kern herausschält, Symbole und Sätze logisch widerspruchsfrei macht und dergleichen mehr, wäre dann nicht jeder, der an der Selbstinterpretation der Gesellschaft Anteil hat, zumindest ein Amateur-Theoretiker, und wäre Theorie im strengen Sinne mehr als eine besser durchdachte Selbstinterpretation? Oder besitzt der Theoretiker vielleicht eigene Interpretationskriterien, an denen er die Selbstinterpretation der Gesellschaft mißt? Und bedeutet Klärung, daß er à propos der in der Wirklichkeit vorhandenen Symbole eine Interpretation von überlegener Qualität entwickelt? Doch wenn dies der Fall wäre, entstünde dann nicht ein Konflikt zwischen zwei verschiedenen Interpretationen? (Fs)
82a Die Symbole, in denen eine Gesellschaft den Sinn ihrer Existenz aussagt, wollen wahr sein. Wenn nun der Theoretiker zu einer anderen Aussage gelangt, so gelangt er damit zu einer anderen Wahrheit betreffend den Sinn der menschlichen Existenz in der Gesellschaft. Und dann erhebt sich die Frage: Was ist diese Wahrheit, die der Theoretiker repräsentiert, diese Wahrheit, die ihm die Maßstäbe an die Hand gibt, nach denen er die von der Gesellschaft repräsentierte Wahrheit zu messen vermag? Aus welcher Quelle fließt diese Wahrheit, die offenbar in kritischem Gegensatz zur Gesellschaft entwickelt wird? Und wenn die vom Theoretiker repräsentierte Wahrheit nicht mit der von der Gesellschaft repräsentierten Wahrheit übereinstimmt, wie soll sich dann die eine aus der anderen entwickelt haben durch die so harmlos scheinende Methode der kritischen Klärung? (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 83a-89b Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 2; Gesellschaft als Repräsentant kosmischer Ordnung; Achaemeniden, Darius I.; Brief des Kuyuk Khan an Papst Innozenz IV; Dschingis-Khan Kurzinhalt: Die vom Theoretiker vertretene Wahrheit wurde einer von der Gesellschaft vertretenen entgegengesetzt. Ist diese Gegenüberstellung sinnvoll? Gibt es wirklich so etwas wie Repräsentation der Wahrheit in den politischen Gesellschaften? Textausschnitt: 2. Die Gesellschaft als Repräsentant kosmischer Ordnung
83a Gewiß können diese Fragen nicht alle auf einmal beantwortet werden. Ihre Aufzählung sollte jedoch erkennen lassen, wie verwickelt die theoretische Situation ist. Die Analyse wird sich zweckmäßigerweise auf den Punkt konzentrieren, an dem die Fragen unserem Thema am nächsten kommen, d. h. auf die Fragen betreffend den Wahrheitskonflikt. Die vom Theoretiker vertretene Wahrheit wurde einer von der Gesellschaft vertretenen entgegengesetzt. Ist diese Gegenüberstellung sinnvoll? Gibt es wirklich so etwas wie Repräsentation der Wahrheit in den politischen Gesellschaften? Wenn dies der Fall sein sollte, dann wäre das Repräsentationsproblem durch die Repräsentation im existentiellen Sinne nicht erschöpft. Dann würde zu unterscheiden sein zwischen der Repräsentation einer Gesellschaft durch ihre existentiellen Repräsentanten, und einer zweiten Relation, in welcher die Gesellschaft selbst etwas, das über sie hinausgeht, eine transzendente Wirklichkeit, repräsentiert. Ist eine solche Relation in den historischen Gesellschaften konkret vorhanden? (Fs)
84b Man stößt in der Tat auf sie, in der Geschichte der größeren, über Stammeseinheiten hinausgehenden Gesellschaften bis zurück zu ihren Anfängen. Alle frühen Reiche des Nahen wie des Fernen Ostens faßten sich als Repräsentanten einer transzendenten Ordnung, der Ordnung des Kosmos auf, und einige unter ihnen verstanden diese Ordnung als eine "Wahrheit". Ob man sich den frühesten chinesischen Quellen im Shu-ching oder den ägyptischen, babylonischen, assyrischen oder persischen Inschriften zuwendet, überall wird die Ordnung des Reiches als Repräsentation der kosmischen Ordnung in dem Medium der menschlichen Gesellschaft interpretiert. Das Reich ist ein kosmisches Analogon, ein Mikrokosmos als Spiegel des allumfassenden Makrokosmos. Herrschaft wird zur Aufgabe, die Gesellschaftsordnung in Einklang mit der kosmischen Ordnung zu bringen. Das Territorium des Reiches repräsentiert analogisch die Welt mit ihren vier Himmelsrichtungen; die großen Zeremonien des Reiches repräsentieren den Rhythmus des Kosmos; Feste und Opferfeiern sind eine kosmische Liturgie, eine symbolische Teilnahme des Kosmion am Kosmos; und der Herrscher selbst repräsentiert die Gesellschaft, weil er auf Erden die transzendente Macht repräsentiert, die die kosmische Ordnung aufrechthält. Der Ausdruck "Kosmion" gewinnt damit die zusätzliche Bedeutungskomponente des Repräsentanten des Kosmos. (Fs) (notabene)
84a Ein Ordnungsunternehmen dieser Art stößt auf den Widerstand innerer und äußerer Feinde; der Herrscher kann in seiner menschlichen Begrenzung durch äußere Umstände oder durch eigene schlechte Führung Rückschläge erleiden, die zu inneren Umwälzungen und äußeren Niederlagen führen. Die Erfahrungen des Widerstandes sind nun die Gelegenheiten, bei denen der Sinn der Wahrheit deutlicher in den Blick kommt. Insofern als die Gesellschaftsordnung nicht automatisch existiert, sondern begründet, bewahrt und verteidigt werden muß, gelten alle, die sich auf der Seite der Ordnung befinden, als Repräsentanten der Wahrheit, während ihre Feinde die Unordnung und Unwahrheit repräsentieren. (Fs)
84b Diese Stufe der Selbstinterpretation eines Reiches wurde von den Achaemeniden erreicht. Die Inschrift von Behistun, die die Großtaten Darius I. verherrlicht, bezeichnet den König als Sieger, weil er als rechtschaffenes Werkzeug Ormuzds handelte. Er "war kein Böser noch ein Lügner", weder er noch seine Familie huldigten Ahriman, der Lüge, sondern sie waren "rechtliche Herrscher"1. Was jedoch die Feinde anbetrifft, so versichert uns die Inschrift, daß "die Lüge sie rebellisch machte, so daß sie das Volk hintergingen. Daher übergab Ormuzd sie in meine Hände"2. Die Ausdehnung des Reiches und die Unterwerfung seiner Feinde werden in dieser Vorstellungswelt zur Errichtung eines irdischen Friedensreiches durch den König, der als Repräsentant des göttlichen Herrn der Weisheit handelt. Darüber hinaus verästelt sich die Auffassung bis in das Ethos des politischen Verhaltens. Die Rebellen gegen die Wahrheit sind zwar als solche vor allem erkennbar an ihrem Widerstand gegen den König, aber außerdem sind sie als die Repräsentanten der Lüge erkenntlich an der Lügenpropaganda, die sie verbreiten, um das Volk irrezuführen. Dem König hingegen obliegt die Pflicht, sich in seinen Äußerungen genauestens an die Wahrheit zu halten. Die Inschrift von Behistun enthält folgenden eindrucksvollen Passus: "Durch Ormuzds Gnade war es mir vergönnt, noch viele Dinge zu tun, die nicht hier eingemeißelt sind. Sie wurden nicht erwähnt, damit dem zukünftigen Leser meine Taten nicht allzu groß erscheinen mögen, so daß er sie nicht glauben, sondern für Lügen halten würde."3 Nicht die geringste Übertreibung ist dem Repräsentanten der Wahrheit gestattet, er muß im Gegenteil seine Taten verkleinern. (Fs)
86a Angesichts eines so betont tugendhaften Verhaltens beginnt man sich zu fragen, was wohl die Gegenseite sagen würde, wenn sie die Möglichkeit hätte, sich zu äußern. Es wäre interessant zu wissen, welcher Art Höflichkeiten ausgetauscht würden, wenn zwei oder mehr solcher Repräsentanten der Wahrheit in Wettbewerb um die Errichtung der einen wahren Ordnung der Menschheit träten. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein solcher Zusammenstoß sich nur selten ereignet, aber immerhin gibt es einen lehrreichen Fall im Verlauf der Mongolenzüge, die im 13. Jahrhundert das Westreich auszulöschen drohten. Sowohl der Papst als auch der König von Frankreich schickten damals Gesandte an den mongolischen Hof, welche die Absichten der gefährlichen Eroberer erkunden und ganz allgemein Verbindungen anknüpfen sollten. Die Noten, die den Gesandten mitgegeben wurden, wie auch ihre persönlichen Vorstellungen müssen wohl Klagen über die mongolischen Greueltaten in Osteuropa enthalten haben, ferner Kommentare betreffend die Unsittlichkeit solchen Verhaltens, insbesondere wenn die Opfer Christen waren, und sogar die Forderung, die Mongolen sollten die Taufe empfangen und sich der Autorität des Papstes unterwerfen. Die Mongolen erwiesen sich jedoch als Meister der politischen Theologie. In einem erhaltenen Brief des Kuyuk Khan an Papst Innozenz IV4. werden die Vorstellungen der Gesandten genauestens beantwortet. Eine Stelle daraus lautet: (Fs)
Ihr habt gesagt, es wäre gut, daß ich die Taufe empfange; du hast es mich selbst wissen lassen, und hast mir die Bitte geschickt.
Diese deine Bitte habe ich nicht zur Kenntnis genommen.
Ein anderer Punkt: Ihr habt uns die Worte geschickt, "Ihr habt die Reiche der Magyaren und der Christen insgesamt genommen; darüber verwundere ich mich. Sagt uns, was haben diese für eine Schuld?"
Auch diese deine Worte haben wir nicht zur Kenntnis genommen. (Fs)
(Um jedoch jeglichen Anschein zu vermeiden, als würden wir diesen Punkt stillschweigend übergehen, antworten wir euch folgendes):
Den Befehl Gottes haben Dschingis-Khan und der Kha-Khan alle beide geschickt, um sie kund zu machen.
Aber dem Befehl Gottes haben sie nicht geglaubt.
Sie, von denen dein Wort, haben sogar großen Rat gehalten. Sie zeigten sich hochfahrend und töteten unsere Gesandten. Der ewige Gott hat in diesen Reichen die Männer getötet und vernichtet.
Wie könnte jemand, nur aus eigener Kraft, ohne den Befehl Gottes, töten, wie könnte er nehmen? (Fs)
Und wenn du sagst: "Ich bin Christ, ich bete Gott an, ich verachte die andern",
Wie weißt du, wem Gott vergibt, und wem er Barmherzigkeit zuwendet? Wie weißt du es, daß du solche Worte sprichst? (Fs)
Aus der Kraft Gottes
wurden alle Reiche vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang uns verliehen.
Ohne den Befehl Gottes,
Wie könnte einer irgend etwas tun?
Jetzt müßt ihr aufrichtigen Herzens sagen:
"Wir wollen untertan sein,
wir geben unsere Kraft."
Du in Person, an der Spitze der Könige, alle zusammen, ohne Ausnahme, kommt uns Dienst und Huldigung zu bringen; dann werden wir eure Unterwerfung anerkennen. Und wenn ihr dem Befehl Gottes nicht gehorcht
und unserem Befehl zuwiderhandelt,
dann wissen wir euch unseren Feind. (Fs)
Das tun wir euch kund;
wenn ihr zuwiderhandelt,
was wissen dann wir?
Gott weiß es.5 (Fs)
88a Diese Begegnung zwischen Wahrheit und Wahrheit hat vertrauten Klang. Und er wird noch vertrauter, wenn einige Folgerungen der mongolischen Rechtstheorie berücksichtigt werden. Der Auftrag Gottes, auf den sich die Errichtung des Mongolenreiches gründete, ist in den Edikten des Kuyuk Khan und des Mangu Khan erhalten: (Fs)
Im Auf trag des lebendigen Gottes
sagt Dschingis-Khan, der süße und ehrwürdige Sohn Gottes:
Gott ist hoch über allem, Er, Er selbst, der unsterbliche Gott, Und auf Erden ist Dschingis-Khan der einzige Herr.6
89a Das Reich, in dem Dschingis-Khan der Herr ist, existiert de jure, selbst wenn es de facto noch nicht verwirklicht ist. Kraft des Gottesauftrags sind alle menschlichen Gesellschaften Teile des Mongolenreiches, selbst wenn sie noch nicht erobert sind. Die tatsächliche Expansion des Reiches erfolgt nach einem genau festgelegten Rechtsverfahren. Gesellschaften, die an der Reihe sind, in das Reich eingegliedert zu werden, müssen durch Gesandte von dem Auftrag Gottes in Kenntnis gesetzt und zur Unterwerfung aufgefordert werden. Wenn sie sich weigern oder etwa die Gesandten töten, dann sind sie Rebellen und es werden militärische Sanktionen gegen sie verhängt. Das Mongolenreich hat somit nach seiner eigenen Rechtsordnung niemals einen Krieg geführt, sondern lediglich Strafexpeditionen gegen rebellische Untertanen des Reiches unternommen.7 (Fs) (notabene)
89b Es wird jetzt wohl klar geworden sein, daß die Inschriften von Behistun und die Mongolenbefehle nicht als Kuriositäten aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu betrachten sind, sondern als Beispiele eines politischen Ordnungsprinzips, das zu jeder Zeit, und besonders in unserer eigenen, auftreten kann. Das Selbstverständnis einer Gesellschaft als Repräsentant kosmischer Ordnung rührt aus dem Zeitalter der kosmologischen Reiche, in dem es erstmals greifbar wird, ist aber nicht auf dieses beschränkt. Die kosmologische Repräsentation lebt nicht nur in den kaiserlichen Symbolen des westlichen Mittelalters oder kontinuierlich bis in das China des zwanzigsten Jahrhunderts weiter. Ihr Prinzip ist auch dort erkennbar, wo die zu repräsentierende Wahrheit auf ganz andere Weise symbolisiert wird. In der Marx'schen Dialektik zum Beispiel wird die Wahrheit der kosmischen Ordnung durch die Wahrheit einer historisch immanenten Ordnung ersetzt. Dennoch ist die kommunistische Bewegung der Repräsentant dieser auf andere Weise symbolisierten Wahrheit in dem selben Sinn, in dem ein Mongolenkhan der Repräsentant der im Auftrag Gottes enthaltenen Wahrheit war, und das Bewußtsein dieser Repräsentation führt zu der gleichen politischen und juristischen Konstruktion wie in den anderen Fällen imperialer Repräsentation der Wahrheit. Ihre Ordnung ist im Einklang mit der Wahrheit der Geschichte; ihr Ziel ist die Etablierung eines Reiches der Freiheit und des Friedens; die Gegner widersetzen sich der Wahrheit der Geschichte und werden letztlich besiegt werden; kein Land kann sich legitim mit der Sowjetunion im Krieg befinden, sondern muß Repräsentant des Unwahren in der Geschichte sein oder, nach heutigem Sprachgebrauch, ein Aggressor; und die Opfer werden nicht erobert, sondern von ihren Unterdrückern und damit von der Unwahrheit ihrer Existenz befreit. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 90a-91a Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 3; kosmologische Reiche; Herausforderung der kosmologischen Wahrheit -> Achsenzeit Kurzinhalt: Ist der Zusammenstoß von Reichen der einzige Prüfstein der Wahrheit, so daß das Recht auf der Seite der siegreichen Macht liegen muß? Das bloße Aufwerfen dieser Fragen ist schon zum Teil ihre Beantwortung ... Textausschnitt: 3. Die Herausforderung an die imperiale Wahrheit
90a Politische Gesellschaften als Repräsentanten der Wahrheit kommen also tatsächlich in der Geschichte vor. Doch sobald diese Tatsache erkannt ist, drängen sich neue Fragen auf. Sind alle politischen Gesellschaften monadische Wesenheiten, welche die Universalität der Wahrheit durch ihren universalen Reichsanspruch ausdrücken? Kann der Monadismus einer solchen Repräsentation nicht dadurch zerstört werden, daß man die Gültigkeit der Wahrheit in jedem Fall in Frage stellt? Ist der Zusammenstoß von Reichen der einzige Prüfstein der Wahrheit, so daß das Recht auf der Seite der siegreichen Macht liegen muß? Das bloße Aufwerfen dieser Fragen ist schon zum Teil ihre Beantwortung, da durch die Fragestellung der Zauber der monadischen Repräsentation gebrochen wird. Durch unser Fragen haben wir uns selbst zum Repräsentanten der Wahrheit erhoben, in deren Namen wir fragen, wenn auch Wesen und Ursprung dieser Wahrheit noch nicht deutlich erkennbar sind. An diesem Punkt beginnen jedoch die Schwierigkeiten. Das Herausfordern imperialer Wahrheit und die Etablierung der herausfordernden theoretischen Wahrheit sind eine komplexe Angelegenheit, die genauere Untersuchung erfordert. (Fs) (notabene)
91a Die Entdeckung der Wahrheit, die befähigt ist, die Wahrheit der kosmologischen Reiche herauszufordern, ist selbst ein historisches Ereignis größeren Ausmaßes. Es ist ein Prozeß, der sich über etwa fünf Jahrhunderte in der Menschheitsgeschichte erstreckt, grob gerechnet von 800 bis 300 v. Chr. Er vollzieht sich zur gleichen Zeit in den verschiedenen Kulturen, jedoch ohne daß eine gegenseitige Beeinflussung zu erkennen wäre. In China ist es das Zeitalter des Konfuzius und des Lao-tse sowie der anderen Philosophenschulen, in Indien das Zeitalter der Upanischaden und des Buddha, in Persien das der Zoroasterlehre, in Israel das der Propheten, in Hellas das der Philosophen und der Tragödie. Als besonders charakteristische Phase in diesem sich lange hinziehenden Prozeß mag die Periode um 500 v. Chr. angesehen werden, als Heraklit, Buddha und Konfuzius zu gleicher Zeit lebten. Dieses gleichzeitige Hervorbrechen der Wahrheit der mystischen Philosophen und Propheten hat, seitdem es durch die Erweiterung des historischen Horizonts im 18. und 19. Jahrhundert voll erkennbar wurde, das Interesse der Historiker und Philosophen auf sich gezogen. Manche neigen dazu, in ihm die entscheidende Epoche der Menschheitsgeschichte zu sehen. Karl Jaspers bezeichnete es in einer Studie über Ursprung und Ziel der Geschichte als die Achsenzeit der menschlichen Geschichte, als das eine große Zeitalter, das für die gesamte Menschheit relevant sei zum Unterschied vom Zeitalter Christi, das, wie er annimmt, nur für die Christen relevant sei.1 Und in dem klassischen Meisterwerk zeitgenössischer Gesellschaftsphilosophie, Les deux sources de la morale et de la religion, schuf Henri Bergson die Begriffe einer geschlossenen und einer offenen Gesellschaft, um die beiden sozialen Zustände in der Menschheitsentwicklung zu charakterisieren, die durch diese Epoche markiert wurden.2 Nicht mehr als diese knappe Andeutung ist zur allgemeinen Orientierung über das Problem möglich; wir müssen uns der besonderen Form zuwenden, die dieser Ausbruch im Westen angenommen hat. Denn nur im Abendland hat dieser Ausbruch infolge besonderer historischer Umstände, die in anderen Kulturen nicht vorhanden waren, seinen Höhepunkt in der Begründung der Philosophie im griechischen Sinne und insbesondere einer Theorie der Politik erreicht. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 93a-95a Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 4; Platon: Polis -> Mensch großgeschrieben (man writ large); Entsprechung: Gesellschaft - Typus von Mensch (Athen - Sophist) Kurzinhalt: ... Prinzip besagt es, daß jede Gesellschaft in ihrer Ordnung den Typus der Menschen reflektiert, aus denen sie sich zusammensetzt: ... [Theoretiker] ... wird es eine seiner ersten ... Aufgabe[n] sein, den Menschentypus zu ermitteln, der sich ... Textausschnitt: 4. Polis writ large1
93a Der Satz Platons, daß die Polis der großgeschriebene Mensch sei, ist wohl allgemein bekannt.3 Die Formel, darf man sagen, ist das Glaubensbekenntnis des neuen Zeitalters. Zwar ist sie Platons erstes Wort in der Sache und bei weitem nicht sein letztes. Aber wenn das Prinzip auch durch die Einführung anderer eingeschränkt werden muß, und wenn auch der kosmologischen Interpretation und der Wahrheit, die in ihr steckt, Zugeständnisse gemacht werden müssen, so ist es dennoch das dynamische Lebenszentrum der neuen Theorie. Der Keil dieses Prinzips muß immer wieder in die Idee getrieben werden, daß die Gesellschaft nichts repräsentiere als kosmische Wahrheit, heute noch genau so wie zur Zeit Platons. Eine existente politische Gesellschaft muß ein geordnetes Kosmion sein, aber nicht auf Kosten des Menschen; sie soll nicht nur ein Mikrokosmos sein, sondern auch ein Makroanthropos. Dieses Prinzip Platons werden wir in der Folge kurz das anthropologische Prinzip nennen. (Fs)
93b Zwei Aspekte dieses Prinzips müssen auseinandergehalten werden. Unter dem ersten Aspekt ist es ein allgemeines Prinzip zur Interpretation der Gesellschaft. Unter dem zweiten ist es ein Instrument der Sozialkritik. (Fs)
93c Als allgemeines Prinzip besagt es, daß jede Gesellschaft in ihrer Ordnung den Typus der Menschen reflektiert, aus denen sie sich zusammensetzt: kosmologische Reiche z. B. bestehen aus Menschen, welche die Wahrheit ihrer Existenz als Harmonie mit dem Kosmos erfahren. Es handelt sich um ein heuristisches Prinzip erster Ordnung; denn wenn der Theoretiker eine politische Gesellschaft zu verstehen sucht, wird es eine seiner ersten, wenn nicht die erste Aufgabe sein, den Menschentypus zu ermitteln, der sich in der Ordnung dieser konkreten Gesellschaft ausdrückt. Platon verwandte sein Prinzip unter diesem ersten Aspekt, als er die Athenische Gesellschaft, in der er lebte, als den großgeschriebenen Sophisten bezeichnete und die Besonderheiten der Athenischen Ordnung auf den gesellschaftlich vorherrschenden Typus des Sophisten zurückführte.4 Er verwandte es ferner im gleichen Sinne, als er seine Polis der Idee als paradigmatische Konstruktion einer Sozialordnung entwickelte, in der sein philosophischer Menschentypus Ausdruck finden sollte.5 Schließlich verwandte er es, wiederum unter diesem ersten Aspekt, als er in Politeia VIII-IX die Veränderungen der politischen Ordnung als Ausdruck der Veränderungen im gesellschaftlich vorherrschenden Menschentypus interpretierte.6 (Fs) (notabene)
94a Untrennbar mit diesem ersten Aspekt verbunden ist die Verwendung des Prinzips als Instrument der Geseltschaftskritik. Daß Unterschiede in der Sozialordnung überhaupt als Unterschiede menschlicher Typen in den Blick kommen, ist der Entdeckung der Ordnung der menschlichen Psyche zuzuschreiben und dem Wunsch, die richtige Ordnung in der Gesellschaft des Entdeckers Gestalt werden zu lassen. Nun wird eine Wahrheit niemals im leeren Raum entdeckt, sie ist vielmehr ein Differenzierungsakt in einem dichtbesetzten Feld von Meinungen; und wenn die Entdeckung die Wahrheit der menschlichen Existenz betrifft, so wird sie die Umwelt auf breiter Front in ihren festesten Überzeugungen erschüttern. Sobald der Entdecker sie mitteilt, um Zustimmung wirbt, zu überzeugen versucht, wird er unvermeidlich auf Widerstand stoßen, der, wie im Falle des Sokrates, tödlich werden kann. So wie in den kosmologischen Reichen der Feind als Repräsentant der Lüge entdeckt wird, so wird jetzt durch die Erfahrung des Widerstandes und Konflikts der Gegner als Repräsentant des Unwahren, des Falschen, des Pseudos7 in Sachen der Seele entdeckt. Darum entwickelt Platon seine Typen nicht als einen Katalog menschlicher Varianten, sondern unterscheidet sie als den einen Typus des wahren Menschentums von den mehreren Typen der seelischen Unordnung. Der Typ des wahren Menschen ist der Philosoph, während der Sophist zum Prototyp der Unordnung wird.8 (Fs) (notabene)
95a Die Identifizierung des wahren Typus mit dem Philosophen muß wohl verstanden werden, da heute seine Bedeutung durch modernistische Vorurteile verdunkelt wird. Heute, im Rückblick auf die Geschichte der Philosophie, ist Platons Philosophie zu einer von vielen geworden. Es war jedoch nicht die Absicht Platons, mit seiner Theorie eine Philosophie vom Menschen zu entwickeln. Platon befaßte sich konkret mit der Erforschung der menschlichen Seele, und die wahre Ordnung der Seele erwies sich als abhängig von der Philosophie im strengen Sinne, von der Liebe zum göttlichen sophon.9 Dieser Sinn war noch lebendig bei Augustinus, wenn er den griechischen philosophos als den amator sapientiae in sein Latein übertrug.10 Die Wahrheit der Seele sollte durch ihre liebende Hinwendung zum sophon erreicht werden. Die wahre Ordnung des Menschen liegt also in einer Seelenkonstitution durch gewisse Erfahrungen, die so stark vorherrschen, daß sie den Charakter formen. Die wahre Seelenordnung in diesem Sinne liefert den Maßstab für das Messen und Klassifizieren der empirischen Mannigfaltigkeiten menschlicher Typen wie auch der Gesellschaftsordnungen, in denen sie Ausdruck finden. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 96a-99a Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 5; Theorie: Sinn der Existenz (Aristoteles, spoudaios); Ethik: typologische Studie des spoudaios; Theorie - Leugnung; thanatos, eros und dike; Liebe, Hoffnung und Glaube (Heraklit, Paulus) Kurzinhalt: Theorie ist ... , den Sinn der Existenz durch die Auslegung einer bestimmten Klasse von Erfahrungen zu gewinnen... Eine theoretische Debatte kann also nur unter spoudaioi im aristotelischen Sinne geführt werden. Die Theorie hat kein Argument gegen ... Textausschnitt: 5. Repräsentation und Artikulierung der Gesellschaft
96a Damit wäre der entscheidende Punkt erreicht, an dem die Bedeutung von "Theorie" sichtbar wird. Theorie ist nicht ein beliebiges Meinen über die menschliche Existenz in Gesellschaft; sie ist vielmehr ein Versuch, den Sinn der Existenz durch die Auslegung einer bestimmten Klasse von Erfahrungen zu gewinnen. Ihr Argument ist nicht willkürlich, sondern leitet seine Gültigkeit von dem Aggregat von Erfahrungen her, auf das sie sich ständig zur empirischen Kontrolle beziehen muß. Aristoteles war der erste Denker, der dies als Bedingung des Theoretisierens über den Menschen erkannte. Er prägte einen Ausdruck für den Menschen, dessen Charakter von dem Aggregat der betreffenden Erfahrungen geformt ist, und nannte ihn den spoudaios, den reifen Mann. Der spoudaios ist der Mann, der die Möglichkeiten der menschlichen Natur im höchsten Grade aktualisiert hat, dem es zur Gewohnheit geworden ist, seinen Charakter ganz auf die Aktualisierung der dianoetischen und ethischen Tugenden hin zu formen, der Mann, der auf der Höhe seiner Entwicklung fähig ist zum bios theoretikos. Die Wissenschaft der Ethik im aristotelischen Sinne ist daher eine typologische Studie des spoudaios. Darüber hinaus war sich Aristoteles der praktischen Folgen einer solchen Theorie vom Menschen voll bewußt. Erstens kann nicht jedermann Theorie entwickeln. Der Theoretiker muß zwar nicht selbst ein Paragon der Tugend sein, er muß aber zumindest die Fähigkeit besitzen, die Erfahrungen, die in der Theorie expliziert werden, im Geiste nachzuerleben; und diese Fähigkeit kann nur unter bestimmten Bedingungen entwickelt werden. Es muß die Neigung zur theoretischen Arbeit vorhanden sein; ferner die wirtschaftliche Basis, die den Aufwand jahrelanger Arbeit für Studien dieser Art gestattet; und schließlich ein gesellschaftliches Milieu, das den Menschen, wenn er sich diesem Studium hingibt, nicht unterdrückt. Zweitens ist Theorie als die Auslegung gewisser Erfahrungen nur für solche Menschen verständlich, in denen die Auslegung gleichgeartete Erlebnisse wachruft, welche dann die empirische Basis für eine Nachprüfung des Wahrheitsgehalts der Theorie liefern. Denn wenn theoretische Darlegung die entsprechenden Erlebnisse nicht zumindest bis zu einem gewissen Grad aktiviert, wird sie den Eindruck leeren Geredes erwecken oder sie wird als irrelevanter Ausdruck subjektiver Meinungen abgelehnt werden. Eine theoretische Debatte kann also nur unter spoudaioi im aristotelischen Sinne geführt werden. Die Theorie hat kein Argument gegen einen Menschen, der sich in der Tat außerstande fühlt oder zumindest behauptet, er fühle sich außerstande, die Erfahrung nachzuerleben. Historisch wird daher die Entdeckung theoretischer Wahrheit in der sozialen Umwelt keineswegs sicher Zustimmung finden. Aristoteles machte sich hierüber keine Illusionen. In der Politik VII-VIII versuchte er, gleich Platon, eine paradigmatische Sozialordnung zu konstruieren, in welcher sich die Wahrheit des spoudaios ausdrücken sollte; aber gleichzeitig hielt er doch an der Ansicht fest, daß in keiner der hellenischen Poleis seiner Zeit auch nur hundert Menschen lebten, die imstande wären, die Führungsschicht einer solchen Gesellschaft zu bilden, so daß es völlig aussichtslos wäre, einen Versuch der Verwirklichung zu unternehmen. Sozialpraktisch scheint die Theorie also in eine Sackgasse zu führen. (Fs) (notabene)
98a Eine Untersuchung der genannten Erfahrungen ist in diesem Zusammenhang unmöglich. Das Gebiet ist so ausgedehnt, daß auch ein ausführlicher Überblick nur eine peinliche Unzulänglichkeit bliebe. Nur eine knappe Aufzählung kann gegeben werden, um die historischen Kenntnisse aufzufrischen. Zu der schon erwähnten Liebe zum sophon mögen nun die Varianten des platonischen Eros zum kalon und zum agathon hinzugefügt werden sowie die platonische dike, die Tugend der rechten Über- und Unterordnung der Seelenkräfte, die den Gegensatz zur sophistischen polypragmosyne bildet. Zweitens muß die Erfahrung des thanatos, des Todes, mit einbezogen werden als die kathartische Erfahrung der Seele, die das menschliche Verhalten abklärt, indem sie es in die längste aller langfristigen Perspektiven, die des Todes, stellt. Unter dem Aspekt des Todes wird für Platon das Leben des philosophischen Menschen zur Praxis des Sterbens; die Seelen der Philosophen sind tote Seelen - im Sinne des Gorgias; und wenn der Philosoph als Repräsentant der Wahrheit spricht, tut er dies mit der Autorität des Todes über die Kurzsichtigkeit des Lebens. Den drei fundamentalen Kräften von thanatos, eros und dike sollten - immer noch innerhalb der platonischen Rangfolge - die Erfahrungen angereiht werden, in welchen die innere Dimension der Seele in ihrer Höhe und Tiefe gegeben ist. Die Höhendimension führt durch den mystischen Aufstieg, die via negativa, der Grenze der Transzendenz entgegen - das Thema des Symposion. Die Tiefendimension wird durch den anamnetischen Abstieg ins Unbewußte erforscht, in jene Tiefe, aus der die "wahren logoi" des Timaios und des Kritias heraufgeholt werden. (Fs)
99a Die Entdeckung und Erforschung dieser Erfahrungen begann Jahrhunderte vor Platon und wurde nach ihm weitergeführt. So hat beispielsweise das platonische Hinabsteigen in die Tiefe der Seele Erfahrungen differenziert, die durch Heraklit und Aischylos erforscht wurden; und der Name des Heraklit erinnert uns daran, daß der Epheser bereits die Dreiheit von Liebe, Hoffnung und Glaube entdeckt hatte, welche in der Dreiheit von Erfahrungen bei Paulus wieder auftritt. Für seine via negativa konnte Platon auf die Mysterien zurückgreifen sowie auch auf die Beschreibung des Weges zur Wahrheit, die Parmenides in seinem Lehrgedicht gegeben hatte. Ferner sollte als dem platonischen Bereich nahestehend noch die aristotelische philia erwähnt werden, der Erlebniskern wahrer Gemeinschaft zwischen reifen Menschen; und diese aristotelische Liebe zum noetischen Selbst greift ihrerseits wieder zurück auf die heraklitische Gemeinschaft der Menschheit im Logos. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 99b-103b Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 6; Platon: Autorität der theoretischen Wahrheit: Psyche als Ort der Transzendenz; periagoge; Theologie Kurzinhalt: ... im Gegensatz zur protagoräischen "Der Mensch ist das Maß; Xenophanes : universale Idee vom Menschen durch die Erfahrung der universalen Transzendenz. Textausschnitt: 6. Die Autorität der theoretischen Wahrheit
99b So kurz und unvollständig diese Andeutungen auch sind, sollten sie doch ausreichen, um an die Erfahrungstypen zu erinnern, welche der Theorie im platonisch-aristotelischen Sinne als Basis dienen. Wir müssen jetzt weiter feststellen, wann sie zu Trägern einer Wahrheit über die menschliche Existenz, im Wettstreit mit der Wahrheit der älteren Mythen, wurden und wann der Theoretiker, als Repräsentant dieser Wahrheit, imstande war, seine eigene Autorität der gesellschaftlichen entgegenzustellen. (Fs)
100a Die Antwort auf diese Frage muß in der Natur der aufgezählten Erfahrungen gesucht werden. Die Entdeckung der neuen Wahrheit ist nicht eine Bereicherung des psychologischen Wissens im immanentistischen Sinne; man müßte vielmehr sagen, daß die Psyche selbst als ein neues Zentrum im Menschen entdeckt wird, in welchem er sich als aufgeschlossen für transzendente Realität erfährt. Ferner wird dieses Zentrum nicht so entdeckt, als ob es ein von jeher präsentes Objekt wäre, das lediglich der Aufmerksamkeit entgangen war. Vielmehr muß die Psyche als der Bereich, in welchem Transzendenz erfahren wird, aus einer kompakteren Struktur der Seele herausdifferenziert, entwickelt und benannt werden. Wenn man das Problem der Kompaktheit und Differenzierung einklammert, so könnte man beinahe sagen, daß vor der Entdeckung der Psyche der Mensch keine Seele besaß. Es handelt sich um eine Entdeckung, die ihr Erfahrungsmaterial zusammen mit seiner Auslegung schafft. Das Aufgeschlossensein der Seele wird erfahren durch das Öffnen der Seele selbst. Dieses Öffnen, das ebensosehr Aktion wie Passion ist, verdanken wir dem Genius der mystischen Philosophen. (Fs) (notabene)
100b Diese Erfahrungen werden zur Quelle einer neuen Autorität, denn durch das Öffnen der Seele findet sich der Philosoph in einer neuen Beziehung zu Gott. Nicht nur entdeckt er seine eigene Psyche als das Instrument der Erfahrung von Transzendenz, sondern zugleich auch die Gottheit in ihrer radikalen nichtmenschlichen Transzendenz. Die Differenzierung der Psyche ist daher nicht zu trennen von einer neuen Wahrheit über Gott. Die wahre Ordnung der Seele kann zum Maßstab für menschliche Typen wie auch Typen der Gesellschaftsordnung werden, weil sie die Wahrheit über menschliche Existenz an der Grenze der Transzendenz repräsentiert. Der Sinn des anthropologischen Prinzips muß daher qualifiziert werden durch die Einsicht, daß nicht eine willkürliche Idee vom Menschen als einem weit-immanenten Wesen zum Instrument gesellschaftlicher Kritik wird, sondern die Idee des Menschen, der seine wahre Natur entdeckt hat durch die Entdeckung seiner wahren Beziehung zu Gott. Das neue Maß, das für die Gesellschaftskritik gefunden wird, ist nicht der Mensch schlechthin, sondern der Mensch, sofern er durch die Differenzierung seiner Psyche zum Repräsentanten der göttlichen Wahrheit geworden ist. (Fs) (notabene)
100b Diese Erfahrungen werden zur Quelle einer neuen Autorität, denn durch das Öffnen der Seele findet sich der Philosoph in einer neuen Beziehung zu Gott. Nicht nur entdeckt er seine eigene Psyche als das Instrument der Erfahrung von Transzendenz, sondern zugleich auch die Gottheit in ihrer radikalen nichtmenschlichen Transzendenz. Die Differenzierung der Psyche ist daher nicht zu trennen von einer neuen Wahrheit über Gott. Die wahre Ordnung der Seele kann zum Maßstab für menschliche Typen wie auch Typen der Gesellschaftsordnung werden, weil sie die Wahrheit über menschliche Existenz an der Grenze der Transzendenz repräsentiert. Der Sinn des anthropologischen Prinzips muß daher qualifiziert werden durch die Einsicht, daß nicht eine willkürliche Idee vom Menschen als einem weit-immanenten Wesen zum Instrument gesellschaftlicher Kritik wird, sondern die Idee des Menschen, der seine wahre Natur entdeckt hat durch die Entdeckung seiner wahren Beziehung zu Gott. Das neue Maß, das für die Gesellschaftskritik gefunden wird, ist nicht der Mensch schlechthin, sondern der Mensch, sofern er durch die Differenzierung seiner Psyche zum Repräsentanten der göttlichen Wahrheit geworden ist. (Fs) (notabene)
101a Um der theoretischen Interpretation der Gesellschaft zu dienen, muß daher das anthropologische Prinzip durch ein zweites Prinzip ergänzt werden. Platon handelte gemäß dieser Einsicht, als er seine Formel "Gott ist das Maß" im Gegensatz zur protagoräischen "Der Mensch ist das Maß" schuf. Mit der Formulierung dieses Prinzips zog Platon die Summe einer langen Vorgeschichte. Schon sein Vorfahre Solon war auf der Suche nach jener Wahrheit gewesen, die den Parteien Athens autoritativ auferlegt werden könnte, und seufzend hatte er gestanden: "Es ist schwer, das unsichtbare Maß des rechten Urteils zu kennen; und doch birgt es allein die rechte Begrenzung aller Dinge." Als Staatsmann lebte Solon in der Spannung zwischen dem unsichtbaren Maß und der Notwendigkeit, es in der Eunomie der Gesellschaft Fleisch werden zu lassen; denn einerseits sprach er: "Der Sinn der Unsterblichen ist den Menschen verborgen", andererseits aber: "Auf Geheiß der Götter habe ich getan, was ich tat." Heraklit, der immer als der große Schatten hinter den Gedanken Platons steht, drang dann tiefer in die zum unsichtbaren Maß führenden Erfahrungen ein. Er erkannte dessen allesbeherrschende Gültigkeit: "Die unsichtbare Harmonie ist besser (oder: größer, mächtiger) als die sichtbare." Aber die unsichtbare Harmonie ist schwer zu erlangen und kann überhaupt nur erlangt werden, wenn die Seele von einem erwartungsvollen Drängen auf das rechte Ziel zu erfaßt ist: "Wenn ihr nicht hofft, werdet ihr das Ungehoffte nicht finden, denn es ist schwer zu finden und der Weg zu ihm nahezu ungangbar." Ferner: "Durch Unglauben (apistie) entgeht einem die Erkenntnis des Göttlichen(?)." Schließlich hat Platon die Kritik des Xenophanes an der unstatthaften Symbolisierung der Götter aufgenommen. Solange die Menschen Götter nach ihrem Bilde schaffen-dies ist das Argument des Xenophanes-, muß die wahre Natur des einen Gottes, der "der Größte unter Göttern und Menschen ist und an Körper und Geist den Sterblichen nicht gleicht", verborgen bleiben. Und nur wenn dieser eine Gott in seiner gestaltlosen Transzendenz als derselbe Gott für jeden Menschen erkannt wird, wird die Natur aller Menschen als gleich zu erkennen sein kraft der Gleichheit ihrer Beziehung zur transzendenten Gottheit. Von allen früh-griechischen Denkern hatte Xenophanes wohl die klarste Einsicht in die Konstitution einer universalen Idee vom Menschen durch die Erfahrung der universalen Transzendenz. (Fs) (notabene)
103b Die Wahrheit des Menschen und die Wahrheit Gottes sind unlösbar eines. Der Mensch wird in der Wahrheit seiner Existenz sein, wenn er seine Psyche der Wahrheit Gottes geöffnet hat; und die Wahrheit Gottes wird in der Geschichte offenbar werden, wenn sie die menschliche Psyche zur Empfänglichkeit für das unsichtbare Maß geformt hat. Das ist das große Thema der Politeia Platons. In den Mittelpunkt des Dialoges stellt Platon das Höhlengleichnis mit seiner Beschreibung der periagoge, der Umkehr, der Abwendung von der Unwahrheit der menschlichen Existenz, wie sie in der sophistischen Gesellschaft Athens herrschte, und der Hinwendung zur Wahrheit der Idee. Weiter war nach Platons Dafürhalten der beste Weg zur Sicherung der existentiellen Wahrheit eine angemessene Erziehung von früher Kindheit an. Aus diesem Grunde forderte er in Politeia II, daß unstatthafte Symbolisierungen der Götter, wie sie sich bei den Dichtern fanden, aus der Jugenderziehung auszuschalten und durch gebührende Symbole zu ersetzen seien. In diesem Zusammenhang entwickelte er das technische Vokabular zur Behandlung solcher Probleme. Um von den verschiedenen Symbolisierungstypen sprechen zu können, prägte er den Ausdruck "Theologie" und nannte sie Typen der Theologie, typoi peri theologias. Im gleichen Zusammenhang stellte Platon ferner die gnoseologische Komponente des Problems heraus. Wenn die Seele in ihrer Jugend dem falschen Typus der Theologie ausgesetzt ist, wird sie in ihrem entscheidenden Punkt, dort wo sie von der Natur Gottes weiß, irregeleitet werden. Sie wird der "Erzlüge", dem alethos pseudos, einer Fehlkonzeption über die Götter zum Opfer fallen. Diese Lüge ist nicht eine Alltagslüge, für die es mildernde Umstände geben mag. Sie ist die Grundlüge der "Ignoranz, der agnoia, im Bereich der Seele". Wendet man nun die platonische Terminologie an, so könnte man sagen, daß in einer theoretischen Interpretation der Gesellschaft das anthropologische Prinzip das theologische als sein Korrelat erfordert. Die Gültigkeit der von Platon und Aristoteles entwickelten Maßstäbe beruht auf der Vorstellung von einem Menschen, der das Maß der Gesellschaft sein kann, weil Gott das Maß seiner Seele ist. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 104a-108a Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 7; Der repräsentative Charakter der Tragödie; Wirksamkeit der theoretischen Wahrheit; Aischylos Kurzinhalt: Wunder einer Generation, welche die Verantwortung, die Wahrheit der Seele zu repräsentieren, individuell erfahren hatte Textausschnitt: 7. Der repräsentative Charakter der Tragödie
104a Der Theoretiker ist der Repräsentant einer neuen Wahrheit, die mit der durch die Gesellschaft vertretene Wahrheit im Wettstreit liegt. Soviel steht fest. Es bleibt aber, wie es scheint, noch die Schwierigkeit übrig, daß die neue Wahrheit wenig Aussicht hat, sozial wirksam zu werden und die Gesellschaft nach ihrem Bilde zu gestalten, die Schwierigkeit der sozialpraktischen Sackgasse der Theorie. (Fs)
105a Diese Schwierigkeit existiert jedoch in Wirklichkeit nicht. Ihr Schein wurde durch Platons Enttäuschung über Athen hervorgerufen. Die Polis seiner Zeit war in der Tat zu keiner großen geistigen Reform mehr fähig - aber die Polis war nicht immer so steril gewesen, wie sie wirkt, wenn sich die Aufmerksamkeit auf ihren Widerstand gegen Sokrates und Platon konzentriert. Die platonisch-aristotelische Ausarbeitung der neuen Wahrheit stand am Ende einer langen Geschichte. Sie war das Werk athenischer Denker, die ihre theoretische Generalisierung wohl kaum ohne die vorhergehende Praxis der athenischen Politik erreicht hätten. Die paradigmatischen Konstruktionen des Platon und Aristoteles wären ihren Zeitgenossen als kuriose Phantasiegebilde erschienen, wenn das Athen von Marathon und die Tragödie nicht die lebendige Erinnerung einer ephemeren Repräsentanz der neuen Wahrheit gewesen wären. Hier hatte sich für eine goldene Stunde der Geschichte das Wunder einer bis hinunter zum Einzelbürger als repräsentierbarer Einheit artikulierten politischen Gesellschaft ereignet - das Wunder einer Generation, welche die Verantwortung, die Wahrheit der Seele zu repräsentieren, individuell erfahren hatte und dieser Erfahrung durch die Tragödie als öffentlichem Kult Ausdruck verlieh. Wir müssen eine solche Tragödie untersuchen, um den neuen Repräsentationstypus zu verstehen; diesem Zweck dient am besten Aischylos mit den Schutzflehenden. (Fs)
105b Die Handlung der Schutzflehenden dreht sich um ein Rechtsproblem und dessen Lösung durch politische Aktion. Die Töchter des Danaos kommen auf ihrer Flucht aus Ägypten mit ihrem Vater nach Argos, weil die Söhne des Aigyptos sie zu einer nicht gewünschten Heirat zwingen wollen. In Argos, der Heimat ihrer Ahnfrau Io, hoffen sie Asyl zu finden. Pelasgos, der König von Argos, tritt auf und der Fall wird ihm von den Flüchtlingen vorgetragen. Sofort erkennt er das Dilemma: entweder muß er das Asyl verweigern, die Schutzflehenden den schon nahenden ägyptischen Verfolgern überlassen und damit die Rache des Zeus auf sich ziehen, oder er wird in einen Krieg mit den Ägyptern verwickelt, der im besten Fall für seine Polis eine kostspielige Angelegenheit sein wird. Er stellt die Alternative fest: "Ohne Schaden weiß ich nicht, wie ich euch helfen soll. Und dennoch ist es wiederum nicht ratsam, über solches Schutzflehen hinwegzugehen." Offen beschreibt er seinen Zustand als den verwirrter Unentschlossenheit. Seine Seele ist von der Furcht ergriffen, "zu handeln oder nicht zu handeln und hinzunehmen, was das Schicksal bringt". (Fs)
106a Die Entscheidung ist nicht leicht. Nach dem Gesetz, dem nomos ihres Landes, haben die unglücklichen Mädchen kein Recht, sich den Ägyptern, die sie zur Ehe begehren, zu verweigern; aber sie erinnern den König daran, daß es eine höhere Gerechtigkeit, die dike, gibt, daß die Ehe ihnen zuwider und daß Zeus der Gott der Schutzflehenden ist. Einerseits wird der König ermahnt, Dike bei der Entscheidung des Falles zur Verbündeten zu nehmen; andererseits muß er die Interessen der argivischen Polis berücksichtigen. Wenn er seine Stadt in einen Krieg verwickelt, wird man ihm vorwerfen, daß er Ausländern auf Kosten seines Landes hilft; wenn er die Schutzflehenden im Stich läßt, werden seine Kinder und sein Haus Maß für Maß für die Verletzung der Dike bezahlen müssen. Ernsthaft bedenkt er: "Tiefer, rettender Rat ist nötig, wie eines Tauchers, der in die Tiefe hinabsteigt mit scharfem Blick, ohne sich verwirren zu lassen." Wir werden an das heraklitische "Tiefenwissen" erinnert, an die Vorstellung von der Seele, deren Grund nicht erreicht werden kann, weil ihr Logos zu tief ist. Die Verse des Aischylos übertragen die heraklitische Vorstellung der Tiefe in die Aktion des Hinabsteigens. (Fs)
107a An dieser Stelle tritt jedoch das Problem der konstitutionellen Regierung als komplizierender Faktor hinzu. Was die Person des Königs betrifft, so ergibt das Hinabsteigen in die Tiefe das gewünschte Urteil zugunsten der Schutzflehenden. Aber Pelasgus ist ein konstitutioneller König und nicht ein Tyrann. Das Volk, der demos, der die Last des unvermeidlichen Krieges wird tragen müssen, ist zu befragen und seine Zustimmung einzuholen. Der König verläßt die Schutzflehenden, um das Volk zusammenzurufen und den Fall der Volksversammlung, dem koinon, zu unterbreiten. Er will versuchen, sie zu überzeugen, auf daß sie der Entscheidung, die er in seiner Seele getroffen hat, zustimmen. Die Rede des Fürsten hat Erfolg: Die entsprechenden Beschlüsse, die psephismata, werden einstimmig gefaßt. Das Volk geht auf das Argument der geschmeidig gefügten Rede ein, indem es das Hinabsteigen des Königs in die Tiefe der Seele mitvollzieht. Die Peitho, das Überreden des Königs, formt die Seelen seiner Zuhörer, die bereit sind, sich formen zu lassen, und läßt die Dike des Zeus gegen die Leidenschaft obsiegen, so daß die gereifte Entscheidung die Wahrheit des Gottes repräsentiert. Der Chor faßt die Bedeutung des Ereignisses in der Zeile zusammen: "Zeus ist es, der das Ende geschehen läßt."1 (Fs)
108a Die Tragödie war ein öffentlicher Kult - und ein sehr kostspieliger. Als ihr Publikum setzte sie ein Volk voraus, das der Vorstellung mit wachem Sinn für das tua res agitur folgte. Es würde den Sinn der Handlung, des Dramas, als ein Handeln aus Gehorsam zur Dike zu erkennen und die Flucht in den leichten Ausweg als ein Nicht-Handeln anzusehen haben. Es würde die athenische Prostasia als die Organisation eines Volkes unter einem Führer verstehen müssen - in welcher der Führer versucht, die Dike des Zeus zu repräsentieren, und seine Überzeugungskraft einsetzt, um bei konkreten Entscheidungen im Volk den gleichen Seelenzustand hervorzubringen, während das Volk willens ist, einer solch überzeugenden Führung in der Repräsentation der Wahrheit zu folgen, bis zur Tat im Kampf gegen eine dämonisch ungeordnete Welt, wie sie in den Schutzflehenden durch die Agypter symbolisiert wird. Die Tragödie ist in ihrer großem Zeit eine Liturgie, in der die große Entscheidung zugunsten der Dike erneuernd wiederholt wird. Wenn auch das Publikum keine Versammlung von Helden ist, so müssen die Zuschauer doch zumindest gewillt sein, die tragische Handlung als paradigmatisch anzusehen; die heroische Seelenerforschung und das Erleiden der Folgen muß als gültiger Anruf empfunden werden; das Schicksal des Helden muß in der Seele des Zuschauers das Erschauern des eigenen Schicksals erregen. Die Bedeutung der Tragödie als öffentlicher Kult liegt in ihrem stellvertretenden Leiden.2 (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 109b-110a Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 8; Von der Tragödie (Niedergang Athens; Euripides) zur Philosophie (Sokrates, Dialog); Held der Tragödie -> "Leidensknecht"; Zusammenfassung Kurzinhalt: ... der translatio der Wahrheit vom athenischen Volk auf Sokrates. Die Tragödie starb, weil die Bürger Athens nicht mehr durch die leidenden Helden repräsentiert werden konnten... Philosophenschulen. Die Schulen überlebten die politische Katastrophe ... Textausschnitt: 8. Von der Tragödie zur Philosophie
109b Die Repräsentation der Wahrheit ging von den Athenern Marathons auf die Philosophen über. Als Aristophanes klagte, daß die Tragödie an der Philosophie sterbe, hatte er zumindest eine Ahnung von den tatsächlichen Vorgängen, nämlich der translatio der Wahrheit vom athenischen Volk auf Sokrates. Die Tragödie starb, weil die Bürger Athens nicht mehr durch die leidenden Helden repräsentiert werden konnten. Und das drama, die Handlung im Sinne Aischylos', fand seinen Helden in dem neuen Repräsentanten der Wahrheit, in seinem leidenden Knecht Sokrates - wenn wir das Symbol des Deutero-Jesaja verwenden dürfen. Die Tragödie als Literaturgattung wurde von dem sokratischen Dialog abgelöst. Die neue theoretische Wahrheit war ferner auch in sozialer Hinsicht nicht unwirksam. Freilich konnte Athen nicht mehr ihr Repräsentant sein. Aber Platon und Aristoteles schufen selbst den neuen Gesellschaftstypus, der zum Träger ihrer Wahrheit werden konnte, nämlich die Philosophenschulen. Die Schulen überlebten die politische Katastrophe der Polis und wurden zu gestaltenden Kräften erster Ordnung, nicht nur in der hellenistischen und römischen Gesellschaft, sondern durch die Jahrhunderte in den islamischen und westlichen Kulturen. Die Illusion des Scheiterns wird lediglich durch den überwältigenden Eindruck des athenischen Schicksals hervorgerufen. (Fs) (notabene)
110a Das Ergebnis unserer Untersuchung kann jetzt zusammengefaßt werden. (1) Zum existentiellen Sinn der Repräsentation muß der Sinn hinzugefügt werden, in dem die Gesellschaft der Repräsentant einer transzendenten Wahrheit ist. Die beiden Bedeutungen beziehen sich auf Aspekte desselben Problems, insofern als erstens der existentielle Repräsentant einer Gesellschaft deren handelnder Führer in der Repräsentation der Wahrheit ist; und als zweitens eine auf Konsens der Bürgerschaft beruhende Regierung die Artikulierung der einzelnen Bürger in solchem Ausmaß zur Voraussetzung hat, daß diese zu aktiven Teilhabern an der Repräsentation der Wahrheit durch Peitho, die Überredung, gemacht werden können. (2) Die Natur dieses vielseitigen Problems trat historisch gesehen in den Bereich reflektiven Bewußtseins durch die Entdeckung der Psyche als des Sensoriums der Transzendenz. Ihr Entdecker, der mystische Philosoph, wurde infolgedessen zum Repräsentanten der neuen Wahrheit; und die Symbole, in denen er seine Erfahrung auslegte, bildeten den Kern einer Theorie der Sozialordnung. (3) Schließlich war es möglich, in das Geheimnis der kritischen Klärung einzudringen. Genetisch stellte sie sich als die Entdeckung der Psyche sowie deren anthropologischer und theologischer Wahrheit heraus, während sie kritisch in der Messung der in der Realität vorhandenen Symbole an den Maßstäben der neuen Wahrheit bestand. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 112a-115b Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 1; 3 Wahrheitstypen: kosmologisch, anthropologisch, soteriologisch; christlicher Typ; amicitia (philia politike; homonoia; Freundschaft: Gott - Mensch); amicitia; amor sui, amor dei; Substanz d. Geschichte Kurzinhalt: Die kritische Autorität gegenüber der älteren Wahrheit der Gesellschaft, welche die Seele durch ihr Öffnen und ihr Hinwenden zu dem unsichtbaren Maß erlangt hatte, wurde jetzt durch die Offenbarung des Maßes selbst bestätigt. Textausschnitt: III. Der Kampf um die Repräsentation im Römischen Reich
1. Theoretische Vorbemerkungen
112a Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, daß die Probleme der Repräsentation durch die innere Artikulierung einer Gesellschaft zu historischer Existenz nicht erschöpft waren. Die Gesellschaft als Ganzes erwies sich als Repräsentant einer transzendenten Wahrheit, so daß der Begriff der Repräsentation im existentiellen Sinne durch einen Begriff der transzendenten Repräsentation ergänzt werden mußte. Auf dieser neuen Ebene der Problematik ergab sich dann eine weitere Komplikation durch die Entwicklung der Theorie als einer Wahrheit vom Menschen, die mit der von der Gesellschaft repräsentierten Wahrheit im Wettstreit lag. Aber auch diese Komplikation ist noch nicht die letzte. Das Feld wetteifernder Wahrheitstypen wird historisch erweitert durch das Erscheinen des Christentums. Alle drei Typen beteiligen sich an dem großen Kampf um das Monopol der existentiellen Repräsentation im römischen Reich. Dieser Streit soll das Thema der vorliegenden Untersuchung bilden. Ehe wir jedoch auf den Gegenstand selbst eingehen, müssen einige terminologische und allgemeine theoretische Punkte geklärt werden. Dieses Vorgehen, welches die allgemeinen Fragen ausklammert, soll lästige Abschweifungen und Erklärungen vermeiden, die sonst die eigentliche politische Studie unterbrechen müßten, wenn die Fragen akut werden. (Fs) (notabene)
112b Terminologisch wird zwischen drei Wahrheitstypen zu unterscheiden sein. Der erste dieser Typen ist die von den frühen Reichen repräsentierte Wahrheit; sie soll "kosmologische Wahrheit" genannt werden. Der zweite Wahrheitstypus erscheint in der politischen Kultur Athens, insbesondere in der Tragödie; er soll "anthropologische Wahrheit" genannt werden - wobei sich versteht, daß diese Bezeichnung den Gesamtbereich der mit der Psyche als Sensorium der Transzendenz zusammenhängenden Probleme umschließt. Der dritte Wahrheitstypus, der mit dem Christentum erscheint, soll als "soteriologische Wahrheit" bezeichnet werden. (Fs)
113a Die terminologische Unterscheidung zwischen dem zweiten und dritten Typus ist theoretisch notwendig, weil der platonisch-aristotelische Erfahrungskomplex in einem entscheidenden Punkt durch das Christentum erweitert wurde. Dieses Unterscheidungsmerkmal läßt sich vielleicht am besten herausstellen, indem wir kurz den aristotelischen Begriff der philia politike, der politischen Freundschaft, betrachten. Diese Freundschaft ist für Aristoteles die Substanz der politischen Gesellschaft. Sie besteht in der homonoia, der geistigen Übereinstimmung zwischen Menschen. Sie ist zwischen Menschen nur insofern möglich, als diese in Übereinstimmung mit dem nous, d. h. mit dem Göttlichsten in ihnen leben. Alle Menschen haben teil am nous, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, so daß die Liebe zu ihrem noetischen Selbst den nous zu dem sie vereinigenden Band macht. Nur sofern die Menschen durch die Liebe zu ihrem noetischen Selbst einander gleich sind, ist Freundschaft möglich; die soziale Bindung zwischen Ungleichen wird schwach sein. Aufgrund dieses Arguments formulierte Aristoteles seine These, daß Freund schaft zwischen Gott und Mensch wegen ihrer radikalen Ungleichheit unmöglich sei. (Fs) (notabene)
114a Die Unmöglichkeit der philia zwischen Gott und Mensch kann als typisch für den Gesamtbereich anthropologischer Wahrheit betrachtet werden. Die Erfahrungen, die von den mystischen Philosophen in einer Theorie vom Menschen ausgelegt wurden, betonten alle die menschliche Seite der Orientierung der Seele zur Gottheit. Die Seele wendet sich einem Gott zu, der in seiner unbeweglichen Transzendenz verharrt; sie bewegt sich auf die göttliche Realität zu, trifft aber auf keine antwortende Bewegung aus dem Jenseits. Das christliche Hinneigen Gottes zur Seele in der Gnade ereignet sich nicht im Bereich dieser Erfahrungen - wenn man auch bei der Lektüre Platons das Gefühl hat, an der Schwelle eines Durchbruchs in diese neue Dimension zu stehen. Die Erfahrung einer wechselseitigen Beziehung mit Gott, der amicitia im thomistischen Sinne, der Gnade, die der Natur des Menschen eine übernatürliche Form auflegt, ist der spezifische Unterschied der christlichen Wahrheit gegenüber der anthropologischen. Die Offenbarung dieser Gnade in der Geschichte durch die Inkarnation des Logos in Christus erfüllte erkennbar die auf den Advent gerichtete Bewegung des Geistes bei den mystischen Philosophen. Die kritische Autorität gegenüber der älteren Wahrheit der Gesellschaft, welche die Seele durch ihr Öffnen und ihr Hinwenden zu dem unsichtbaren Maß erlangt hatte, wurde jetzt durch die Offenbarung des Maßes selbst bestätigt. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß das Faktum der Offenbarung ihr Inhalt ist. (Fs) (notabene)
115a Wenn man solcherart über die Erfahrungen der mystischen Philosophen und ihre Erfüllung durch das Christentum spricht, so wird dabei eine Annahme über die Geschichte impliziert, die genauerer Darlegung bedarf. Es ist die Annahme, daß die Substanz der Geschichte in den Erfahrungen besteht, durch die der Mensch das Verständnis seiner Menschlichkeit und gleichzeitig das Verständnis ihrer Grenzen gewinnt. Philosophie und Christentum haben dem Menschen die Statur verliehen, die ihn befähigt, mit historischer Wirksamkeit die Rolle des rationalen Betrachters und pragmatischen Beherrschers einer Natur zu spielen, die ihre dämonischen Schrecken verloren hat. Mit gleicher historischer Wirksamkeit wurden der menschlichen Größe jedoch Grenzen gesetzt, insofern das Christentum alle Dämonie in die permanente Gefahr eines Abfalls vom Geist (dem Geist, der des Menschen nur durch die Gnade Gottes ist), in die Autonomie seines eigenen Selbst, zusammenballte, eines Abfalls vom amor Dei in den amor sui. Die Erkenntnis, daß der Mensch in seiner bloßen Menschlichkeit, ohne die fides caritate formata, dämonische Nichtigkeit ist, wurde vom Christentum zu jener letzten Klarheit gebracht, die traditionell als Offenbarung bezeichnet wird. (Fs) (notabene)
Kommentar (10/26/04): amor sui -> cf 1. E. Beckers causa sui; cf 2 Kierkegaard über Dämonie als Verschlossenheit in: Begriff der Angst
115b Diese Annahme über die Substanz der Geschichte zieht nun für eine Theorie von der menschlichen Existenz in der Gesellschaft Folgen nach sich, gegen deren vorbehaltlose Anerkennung unter dem Einfluß einer säkularisierten Kultur selbst namhafte Philosophen bisweilen Bedenken tragen. Wir haben z. B. gesehen, daß Karl Jaspers das Zeitalter der mystischen Philosophen als Achsenzeit der Menschheit ansah, von höherem Rang als die Zäsur des Christentums, und die letzte Klarheit über die conditio humana, die das Christentum gebracht hat, geflissentlich beiseite schob. Auch Henri Bergson hatte in der gleichen Frage Bedenken - wenn er auch in seinen letzten, von Sertillanges posthum veröffentlichten Gesprächen geneigt schien, die Konsequenz aus seiner eigenen Geschichtsphilosophie zu ziehen. Diese Konsequenz läßt sich als das Prinzip formulieren, daß eine Theorie von der menschlichen Existenz in der Gesellschaft innerhalb des Mediums von Erfahrungen, die sich historisch differenziert haben, operieren muß. Es besteht eine strenge Wechselbeziehung zwischen der Theorie von der menschlichen Existenz und der historischen Differenzierung von Erfahrungen, in welchen diese Existenz ihr Selbstverständnis erlangt hat. Weder ist es dem Theoretiker gestattet, irgendeinen Teil dieser Erfahrung, gleichgültig aus welchem Grunde, beiseite zu schieben; noch kann er seinen Standort auf einem archimedischen Punkt außerhalb der Substanz der Geschichte beziehen. Die Theorie ist durch die Geschichte im Sinne der differenzierenden Erfahrungen gebunden. Da das Höchstmaß an Differenzierung durch die griechische Philosophie und das Christentum erreicht wurde, bedeutet dies konkret, daß die Theorie sich notwendig innerhalb des historischen Horizontes klassischer und christlicher Erfahrungen bewegen muß. Ein Zurückweichen vom Höchstmaß der Differenzierung bedeutet einen theoretischen Rückschritt, der zu den Entgleisungen verschiedener Art führt, die Platon als doxa charakterisiert hat. jedesmal wenn in der modernen Geistesgeschichte eine systematische Revolte gegen das Höchstmaß an Differenzierung unternommen wurde, war das Ergebnis der Sturz in einen antichristlichen Nihilismus, in die Idee des Übermenschen in der einen oder anderen seiner Varianten - sei es der progressivistische Übermensch Condordets, der positivistische Übermensch Comtes, der materialistische Übermensch Marx' oder der dionysische Übermensch Nietzsches. Das Problem der antitheoretischen Entgleisung wird jedoch im -zweiten Teil dieser Studien eingehender behandelt werden, in der Abhandlung über die modernen politischen Massenbewegungen. Das Prinzip der Wechselbeziehung zwischen der Theorie und der maximalen Differenzierung von Erfahrungen, das die folgende Analyse beherrschen wird, dürfte für den gegenwärtigen Zweck genügend klar geworden sein. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 118a-119a Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 2; Varro und Augustinus (Civitas Dei): Typen der Theologie
Kurzinhalt: Nach der Augustinischen Darstellung unterschied Varro drei Arten (genera) von Theologie - das genus mythicon, das genus physicon und das genus civile.2 Die mythische ist die Theologie der Dichter, die physische die der Philosophen und die zivile die ... Textausschnitt: 2. Varro und Augustinus über die Typen der Theologie
118a Die Analyse wird wiederum nach dem aristotelischen Verfahren geführt werden. Sie wird von der Selbstinterpretation der Gesellschaft ausgehen - jedoch unter der Voraussetzung, daß Selbstinterpretation jetzt die Interpretationen durch Philosophen und Heilige miteinschließt. (Fs) (notabene)
118b Die verschiedenen Wahrheitstypen, die platonischen typoi peri theologias, die miteinander in Wettstreit traten, wurden zum Gegenstand formaler Klassifizierung. Die älteste noch erhaltene findet sich in Varros Antiquitates, einem um das Jahr 47 v. Chr. vollendeten Werk. Eine Neuklassifizierung wurde gegen Ende der Römerzeit von Augustinus in seiner Civitas Dei unternommen. Die beiden Werke sind insofern aufeinander bezogen, als die Varrosche Klassifizierung durch die Darstellung und Kritik des Augustinus erhalten geblieben ist.1 (Fs)
118c Nach der Augustinischen Darstellung unterschied Varro drei Arten (genera) von Theologie - das genus mythicon, das genus physicon und das genus civile.2 Die mythische ist die Theologie der Dichter, die physische die der Philosophen und die zivile die der Völker"3 oder, nach einer anderen Version, die der principes civitatis.4 Die griechische Terminologie wie auch die Formulierung im einzelnen deuten darauf hin, daß Varro die Klassifizierung nicht geschaffen, sondern einer griechischen, wahrscheinlich stoischen Quelle entnommen hatte. (Fs)
119a Augustinus übernahm die Varronischen Typen mit gewissen Abänderungen. Erstens übertrug er die mythische und die physische Theologie in sein Latein als fabulosa und naturalis und schuf dadurch den Ausdruck "natürliche Theologie", der bis heute im Gebrauch geblieben ist.5 Zweitens behandelte er die fabulose Theologie als Teil der zivilen wegen des kultischen Charakters der dramatischen Götterdichtung.6 Dadurch würden die Typen Varros auf die zivile und die natürliche Theologie reduziert werden. Die Reduktion ist nicht ohne Interesse, weil sie höchst wahrscheinlich über verschiedene Umwege auf den Einfluß eines Ausspruches von Antisthenes zurückzuführen ist, daß es "nach dem nomos viele Götter, nach der physis jedoch nur einen gibt". Im Gegensatz zur physis würde nomos die dichterische und politische Kultur als Menschenwerk zusammenfassen - eine Betonung des menschlichen Ursprungs heidnischer Götter, die Augustinus vermutlich angesprochen hat.7 Da schließlich das Christentum und seine übernatürliche Wahrheit in die Arten der Theologie mit ,einbegriffen werden mußte, war das Ergebnis wiederum eine Dreigliederung der Typeneinteilung in die zivile, die natürliche und die übernatürliche Theologie. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 167a-170a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 3; Joachim v. Fiore - Augustinus; Immanentisierung (Eidos) d. Geschichte (teleologische, axiologische Komponente); "vom Humanismus zur Aufklärung"; Säkularisierung Kurzinhalt: Das Problem eines Eidos in der Geschichte tritt erst auf, wenn die christliche transzendente Erfüllung immanentisiert wird. Eine solche immanentistische Hypostase des Eschaton ist jedoch ein theoretischer Trugschluß. Textausschnitt: 3 Der theorethische Gehalt der neuen Symbole
167a Aus der Darstellung joachitischer Symbole, aus dem kursorischen Überblick über ihre späteren Varianten und aus ihrer Verschmelzung mit der politischen Apokalypse des Dritten Rom dürfte klar geworden sein, daß die neue Eschatologie das Gefüge der modernen Politik entscheidend beeinflußt. Sie hat eine scharf umrissene Symbolik hervorgebracht, mit deren Hilfe die westlichen politischen Gesellschaften den Sinn ihrer Existenz interpretieren; und die Anhänger der einen oder anderen Variante bestimmen die Artikulierung der Gesellschaft sowohl im Innern wie auch auf der Weltbühne. Bis zu diesem Punkt wurde jedoch die Symbolik auf der Ebene der Selbstinterpretation betrachtet und als ein historisches Phänomen beschrieben. Sie muß jetzt einer kritischen Analyse ihrer Hauptaspekte unterzogen werden, und der Grund für diese Analyse muß durch die Formulierung der theoretisch relevanten Frage gelegt werden. (Fs)
167b Die joachitische Eschatologie ist ihrem Gegenstand nach eine Spekulation über den Sinn der Geschichte. Um die spezifische Differenz zu bestimmen, muß sie der zu Joachims Zeit traditionell-christlichen Geschichtsphilosophie gegenübergestellt werden, d. h. der augustinischen Spekulation. In die traditionelle Spekulation war die jüdisch-christliche Idee von einem Ende der Geschichte im Sinne eines Zustandes der Vollkommenheit eingedrungen. Die Geschichte bewegte sich nicht mehr in Zyklen wie bei Platon und Aristoteles; sondern hatte Richtung und Ziel gewonnen. Über den jüdischen Messianismus im strengen Sinne hinaus drang dann die spezifisch christliche Geschichtsauffassung zum Begreifen des Endes als einer transzendenten Erfüllung vor. Bei seiner Ausarbeitung dieser theoretischen Einsicht unterschied Augustinus zwischen einer Profan-Geschichte, in der die Reiche entstehen und vergehen, und einer Heilsgeschichte, die in der Erscheinung Christi und der Gründung der Kirche ihren Höhepunkt erreicht. Die Heilsgeschichte baute er ferner in die transzendentale Geschichte der Civitas Dei ein, welche die Geschehnisse in der Sphäre der Engel sowie den transzendenten ewigen Sabbath miteinschließt. Nur diese transzendente Geschichte, einschließlich der irdischen Pilgerschaft der Kirche, ist auf ihre eschatologische Erfüllung hin ausgerichtet. Die Profangeschichte hingegen hat keine solche Ausrichtung. Sie ist ein Warten auf das Ende. Ihre gegenwärtige Seinsform ist die eines saeculum senescens, eines vergreisenden Zeitalters. (Fs) (notabene)
168a Zur Zeit Joachims erlebte die westliche Kultur eine starke Aufwärtsentwicklung. Und ein Zeitalter, das seine Muskeln zu spüren begann, war nicht geneigt, den augustinischen Defaitismus, was die weltliche Sphäre der Existenz anbelangt, ohne weiteres hinzunehmen. Die joachitische Spekulation war ein Versuch, dem immanenten Lauf der Geschichte einen Sinn zu verleihen, den sie in der augustinischen Konzeption nicht hatte. Zu diesem Zweck verwandte Joachim, was zur Hand war, und das war der Sinn der transzendenten Geschichte. In diesem ersten westlichen Versuch einer Immanentisierung des Sinnes der Geschichte ging der Zusammenhang mit dem Christentum nicht verloren. Das neue Zeitalter des Joachim brachte eine Steigerung der Erfüllung innerhalb der Geschichte, aber diese Steigerung wurde nicht durch einen weltimmanenten Ausbruch hervorgerufen, sondern durch einen transzendentalen Einbruch des Geistes. Der Gedanke einer radikal immanenten Erfüllung wuchs nur sehr allmählich in einem langwierigen Prozeß, den man kurz unter den Titel "vom Humanismus zur Aufklärung" bringen kann. Erst im achtzehnten Jahrhundert war mit dem Fortschrittsglauben die Steigerung des Sinngehaltes in der Geschichte zu einem völlig innerweltlichen Phänomen ohne transzendentale Einbrüche geworden. Diese zweite Phase der Immanentisierung soll "Säkularisierung" genannt werden. (Fs) (notabene)
169a Aus der joachitischen Immanentisierung ergibt sich ein theoretisches Problem, das weder im Altertum noch im orthodoxen Christentum vorkommt, nämlich das Problem eines Eidos in der Geschichte. In der hellenistischen Spekulation haben wir zwar auch ein Problem des Wesens in der Politik: die Polis hatte sowohl für Platon als für Aristoteles ein Eidos. Aber die Aktualisierung dieses Wesens wird vom Rhythmus des Aufstiegs und Niedergangs beherrscht, und die rhythmische Verkörperung und Entkörperung des Wesens in der politischen Wirklichkeit ist das Mysterium der Existenz. Es ist nicht ein zusätzliches Eidos. Die soteriologische Wahrheit des Christentums bricht dann mit dem Rhythmus der Existenz. Jenseits von temporalen Erfolgen und Mißerfolgen liegt die übernatürliche Bestimmung des Menschen, die Vollendung durch die Gnade im Jenseits. Mensch und Menschheit haben jetzt eine Erfüllung, aber sie liegt jenseits der Natur. Auch hier gibt es also kein Eidos der Geschichte, weil die eschatologische Übernatur keine Natur im philosophischen, imnhanenten Sinne ist. Das Problem eines Eidos in der Geschichte tritt erst auf, wenn die christliche transzendente Erfüllung immanentisiert wird. Eine solche immanentistische Hypostase des Eschaton ist jedoch ein theoretischer Trugschluß. Denn Dinge sind nicht Dinge, noch haben sie ein Wesen, durch willkürliche Erklärungen. Der Ablauf der Geschichte als Ganzes ist kein Gegenstand der Erfahrung; die Geschichte hat kein Eidos, weil der Ablauf der Geschichte sich in die unbekannte Zukunft erstreckt. Der Sinn der Geschichte ist also eine Illusion; und dieses illusorische Eidos wird dadurch geschaffen, daß man ein Glaubenssymbol so behandelt, als wäre es eine Aussage über einen Gegenstand immanenter Erfahrung. (Fs) (notabene)
170a Der trugschlüssige Charakter eines Eidos der Geschichte wurde prinzipiell aufgezeigt - aber die Analyse kann und muß noch einige Schritte weiter in die Einzelheiten geführt werden. Die christliche Symbolik der übernatürlichen Bestimmung besitzt eine theoretische Struktur, und diese Struktur bleibt in den Varianten der Immanentisierung erhalten. Die Heiligung des Lebens ist eine Bewegung auf ein Telos, ein Ziel zu; und das Ziel, die selige Schau, ist ein Zustand der Vollkommenheit. In der christlichen Symbolik sind also zu unterscheiden die Bewegung als ihre theologische Komponente, und ein Zustand höchsten Wertes als ihre axiologische Komponente.1 Die beiden Komponenten treten in den Varianten der Immanentisierung wieder auf; und diese können dementsprechend als Varianten klassifiziert werden, die entweder die teleologische oder die axiologische Komponente betonen oder sie beide in ihrer Symbolik kombinieren. Im ersten Falle, in dem der Nachdruck auf der Bewegung ohne Klarheit über die letzte Vollendung liegt, wird das Ergebnis die progressivistische Geschichtsauffassung sein. Das Ziel bedarf keiner Klarstellung: progressivistische Denker, wie Diderot oder d'Alembert, nehmen eine Auswahl wünschenswerter Faktoren zum Maßstab und interpretieren den Fortschritt als qualitative und quantitative Zunahme des gegenwärtigen Guten - als "the bigger and better", wie ein simplifizierendes Schlagwort es ausdrückt. Das ist eine konservative Haltung, die sogar zu einer reaktionären werden kann, wenn der ursprüngliche Maßstab nicht der wechselnden historischen Situation angepaßt wird. Im zweiten Falle, wenn der Nachdruck auf dem Zustand der Vollkommenheit, ohne Klarheit über die zu seiner Verwirklichung erforderlichen Mittel liegt, wird das Ergebnis der Utopismus sein. Er kann die Gestalt einer axiologischen Traumwelt annehmen wie in der Utopia des Thomas Morus, wenn der Denker sich noch bewußt ist, daß und weshalb sein Traum sich nicht verwirklichen läßt; oder, bei größerer theoretischer Unwissenheit, kann er die Gestalt verschiedener sozialer Idealismen annehmen, wie etwa der Abschaffung des Krieges, der ungleichen Verteilung des Eigentums, der Furcht und der Not. Schließlich kann sich die Immanentisierung auf die integrale christliche Symbolik erstrecken. Das Ergebnis wird dann die aktive Mystik eines Zustandes der Vollkommenheit sein, der durch eine revolutionäre Verklärung der menschlichen Natur erzielt werden soll, wie zum Beispiel im Marxismus. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 172a-175a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 4a; Gnosis, gnostischer Immanentismus; Menschentyp d. Trugschlusses; Gewissheit (Sinn d. Geschichte) - Ungewissheit (Christentum; Glaube; Hebr 11.1); Übermensch; Typenskala gnost. Verhaltens Kurzinhalt: ... welche spezifische Ungewißheit war so beunruhigend, daß sie mit dem zweifelhaften Mittel trugschlüssiger Immanentisierung überwunden werden mußte? ... Ungewißheit ist das eigentliche Wesen des Christentums. Textausschnitt: 4. Motive des gnostischen Immanentismus
172a Die Analyse kann jetzt auf der prinzipiellen Ebene wieder aufgenommen werden. Der Versuch, ein Eidos der Geschichte zu konstruieren, muß zu der trugschlüssigen Immanentisierung des christlichen Eschaton führen. Das Erkennen des Trügerischen an diesem Versuch wirft jedoch schwierige Fragen hinsichtlich des Menschentyps auf, der sich einer solchen Täuschung hingibt. Der Trugschluß sieht ziemlich elementar aus. Darf ernsthaft angenommen werden, daß die Denker, die ihn vollzogen, nicht intelligent genug waren ihn zu durchschauen? Oder, daß sie ihn zwar durchschaut, aber aus irgendwelchen undurchsichtigen, bösen Motiven dennoch propagiert haben? Die bloße Fragestellung ergibt schon deren Verneinung. Es versteht sich von selbst, daß nicht Dummheit und Trug sieben Jahrhunderte der Geistesgeschichte zu erklären vermögen. Es muß vielmehr angenommen werden, daß in den Seelen dieser Männer ein Drang vorhanden war, der sie für diese Täuschung blind machte. (Fs) (notabene)
172a Die Natur dieses Dranges läßt sich nicht dadurch entdecken, daß man die aus ihm resultierende Fehlkonstruktion einer noch genaueren Analyse unterzieht. Die Aufmerksamkeit muß sich vielmehr auf das konzentrieren, was die Denker mit ihrer Fehlkonstruktion erreicht haben. Darüber kann nun kein Zweifel bestehen: sie erlangten eine Gewißheit über den Sinn der Geschichte und über ihren eigenen Platz in ihr - eine Gewißheit, die sie sonst nie gehabt hätten. Nun besteht ein Bedarf nach Gewißheiten dann, wenn es gilt, Ungewißheiten mit ihrer Begleiterscheinung von Angst zu überwinden. Und die nächste Frage würde dann lauten: welche spezifische Ungewißheit war so beunruhigend, daß sie mit dem zweifelhaften Mittel trugschlüssiger Immanentisierung überwunden werden mußte? Man braucht die Antwort nicht weit zu suchen. Ungewißheit ist das eigentliche Wesen des Christentums. Das Gefühl der Sicherheit in "einer Welt voller Götter" geht mit den Göttern selbst verloren. Durch die De-Divinisation der Welt wird die Kommunikation mit dem welttranszendenten Gott auf die schwache Bindung des Glaubens im Sinne von Hebr 11,1 als der Substanz der erhofften und des Beweises der urgeschauten Dinge beschränkt. Ontologisch ist die Substanz der erhofften Dinge nirgends als im Glauben zu finden; und epistemologisch gibt es für die urgeschauten Dinge keinen anderen Beweis als wiederum diesen Glauben. Das Band ist schwach in der Tat und leicht kann es reißen. Das Leben der zu Gott hin geöffneten Seele, das Warten, die Zeiten der Dürre und Mattigkeit, der Schuld und Betrübnis, der Zerknirschung und Reue, der Verlassenheit und der gläubigen Hoffnung, der stillen Regungen von Liebe und Gnade, zitternd an der Schwelle einer Gewißheit, die, wenn sie gewonnen, ein Verlust ist, - gerade die Schwerelosigkeit dieses Gewebes mag sich als zu schwere Belastung für Menschen erweisen, die auf handfesten Besitz aus sind. Die Gefahr, daß ein Zusammenbruch des Glaubens sozial relevant wird, vergrößert sich nun in dem Maße, als das Christentum im Raum der Welt Erfolg hat. Sie wird also zunehmen, wenn das Christentum - mit der nachdrücklichen Hilfe von Institutionen - einen Kulturkreis gründlich durchdringt und wenn es gleichzeitig einen inneren Prozeß der Spiritualisierung durchmacht, den Prozeß einer gesteigerten Verwirklichung seines Wesens. Je mehr Menschen in den Bannkreis des Christentums gezogen werden, desto größer wird die Zahl derer sein, die nicht die Kraft zu dem heroischen Abenteuer der Seele, das Christentum heißt, besitzen; und die Wahrscheinlichkeit eines Abfalls vom Glauben wird zunehmen, wenn der kulturelle Fortschritt in der Erziehung, der Bildung und der intellektuellen Diskussion einen immer größeren Kreis von Einzelpersonen mit dem ganzen Ernst des Christentums vertraut macht. Diese beiden Prozesse aber kennzeichnen das Hohe Mittelalter. Wir können von den historischen Einzelheiten absehen; es wird genügen, summarisch an die wachsenden städtischen Gemeinschaften mit ihrer intensiven spiritualen Kultur als die Zentren zu erinnern, von denen die Gefahr in die gesamte westliche Gesellschaft ausstrahlte. (Fs) (notabene)
174a Wenn das Verhängnis eines Abfalls vom Glauben im christlichen Sinne als Massenphänomen auftritt, werden die Folgen vom Inhalt der geistigen Kultur abhängen, auf die der Agnostiker zurückfällt. Ein Mensch kann nicht im absoluten Sinne auf sich zurückfallen; wenn er es versuchte, würde er sehr bald herausfinden, daß er in den Abgrund der Verzweiflung und des Nichts gestürzt ist. Er muß auf eine weniger differenzierte Kultur geistiger Erfahrungen zurückfallen. Der kulturelle Stand des zwölften Jahrhunderts machte es unmöglich, in den griechisch-römischen Polytheismus zurückzufallen, weil dieser als lebendige Kultur einer Gesellschaft verschwunden war. Und die verstümmelten Reste konnten kaum nochmals zum Leben erweckt werden, weil sie ihren Zauber gerade für die Menschen eingebüßt hatten, die mit dem Christentum in Berührung gekommen waren. Der Abfall konnte nur durch die Möglichkeit neuer Erfahrungen aufgefangen werden, die dem Erlebnis des Glaubens so nahe standen, daß nur ein scharfes Auge den Unterschied erkennen würde, die aber dennoch weit genug von ihm entfernt waren, um der Ungewißheit des Glaubens im strengen Sinne abzuhelfen. Solche Möglichkeiten neuer Erfahrungen boten sich in der Gnosis, die das Christentum von seinen ersten Anfängen an begleitet hat. (Fs)
175a Der Plan dieser Abhandlung gestattet es nicht, eine Beschreibung der Gnosis des Altertums oder der Geschichte ihrer Kontinuität in das westliche Mittelalter zu geben. Es mag hier die Feststellung genügen, daß die Gnosis damals eine lebendige religiöse Kultur war, auf welche die Menschen zurückfallen konnten. Der Versuch, den Sinn der Existenz zu immanentisieren, ist im Grunde ein Versuch, unsere Kenntnis der Transzendenz fester in den Griff zu bekommen, als die cognitio fidei, die Erkenntnis des Glaubens es uns gestattet. Die gnostischen Erfahrungen gewähren diesen festeren Griff, insofern als sie die Seele bis zu dem Punkte ausweiten, an welchem Gott in die menschliche Existenz hineingezogen wird. Diese Ausweitung erfordert die Beteiligung der verschiedenen menschlichen Fähigkeiten; und es ist daher möglich, eine Typenskala von gnostischen Varianten zu unterscheiden je nachdem, welche Fähigkeit bei der Bemühung, Gott in den Griff zu bekommen, vorwiegend beteiligt war. Gnosis kann vornehmlich intellektuell sein und die Form einer spekulativen Durchdringung des Mysteriums der Schöpfung und Existenz annehmen, wie beispielsweise in der kontemplativen Gnosis Hegels oder Schellings; oder sie kann vornehmlich emotional sein und die Form des Innewohnens göttlicher Wesenskraft in der menschlichen Seele annehmen, wie z. B. bei parakletischen Sektiererführern; oder sie kann vornehmlich willensmäßig sein und die Form aktivistischer Erlösung von Mensch und Gesellschaft annehmen, wie im Falle der revolutionären Aktivisten Comte, Marx oder Hitler. Die gnostischen Erfahrungen in der ganzen Skala ihrer Varianten sind der Kern der Re-Divinisation der Gesellschaft, denn die Menschen vergotten sich selbst, wenn sie solchen Erfahrungen verfallen, und setzen die massiveren Arten der Teilhabe an der Göttlichkeit an die Stelle des Glaubens im christlichen Sinne. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 176a-178a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 4b; (aktive) Gnosis, godded man, Übermensch; Säkularismus -> Radikalisierung d. parakletischen Immanentismus; Wesen d. Moderne: Anwachsen d. Gnostizismus; Szientismus Kurzinhalt: Und schließlich mußte, nach dem ungeheuren Aufschwung, den die Naturwissenschaften seit dem siebzehnten Jahrhundert nahmen, dieses neue Mittel der Erkenntnis, man möchte sagen unvermeidlich, zum Symbolträger der gnostischen Wahrheit werden. Textausschnitt: 176a Das richtige Verständnis dieser Erfahrungen als des aktiven Kernes der immanentistischen Eschatologie ist notwendig, weil andernfalls die innere Logik der westlichen politischen Entwicklung vom mittelalterlichen Immanentismus über den Humanismus, die Aufklärung, den Progressivismus, Liberalismus, Positivismus zum Marxismus verdunkelt wird. Die von den verschiedenen Typen von Immanentisten entwickelten Symbole werden häufig miteinander in Konflikt geraten und die verschiedenen Typen von Gnostikern einander bekämpfen. Man kann sich leicht vorstellen, wie entrüstet ein humanistischer Liberaler sein wird, wenn man ihm sagt, sein spezieller Typ des Immanentismus sei ein Schritt auf dem Wege zum Marxismus. Es wird darum nicht überflüssig sein, sich des Prinzips zu erinnern, daß die Substanz der Geschichte auf der Ebene der Erlebnisse, nicht auf der Ebene der Ideen zu finden ist. Der Säkularismus konnte als eine Radikalisierung der früheren Formen des parakletischen Immanentismus definiert werden, weil die erlebnismäßige Vergottung des Menschen im säkularistischen Fall radikaler ist. Feuerbach und Marx z. B. interpretieren den transzendenten Gott als die Projektion des Besten im Menschen auf ein hypostatisches Jenseits. Für sie würde daher die große Wende der Geschichte eintreten, wenn der Mensch seine Projektion in sich selbst zurückholt, wenn er sich bewußt wird, daß er selbst Gott ist, wenn der Mensch infolgedessen zum Übermenschen verklärt wird. Diese Marx'sche Verklärung ist tatsächlich die äußerste Steigerung eines weniger radikalen mittelalterlichen Erlebnisses, das den Geist Gottes in den Menschen hineinzieht, Gott selbst aber in seiner Transzendenz beläßt. Der Übermensch steht am Ende eines Weges, auf dem wir Gestalten wie dem "godded man" der englischen Reformationsmystiker begegnen. Diese Betrachtungen werden ferner die an früherer Stelle ausgesprochene Warnung vor einer Charakterisierung der modernen politischen Bewegungen als neuheidnisch rechtfertigen. Gnostische Erfahrungen bestimmen eine Struktur politischer Realität, die sui generis ist. Eine Linie allmählicher Umgestaltung verbindet den mittelalterlichen mit dem heutigen Gnostizismus. Diese Umgestaltung vollzieht sich so allmählich, daß es schwer wäre zu entscheiden, ob die Phänomene der Gegenwart als christlich zu klassifizieren sind, weil sie einsichtig aus christlichen Häresien des Mittelalters erwachsen, oder ob die Phänomene des Mittelalters als antichristlich zu klassifizieren sind, weil sie einsichtig der Ursprung des modernen Antichristentums sind. Das Beste wird sein, man läßt solche Fragestellungen beiseite und erkennt das Wesen der Modernität im Anwachsen des Gnostizismus. (Fs) (notabene)
178a Die Gnosis war von Anfang an eine Begleiterscheinung des Christentums; ihre Spuren finden sich schon bei Paulus und Johannes. Die gnostische Häresie war in den frühen Jahrhunderten der große Widersacher des Christentums;- und Irenäus hat einen kritischen Überblick über die Vielzahl ihrer Varianten in seiner Schrift Adversus Haereses (um 180 n. Chr.) gegeben - einem Standardwerk über den Gegenstand, das auch heute noch für jeden, der die modernen politischen Ideen und Bewegungen verstehen will, von Nutzen sein wird. Ferner gab es neben der christlichen noch eine jüdische, eine heidnische und eine islamische Gnosis; und es ist durchaus möglich, daß der gemeinsame Ursprung all dieser Zweige der Gnosis in einem Erlebnistypus zu suchen ist, der im vorchristlichen Bereich der syrischen Kultur vorherrschte. Nirgends hat jedoch die Gnosis die Form einer Spekulation über den Sinn der welt-immanenten Geschichte angenommen, wie sie dies im Hohen Mittelalter tat; die Gnosis führt nicht aus innerer Notwendigkeit zur Fehlkonstruktion der Geschichte, die seit Joachim für die Modernität charakteristisch ist. Es muß daher in dem Streben nach Gewißheit eine weitere Komponente enthalten sein, welche die Gnosis speziell auf die Spekulation über die Geschichte hinlenkt. Diese zusätzliche Komponente ist der kulturelle Ausdehnungsdrang der westlichen Gesellschaft im Hohen Mittelalter. Es ist ein Mündigwerden auf der Suche nach einem Sinn, ein Wissen um Wachstum, das sich nicht mehr als senescens im Augustinischen Sinne interpretiert sehen will. Tatsächlich folgte die autonome Sinngebung der westlichen Kultur unmittelbar auf ihre jeweilige Expansion und Differenzierung. Das geistige Wachsen des Westens durch die Orden seit Cluny fand in der joachitischen Spekulation in dem Gedanken eines Dritten Reiches der Mönche Ausdruck; der frühe philosophische und literarische Humanismus rückte sich in Dantes und Petrarcas Idee eines Apollinischen Imperiums aus, eines Dritten Reiches geistigen Lebens, das auf die imperialen, spiritualen und temporalen Ordnungen folgt; und im Zeitalter der Vernunft entwarf Condorcet die Idee einer vereinheitlichten Menschheitskultur, in der jedermann ein französischer Intellektueller sein würde.- Auch die Sozialträger der Bewegungen wechselten mit der Differenzierung und Artikulierung der westlichen Gesellschaft. In den frühen Phasen der Modernität waren es die Bürger und Bauern, die sich gegen die Feudalgesellschaft auflehnten; in den späteren Phasen waren es die fortschrittliche Bourgeoisie, die sozialistische Arbeiterschaft und das faschistische Kleinbürgertum. Und schließlich mußte, nach dem ungeheuren Aufschwung, den die Naturwissenschaften seit dem siebzehnten Jahrhundert nahmen, dieses neue Mittel der Erkenntnis, man möchte sagen unvermeidlich, zum Symbolträger der gnostischen Wahrheit werden. In der gnostischen Spekulation des Szientismus erreichte diese Variante ihr Extrem, als der positivistische Vollender der Wissenschaft die Ära Christi durch die Ara Comtes ersetzte. Der Szientismus ist bis zum heutigen Tage eine der stärksten gnostischen Bewegungen in der westlichen Gesellschaft, und der immanentistische Stolz auf die Wissenschaft ist so stark, daß sogar jede der Einzelwissenschaften ihren spezifischen Niederschlag gefunden hat in den Varianten des Heilswissens aus der Physik, der Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Biologie und Psychologie. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 180a-185a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 5; Gnosis, Scotus Eriugena; zivilisatorische Betätigung als Werk der Selbsterlösung; Pascal (divertissement); Nietzsche (Gnade Gottes); Comte: weltimmanentes Jüngstes Gericht Kurzinhalt: Die gnostische Spekulation überwand die Ungewißheit des Glaubens dadurch, daß sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete. Textausschnitt: 5. Der Ablauf der Modernität
180a Diese Analyse der Komponenten in der modernen gnostischen Spekulation erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber sie ist weit genug geführt worden für den unmittelbaren Zweck, die Erfahrungen zu verdeutlichen, welche die politische Artikulierung der westlichen Gesellschaft unter der Symbolik des Dritten Reiches bestimmen. Es zeichnet sich das Bild einer Gesellschaft ab, die als Einheit identifizierbar und verstehbar ist kraft ihrer Entwicklung zum Repräsentanten eines historisch einmaligen Typus gnostischer Wahrheit. Folgend dem aristotelischen Verfahren ging die Analyse von der Selbstinterpretation der Gesellschaft durch die joachitische Symbolik des zwölften Jahrhunderts aus. Jetzt, da ihr Sinn durch theoretisches Verstehen geklärt worden ist, kann ein Datum für den Anfang dieser Zivilisationsströmung festgelegt werden. Ein geeignetes Datum für ihren Beginn wäre die Aktivierung der antiken Gnosis durch Scotus Eriugena im neunten Jahrhundert, da seine Werke, ebenso wie die von ihm übertragenen Werke des Dionysius Areopagita, stetig die im Untergrund wirkenden gnostischen Sekten beeinflußten, bevor sie im zwölften und dreizehnten Jahrhundert an die Oberfläche kamen. (Fs)
181b Die gnostische Spekulation überwand die Ungewißheit des Glaubens dadurch, daß sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete. In demselben Ausmaß, in dem diese Immanentisierung erlebnismäßig voranschritt, wurde die zivilisatorische Betätigung zu einem mystischen Werk der Selbsterlösung. Die geistige Kraft der Seele, die im Christentum der Heiligung des Lebens diente, konnte jetzt abgelenkt werden auf die verlockendere, greifbarere und vor allem weitaus leichtere Schaffung eines irdischen Paradieses. Die Zivilisationsleistung wurde zu einem divertissement im Sinne Pascals, jedoch einem divertissement, das die ewige Bestimmung des Menschen dämonisch in sich einsog und selbst an die Stelle des Lebens des Geistes trat. Nietzsche drückte die Natur dieser dämonischen Diversion aufs knappste durch die Frage aus, warum ein Mensch in dem peinlichen Zustand eines Wesens leben solle, das auf die Liebe und Gnade Gottes angewiesen sei. "Liebet euch selber aus Gnade - dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nötig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende!" Wie aber kann dieses Wunder vollbracht werden, dieses Wunder der Selbsterlösung, und wie diese Erlösung durch die Gewährung der Gnade an sich selbst? Die große historische Antwort wurde von den sich ablösenden Typen gnostischer Aktion erteilt, die die moderne Kultur zu dem gemacht haben, was sie ist. Das Wunder wurde der Reihe nach vollbracht durch die literarische und künstlerische Leistung, die dem humanistischen Intellektuellen die Unsterblichkeit des Nachruhms sicherte, durch die Zucht und den wirtschaftlichen Erfolg, der dem puritanischen Heiligen seine Erlösung gewährleistete, durch die zivilisatorischen Beiträge der Liberalen und Fortschrittler und schließlich durch die revolutionäre Aktion, die das kommunistische oder ein anderes gnostisches Millenium errichten soll. Der Gnostizismus machte also auf äußerst wirksame Weise menschliche Kräfte frei für den Aufbau einer Zivilisation, indem er auf den begeisterten Einsatz dieser Kräfte für innerweltliche Betätigung die Prämie der Erlösung setzte. Das historische Resultat war erstaunlich. Die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen, die unter solchem Druck zum Vorschein kamen, waren an sich schon eine Offenbarung, ihr Einsatz aber auf zivilisatorischem Gebiet brachte das wahrhaft großartige Schauspiel der westlichen progressiven Gesellschaft hervor. Wie töricht die oberflächlichen Argumente auch sein mögen - der weitverbreitete Glaube, die moderne Zivilisation sei die Zivilisation schlechthin, ist durch den Augenschein gerechtfertigt; dadurch daß er den Sinn der Erlösung an sich zog, wurde der Aufstieg des Westens in der Tat zu einer Apokalypse der Zivilisation. (Fs)
181a Das ist ein langer Zyklus von tausend Jahren, lange genug, um das Nachdenken über seinen Verfall und sein Ende anzuregen. Dieses Nachdenken über die westliche Gesellschaft als einen zyklischen Ablauf, der als eine Einheit in den Blick kommt, weil er sich erkennbar seinem Ende zubewegt, hat eine der dornigsten Fragen aufgeworfen, die je einen Betrachter der westlichen Politik geplagt haben. Einerseits setzt im achtzehnten Jahrhundert ein stetiger Strom von Literatur über den Niedergang der westlichen Zivilisation ein; und gleichgültig welcherlei Bedenken man gegen dieses oder jenes besondere Argument hegen mag, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Theoretiker des Untergangs im allgemeinen ihren Standpunkt vertreten können. Andererseits ist für die gleiche Periode kennzeichnend eine überschäumende, expansive Vitalität in den Naturwissenschaften, in der Technik, der materiellen Beherrschung der Umwelt, in der Zunahme der Bevölkerung, der Steigerung des Lebensstandards, der Gesundheit und des Wohlstandes, in der Ausdehnung der Erziehung der Massen, dem Wachsen des sozialen Bewußtseins und des Verantwortungsgeistes; und wiederum, was immer für Bedenken man im einen oder anderen der hier angeführten Punkte haben mag, kann man doch nicht leugnen, daß auch die Progressivisten ihren Standpunkt vertreten können. Dieser Widerspruch der Interpretationen hat die vorhin angedeutete dornige Frage im Gefolge, die Frage nämlich: wieso eine Zivilisation gleichzeitig aufsteigen und verfallen kann. Eine Betrachtung dieser Frage empfiehlt sich, weil es möglich erscheint, daß die Analyse des modernen Gnostizismus zumindest eine Teillösung des Problems ergeben wird. (Fs) (notabene)
183a Auf dieses apokalyptische Schauspiel fällt jedoch ein Schatten, da die glänzende Expansion von einer Gefahr begleitet wird, die mit dem Fortschritt zusehends anwächst. Die Natur dieser Gefahr wurde offenbar in der Form, die der Gedanke der immanenten Erlösung im Gnostizismus Comtes annahm. Der Begründer des Positivismus erhob die Prämie für zivilisatorische Leistungen zur Institution, indem er der Person und den Taten des Fortschrittspioniers Unsterblichkeit im Gedächtnis der Menschheit garantierte. Es wurden Ehrengrade der Unsterblichkeit eingerichtet, wobei die höchste Ehrung in der Aufnahme der verdienstvollen Persönlichkeit in den Kalender der positivistischen Heiligen bestand. Was würde aber in einer so beschaffenen Ordnung der Dinge mit denjenigen geschehen, die lieber Anhänger Gottes als des neuen Augustus Comte sein wollten? Solche Irrgläubige, die nicht gewillt waren, ihren sozialen Beitrag nach Comte'scher Norm zu leisten, würden in die Hölle des kollektiven Vergessens verstoßen werden. Dieser Gedanke verdient Beachtung. Hier ist ein gnostischer Paraklet, der sich selbst als das weltimmanente Jüngste Gericht der Menschheit einsetzt, das über Unsterblichkeit oder Vernichtung eines jeden Menschen entscheidet. Zwar schreitet die materielle Zivilisation des Westens noch immer voran, aber auf dieser ansteigenden Zivilisationsebene zeichnet die Fortschrittssymbolik von Leistung, Nachruhm und der Streichung aus der Geschichte die Konturen jenes "Abgrundes des Vergessens" ein, in welche die göttlichen Erlöser der gnostischen Reiche ihre Opfer mit einem Genickschuß stürzen lassen. Dieses Ende des Fortschritts war in den halkyonischen Tagen gnostischen Überschwangs nicht bedacht worden. Milton entließ Adam und Eva mit "einem Paradies in sich, weit glücklicher" als das verlorene; als sie aus ihm hervorgingen, "lag die ganze Welt vor ihnen" und die "Betrachtung des happy end" machte sie froh. Wenn aber der Mensch aus der Geschichte hervorgeht mit dem gnostischen "Paradies in sich", und wenn er in die vor ihm liegende Welt eindringt, so macht die Betrachtung des durchaus nicht glücklichen Endes nur wenig froh. (Fs)
184a Der Tod des Geistes ist der Preis des Fortschritts. Nietzsche offenbarte dieses Mysterium der westlichen Apokalypse, als er verkündete, daß Gott tot und daß er ermordet worden sei. Dieser gnostische Mord wird ständig von den Menschen begangen, die Gott der Zivilisation zum Opfer bringen. Je intensiver alle menschlichen Energien in das große Unternehmen der Erlösung durch welt-immanentes Handeln geworfen werden, desto mehr entfernen sich diejenigen, die an diesem Unternehmen mitwirken, vom Leben des Geistes. Und da das Leben des Geistes die Quelle der Ordnung im Menschen und in der Gesellschaft ist, liegt gerade im Erfolg einer gnostischen Zivilisation die Ursache ihres Verfalls. (Fs)
185a Eine Zivilisation kann also in der Tat gleichzeitig im Aufstieg und Niedergang begriffen sein - aber nicht für immer. Es gibt eine Grenze, auf die sich dieser zweideutige Vorgang hinbewegt. Diese Grenze wird erreicht, wenn eine aktivistische Sekte, welche die gnostische Wahrheit repräsentiert, die Zivilisation zu einem von ihr beherrschten Reich organisiert. Der Totalitarismus als existentielle Herrschaft gnostischer Aktivisten ist die Endform der progressiven Zivilisation. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 217a-222b Stichwort: Die gnostische Revolution 5b; Hobbes: theologia civilis; Spannung: Wahrheit d. Gesellschaft (theologia civilis) - Wahrheit der Seele; Plato: Politeia -> Nomoi Kurzinhalt: Hobbes erkannte, daß ohne eine unbestrittene Ziviltheologie öffentliche Ordnung unmöglich war; Öffnen der Seele als einer Epoche seelischer Differenzierung und der Struktur der Realität, die unverändert bleibt.. Textausschnitt: 217a Das Öffnen der Seele war ein epochales Ereignis in der Menschheitsgeschichte, weil mit der Differenzierung der Seele als des Sensoriums der Transzendenz die kritischen theoretischen Maßstäbe für die Interpretation der menschlichen Existenz in der Gesellschaft sichtbar wurden, sowie die Quelle der Autorität jener Maßstäbe. Als die Seele sich auf die transzendente Realität hin öffnete, begegnete sie einer Quelle der Ordnung, von höherem Rang als die etablierte Gesellschaftsordnung, und einer Wahrheit, die in kritischer Opposition zu jener Wahrheit stand, zu welcher die Gesellschaft durch die Symbolik ihrer Selbstinterpretation gelangt war. Ferner war das logische Korrelat zur Idee eines universalen Gottes als des Maßes der geöffneten Seele die Idee einer universalen Gemeinschaft der Menschheit, jenseits aller zivilen Gesellschaft, durch die Teilnahme aller Menschen am gemeinsamen Maß, gleichgültig ob dieses als der aristotelische nous oder der stoische oder christliche logos verstanden wird. Die Wucht solcher Entdeckungen kann leicht die Tatsache verdecken, daß die neue Klarheit über die Struktur der Realität diese Struktur selbst nicht verändert hatte. Das Öffnen der Seele kennzeichnete tatsächlich eine Epoche durch ihr Vordringen von der Kompaktheit zur Differenzierung des Erlebens, von Unklarheit zu Klarheit der Einsicht. Aber die Spannung zwischen einer Wahrheit der Gesellschaft und einer Wahrheit der Seele hatte es schon vor dieser Epoche gegeben, und das neue Verstehen der Transzendenz konnte das Bewußtsein der Spannung schärfen, sie aber nicht aus der Seinsverfassung entfernen. Die Idee eines universalen Gottes z. B. erreichte ihre spezifische Reinheit durch die mystischen Philosophen, aber ihre Existenz, eingebettet in einen kompakten kosmologischen Mythos, ist schon durch ägyptische Inschriften etwa aus dem Jahr 3000 v. Chr. zu belegen. Und da selbst zu jener frühen Zeit die Idee im Verlauf einer polemischen, kritischen Spekulation über Hierarchie und Funktion der Götter auftrat, muß schon damals die Spannung zwischen einer Wahrheit, wie sie der spekulierende Denker verstand, und der Wahrheit des überlieferten Mythos bestanden haben. Die stoische Vorstellung von einer Kosmopolis, der die Menschen kraft ihrer Teilhabe am Logos angehören (um ein anderes Beispiel zu geben), hat nicht die Existenz des Menschen in historischen Gesellschaften abgeschafft. Daher ist zu unterscheiden zwischen dem Öffnen der Seele als einer Epoche seelischer Differenzierung und der Struktur der Realität, die unverändert bleibt. (Fs) (notabene)
218a Aus dieser Unterscheidung ergibt sich für das vorliegende Problem, daß die Spannung zwischen einer differenzierten Wahrheit der Seele und der Wahrheit der Gesellschaft in der historischen Realität nicht dadurch beseitigt werden kann, daß man sich der einen oder der anderen Wahrheit entledigt. Die menschliche Existenz in natürlichen Gesellschaften bleibt was sie war, bevor sie sich auf ein jenseits der Natur liegendes Schicksal hinorientierte. Der Glaube ist die Erwartung einer übernatürlichen Perfektion des Menschen; er ist nicht diese Perfektion selbst. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt; und die Kirche als der Repräsentant der civitas Dei in der Geschichte ist nicht ein Ersatz für die zivile Gesellschaft. Als Ergebnis der epochalen Differenzierung tritt nicht eine offene an die Stelle der geschlossenen Gesellschaft - um mit Bergson zu sprechen -, sondern die Symbolik wird komplizierter, entsprechend der Differenzierung der Erlebnisse. Die beiden Wahrheitstypen existieren nebeneinander, und die zwischen ihnen bestehende Spannung, die bald mehr bald weniger ins Bewußtsein tritt, wird zu einer dauernden Struktur der Zivilisation. Diese Einsicht hatte schon Platon gewonnen; in seinem Werk wird sie in der Evolution von der Politeia zu den Nomoi reflektiert. In der Politeia konstruierte er eine Polis, welche die Mahrheit der Seele unter der unmittelbaren Herrschaft mystischer Philosophen verkörpern sollte; es war ein Versuch, die Spannung dadurch aufzulösen, daß die Ordnung der Seele zur Ordnung der Gesellschaft gemacht wurde. In den Nomoi ließ er die Wahrheit der Seele im Hintergrund ihrer Offenbarung in der Politeia; die Polis der Nomoi gründete er auf Institutionen, welche die Ordnung des Kosmos widerspiegelten, während die Wahrheit der Seele durch Administratoren vermittelt wurde, die sie als Dogma empfingen. Platon selbst, der potentielle Philosophenkönig der Politeia, wurde der athenische Fremdling der Nomoi, der mithalf, Institutionen zu ersinnen, die soviel an Geist verkörperten, als mit der unverändert gebliebenen natürlichen Existenz der Gesellschaft zu vereinbaren war. (Fs) (notabene)
219a Die christlichen Kirchenväter legten nicht den Scharfsinn Platons an den Tag, als ihnen das gleiche Problem durch historische Umstände aufgezwungen wurde. Offenbar begriffen sie nicht, daß das Christentum zwar den Polytheismus verdrängen, nicht aber das Bedürfnis nach einer Ziviltheologie abschaffen konnte. Nachdem die Wahrheit der Seele die Oberhand gewonnen hatte, blieb das Vakuum zurück, das Platon mit seiner Konstruktion der Polis als ein kosmisches Analogon auszufüllen versuchte. Das Ausfüllen dieses Vakuums wurde zu einem Hauptproblem, wo immer das Christentum die vorchristliche Wahrheit einer geschlossenen Gesellschaft als lebendige Kraft auflöste, und wo immer die Kirche an der Seite eines zivilen Herrschers die existentielle Repräsentation erlangte und zusätzlich zu ihrer Repräsentation der übernatürlichen Bestimmung des Menschen auch noch die transzendente Legitimation der Gesellschaftsordnung liefern sollte. Die eine große Lösung war der byzantinische Cäsaropapismus mit seiner Tendenz, die Kirche in eine zivile Institution umzuwandeln. Gegen diese Tendenz schrieb Gelasius Ende des fünften Jahrhunderts seine Briefe und Traktate, in denen er die andere große Lösung, die der zwei im Gleichgewicht befindlichen Mächte formulierte. Dieses Gleichgewicht, funktionierte im Westen, solange das Werk der zivilisatorischen Expansion und Konsolidierung die Interessen der kirchlichen und zivilen Organisationen parallel laufen ließ. Aber die Spannung zwischen den zwei Typen der Wahrheit wurde merklich, sobald ein gewisser Grad kultureller Saturierung erreicht war. Als die Kirche im Gefolge der Cluniazensischen Reform ihre geistige Substanz neu behauptete und versuchte, sich aus ihren vielfältigen zivilen Bindungen zu lösen, war der Investiturstreit die Folge. Aber als die gnostischen Sektiererbewegungen im zwölften Jahrhundert Auftrieb erhielten, arbeitete die Kirche bei der Verfolgung der Häretiker durch die Inquisition mit der Zivilgewalt zusammen; sie neigte bei dieser Gelegenheit stark zu ihrer Funktion als Agent der theologia civilis und wurde dadurch ihrem Wesen als der Repräsentant der civitas Dei in der Geschichte untreu. Die Spannung erreicht schließlich den Zerreißpunkt, als eine Vielzahl schismatischer Kirchen und gnostischer Bewegungen miteinander in heftigen Wettstreit um die existentielle Repräsentation gerieten. Das Vakuum tat sich nun in Gestalt der religiösen Bürgerkriege auf. (Fs) (notabene)
221a Hobbes erkannte, daß ohne eine unbestrittene Ziviltheologie öffentliche Ordnung unmöglich war. Das große Verdienst von bleibendem Wert des Leviathan ist es, diesen Punkt geklärt zu haben. Eine weniger glückliche Hand hatte Hobbes, als er versuchte, das Vakuum durch die Etablierung des Christentums als der englischen Ziviltheologie auszufüllen. Er konnte sich mit diesem Gedanken tragen, da seiner Auffassung nach das Christentum, wenn richtig interpretiert, mit der Wahrheit der Gesellschaft identisch war, wie er sie in den ersten zwei Teilen seines Leviathan entwickelt hatte. Er leugnete die Existenz einer Spannung zwischen der Wahrheit der Seele und der Wahrheit der Gesellschaft. Der Inhalt der Heiligen Schrift fiel seiner Meinung nach substantiell mit der Wahrheit Hobbes' zusammen. In diesem Glauben konnte er der Idee verfallen, eine Krise von weltgeschichtlichen Ausmaßen dadurch zu lösen, daß er seinen Rat als Fachmann jedem Souverän anbot, der ihn anzunehmen gewillt war. "Ich hege einige Hoffnungen", sagte er, "daß eines Tages diese meine Schrift in die Hände eines Souveräns fallen könnte, der sie selbst überdenken wird (denn sie ist kurz und, wie ich meine, klar) ohne Zuhilfenahme eines interessierten oder mißgünstigen Interpreten; und daß er in Ausübung seiner vollen Souveränität ihre öffentliche Verbreitung fördert und auf diese Weise die Wahrheit der Spekulation für die Praxis nutzbar macht." Er fühlte sich in der Rolle eines Platon auf der Suche nach einem König, der die neue Wahrheit annehmen und das Volk in ihr unterweisen würde. (Fs)
222a Die Erziehung des Volkes war ein wesentlicher Teil seines Programmes. Hobbes verließ sich nicht auf die Unterdrückung der religiösen Bewegungen durch Regierungsgewalt; er wußte, daß öffentliche Ordnung nur echt war, wenn das Volk sie aus freiem Willen annahm, und daß die freiwillige Annahme nur dann möglich war, wenn das Volk seinen Gehorsam dem staatlichen Repräsentanten gegenüber als seine Pflicht unter dem ewigen Gesetz auffaßte. Wenn das Volk dieses Gesetz nicht kannte, würde es eine wegen Aufruhrs verhängte Strafe als "feindselige Handlung ansehen, welche es, sobald es sich stark genug fühlt, seinerseits durch feindselige Handlungen abzuwenden versucht". Er bezeichnet es daher als Pflicht des Souveräns, der Unwissenheit des Volkes durch entsprechende Unterweisung abzuhelfen. Wenn das geschähe, bestehe die Hoffnung, daß seine Prinzipien "die Verfassung, wenn nicht von außen her Gewalt verübt wird, zu einer immerwährenden machen werden". Mit diesem Gedanken der Abschaffung der Spannungen der Geschichte durch die Verbreitung einer neuen Wahrheit gibt Hobbes freilich seine eigenen gnostischen Absichten zu erkennen. Sein Versuch, die Geschichte zu einer immerwährenden Verfassung erstarren zu lassen, ist ein Fall der generellen Klasse gnostischer Versuche, die Geschichte in die unveränderliche Form eines immerwährenden Endreiches zu pressen. (Fs)
222b Der Gedanke, die Wirren der Geschichte durch die Einführung einer immerwährenden Verfassung zu lösen, war nur unter der Bedingung sinnvoll, daß die Quelle der Störungen, d. h. die Wahrheit der Seele, den Menschen nicht mehr beunruhigen würde. Hobbes vereinfachte in der Tat die Struktur der Politik, indem er die anthropologische und soteriologische Wahrheit aus ihr entfernte. Das ist ein verständlicher Wunsch für einen Menschen, der seine Ruhe haben will; gewiß wäre alles viel einfacher ohne Philosophie und Christentum. Wie aber kann man sich ihrer entledigen, ohne die Erfahrungen der Transzendenz abzuschaffen, die zur Natur des Menschen gehören? Auch zur Lösung dieses Problems fühlte sich Hobbes durchaus fähig: er verbesserte den von Gott geschaffenen Menschen und schuf einen Menschen ohne solche Erfahrungen. An diesem Punkt betreten wir jedoch die höheren Regionen der gnostischen Traumwelt. Dieses weitere Unterfangen Hobbes' muß in den größeren Zusammenhang der westlichen Krise hineingestellt werden. Und das soll die Aufgabe des letzten Kapitels sein. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 224a-228a Stichwort: Ende d Modernität 1; Wahrheit d. kosmischen Ordnung; Gnosis, Gnostizismus als theologia civilis; Kirche: Wahrheit d. Seele; Totalitarismus unserer Zeit: Zivilreligion; Kulturzyklus (adventlich, rezessiv) Kurzinhalt: In den gnostischen Zivilisationen kehrt die Wahrheit der Seele nicht in die kompakte Form zurück, sondern wird gänzlich unterdrückt. In dieser Unterdrückung der autoritativen Quelle der Ordnung in der Seele liegt die Ursache für die kalte Grausamkeit ... Textausschnitt: 224a Hobbes hatte das Fehlen einer theologia civilis als die Quelle der Schwierigkeiten erkannt, von denen die Ordnung Englands in der puritanischen Krise befallen war. Die verschiedenen in den Bürgerkrieg verwickelten Gruppen waren so himmelsüchtig darauf bedacht, die Gesellschaft die richtige Variante transzendenter Wahrheit repräsentieren zu lassen, daß die existentielle Ordnung in Gefahr war, unterzugehen. Es war die Gelegenheit, die Entdeckung Platons neu zu entdecken: daß eine Gesellschaft als ein geordnetes Kosmion, als ein Repräsentant kosmischer Ordnung existieren muß, um sich den Luxus zu erlauben, auch die Wahrheit der Seele zu repräsentieren. Die Repräsentation der Wahrheit der Seele im christlichen Sinne ist die Funktion der Kirche, nicht der zivilen Gesellschaft. Wenn eine Vielzahl von Kirchen und Sekten anfängt, um die Herrschaft zu kämpfen, und keine von ihnen stark genug ist, einen unbestrittenen Sieg zu erringen, kann in der Logik der Ordnung die Situation nur dadurch bewältigt werden, daß der existentielle Repräsentant die Kampfhähne zu privaten Vereinigungen innerhalb der Gesellschaft reduziert. Dieses Problem der Existenz wurde schon mehrmals berührt. Es bedarf nunmehr einer zusammenfassenden Klärung, ehe die Hobbes'sche Idee vom Menschen dargelegt und bewertet werden kann. Die Analyse wird zweckmäßigerweise von den Punkten ausgehen, die bereits gesichert sind. (Fs)
224b Das Christentum hatte das Vakuum einer entgötterten natürlichen Sphäre politischer Existenz zurückgelassen. In der konkreten Situation des spätrömischen Reiches und der frühen westlichen politischen Gründungen wurde dieses Vakuum solange zu keinem größeren Unruheherd, als der Mythos des Reiches nicht ernstlich durch die Konsolidierung von Nationalreichen beeinträchtigt wurde und als die Kirche der vorherrschende kulturelle Faktor in der Entfaltung der westlichen Gesellschaft war, so daß das Christentum faktisch als Ziviltheologie fungieren konnte. Sobald jedoch ein gewisser kultureller Sättigungsgrad erreicht war, als sich an den Höfen und in den Städten Zentren der Laienkultur bildeten, als entsprechend die Zahl der Laien in den königlichen Verwaltungen wie auch in den Stadtregierungen anstieg, zeigte sich nur zu deutlich, daß die Probleme einer Gesellschaft in historischer Existenz durch ein bloßes Warten auf das Ende der Welt keineswegs erschöpft waren. Der Aufstieg des Gnostizismus an diesem kritischen Wendepunkt erscheint jetzt in einem neuen Licht als der Anfang des Bemühens um eine westliche Ziviltheologie. Die Immanentisierung des christlichen Eschaton macht es möglich, der Gesellschaft in ihrer natürlichen Existenz einen Sinn zu verleihen, welchen das Christentum ihr versagt hatte. Und der Totalitarismus unserer Zeit muß als die letzte Station auf der gnostischen Suche nach einer Ziviltheologie verstanden werden. (Fs) (notabene)
225a Das Experimentieren mit einer Ziviltheologie war jedoch von Gefahren umwittert, die aus dem hybriden Charakter des Gnostizismus als eines Derivates des Christentums erwuchsen. Die erste dieser Gefahren wurde bereits behandelt. Sie bestand im Bestreben des Gnostizismus, die Wahrheit der Seele nicht zu ergänzen, sondern zu ersetzen. Die gnostischen Bewegungen begnügten sich nicht damit, das Vakuum der Ziviltheologie auszufüllen; sie hatten die Tendenz, das Christentum abzuschaffen. In den Anfangsphasen der Bewegung trat der Angriff noch unter dem Deckmantel eines christlichen "Spiritualismus" oder einer "Reform" auf. In den späteren Phasen wurde er jedoch mit der radikaleren Immanentisierung des Eschaton offen antichristlich. Wo immer die gnostischen Bewegungen Fuß faßten, zerstörten sie die Wahrheit der geöffneten Seele; ein ganzer Bereich differenzierter Realität, der von der Philosophie und vom Christentum erschlossen worden war, wurde zertrümmert. Und wiederum ist es nötig daran zu erinnern, daß das Vordringen des Gnostizismus nicht eine Rückkehr zum Heidentum ist. In den vorchristlichen Kulturen war die Wahrheit, die sich durch das Öffnen der Seele differenzierte, in der Form kompakter Erlebnisse präsent. In den gnostischen Zivilisationen kehrt die Wahrheit der Seele nicht in die kompakte Form zurück, sondern wird gänzlich unterdrückt. In dieser Unterdrückung der autoritativen Quelle der Ordnung in der Seele liegt die Ursache für die kalte Grausamkeit totalitärer Regierungen im Umgang mit Einzelmenschen. (Fs) (notabene)
226a Das eigentümliche Resultat der Unterdrückung durch das Wachstum des Gnostizismus in der westlichen Gesellschaft regt den Gedanken eines Kulturzyklus von welthistorischen Ausmaßen an. Die Umrisse eines Riesenzyklus zeichnen sich ab, der die Zyklen der einzelnen Zivilisationsgesellschaften überwölbt. Den Höhepunkt dieses Zyklus würde das Erscheinen Christi kennzeichnen; die vorchristlichen Hochkulturen wären sein aufsteigender, die moderne, gnostische Zivilisation sein absteigender Ast. Die vorchristlichen Hochkulturen stiegen von der Kompaktheit des Erlebens zur Differenzierung der Seele als des Sensoriums der Transzendenz auf; und im mittelmeerischen Kulturbereich gipfelte dieser Aufstieg in der maximalen Differenzierung durch die Offenbarung des Logos in der Geschichte. Sofern die vorchristlichen Kulturen sich auf dieses Maximum des Advent hin bewegen, kann ihre Dynamik "adventlich" genannt werden. In der modernen gnostischen Zivilisation wird die Tendenz zur Differenzierung rückläufig, und sofern sie vom Maximum zurückweicht, kann ihre Dynamik "rezessiv" genannt werden. Zwar hat die westliche Gesellschaft ihren eigenen Zyklus von Wachstum, Blüte und Abstieg, aber da sie die Entfaltung des Gnostizismus mit sich brachte, muß sie als der absteigende Ast des umfassenden Advent-Rezessions-Zyklus angesehen werden. (Fs) (notabene)
227a Diese Betrachtungen eröffnen eine Perspektive auf die weitere Dynamik der Zivilisation. Der moderne Gnostizismus hat seine Kraftreserven durchaus noch nicht verbraucht. Im Gegenteil, in der Variante des Marxismus breitet er seine Einflußsphäre in Asien gewaltig aus, während andere Varianten des Gnostizismus, wie der Progressivismus, Positivismus und Szientismus in neuen Gebieten unter dem Titel der "Verwestlichung" und "Entwicklung rückständiger Gebiete" Fuß fassen. Und man kann wohl sagen, daß auch in der westlichen Gesellschaft selbst seine Kraft keineswegs erlahmt ist, sondern daß unsere eigene "Verwestlichung" noch zunimmt. Angesichts dieser weltweiten Ausdehnung ist es nötig, das Selbstverständliche festzustellen: daß die menschliche Natur sich nicht ändert. Die Verschließung der Seele im modernen Gnostizismus kann die Wahrheit der Seele wie auch die Erfahrungen, die sich in Philosophie und Christentum manifestieren, unterdrücken, aber sie kann die Seele und ihre Transzendenz nicht aus der Struktur der Wirklichkeit entfernen. Daher drängt sich die Frage auf: wie lange kann eine solche Unterdrückung andauern? Und was wird geschehen, wenn anhaltender, schwerer Druck zu einer Explosion führt? Solche Fragen betreffend die Dynamik der Zukunft sind legitim, weil sie aus einer methodisch korrekten Anwendung der Theorie auf eine empirisch beobachtete Komponente zeitgenössischer Zivilisation erwachsen. Es wäre jedoch nicht legitim, sich Spekulationen über die Form, welche die Explosion annehmen wird, hinzugeben über die berechtigte Annahme hinaus, daß die Reaktion gegen den Gnostizismus genau so weltweit sein wird wie seine Expansion. Die komplizierenden Faktoren sind so zahlreich, daß Voraussagen sinnlos wären. Auch was unsere eigene westliche Gesellschaft anbelangt, läßt sich kaum mehr tun als darauf hinweisen, daß der Gnostizismus trotz seines geräuschvollen Aufstiegs das Feld durchaus nicht alleine beherrscht, daß die klassische und christliche Tradition der westlichen Gesellschaft lebt, daß die Bildung eines geistigen und intellektuellen Widerstandes gegen den Gnostizismus in all seinen Spielarten ein Faktor in unserer Gesellschaft ist, daß die Wiederherstellung einer Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft eines der beachtlichen Ereignisse des letzten Halbjahrhunderts darstellt und rückblickend einem künftigen Betrachter vielleicht als das wichtigste Ereignis unserer Zeit erscheinen wird. Noch weniger läßt sich, aus naheliegenden Gründen, über die mutmaßliche Reaktion einer lebendigen christlichen Tradition gegen den Gnostizismus im Sowjetreich aussagen; und gar nichts darüber, wie wohl die chinesische, die hinduistische, islamische und die primitiven Zivilisationen reagieren werden, wenn sie auf die Dauer der Verheerung und Unterdrückung durch den Gnostizismus ausgesetzt sind. Nur über einen Punkt läßt sich zumindest eine begründete Vermutung anstellen, nämlich über den Zeitpunkt der Explosion. Eine objektive Zeitangabe ist auch in diesem Fall nicht möglich; aber der Gnostizismus enthält in sich einen Faktor, der gegen ihn selbst arbeitet, und dieser Faktor macht es zumindest wahrscheinlich, daß der Zeitpunkt näher ist, als man unter dem Eindruck der gnostischen Macht des Augenblicks annehmen möchte. Dieser selbstzerstörende Faktor ist die zweite Gefahr des Gnostizismus als einer Ziviltheologie. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 229a-232a Stichwort: Ende d. Modernität 2a; Gnostizismus: Missachtung der Grundsätze menschlicher Existenz (Ordnung - Traumwelt - Existenzangst); pneumopathologischer Geisteszustand; Kurzinhalt: In jeder Gesellschaft ist somit die Neigung präsent, den Sinn der Ordnung auf das Faktum der Existenz auszudehnen, aber in vorwiegend gnostischen Gesellschaften wird diese Ausweitung zum Prinzip erhoben. Textausschnitt: 229a Die erste Gefahr war die Zerstörung der Wahrheit der Seele. Die zweite hängt eng mit der ersten zusammen. Die Wahrheit des Gnostizismus ist, wie oben dargelegt, mit dem Defekt der Immanentisierung des christlichen Eschaton behaftet. Dieser Defekt ist nicht einfach ein theoretischer Irrtum betreffend den Sinn des Eschaton, der diesem oder jenem Denker unterlaufen wäre; er ist mehr als eine bloße Angelegenheit der Schulen. Denn auf Grund dieses Denkfehlers interpretieren gnostische Denker, Führer und ihre Anhänger eine konkrete Gesellschaft und deren Ordnung als ein Eschaton; und wenn sie ihre Fehlkonstruktion auf konkrete soziale Probleme anwenden, dann stellen sie die Struktur der immanenten Realität falsch dar. Die eschatologische Interpretation der Geschichte ergibt ein falsches Bild der Realität; und Irrtümer betreffend die Struktur der Realität haben Konsequenzen in der Praxis, wenn die falsche Konzeption zur Basis politischer Aktion gemacht wird. Im besonderen zerstört die gnostische Täuschung die älteste Weisheit der Menschheit betreffend den Rhythmus von Werden und Vergehen, der das Schicksal aller Dinge unter der Sonne ist. Der Prediger sagt: (Fs)
Jeglichem seine Stunde,
Und eine Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel:
Eine geboren zu werden, und eine zu sterben.
230a Über die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis nachsinnend, sagt der Prediger weiter, der Geist des Menschen könne "das Werk, das Gott von Anbeginn bis zum Ende vollbringt", nicht ermessen. Was entsteht, das muß vergehen; und: das Mysterium des Seinsstroms ist undurchdringlich. Das sind die beiden großen Prinzipien, die das Dasein bestimmen. Die gnostische Spekulation über das Eidos der Geschichte ignoriert jedoch nicht nur diese Prinzipien, sondern verkehrt sie in ihr Gegenteil. Denn die Idee vom Endreich setzt eine Gesellschaft voraus, die zwar einen Anfang, aber kein Ende haben wird; und das Mysterium des Seinsstroms wird durch das spekulative Wissen um sein Ziel gelöst. Der Gnostizismus hat sozusagen die Gegenprinzipien zu den Prinzipien der Existenz hervorgebracht. Und insofern diese Prinzipien für die Massen der Gläubigen das Bild der Realität bestimmen, hat er eine Traumwelt geschaffen, die ihrerseits eine soziale Kraft erster Ordnung ist, wenn es zur Motivierung der Haltungen und Aktionen gnostischer Massen und ihrer Repräsentanten kommt. (Fs) (notabene)
230b Das Phänomen einer auf bestimmte Prinzipien gegründeten Traumwelt bedarf einiger Erläuterung. Es wäre als historisches Massenphänomen kaum möglich, wenn es nicht in tiefgehenden Erlebnissen verwurzelt wäre. Der Gnostizismus als eine gegenexistentielle Traumwelt kann vielleicht als der extreme Ausdruck allgemein menschlicher Erfahrungen zum Verständnis gebracht werden: der Erfahrungen der Existenzangst und des Dranges ihr zu entrinnen. Konkret läßt sich das Problem folgendermaßen ausdrücken: Eine Gesellschaft wird, sobald sie existent ist, ihre Ordnung als Teil der Seinsordnung interpretieren. Diese Selbstinterpretation der Gesellschaft als Spiegel der kosmischen Ordnung ist jedoch ein Teil der sozialen Wirklichkeit selbst. Die geordnete Gesellschaft zusammen mit ihrer Selbstinterpretation bleibt eine Welle im Seinsstrom; die Polis des Aischylos mit ihrer ordnenden Dike ist im Meer dämonischer Unordnung eine Insel, die sich nur mühsam im Dasein erhält. Nur die Ordnung einer existenten Gesellschaft ist verstehbar; ihre Existenz an sich ist nicht verstehbar. Die erfolgreiche Artikulierung einer Gesellschaft ist ein Faktum, das unter günstigen Umständen möglich geworden ist; und das Faktum kann durch ungünstige Umstände, wie beispielsweise durch das Auftreten einer stärkeren, erobernden Macht, zunichte gemacht werden. Die fortuna secunda et adversa ist die lächelnde, schreckliche Göttin, die über den Existenzbereich herrscht. Dieses Risiko einer recht- und grundlosen Existenz ist ein dämonisches Grauen; sogar für den Beherzten ist es schwer zu tragen; und es ist kaum erträglich für zarte Seelen, die nicht leben können ohne den Glauben, sie verdienten zu leben. Man kann daher wohl zu Recht annehmen, daß in jeder Gesellschaft mehr oder minder stark die Neigung vorhanden ist, den Sinn ihrer Ordnung auf das Faktum ihrer Existenz auszudehnen. Vor allem wenn eine Gesellschaft eine lange, ruhmreiche Geschichte aufweist, wird ihre Existenz leicht für einen wesensmäßigen Teil der Seinsordnung gehalten. Es ist unvorstellbar geworden, daß die Gesellschaft einfach zu existieren aufhören könnte. Und wenn ein großer symbolischer Schlag dröhnt, man denke an die Eroberung Roms im Jahre 410, geht ein Stöhnen durch den orbis terrarrum, daß nun das Ende der Welt gekommen sei. (Fs) (notabene)
231a In jeder Gesellschaft ist somit die Neigung präsent, den Sinn der Ordnung auf das Faktum der Existenz auszudehnen, aber in vorwiegend gnostischen Gesellschaften wird diese Ausweitung zum Prinzip erhoben. Die Verschiebung von einer Stimmung, einer trägen Indifferenz, in der Existenz als selbstverständlich erscheint, zu einem Prinzip, bestimmt nun eine neue Verhaltensweise. Im ersten Falle, dem der Stimmung, kann man von einer Neigung sprechen, sich um die Struktur der Realität nicht zu kümmern, sich ganz der Süße des Daseins hinzugeben, von einem Absinken der bürgerlichen Moral, von einer Blindheit gegenüber offensichtlichen Gefahren und einem Widerwillen, ihnen ernsthaft zu begegnen. Das wäre die Gemütsverfassung alternder, sich auflösender Gesellschaften, die nicht mehr gewillt sind, um ihre Existenz zu kämpfen. Im zweiten, gnostischen Falle ist die psychologische Situation eine ganz andere. Im Gnostizismus ist die Nichtanerkennung der Realität eine Sache des Prinzips. In diesem Falle müßte man eher von einer Neigung sprechen, sich des Risikos der Existenz bewußt zu bleiben, es gleichzeitig aber nicht als Problem in die gnostische Traumwelt aufzunehmen. Auch vermindert der Traum nicht den Verantwortungsgeist der Bürger oder die Bereitschaft, im Notfall tapfer zu kämpfen. Die Haltung der Realität gegenüber bleibt energisch und aktiv, aber weder die Realität noch die Aktion in der Realität kann scharf in Fokus gebracht werden; das Bild wird durch den gnostischen Traum getrübt. Das Ergebnis ist ein sehr komplexer, pneumopathologischer Geisteszustand, wie er in Hockers Bild des Puritaners skizziert wurde. (Fs)
232a Das Studium des Phänomens und seiner zeitgenössischen Spielarten ist jedoch schwieriger geworden, als es zu Hookers Zeit war. Im sechzehnten Jahrhundert wurden die Traumwelt und die wirkliche Welt noch terminologisch durch die christliche Symbolik der zwei Welten auseinandergehalten. Die Krankheit und ihre besondere Spielart konnte leicht diagnostiziert werden, weil der Patient sich selbst voll bewußt war, daß die neue Welt nicht die Welt war, in der er wirklich lebte. Mit der radikalen Immanentisierung wird die Traumwelt terminologisch in die reale Welt hineingeblendet. Die Besessenheit, die wirkliche Welt durch die verklärte Traumwelt zu ersetzen, ist zur Besessenheit von der einen Welt geworden, in welcher die Träumer das Vokabular der Realität, mit entsprechender Änderung seines Sinnes, gebrauchen und vom Traum sprechen, als wäre er Wirklichkeit. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 186a-188a Stichwort: Die gnostische Revolution 1; d. Fall des Puritanismus; Periodisierung der westlichen Geschichte; Hooker Kurzinhalt: Die Vorstellung eines modernen auf das Mittelalter folgenden Zeitalters ist selbst eines der Symbole, welche die gnostische Bewegung geschaffen hat. Sie gehört in die Klasse der Symbole des Dritten Reiches. Textausschnitt: V. Die gnostische Revolution - Der Fall des Puritanismus
1. Die Periodisierung der westlichen Geschichte
186a Die Analyse gnostischer Erfahrungen hat zu einem Begriff der Modernität geführt, der von der üblichen Bedeutung dieser Bezeichnung abweicht. Gemeinhin wird die westliche Geschichte in Perioden eingeteilt mit einem deutlichen Einschnitt um 1500, wobei die Zeit danach als die neuzeitliche Phase der westlichen Geschichte gilt. Wird jedoch die Modernität als das Wachsen des Gnostizismus definiert, das schon etwa im neunten Jahrhundert beginnt, dann wird sie zu einem Prozeß innerhalb der Entwicklung der westlichen Gesellschaft, der bis weit in deren mittelalterliche Periode zurückreicht. Es müßte daher die Konzeption einer Aufeinanderfolge von Phasen durch die von einer kontinuierlichen Evolution ersetzt werden, in deren Verlauf der moderne Gnostizismus siegreich zur Vorherrschaft über eine kulturelle Tradition aufsteigt, die von den mittelmeerischen Entdeckungen anthropologischer und soteriologischer Wahrheit herstammt. Diese neue Konzeption ist an sich lediglich ein Ausdruck des gegenwärtigen Standes der empirischen Geschichtsschreibung und bedarf daher keiner weiteren Rechtfertigung. Dennoch bleibt die Frage zu klären, ob die übliche Periodisierung nicht in einem Zusammenhang mit dem Problem des Gnostizismus steht. Denn es wäre erstaunlich, wenn ein Symbol, das in der Selbstinterpretation der westlichen Gesellschaft so weite Anerkennung gefunden hat, nicht auch in irgendeinem Zusammenhang mit dem fundamentalen Problem der Repräsentation der Wahrheit stünde. (Fs) (notabene)
187a Tatsächlich besteht ein solcher Zusammenhang. Die Vorstellung eines modernen auf das Mittelalter folgenden Zeitalters ist selbst eines der Symbole, welche die gnostische Bewegung geschaffen hat. Sie gehört in die Klasse der Symbole des Dritten Reiches. Seitdem Biondo im fünfzehnten Jahrhundert das Jahrtausend von 410, dem Fall Roms, bis zum Jahre 1410 als ein abgeschlossenes, der Vergangenheit angehörendes Zeitalter betrachtete, wurde allgemein das Symbol eines neuen, modernen Zeitalters von den sich einander ablösenden humanistischen, protestantischen und aufgeklärten Intellektuellen gebraucht, um ihrem Bewußtsein als Repräsentanten einer neuen Wahrheit Ausdruck zu verleihen. Aber gerade weil die Welt unter der Führung der Gnostiker in häufigen Abständen erneuert wird, ist es unmöglich - will man die Forderungen der Gnostiker berücksichtigen -, zu einer kritisch gerechtfertigten Periodisierung zu gelangen. Durch die immanente Logik ihrer eigenen theologischen Symbolik ist jede der gnostischen Wellen gleichermaßen berechtigt, sich selbst als die große Bewegung der Zukunft zu betrachten. Es ist keinerlei Grund vorhanden, weshalb eine moderne Periode eher mit dem Humanismus beginnen sollte als mit der Reformation, oder eher mit der Aufklärung als mit dem Marxismus. Das Problem kann also nicht auf der Ebene der gnostischen Symbolik gelöst werden. Wir müssen auf die Ebene der existentiellen Repräsentation hinabsteigen, um dort Gründe für die Periodisierung zu finden. Denn eine Epoche würde in der Tat markiert sein, wenn im Kampf um die existentielle Repräsentation ein entscheidender revolutionärer Sieg der gnostischen Bewegung über die Kräfte der westlichen Tradition zu verzeichnen wäre. Wenn die Frage auf diese Weise gestellt wird, bekommt die traditionelle Periodisierung ihren Sinn. Während keiner der Bewegungen auf Grund ihres Wahrheitsgehaltes der Vorrang gebührt, zeichnet sich in der westlichen Geschichte eine deutliche Epoche durch die Reformation ab, die als ein erfolgreicher Einbruch gnostischer Bewegungen in die westlichen Institutionen zu verstehen ist. Die Bewegungen, die bisher in einer sozialen Grenzposition existierten - geduldet, unterdrückt oder im Untergrund -, brachen in der Reformation mit unerwarteter Kraft auf breiter Front durch, mit dem Ergebnis, daß sie die Universalkirche spalteten und dann dazu übergingen, Schritt für Schritt die politischen Institutionen in den Nationalstaaten zu erobern. (Fs) (notabene)
188a Der revolutionäre Durchbruch der gnostischen Bewegung beeinflußte die existentielle Repräsentation in der gesamten westlichen Gesellschaft. Das Ereignis ist von solchem Ausmaß, daß in dieser Studie nicht einmal ein Überblick über seine allgemeinen Charakteristika versucht werden kann. Um das Verständnis zumindest einiger Grundzüge der gnostischen Revolution zu vermitteln, wird es zweckmäßig sein, die Analyse auf einen besonderen nationalen Raum und eine bestimmte Phase innerhalb desselben zu konzentrieren. Gewisse Aspekte des puritanischen Vorstoßes in die englische öffentliche Ordnung dürften der geeignetste Gegenstand für eine kurze Untersuchung sein. Die Wahl empfiehlt sich im besonderen, weil das sechzehnte Jahrhundert in England das seltene Glück hatte, in der Person des ,"judicious Hooker" einen glänzenden Beobachter der gnostischen Bewegung zu besitzen. Im Vorwort zu seiner Ecclesiastical Polity gab Hooker eine scharf gesehene Typenstudie des Puritaners sowie des psychologischen Mechanismus, mit dem die gnostischen Massenbewegungen arbeiten. Diese Ausführungen sind unschätzbar für das Verständnis der gnostischen Revolution. Unsere Analyse wird daher als erstes das Bild, das Hooker vom Puritaner gab, zusammenfassend aufzeigen. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 17a-19a Stichwort: Theorie der Politik - Theorie der Geschichte; Repräsentation (Ermöglichung des Handelns in der Geschichte); Symbole; politische Wissenschaft heute: Studium der Institutionen (Legitimation des status quo) Kurzinhalt: Wesen der Repräsentation selbst, als der Form, durch die eine politische Gesellschaft Existenz für ihr Handeln in der Geschichte gewinnt, vordringen. Die Analyse wird weiter zur Erforschung der Symbole vordringen Textausschnitt: 1. Theorie der Politik - Theorie der Geschichte (eü)
17a Die Existenz des Menschen in politischer Gesellschaft ist geschichtliche Existenz. Eine Theorie der Politik, wenn sie zu den Prinzipien vorstößt, muß zu einer Theorie der Geschichte werden. Die folgenden Untersuchungen über Repräsentation, über das Zentralproblem einer Theorie der Politik, werden daher über eine bloße Beschreibung der konventionell sogenannten "repräsentativen Institutionen" hinausgehen und zum Wesen der Repräsentation selbst, als der Form, durch die eine politische Gesellschaft Existenz für ihr Handeln in der Geschichte gewinnt, vordringen. Die Analyse wird weiter zur Erforschung der Symbole fortschreiten, durch die politische Gesellschaften sich selbst als Repräsentanten einer transzendenten Wahrheit interpretieren. Und im Zuge der Symbolanalyse wird sich zeigen, daß die Reihe der Selbstinterpretationen sich als die Reihe der verstehbar aufeinanderfolgenden Phasen eines historischen Prozesses theoretisieren läßt. Die Untersuchung, die als Analyse der Repräsentationsphänomene beginnt, wird, in folgerechter Entfaltung der theoretischen Implikationen, in eine Philosophie der Geschichte ausmünden. (17; Fs) (notabene)
17b Es ist heute nicht üblich, ein theoretisches Problem der Politik bis zu dem Punkt zu verfolgen, an dem die Prinzipien der Politik mit denen einer Philosophie der Geschichte zusammentreffen. Der Versuch wird jedoch weniger als eine Neuerung in der politischen Wissenschaft erscheinen, denn als eine Er-Neuerung, wenn wir bedenken, daß die beiden Gebiete, die heute getrennt behandelt werden, untrennbar verbunden waren, als die politische Wissenschaft von Platon begründet wurde. Diese integrale Theorie der Politik wurde geboren aus der Krise der hellenischen Gesellschaft. In Krisenzeiten, wenn die Ordnung einer Gesellschaft sich auflöst, werden die Grundprobleme der politischen und historischen Existenz deutlicher als in Zeiten verhältnismäßiger Stabilität. Und seit der Antike ist, wie man generell sagen darf, die Schrumpfung der politischen Wissenschaft zu einer bloßen Beschreibung und Verteidigung der jeweils bestehenden Institutionen, d. h. die Degradierung der theoretischen Politik zur ancilla der herrschenden Mächte, typisch geblieben für stabile Situationen, während der Wuchs zu ihrer Großartigkeit als der Wissenschaft von menschlicher Existenz in Gesellschaft und Geschichte den revolutionären, kritischen Epochen vorbehalten war. In der abendländischen Geschichte hat es drei solche Epochen, begleitet von großen wissenschaftlichen Schöpfungen, gegeben: die Begründung der politischen Wissenschaft, der episteme politike, durch Platon und Aristoteles entsprang der hellenischen Krise; das Werk Augustins der Krise Roms und des Christentums; und Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie reflektierte das erste revolutionäre Beben der westlichen Krise. Dies sind jedoch nur die Hauptepochen und die ihnen entsprechenden, großen Gründungen und Restaurationen der politischen Wissenschaft. Die Jahrhunderte, die zwischen ihnen liegen, sind gegliedert durch kleinere Epochen und sekundäre Restaurationen - man denke z. B. für die Neuzeit an den großen Versuch Bodins in der Krise des 16. Jahrhunderts. (18; Fs)
18a Unter der Wiederherstellung, der Restauration der politischen Wissenschaft, soll das Wiedererwachen des Bewußtseins der Prinzipienfragen verstanden werden, nicht etwa die Rückkehr zu den spezifischen Inhalten eines der früheren Versuche. Die politische Wissenschaft kann heute nicht durch einen neuen Platonismus, Augustinismus oder Hegelianismus wiederhergestellt werden. Gewiß, wir haben von den Vorgängern viel über die Natur der Probleme und ihre theoretische Behandlung zu lernen; aber die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, d. h. die Konkretisierung des Typischen in sinnvoller Singularität, macht eine gültige Neuformulierung der Prinzipien durch bloße Rezeption des historisch Vergangenen unmöglich. Die politische Wissenschaft kann nicht durch literarische Renaissancen wieder zum Rang einer theoretischen Wissenschaft im strengen Sinn erhoben werden. Ihre Prinzipien müssen durch ein Werk der Theoretisierung wiedergewonnen werden, das von der konkreten, historischen Situation unserer Zeit ausgeht und unser heutiges empirisches Wissen in seinem vollen Umfang in Betracht zieht. (18f; Fs)
19a Wenn die Bedingungen der Aufgabe in dieser Form gestellt werden, mag ihre Lösung als hoffnungslos erscheinen angesichts der Materialmassen, die uns heute von den empirischen Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften zur Verfügung gestellt werden. Der erste Eindruck ist jedoch irreführend. Die Schwierigkeiten der Aufgabe dürfen gewiß nicht unterschätzt werden, aber ihre Lösung ist heute durch die Vorarbeiten des letzten Halbjahrhunderts in den Bereich des Möglichen gerückt. Seit nunmehr zwei Generationen sind die Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft in einem Prozeß theoretischer Erneuerung begriffen. Und die Bewegung, die in ihren Anfängen langsam war, aber nach dem ersten Weltkrieg sich beschleunigte, schreitet heute mit atemberaubender Geschwindigkeit voran. Die Aufgabe nähert sich ihrer Durchrführbarkeit, weil sie durch die konvergente Theoretisierung der relevanten Materialien in den Einzelwissenschaften zu einem sehr erheblichen Teil schon durchgeführt ist. Die vorliegenden Untersuchungen über Repräsentation wollen den Leser in eine Entwicklung der politischen Wissenschaft einführen, die der breiten Öffentlichkeit noch wenig bekannt geworden ist; und sie wollen weiterhin zeigen, daß die monographische Erforschung der Probleme in der Tat so weit gediehen ist, daß die Anwendung von Resultaten auf ein theoretisches Grundproblem der Politik zumindest versucht werden kann. (19f; Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 49a-54a Stichwort: Repräsentation und Existenz; politische Wissenschaft nicht als tabula rasa; Sprachsymbole: der sozialen Wirklichkeiten - d. politischen W.; Beispiel: "Reich der Freiheit" - immanentisierte Hypostase; doxa, Ideologie
Kurzinhalt: Als Aristoteles seine Ethik und seine Politik schrieb ... erfand er weder diese Termini noch verlieh er ihnen willkürliche Bedeutungen; vielmehr nahm er die Symbole, die er in seiner sozialen Umwelt vorfand, prüfte sorgfältig die Bedeutungen, die ... Textausschnitt: 1. Repräsentation und Existenz
1. Das aristotelische Verfahren kritischer Klärung
49a Die politische Wissenschaft leidet unter einer Problematik, die in ihrer Natur als Wissenschaft vom Menschen in historischer Existenz begründet ist: der Mensch wartet für die Auslegung seines Lebens nicht auf die Wissenschaft, und wenn der Theoretiker sich mit der sozialen Realität befassen will, findet er das Feld bereits von etwas beschlagnahmt, was man als die Selbstinterpretation der Gesellschaft bezeichnen kann. Denn die menschliche Gesellschaft ist mehr als eine Tatsache oder ein Ereignis in der Außenwelt, das ein Beobachter wie ein Naturphänomen untersuchen könnte. Zwar ist ihr Außenweltcharakter eine der Komponenten ihres Seins, aber im ganzen ist sie eine kleine Welt, ein Kosmion, von innen her mit Sinn erfüllt durch die menschlichen Wesen, die sie in Kontinuität schaffen und erhalten als Modus und Bedingung ihrer Selbstverwirklichung. Das Kosmion wird erhellt durch eine hochentwickelte Symbolik, in verschiedenen Graden von Kompaktheit und Differenzierung - vom Ritus über den Mythos zur Theorie -; und die Symbole lassen seinen Sinn aufleuchten, indem sie seine innere Struktur, die Relationen zwischen seinen Gliedern und Gruppen von Gliedern sowie auch seine Existenz als Ganzes für das Mysterium der menschlichen Existenz transparent machen. Die Selbsterhellung der Gesellschaft durch Symbole ist ein integraler Bestandteil der sozialen Realität, man kann sogar sagen ihr wesentlicher Bestandteil, denn durch eine solche Symbolisierung erfahren die Menschen die Gesellschaft, deren Glieder sie sind, als mehr denn eine bloße Zufälligkeit oder Annehmlichkeit; sie erfahren sie als Teil ihres menschlichen Wesens. Und umgekehrt drücken die Symbole das Erlebnis aus, daß der Mensch voll und ganz Mensch ist kraft seiner Teilnahme an einem Ganzen, das über seine gesonderte Existenz hinausgreift, kraft seiner Teilnahme am xynon, dem Gemeinsamen, wie Heraklit es genannt hat, der erste westliche Denker, der diesen Begriff differenzierte. Jede menschliche Gesellschaft gelangt also, ohne politische Wissenschaft, zu einem Verständnis ihrer selbst durch eine Vielfalt von Symbolen, manchmal höchst differenzierten Sprachsymbolen; und solches Selbstverständnis geht historisch um Jahrtausende der politischen Wissenschaft, der politike episteme im aristotelischen Sinne, voraus. Wenn die politische Wissenschaft anhebt, steht sie also nicht vor einer tabula rasa, auf der sie ihre Begriffe einritzen könnte; sie muß von dem reichen corpus der Selbstinterpretation einer Gesellschaft ausgehen, und sie wird ihre Aufgabe auf dem Wege kritischer Klärung der gesellschaftlich präexistenten Symbole lösen müssen. Als Aristoteles seine Ethik und seine Politik schrieb, als er seine Begriffe der Polis, der Verfassung, des Bürgers, der verschiedenen Regierungsformen, der Gerechtigkeit, der Glückseligkeit etc. bildete, erfand er weder diese Termini noch verlieh er ihnen willkürliche Bedeutungen; vielmehr nahm er die Symbole, die er in seiner sozialen Umwelt vorfand, prüfte sorgfältig die Bedeutungen, die sie im Sprachgebrauch hatten, und ordnete und klärte diese Sinngehalte nach den Kriterien seiner Theorie.1 (Fs)
51a Diese Präliminarien erschöpfen zwar keineswegs die eigenartige Situation der politischen Wissenschaft, aber sie dürften zureichen für den unmittelbaren Zweck, einige theoretische Schlüsse zu ziehen, die ihrerseits wieder auf das Thema der Repräsentation angewandt werden können. (Fs)
51b Wenn der Theoretiker auf seine eigene theoretische Situation reflektiert, sieht er sich zwei Reihen von Symbolen gegenüber: den Sprachsymbolen, die als integraler Teil des sozialen Kosmion zu dessen Selbsterhellung hervorgebracht werden, und den Sprachsymbolen der politischen Wissenschaft. Die beiden Reihen sind aufeinander bezogen, insoferne als die zweite Reihe aus der ersten hervorgegangen ist durch das Verfahren, das vorläufig als kritische Klärung bezeichnet wurde. Im Verlauf dieses Verfahrens werden einige in der Realität vorfindliche Symbole aufgegeben, weil sie in der Ökonomie der Wissenschaft nicht verwendbar sind, während neue Symbole in der Theorie entwickelt werden, um die in der Realität auftretenden Symbole adäquat zu beschreiben. Wenn der Theoretiker z. B. die marxistische Idee des Reiches der Freiheit, das auf dem Wege einer kommunistischen Revolution etabliert werden soll, als die immanentisierte Hypostase eines christlichen eschatologischen Symbols beschreibt, dann ist das Symbol "Reich der Freiheit" Teil der Realität; es ist Teil der säkularen Bewegung, von der die marxistische Bewegung ein Zweig ist, während Termini wie "immanentisiert", "Hypostase" und "Eschatologie" Begriffe der politischen Wissenschaft sind. Die in der Beschreibung verwendeten Ausdrücke kommen in der Realität der marxistischen Bewegung nicht vor, während das Symbol "Reich der Freiheit" als Begriff der kritischen Wissenschaft wertlos ist. Es gibt daher weder zwei Symbolreihen mit voneinander verschiedenen Bedeutungen, noch eine einzige Symbolreihe mit zwei verschiedenen Bedeutungsreihen; sondern es gibt zwei Symbolreihen, deren Phoneme sich häufig überdecken. Ferner sind die Symbole in der Wirklichkeit in beträchtlichem Ausmaß selbst das Ergebnis von Klärungsprozessen, so daß auch hinsichtlich ihrer Bedeutung die beiden Symbolreihen sich häufig sehr nahe kommen, manchmal sogar Identität erreichen. Diese komplizierte Situation ist unvermeidlich eine reiche Quelle von Mißverständnissen. Vor allem entspringt aus ihr die Illusion, daß die in der politischen Realität verwendeten Symbole theoretische Begriffe seien. (Fs)
52a Diese verwirrende Illusion hat leider die zeitgenössische politische Wissenschaft tief unterhöhlt. Man scheut sich z. B. nicht, von einer "Vertragstheorie" oder einer "Souveränitätstheorie" oder einer "Marxistischen Geschichtstheorie" zu sprechen, obwohl es mehr als fraglich ist, daß irgendeine dieser sogenannten Theorien sich als Theorie im kritischen Sinne qualifizieren läßt; und umfangreiche Geschichten der "Politischen Theorie" handeln von Symbolen, die in ihrer Mehrzahl sehr wenig Theoretisches an sich haben. Mißverständnisse dieser Art zerstören sogar einige Errungenschaften, die schon von der politischen Wissenschaft der Antike erzielt wurden. Man nehme z. B. die sogenannte Vertragstheorie. In dieser Theorie wird die Tatsache ignoriert, daß Platon eine sehr eingehende Analyse des Vertragssymbols gegeben hat. Nicht nur hat er seinen nicht-theoretischen Charakter festgestellt, sondern auch den Erfahrungstypus, der ihm zugrunde liegt, erforscht. Darüber hinaus hat er die Bezeichnung doxa als terminus technicus für jene Klasse von Symbolen eingeführt, von der die "Vertragstheorie" ein Spezialfall ist, um sie von den Symbolen der Theorie zu unterscheiden.2 Heute gebrauchen die Theoretiker nicht mehr den terminus doxa für diesen Zweck, so daß die Unterscheidung verloren gegangen ist. Stattdessen ist das Wort "Ideologie" in Mode gekommen, das in mancher Hinsicht dem platonischen doxa verwandt ist. Aber gerade dieses Wort wurde zu einer weiteren Quelle von Mißverständnissen, weil unter dem Druck des "allgemeinen Ideologieverdachts" (Mannheim) seine Bedeutung so weit ausgedehnt wurde, daß es alle Symboltypen umfaßt, die in Urteilen über die Politik gebraucht werden, die Symbole der Theorie eingeschlossen; es gibt heute zahlreiche politische Wissenschaftler, die sogar die platonisch-aristotelische episteme eine Ideologie zu nennen bereit sind. (Fs)
53a Ein weiteres Symptom solcher Verwirrung sind gewisse Gepflogenheiten in der Diskussion. Mehr als einmal fragte mich in einer Diskussion über ein politisches Thema ein Student - und nicht immer nur ein Student -, wie ich den Faschismus oder Sozialismus oder einen anderen "ismus" dieser Ordnung definiere. Und mehr als einmal mußte ich den Fragesteller - der anscheinend im Verlauf seines Universitätsstudiums die Vorstellung gewonnen hatte, die Wissenschaft sei ein Warenhaus für lexikale Definitionen - in Erstaunen versetzen durch meine Versicherung, daß ich mich nicht verpflichtet fühle, mich auf Wortdefinitionen einzulassen, da Bewegungen vom angedeuteten Typ einschließlich ihrer Symbole Teil der Realität seien, daß nur Begriffe, nicht aber die Realität definiert werden könnten und daß es höchst zweifelhaft sei, ob die in Frage stehenden Sprachsymbole kritisch so weit geklärt werden könnten, daß sie von irgendwelchem Erkenntniswert in der Wissenschaft seien. (Fs)
54a Der Boden ist nun vorbereitet, um das Thema der Repräsentation selbst anzugehen. Die vorausgegangenen Erwägungen haben wohl verdeutlicht, daß die Aufgabe nicht ganz einfach sein kann, wenn die Untersuchung gemäß den Kriterien einer Wahrheitssuche geführt wird. Theoretische Begriffe und solche Symbole, die Teil der Realität sind, müssen sorgsam auseinandergehalten werden; beim Übergang von der Wirklichkeit zur Theorie müssen die beim Klärungsvorgang angewandten Kriterien genau definiert werden; und der Erkenntniswert der gewonnenen Begriffe muß daran geprüft werden, ob sie sich in größere theoretische Zusammenhänge einfügen lassen. Die hier umrissene Methode ist im wesentlichen das aristotelische Verfahren. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 54a-57b Stichwort: Repräsentation im deskriptiven Sinn; Institutionen innerhalb eines existentiellen Rahmens; deskriptiv-elementare Ebene Kurzinhalt: Wenn repräsentative Institutionen auf dieser Ebene theoretisiert werden, dann beziehen sich die Begriffe, die in die Konstruktion des deskriptiven Typus aufgenommen werden, auf einfache Daten der Außenwelt. Textausschnitt: 2. Repräsentation im deskriptiven Sinn
54a Es dürfte angebracht sein, mit den elementaren Aspekten des Themas zu beginnen. Um festzulegen, was theoretisch elementar ist, wird es gut sein, sich den Anfang dieses Kapitels ins Gedächtnis zurückzurufen. Eine politische Gesellschaft wurde als ein von innen her erhelltes Kosmion charakterisiert; diese Charakteristik wurde jedoch durch die Hervorhebung des Außenweltscharakters als einer seiner Seinskomponenten qualifiziert. Das Kosmion hat seinen inneren Sinnbereich; aber dieser Bereich existiert sinnlich greifbar in der Außenwelt in menschlichen Wesen, die Körper besitzen und mit diesen Körpern an dem organischen und anorganischen Gefüge der Welt teilhaben. Eine politische Gesellschaft kann sich nicht nur auflösen durch die Zersetzung des Glaubens, der sie zu einer handelnden Einheit in der Geschichte macht; sie kann auch zerstört werden durch Zerstreuung ihrer Glieder, so daß Kommunikation zwischen ihnen physisch unmöglich wird, oder, am radikalsten, durch deren physische Ausrottung; sie kann auch ernsthaften Schaden, teilweise Zerstörung ihrer Tradition und andauernde Lähmung erleiden durch Vernichtung oder Unterdrückung der aktiven Glieder, die in jeder Gesellschaft die politisch und intellektuell herrschende Minderheit sind. Die sinnlich-äußere Existenz einer Gesellschaft in diesem Sinne ist gemeint, wenn wir - aus Gründen, die sogleich aufgezeigt werden - von dem theoretisch elementaren Aspekt unseres Themas sprechen. (Fs)
55a In der politischen Debatte, in der Presse und in der publizistischen Literatur wird von Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz, den Niederlanden oder den Skandinavischen Königreichen gewöhnlich als von Ländern mit repräsentativen Institutionen gesprochen. In Zusammenhängen dieser Art tritt der Terminus als ein Symbol in der politischen Realität auf. Wenn jemand, der sich dieses Symbols bedient, aufgefordert würde zu erklären, was er damit meint, würde er ziemlich sicher antworten, daß die Institutionen eines Landes repräsentativen Charakter hätten, wenn die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung ihre Mitgliedschaft kraft Volkswahl besitzen. Wenn das Fragen auf die Exekutive ausgedehnt wird, so wird er die amerikanische Wahl eines obersten Exekutivorgans durch das Volk als repräsentativ akzeptieren, er wird aber auch dem englischen System eines Ausschusses der parlamentarischen Majorität als Ministerrat zustimmen, oder dem Schweizer System, bei dem die Exekutive durch beide Kammern in gemeinsamer Sitzung gewählt wird. Und wahrscheinlich wird er nicht finden, daß die Institution der Monarchie dem repräsentativen Charakter Abbruch tut, solange der Monarch zu seinen Handlungen die Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers benötigt. Wenn der Gefragte gedrängt wird, sich etwas klarer auszudrücken über das, was er unter einer Volkswahl versteht, so wird er vor allem an die Wahl eines Repräsentanten durch alle volljährigen Personen, die in einem territorial begrenzten Wahlbezirk ansässig sind, denken; aber er wird wahrscheinlich den repräsentativen Charakter nicht absprechen, wenn Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind oder wenn, unter einem System proportionaler Repräsentation, die Wählerschaft personell und nicht territorial aufgegliedert ist. Schließlich mag er bedenken, daß Wahlen in angemessenen Perioden stattfinden sollten, und er wird von den Parteien sprechen, die im Wahlverfahren eine Organisations- und Vermittlungsfunktion hätten. (Fs)
56a Was kann der Theoretiker mit einer Antwort dieser Art in der Wissenschaft anfangen? Hat sie irgendwelchen Erkenntniswert? (Fs)
56b Offensichtlich ist die Antwort nicht als unbeachtlich abzutun. Gewiß, man muß die Existenz der angeführten Länder als gegeben annehmen, ohne allzuviel zu fragen, wodurch sie existieren oder was Existenz bedeutet. Aber wenn auch der existentielle Rahmen selbst im Schatten bleibt, so fällt doch Licht auf ein Gebiet von Institutionen innerhalb des Rahmens. Eine Anzahl von Ländern, deren Institutionen unter den angedeuteten Typus subsumiert werden können, existiert in der Tat; und wenn die Erforschung von Institutionen überhaupt relevant ist, so verweist diese Antwort zweifellos auf einen gewaltigen Bestand wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ferner existiert dieser Wissensbestand als massive Tatsache der Wissenschaft in der Form zahlreicher monographischer Studien über die Institutionen einzelner Länder, sowie in der Form von vergleichenden Studien, die den Typus und seine Varianten herausarbeiten. Weiterhin kann über die theorezische Relevanz solcher Studien kein Zweifel bestehen, zumindest nicht prinzipiell, weil die äußere Existenz einer politischen Gesellschaft zu ihrer ontischen Struktur gehört. Wie auch immer der Relevanzgrad dieser Studien zu bewerten sein mag, wenn sie in einen größeren theoretischen Zusammenhang gestellt werden, so haben die Typen der außenweltlichen Realisierung einer Gesellschaft doch immer irgendeinen Grad von Relevanz. (Fs)
57a Wenn repräsentative Institutionen auf dieser Ebene theoretisiert werden, dann beziehen sich die Begriffe, die in die Konstruktion des deskriptiven Typus aufgenommen werden, auf einfache Daten der Außenwelt. Sie beziehen sich auf geographische Bezirke; auf Menschen, die in ihnen wohnen; auf Männer und Frauen; auf deren Alter; auf Wahlakte, die darin bestehen, daß Zeichen auf Papierstücke neben Namen, die darauf gedruckt sind, gesetzt werden; auf die Zählungsoperationen, die zur Bezeichnung anderer Menschen als Repräsentanten führen; auf das Verhalten dieser Repräsentanten in formalen Handlungen, die durch äußere Anzeichen als solche erkenntlich sind; etc. Weil die Begriffe auf dieser Ebene, insofern sie nichts mit der Selbstinterpretation einer Gesellschaft zu tun haben, unproblematisch sind, kann dieser Aspekt unseres Themas als elementar betrachtet werden; und der Typus der Repräsentation, der auf dieser Ebene entwickelt werden kann, soll darum der deskriptive Typus genannt werden. (Fs)
57b Die Relevanz der Behandlung des Themas auf der deskriptiv-elementaren Ebene wäre damit grundsätzlich festgestellt. Ihr Erkenntniswert kann jedoch nur dadurch gemessen werden, daß man den Typus in den bereits angedeuteten weiteren theoretischen Kontext hineinstellt. Der deskriptive Typus, sagten wir, wirft Licht lediglich auf ein Feld von Institutionen innerhalb eines existentiellen Rahmens, der als fraglos vorausgesetzt wird. Es müssen daher jetzt einige Fragen betreffend den Bereich aufgeworfen werden, der bisher im Schatten blieb. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 58a-60a Stichwort: Repräsentation im deskriptiven Sinn: Ungenügen; repräsentativer Charakter der Sowjetinstitutionen; keine Übereinstimmung über Reräsentation Kurzinhalt: ... ein repräsentatives System ist nur dann wirklich repräsentativ, (1) wenn es keine Parteien, (2) wenn es eine Partei, (3) wenn es zwei oder mehr Parteien gibt, oder (4) wenn die zwei Parteien als Flügel einer Partei angesehen werden können. Textausschnitt: 3 Ungenügen des deskriptiven Repräsentationsbegriffs
58a Beim Aufwerfen dieser Fragen werden wir uns wieder an das aristotelische Verfahren halten, die Symbole, wie sie in der Wirklichkeit vorkommen, zu untersuchen. Ein geeigneter Anlaß für solches Fragen ist der repräsentative Charakter der Sowjetinstitutionen. Die Sowjetunion besitzt eine Verfassung, sogar eine geschriebene, die Institutionen vorsieht, welche im großen ganzen unter den deskriptiven Typus der Repräsentation subsumiert werden können. Dennoch gehen die Meinungen in bezug auf ihren repräsentativen Charakter zwischen den westlichen Demokraten und den Kommunisten weit auseinander. Der Westen erklärt, daß es mit dem Mechanismus der Repräsentation allein nicht getan sei, daß der Wähler eine echte Wahl haben müsse und daß das Parteimonopol, das die Sowjetverfassung vorsieht, eine Wahl unmöglich mache. Die Kommunisten halten dem entgegen, daß das Anliegen des wahren Repräsentanten das Interesse des Volkes zu sein habe, daß der Ausschluß von Parteien, welche Sonderinteressen vertreten, notwendig sei, um die Institutionen wirklich repräsentativ zu machen, und daß nur Länder, in denen das Monopol der Repräsentation der kommunistischen Partei vorbehalten ist, genuine Volksdemokratien seien. Das Argument dreht sich somit um die Mittlerfunktion der Partei im Repräsentationsprozeß. (Fs)
58a Der Fall ist zu unklar, um sofort ein Urteil zu fällen. Die Situation regt vielmehr dazu an, noch etwas tiefer zu schürfen; und die Verwirrung läßt sich ohne Mühe steigern, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zur Zeit der Gründung der amerikanischen Republik hervorragende Staatsmänner der Meinung waren, daß wahre Repräsentation nur möglich sei, wenn es überhaupt keine Parteien gibt. Andere Denker wieder schreiben das Funktionieren des englischen Zweiparteiensystems der Tatsache zu, daß die zwei Parteien ursprünglich zwei Fraktionen der englischen Aristokratie waren; und wieder andere entdecken auf dem Grunde des amerikanischen Zweiparteiensystems eine Homogenität, die die beiden Parteien als Flügel einer einzigen Partei erscheinen läßt. Wenn man die Vielfalt der Meinungen zusammenfaßt, läßt sich daher die folgende Reihe bilden: ein repräsentatives System ist nur dann wirklich repräsentativ, (1) wenn es keine Parteien, (2) wenn es eine Partei, (3) wenn es zwei oder mehr Parteien gibt, oder (4) wenn die zwei Parteien als Flügel einer Partei angesehen werden können. Um das Bild zu vervollständigen, sei schließlich noch der Typenbegriff des Mehrparteienstaates hinzugefügt, der nach dem ersten Weltkrieg Schule machte mit seiner Implikation, ein repräsentatives System sei nicht arbeitsfähig, wenn es zwei oder mehr Parteien habe, die in Grundfragen nicht übereinstimmen. (Fs) (notabene)
59a Aus dieser Mannigfaltigkeit von Meinungen darf man schließen, daß der elementar-deskriptive Typus repräsentativer Institutionen das Problem der Repräsentation nicht erschöpft. Durch den Meinungskonflikt hindurch läßt sich der Konsensus erkennen, daß das Repräsentationsverfahren nur dann sinnvoll ist, wenn gewisse, seine Substanz betreffende Erfordernisse erfüllt sind, und daß die verfassungsmäßige Einrichtung des Verfahrens nicht automatisch die gewünschte Substanz liefert. Weiter besteht Übereinstimmung darüber, daß gewisse Mittlerinstitutionen, die Parteien, etwas mit der Wahrung oder Korrumpierung dieser Substanz zu tun haben. Jenseits dieses Punktes jedoch beginnt die Konfusion. Die fragliche Substanz steht irgendwie mit dem Willen des Volkes in Zusammenhang, jedoch wird nicht klar, was mit dem Symbol "Volk" gemeint ist. Dieses Symbol muß zu späterer Prüfung beiseite gestellt werden. Ferner deutet die Meinungsverschiedenheit über die Zahl der Parteien, die das Einströmen der Substanz garantieren oder verhindern, auf ein tiefer liegendes, nicht zureichend analysiertes Problem hin, das durch das Zählen der Parteien nicht erfaßt werden kann. Ein Typenbegriff wie der "Einparteienstaat" muß daher als theoretisch von zweifelhaftem Wert betrachtet werden. In der Tagesdebatte mag er zur kurzen Bezugnahme brauchbar sein, er ist aber offensichtlich nicht zureichend geklärt, um in der Wissenschaft annehmbar zu sein. Er gehört der elementaren Klasse an wie der deskriptive Typenbegriff repräsentativer Institutionen. (Fs)
60a Diese ersten methodischen Fragen haben zwar nicht in eine Sackgasse geführt, aber der Gewinn ist unsicher, weil zuviel auf einmal einbezogen wurde. Das Problem muß zum Zweck der Klärung eingeschränkt werden; und aus diesem Anlaß ist weiteres Reflektieren über das reizvolle Thema der Sowjetunion angezeigt. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 60b-62a Stichwort: Repräsentation im existentiellen Sinn; Artikulierung der Gesellschaft zur historischen Existenz (als Voraussetzung fürRepräsentation) Kurzinhalt: Dieser Prozeß, in dem eine Vielzahl von Menschen sich zu einer handlungsfähigen Gesellschaft gestaltet, soll die Artikulierung einer Gesellschaft, ihr Durchbruch zur historischen Existenz genannt werden. Textausschnitt: 4. Repräsentation im existentiellen Sinn
60b Wenn es auch radikale Meinungsverschiedenheiten darüber geben mag, ob die Sowjetregierung das Volk repräsentiert, so kann doch nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß die Sowjetregierung die Sowjetgesellschaft im Sinne einer politischen Gesellschaft, die für geschichtliche Aktion in Form ist, repräsentiert. Die Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen der Sowjetregierung sind innerstaatlich wirksam in dem Sinne, daß die Anordnungen der Regierung, abgesehen von dem politisch irrelevanten Spielraum des Ungehorsams, beim Volk Gehorsam finden; und die Sowjetunion ist eine Macht auf dem historischen Schauplatz, weil ihre Regierung eine enorme Militärmaschine, die aus den menschlichen und materiellen Hilfsquellen der Sowjetgesellschaft gespeist wird, wirksam in Bewegung setzen kann. (Fs)
61a Auf den ersten Blick zeigt sich schon, daß mit solchen Urteilen das Argument sich theoretisch viel fruchtbarerem Boden genähert hat. Denn mit der Bezeichnung der politischen Gesellschaften als handlungsfähiger Einheiten rücken die klar unterscheidbaren Machteinheiten in der Geschichte ins Blickfeld. Politische Gesellschaften müssen, um handlungsfähig zu sein, eine innere Struktur besitzen, kraft deren einige ihrer Glieder - der Herrscher, die Regierung, die Fürsten, der Souverän, die Obrigkeit etc., je nach der Terminologie der Zeiten - imstande sind, für ihre Befehlsakte regelmäßigen Gehorsam zu finden; und diese Akte müssen den existentiellen Bedürfnissen einer Gesellschaft dienlich sein, wie dem Schutz des Reiches und der Wahrung des Rechts - wenn eine mittelalterliche Klassifikation der Zwecke gestattet ist. Solche Gesellschaften, die zum Handeln organisiert sind, existieren jedoch nicht von Ewigkeit als kosmische Tatbestände, sondern sie wachsen in der Geschichte. Dieser Prozeß, in dem eine Vielzahl von Menschen sich zu einer handlungsfähigen Gesellschaft gestaltet, soll die Artikulierung einer Gesellschaft, ihr Durchbruch zur historischen Existenz genannt werden. Als Ergebnis der politischen Artikulierung gibt es dann Menschen, die wir Herrscher nennen, die für die Gesellschaft handeln können, Männer, deren Handlungen nicht ihrer Person, sondern der Gesellschaft als einem Ganzen zugerechnet werden - was zur Folge hat, daß z. B. die Verkündung einer allgemeinen, ein menschliches Lebensgebiet regelnden Vorschrift nicht als eine ethische Lektion angesehen, sondern von den Gliedern der Gesellschaft als Erlaß einer Vorschrift verstanden wird, die für sie verbindliche Gültigkeit besitzt. Wenn die Handlungen einer Person auf diese Weise wirksam der Gesellschaft zugerechnet werden, dann ist sie deren Repräsentant. (Fs) (notabene)
62a Wenn die Bedeutung der Repräsentation in diesem Kontext auf wirksame Zurechnung gegründet werden soll, wird es jedoch nötig sein, die Repräsentation von anderen Typen der Zurechnung zu unterscheiden; es wird nötig sein, den Unterschied zwischen einem Agenten und einem Repräsentanten zu klären. Unter einem Agenten soll daher eine Person verstanden werden, die von ihrem Auftraggeber ermächtigt wurde, ein spezielles Geschäft nach Weisungen durchzuführen, während unter einem Repräsentanten eine Person verstanden werden soll, die kraft ihrer Position im Gefüge der Gemeinschaft befugt ist, ohne besondere Weisungen für ein spezielles Geschäft, für eine Gesellschaft zu handeln, und gegen deren Handlungen die Glieder der Gesellschaft nicht wirksam Widerstand leisten. Ein Delegierter bei den Vereinten Nationen z. B. ist ein Agent seiner Regierung und handelt nach Weisungen, während die Regierung, die ihn delegiert hat, der Repräsentant der betreffenden politischen Gesellschaft ist. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 62b-66a Stichwort: Repräsentation und Artikulierung der Gesellschaft; Prozess der Artikulierung: Magna Charta (Parlament: commune consilium regni nostri) - Heinrich VIII (Symbol: Körper; Haupt - Glieder) - Lincoln (Symbol Volk) Kurzinhalt: Wenn die Artikulierung sich über die ganze Gesellschaft ausdehnt, dann wird auch der Repräsentant sich ausdehnen bis zu der Grenze, an der die Mitgliedschaft der Gesellschaft bis zum letzten Individuum politisch artikuliert ist und ... Volk ... Textausschnitt: 5. Repräsentation und Artikulierung der Gesellschaft
62b Es liegt auf der Hand, daß der repräsentative Herrscher einer zur historischen Existenz artikulierten Gesellschaft diese nicht als ganze vertreten kann, ohne in irgendeiner Beziehung zu den anderen Gliedern der Gesellschaft zu stehen. Hier ergeben sich Schwierigkeiten für die politische Wissenschaft unserer Zeit, weil unter dem Druck der demokratischen Symbolik der Widerstand gegen eine terminologische Unterscheidung der beiden Relationen so stark geworden ist, daß auch die politische Theorie ihm nachgibt. Die Herrschergewalt ist Herrschergewalt auch in einer Demokratie, aber man scheut sich, dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Die Regierung repräsentiert das Volk und das Symbol "Volk" hat die zwei Bedeutungen absorbiert, die z. B. im mittelalterlichen Sprachgebrauch ohne emotionalen Widerstand als das "Reich" und die "Untertanen" unterschieden werden konnten. (Fs) (notabene)
63a Dieser Druck der demokratischen Symbolik ist nur die letzte Phase einer Reihe terminologischer Komplikationen, die im hohen Mittelalter zugleich mit der Artikulierung der westlichen politischen Gesellschaften beginnen. Die Magna Carta spricht z. B. vom Parlament als dem commune consilium regni nostri, dem "Gemeinsamen Rat unseres Reiches"i. Untersuchen wir diese Formel. Sie bezeichnet das Parlament als den Rat des Reiches, nicht etwa als die Repräsentation das Volkes, während das Reich selbst possessiv des Königs ist. Die Formel ist charakteristisch für eine Epoche, in der zwei Perioden im Prozeß der Artikulierung zusammentreffen. In einer ersten Phase ist der König allein der Repräsentant des Reiches, und der Sinn dieses Repräsentationsmonopols wird noch durch das dem Symbol "Reich" beigefügte Possessivpronomen bewahrt. In einer zweiten Phase beginnen sich innerhalb des Reiches Kommunen wie die "shires" (Grafschaften), die "boroughs" (Landstädte) und die "cities" (Städte) so weit zu artikulieren, daß sie in der Lage sind, sich selbst handlungsfähig zu repräsentieren; und selbst die Barone sind nicht mehr nur individuelle Lehensträger, sondern gestalten sich zum baronagium, zu der handlungsfähigen Gemeinschaft, als die es in der forma securitatis der Magna Carta erscheint. Die Einzelheiten dieses komplizierten Prozesses müssen hier nicht aufgezeigt werden. Das theoretisch Interessante daran ist, daß die Repräsentanten der artikulierten Gemeinschaften, wenn sie im Rat zusammentreten, Gemeinschaften höherer Ordnung bilden, letztlich die beiden Kammern des Parlaments, das als der repräsentative Rat einer noch größeren Gesellschaft zu verstehen ist, nämlich des gesamten Reiches. Mit fortschreitender Artikulierung der Gesellschaft entwickelt sich somit eine eigenartige vielschichtige Repräsentanz, zugleich mit einer Symbolik, die deren innere hierarchische Struktur ausdrückt. (Fs)
64a Das Hauptgewicht der Repräsentation verblieb während der auf die Magna Carta folgenden Jahrhunderte beim König. Die "writs of summons" des 13 . und 14. Jahrhunderts, die Ladungen zum Parlament, weisen eine sich gleichbleibende Terminologie auf, in der die Artikulierung der Gesellschaft zwar anerkannt wird, die neuen Teilnehmer an der Repräsentation aber in die königliche Repräsentation miteinbezogen werden. Nicht nur das Reich ist "des Königs", auch die Prälaten, die Magnaten und die Städte sind es. Einzelne Kaufleute werden dagegen nicht in die repräsentative Symbolik eingeschlossen; sie sind nicht "des Königs", sondern immer "des Reiches" oder "der Stadt", d. h. des Ganzen oder einer artikulierten Unterabteilung.1 Gewöhnliche Einzelglieder der Gesellschaft sind einfach "Einwohner" oder "Mitbürger des Reiches"2. Das Symbol "Volk" erscheint nicht als Bezeichnung einer Stufe in der Artikulierung und Repräsentation; es wird nur gelegentlich als Synonym für Reich gebraucht, etwa in einer Wendung wie das "gemeine Wohl des Reiches"3. (Fs)
65a Die Verschmelzung dieser repräsentativen Hierarchie zu einem einzigen Repräsentanten, dem "König im Parlament" (the King in Parliament), erforderte geraume Zeit; daß sich ein solcher Verschmelzungsprozeß vollzog, wurde erst Jahrhunderte später theoretisch erfaßbar in einer berühmten Stelle in Heinrichs VIII. Parlamentsrede über den Fall Ferrer. Bei dieser Gelegenheit, im Jahre 1543, sagte der König: "Wir werden durch unsere Richter davon in Kenntnis gesetzt, daß Wir zu keiner Zeit so hoch in Unserem königlichen Stande stehen wie zur Zeit der Parlamentstagung, zu der Wir als Haupt und ihr als Glieder zu einem politischen Körper zusammen vereinigt und verbunden sind, in solchem Maße, daß jedwede Beleidigung oder Verletzung, die (während dieser Zeit) dem geringsten Mitglied des Hauses zugefügt wird, so beurteilt wird, als richte sie sich gegen Unsere Person und das ganze Parlament." Der Rangunterschied zwischen König und Parlament wird hier noch gewahrt, aber er kann jetzt symbolisiert werden durch das Verhältnis von Haupt und Gliedern innerhalb eines Körpers; der mehrschichtige Repräsentant ist zu "einem politischen Körper" geworden, wobei der Stand des Königs durch seine Teilnahme an der parlamentarischen Repräsentation und das Parlament durch seine Teilnahme an der Majestät der königlichen Repräsentation gleichermaßen erhöht werden. (Fs)
66a Die Richtung, in der sich die Symbole verlagern, wird aus diesem Passus klar geworden sein. Wenn die Artikulierung sich über die ganze Gesellschaft ausdehnt, dann wird auch der Repräsentant sich ausdehnen bis zu der Grenze, an der die Mitgliedschaft der Gesellschaft bis zum letzten Individuum politisch artikuliert ist und dementsprechend die Gesellschaft ihr eigener Repräsentant wird. Symbolisch wird diese Grenze in der meisterhaften, dialektischen Prägnanz von Lincolns "Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk" erreicht. Das Symbol "Volk" bedeutet in dieser Formel der Reihe nach die artikulierte politische Gesellschaft, ihren Repräsentanten und die Gesamtheit ihrer Glieder, die durch die Handlungen des Repräsentanten gebunden ist. Die unübertreffliche Fusion demokratischer Symbolik mit theoretischem Inhalt in dieser Formel ist das Geheimnis Ihrer Wirksamkeit. Der historische Prozeß, in welchem diese Grenze der Artikulierung, die sich im Symbol "Volk" ausdrückt, erreicht wird, soll uns noch im weiteren Verlauf dieser Untersuchungen beschäftigen. Vorläufig sei vermerkt, daß der Übergang zur dialektischen Grenze eine Artikulierung der Gesellschaft bis hinunter zum Individuum als vertretbarer Einheit zur Voraussetzung hat. Dieser besondere Typus der Artikulierung ist nicht überall anzutreffen; er findet sich in der Tat nur in westlichen Gesellschaften. Er gehört durchaus nicht zum menschlichen Wesen, sondern ist unlösbar an gewisse historische Bedingungen gebunden, die nur im Westen vorzufinden sinu. Im Orient, in dem die spezifischen Bedingungen historisch nicht auftreten, kommt dieser Typus der Artikulierung überhaupt nicht vor - und der Orient umfaßt den größeren Teil der Menschheit. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 67a-71a Stichwort: Theorie der Repräsentation in der westlichen Gesellschaft; Artikulierung d. Gesellschaft, weitere Differenzierung: Fortescue (Analogie des Organismus; corpus mysticum); intentio populi - Volk - mystische Substanz d. Kurzinhalt: Um näher an diese mysteriöse Substanz heranzukommen, übertrug er das christliche Symbol des corpus mysticum auf das Reich... Die intentio populi ist ... ist vielmehr das nicht faßliche Lebenszentrum der Gesamtheit des Reiches. Das Wort "Volk" bedeutet ... Textausschnitt: 6. Theorie der Repräsentation in der westlichen Gesellschaft
67a Artikulierung ist die Bedingung der Repräsentation. Um zur Existenz zu gelangen, muß eine Gesellschaft sich artikulieren, indem sie einen Repräsentanten hervorbringt, der für sie handelt. Die Klärung dieser Begriffe kann jetzt weitergerührt werden. Hinter dem Symbol "Artikulierung" verbirgt sich nichts Geringeres als der historische Prozeß, in dem politische Gesellschaften, die Nationen, die Reiche entstehen und vergehen, sowie die zwischen diesen Ausgangs- und Endpunkten stattfindenden Evolutionen und Revolutionen. Dieser Prozeß ist historisch nicht so individuell verschieden für jeden Fall einer politischen Gesellschaft, daß es unmöglich wäre, das Feld der Varianten unter einige allgemeine Typen zu bringen. Das ist jedoch ein großes Thema (Toynbee hat mit ihm zehn Bände gefüllt), und wir müssen es beiseite lassen. Was uns hier angeht, ist die Frage, ob die Implikationen des Begriffs der Artikulierung noch weiter differenzert werden können. Das ist in der Tat möglich, und es liegen eine Anzahl bemerkenswerter Versuche zu weiterer Theoretisierung vor. Der Natur der Sache nach werden solche Versuche immer dann unternommen, wenn die Artikulierung einer Gesellschaft an einem kritischen Wendepunkt angelangt ist; das Problem wird interessant, wenn eine Gesellschaft im Entstehen oder in der Auflösung begriffen ist oder wenn sie sich in einer epochalen Phase ihres geschichtlichen Ablaufs befindet. Ein solcher Einschnitt im Entwicklungsprozeß der westlichen Gesellschaften wurde um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch die Konsolidierung der westlichen Nationalstaaten nach dem Hundertjährigen Krieg markiert. In dieser kritischen Epoche unternahm Sir John Fortescue, einer der feinsten politischen Denker Englands, eine Theoretisierung des Problems der Artikulierung. Wir müssen uns ansehen, was er zu ihm zu sagen hatte. (Fs)
77a Die politische Realität, die Fortescue vornehmlich interessierte, waren die Königreiche England und Frankreich. Sein geliebtes England war ein dominium politicum et regale, das was man heute als konstitutionelles Regime bezeichnen würde; das böse Frankreich Ludwigs XI. war ein dominium tantum regale, so etwas wie eine Tyrannei - aber immerhin als Exil nicht zu verachten, wenn das konstitutionelle Paradies zu ungastlich wurde.1 Fortescues Verdienst war es nun, nicht bei einer statischen Schilderung der beiden Regierungstypen Halt gemacht zu haben. Er bediente sich zwar der statischen Analogie des Organismus, wenn er darauf bestand, daß das Reich einen Herrscher so wie der Körper einen Kopf brauche, aber in einer brillanten Passage seines Werkes De Laudibus Legum Anglie verlieh er der Analogie Dynamik, indem er die Schaffung eines Reiches mit dem Entstehen eines gegliederten Körpers aus dem Embryo verglich.2 Ein politisch nicht artikulierter Sozialzustand bricht aus in die Artikulation des Reiches: ex populo erumpit regnum. Fortescue prägte den Ausdruck "Eruption" als terminus technicus für die beginnende Artikulierung einer Gesellschaft, und den Ausdruck: "Proruption" für das weitere Fortschreiten der Artikulierung, wie etwa den Übergang von einem nur königlichen zu einem politischen Reich. Diese Theorie der Eruption eines Volkes ist nicht die Theorie eines Naturzustandes, aus dem ein Volk durch einen Vertrag zu rechtlicher Ordnung gelangt. Fortescue war sich des Unterschiedes wohl bewußt. Um ihn deutlich zu machen, kritisierte er die Definition Augustins, nach der ein Volk eine durch Konsens zu rechter Ordnung und Interessengemeinschaft assoziierte Menge ist. Ein solches Volk, so betonte Fortescue, wäre acephalus, d. h. ohne Haupt, der Rumpf eines kopflosen Körpers; zu einem Reich gelange man nur, wenn ein Haupt errichtet wird (rex erectus est), das den Körper regiert. (Fs)
69a Schon die Schöpfung der Begriffe von Eruption und Proruption ist eine keineswegs geringe theoretische Leistung, denn sie ermöglicht es uns, jene Komponente in der Repräsentation zu erkennen, die fast vergessen wurde, als die Rechtssymbolik der folgenden Jahrhunderte die Interpretation der politischen Realität zu beherrschen begann. Aber Fortescue leistete noch mehr. Er begriff, daß die Analogie des Organismus ihm als Gerüst bei der Konstruktion seines Eruptionsbegriffes dienen konnte, daß sie im übrigen aber nur von geringem Erkenntniswert war. Es war da ein Etwas an einem artikulierten Reich, eine Art Substanz, welche die verbindende Kraft der Gesellschaft lieferte, und dieses Etwas ließ sich mit der organischen Analogie nicht erfassen. Um näher an diese mysteriöse Substanz heranzukommen, übertrug er das christliche Symbol des corpus mysticum auf das Reich. Das war ein bedeutsamer Schritt in seiner Analyse, der in mehr als einer Hinsicht von Interesse ist. Erstens war die Tatsache, daß er überhaupt getan werden konnte, symptomatisch für das Dahinschwinden der in Kirche und Imperium artikulierten christlichen Gesellschaft; und entsprechend war sie symptomatisch für die zunehmende Konsolidierung der Nationalreiche, d. h. für deren Abschließung als Gesellschaften mit einem eigenen Zentrum. Zweitens deutete dieser Schritt darauf hin, daß die Reiche einen eigentümlichen Höchstrang an Ordnung erlangt hatten. Bei der Übertragung des corpus mysticum auf das Reich können wir die Entwicklung auf einen Typus von politischer Gesellschaft hin spüren, der die Nachfolge nicht nur des Imperiums, sondern auch der Kirche antreten wird. Gewiß hat Fortescue solche Folgen nicht einmal in undeutlichem Umriß gesehen; aber seine Übertragung zielte doch auf einen Repräsentanten ab, der die Gesellschaft für den Gesamtbereich menschlicher Existenz einschließlich der geistigen Dimension vertreten würde. Fortescue selbst war sich im Gegenteil bewußt, daß auch die Bezeichnung des Reiches als ein corpus mysticum nur analogisch zu verstehen sei. Das tertium comparationis wäre das sakramentale Band der Gemeinschaft, aber das sakramentale Band konnte für ihn weder der Logos Christi sein, der in den Gliedern des christlichen corpus mysticum lebt, noch ein pervertierter Logos, wie er in modernen totalitären Gemeinschaften lebt. Wenn er sich aber auch nicht klar war über die Implikationen seiner Suche nach einem immanenten Logos der Gesellschaft, so fand er doch eine Bezeichnung für ihn; er nannte ihn die intencio populi. Diese intencio populi ist das lebendige Zentrum des mystischen Leibes des Reiches; Fortescue beschrieb sie, wiederum in einer Analogie aus dem organischen Bereich, als das Herz, von dem aus die politische Vorsorge für das Wohl des Volkes als nährender Blutstrom in Kopf und Glieder des Körpers geleitet wird. Man beachte die Funktion der organischen Analogie in diesem Zusammenhang. Sie dient nicht der Identifizierung eines Gliedes der Gesellschaft mit einem entsprechenden Organ des Körpers, sondern bemüht sich im Gegenteil, zu zeigen, daß das belebende Zentrum eines Sozialkörpers nicht in einem seiner menschlichen Gliederzu finden ist. Die intentio populi ist weder in dem königlichen Repräsentanten noch im Volk als einer Vielheit von Untertanen lokalisiert, sie ist vielmehr das nicht faßliche Lebenszentrum der Gesamtheit des Reiches. Das Wort "Volk" bedeutet in dieser Formel nicht rein äußerlich eine Menge von Menschen, sondern die mystische Substanz, von der her die Eruption zur Artikulierung erfolgt; und das Wort intencio bedeutet den Drang oder Trieb dieser Substanz, aufzubrechen und sich selbst in artikulierter Existenz als ein Seiendes zu behaupten, das kraft seiner Artikulierung für sein Wohlergehen zu sorgen vermag. (Fs) (notabene)
71a Als Fortescue seinen Gedanken in The Governance of England konkret anwandte, unterzog er die Idee des königlichen Repräsentanten noch einer weiteren Klärung, indem er ihn mit der feudalen hierarchischen Auffassung vom königlichen Stand kontrastierte. Nach der feudalen Auffassung war der König "der höchste weltliche Stand auf Erden", im Rang niederer als der geistliche Stand, aber höher als die Lehensträger innerhalb des Reiches.3 Fortescue anerkannte zwar die Ständeordnung innerhalb der Christianitas; er war weit davon entfernt, den Gedanken an einen geschlossenen souveränen Staat zu hegen; aber er zwang das neue corpus mysticum als einen Fremdkörper in den mystischen Leib Christi hinein, wenn er dem königlichen Repräsentanten eine doppelte Funktion zuwies. In der Ordnung der Christianitas blieb der König für ihn der höchste weltliche Stand, aber zugleich faßte er den königlichen Stand als ein Amt auf, das integral den Schutz und das Recht im Reich garantiert. Fortescue zitiert Thomas: "Der König ist für das Reich gegeben und nicht das Reich für den König"; daraus folgert er: Der König ist in seinem Reich, was der Papst in der Kirche ist, ein servus servorum Dei; um dann den Schluß zu ziehen: "Alles was der König unternimmt, sollte auf sein Reich bezogen sein" - die höchstmögliche konzentrierte Formulierung des Repräsentationsproblems.4 (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 72a-74a Stichwort: 7. Die Begründung der Völkerwanderungsreiche; König: notwendig für die historische Existenz einer politischen Gesellschaft; Paulus Diaconus: Geschichte d. Langobarden Kurzinhalt: Um Handlungsfähigkeit zu gewinnen, bedurfte es eines Königs; Verlust des Königs bedeutete Verlust der Handlungsfähigkeit; und wenn die Gemeinschaft nicht handelte, dann brauchte sie keinen König. Textausschnitt: 7. Die Begründung der Völkerwanderungsreiche
72a Die Durcharbeitung dieser Symbolik war Fortescues persönliche Leistung als Theoretiker. Die Reiche Englands und Frankreichs übten durch ihre Existenz als Machteinheiten einen sichtbaren Einfluß auf die damalige Zeit aus, nachdem der hundertjährige Krieg das Feld der feudalen Besitzstände entwirrt und zur territorialen Abgrenzung der Reiche geführt hatte. Fortescue versuchte zu klären, was es mit diesen sonderbaren neuen Gebilden, den Reichen, eigentlich auf sich hatte; und seine Theorie war die ingeniöse Lösung eines Problems, das die politische Realität stellte. Zu dieser Lösung empfing er jedoch Anregungen aus einem Traditionsbestand, betreffend politische Artikulierung, der sich aus der Zeit der Völkerwanderung, noch vor der Gründung des westlichen Kaisertums, bis ins 15. Jahrhundert erhalten hatte. In einem zu wenig beachteten Abschnitt seines Governance of England nahm er sich eine der vielen Versionen der Gründung von Völkerwanderungs-Königreichen durch eine Gruppe trojanischer Flüchtlinge als Modell für politische Artikulierung. Die Sage von der Gründung westlicher Königreiche durch eine Schar Trojaner, die von einem Sohn oder Enkel des Aeneas angeführt wurde, war weitverbreitet. In den ersten Jahrhunderten westlicher Geschichte diente sie dem Zweck, für die Neugründungen eine Würde gleich der römischen zu beanspruchen. In Fortescues Modell war es eine solche Schar unter Brutus, dem Heros Eponymos der Briten, die für England am Anfang seiner Welt stand. Als eine solch "große Gemeinschaft", so schreibt er, "wie es die Gefolgschaft war, die mit Brutus in dieses Land kam, willens war, sich zu vereinen und einen politischen Körper, genannt das Reich, zu bilden, mit einem Haupt, um es zu regieren, [...] erwählten sie jenen Brutus zu ihrem Haupt und König. Und nach ihrem Zusammenschluß zu einem Reich bestimmten sie und er, daß selbiges Reich durch solche Gesetze, wie sie allen ihnen zustimmten, regiert und verteidigt werde"1. (Fs)
73a Die trojanische Komponente der Sage, die Rivalität mit Rom, ist für uns nur von sekundärem Interesse; aber wir erhalten hier im Gewand der Sage Nachricht über die Artikulierung von Stämmen der Völkerwanderung zu politischen Gesellschaften. Die Sage erzählt von der Anfangsphase eines solchen Prozesses und sie regt an, einen kurzen Blick auf die Originalberichte über solche Gründungen zu werfen sowie auf die Terminologie, in der die Artikulierung geschildert wird. Ich werde zu diesem Zweck einige Stellen aus der Geschichte der Langobarden von Paulus Diaconus auswählen, die in der zweiten Hälfte des B. Jahrhunderts geschrieben wurde. (Fs)
73b Im Bericht des Paulus Diaconus beginnt die aktive Geschichte der Langobarden damit, daß nach dem Tod zweier Herzöge das Volk beschloß, es wolle fortan nicht mehr in kleinen, lose zusammenhängenden Stammesgruppen unter Herzögen leben, sondern "wie die anderen Völker sich einen König setzen".2 Diese Formulierung steht zwar unter dem Einfluß des israelitischen, in Samuel berichteten Verlangens nach einem König wie die anderen Völker, aber der faktische Prozeß der Artikulierung von Stämmen zu einem Reich wird erkennbar berichtet. Als im Verlauf der Wanderung sich der lose Stammesverband als zu schwach erwies, wurde zum Zweck einer wirksameren militärischen und administrativen Führung ein König gewählt; und dieser König wurde aus einer Familie genommen, "die allgemein als besonders vornehm angesehen war". Der Bericht greift zurück bis auf die historisch konkreten Anfänge der Artikulierung. In jener Situation war, erstens, etwas vorhanden, was als das soziale Rohmaterial bezeichnet werden kann, bestehend aus Gruppen auf der Stammesebene, die homogen genug waren, um sich zu einer größeren Gesellschaft zu artikulieren. Ferner ist ein Druck der Umstände erkennbar, von denen der Anstoß zur Artikulierung ausging. Und schließlich gab es Glieder der Gruppe, die durch Charisma des Blutes und der Person hinreichend ausgezeichnet waren, um zu erfolgreichen Repräsentanten zu werden. (Fs)
74a Folgen wir dem Geschichtsschreiber der Langobarden noch etwas weiter. Nach der Wahl eines Königs begannen die siegreichen Kriege. Zuerst wurden die Heruler besiegt und ihre Macht dermaßen gebrochen, daß "sie keinen König mehr hatten"3. Darauf folgte der Krieg mit den Gepiden, in dem das entscheidende Ereignis der Tod des Sohnes des Gepidenkönigs war, "der mehr als andere für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen war"4. Nach dem Tod des Prinzen flohen die Gepiden und wiederum "sanken sie schließlich so tief, daß sie keinen König mehr hatten". Ähnliche Stellen ließen sich aus anderen Geschichtsschreibern der Völkerwanderungszeit zusammentragen. Nur ein bezeichnendes Beispiel möge noch gegeben werden: Isidor von Sevilla berichtet, wie die Alanen und Sueben durch die Goten die Unabhängigkeit ihres Königreichs einbüßten, aber seltsamerweise ihre Königsherrschaft in Spanien auf lange Zeit hinaus beibehielten, "obwohl sie in ihrer ungestörten Ruhe sie gar nicht gebraucht hätten". In der gesamten Geschichtsschreibung der Völkerwanderungszeit, vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, wurde über die historische Existenz einer politischen Gesellschaft in der Sprache der Erlangung, des Besitzes oder Verlustes des rex, des königlichen Repräsentanten, berichtet. Um Handlungsfähigkeit zu gewinnen, bedurfte es eines Königs; Verlust des Königs bedeutete Verlust der Handlungsfähigkeit; und wenn die Gemeinschaft nicht handelte, dann brauchte sie keinen König.5 (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 75a-77a Stichwort: Repräsentation (deskriptiv - existentiell); Hauriou: Dritte Republik; Sätze über die Beziehungen zwischen Macht und Recht Kurzinhalt: Wenn eine Regierung lediglich im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist, wird ihr früher oder später durch einen repräsentativen Herrscher im existentiellen Sinn ein Ende bereitet; und sehr wahrscheinlich wird der neue existentielle Herrscher nicht ... Textausschnitt: 8. Disintegration
75a Die oben untersuchten theoretischen Sätze gehören in das Zeitalter der Gründung und der spätmittelalterlichen Konsolidierung der westlichen politischen Gesellschaften. Das Problem der Artikulierung zog erneut das Interesse auf sich, als die Gesellschaft in die Gefahrenzone der Auflösung geriet. Die Malaise der Dritten Republik war das Klima, in dem Maurice Hauriou seine Repräsentationstheorie entwickelte. Ich gebe hier eine kurze Zusammenfassung der Theorie, wie sie vonHauriou in seinem Precis de droit constitutionnel dargelegt wurde.1 (Fs)
76a Nach Hauriou ist die Gewalt einer Herrschaft legitim kraft ihres Fungierens als Repräsentant einer Institution, insbesondere des Staates. Der Staat ist eine nationale Gemeinschaft, in der die herrscherliche Gewalt die Geschäfte der res publica führt. Die erste Aufgabe einer Herrschergewalt ist die Schaffung einer politisch geeinten Nation durch die Umformung der vorgegebenen, unorganisierten Vielheit zu einem organisierten, zum Handeln befähigten Körper. Ihren Ursprung hat eine solche Institution in der Leitidee, in der idée directrice, die Institution zu verwirklichen, sie auszuweiten und ihre Macht zu vermehren; und die besondere Funktion eines Herrschers ist die Schöpfung dieser Idee und ihre Verwirklichung in der Geschichte. Die Institution erreicht ihre vollkommene Durchbildung, wenn der Herrscher sich selbst der Idee unterstellt und wenn zugleich das consentement coutumier der Glieder der Gesellschaft erreicht wird. Repräsentant sein heißt, in herrschender Stellung das Werk der Realisierung der Idee durch institutionelle Verkörperung zu lenken; und die Gewalt eines Herrschers hat Autorität, sofern es ihm gelingt, seine faktische Macht zum Repräsentanten der Idee zu machen. (Fs)
76b Aus dieser Auffassung leitet Hauriou dann eine Reihe von Sätzen über die Beziehungen zwischen Macht und Recht ab: (1) die Autorität einer repräsentativen Gewalt geht existentiell der Regelung dieser Gewalt durch positives Recht voran; (2) Gewalt ist kraft ihrer Basis in der Institution ein Rechtsphänomen; insofern eine Gewalt repräsentative Autorität besitzt, kann sie positives Recht setzen; (3) der Ursprung des Rechts kann nicht in gesetzlichen Bestimmungen gefunden werden, sondern muß in der Entscheidung gesucht werden, durch die anstelle einer Streitsituation eine geordnete Gewalt tritt. (Fs)
77a Die hier umrissene Theorie sowie die Reihe der Sätze richteten sich gegen wohlbekannte Schwächen der Dritten Republik. Die aus Haurious Analyse zu ziehende Lehre kann in folgender These zusammengefaßt werden: Um repräsentativ zu sein, genügt es nicht, wenn eine Regierung im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist (unser deskriptiver Typus repräsentativer Institutionen); sie muß auch im existentiellen Sinn repräsentativ sein, indem sie die Idee der Institution verwirklicht. Und die hierin implizierte Mahnung kann in der folgenden These entwickelt werden: Wenn eine Regierung lediglich im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist, wird ihr früher oder später durch einen repräsentativen Herrscher im existentiellen Sinn ein Ende bereitet; und sehr wahrscheinlich wird der neue existentielle Herrscher nicht allzu repräsentativ im konstitutionellen Sinn sein. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 120a-125a Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 3; Augustinus, Civitas Dei; Altar der Victoria; Ambrosius (Theokratie) Kurzinhalt: "Während alle Menschen, die der römischen Herrschaft unterstehen, Euch Kaisern und Fürsten der Welt dienen (militare), dient (militare) Ihr Eurerseits dem allmächtigen Gott und dem heiligen Glauben." Textausschnitt: 3 Die politische Funktion der Civitas Dei
120a Die Klassifizierungen entstanden im Laufe des Kampfes um die Repräsentation; sie waren geladen mit den Spannungen von innerer Unsicherheit und Widerstand. Die Analyse dieser Spannungen wird zweckmäßig mit einer Kuriosität der Civitas Dei beginnen. Das Werk war, was seine politische Funktion betrifft, ein livre de circonstance. Die Eroberung Roms durch Alarich 410 n. Chr. hatte die heidnische Bevölkerung des Reiches aufgewühlt, die den Fall Roms als Strafe der Götter für die Vernachlässigung ihres Kultes ansah. Die gefährliche Welle der Empörung schien eine umfassende Kritik und Widerlegung der heidnischen Theologie im allgemeinen und ihrer Argumente gegen das Christentum im besonderen zu erfordern. Die augustinische Lösung dieser Aufgabe war sonderbar, insofern sie die Gestalt eines kritischen Angriffs auf Varros Antiquitates annahm, eines Werkes, das nahezu fünf Jahrhunderte früher verfaßt worden war, um die schwindende Begeisterung der Römer für ihre zivile Religion neu zu beleben. Die Begeisterung war seit Varro nicht merklich gewachsen; und von der nicht-römischen Bevölkerung konnte man kaum größeren Eifer als von den Römern selbst erwarten. Zur Zeit des Augustinus zählte die heidnische Reichsbevölkerung in ihrer Mehrheit zu den Anhängern der Mysterien von Eleusis, der Isis, des Attis und des Mithras und nicht der kultischen Gottheiten des republikanischen Rom; und dennoch erwähnte er die Mysterien nur flüchtig, während er die theologia civilis der eingehenden Kritik im VI. und VII. Buch unterzog. (Fs)
120b Die Antwort auf diese Kuriosität ist nicht in einer Statistik der Religionszugehörigkeit zu finden; sie muß vielmehr im Problem der öffentlichen Repräsentation der transzendenten Wahrheit gesucht werden. Die Loyalisten der römischen Zivilreligion waren in der Tat nur eine kleine Gruppe, aber der römische Kult war bis weit in die Hälfte des vierten Jahrhunderts hinein der Staatskult des Reiches geblieben. Weder Konstantin noch seine christlichen Nachfolger hatten es für ratsam gehalten, ihre Funktion des pontifex maximus von Rom aufzugeben. Zwar kam es unter den Söhnen Konstantins zu schweren Eingriffen in die Freiheit der heidnischen Kulte, doch der große Schlag fiel erst unter Theodosius mit dem berühmten Gesetz von 380, welches das orthodoxe Christentum zum obligatorischen Glauben für alle Untertanen des Reiches machte, alle Andersgläubigen als töricht und geistesgestört brandmarkte und ihnen mit dem ewigen Zorn Gottes wie auch der Strafe des Kaisers drohte.1 Bis zu diesem Zeitpunkt war die kaiserliche Gesetzgebung in religiösen Angelegenheiten, wie es in der vorherrschend heidnischen Gesellschaft nicht anders zu erwarten war, nicht sehr energisch durchgesetzt worden; und nach der Zahl der sich immer wiederholenden Gesetze zu schließen, kann die Durchsetzung auch nach 380 nicht allzu wirksam gewesen sein. Jedenfalls, in Rom selbst wurden die Gesetze ignoriert und der offizielle Kult war heidnisch geblieben. Nun wurde jedoch der Angriff ernsthaft auf dieses empfindliche Zentrum konzentriert. 382 gab Grabanus, der Kaiser des Westreiches, seinen Titel pontifex maximus auf und lehnte dadurch die Verantwortung der Regierung für die Opferhandlungen Roms ab; gleichzeitig wurde die finanzielle Förderung des Kultes eingestellt, so daß die kostspieligen Opfer und Feste nicht länger fortgesetzt werden konnten. Die einschneidendste Maßnahme aber war die Entfernung von Bild und Altar der Victoria aus dem Versammlungsraum des Senats. Die Götter Roms waren nicht mehr in der Hauptstadt des Reiches repräsentiert.'' (Fs)
122a Es war tief befriedigend, vom heidnischen Standpunkt, daß Gratianus 383 ermordet und die Stadt vom Gegenkaiser Maximus bedroht wurde, und daß zudem eine schlechte Ernte eine Hungersnot hervorrief. Offensichtlich zeigten die Götter ihren Zorn, und die Zeit schien günstig für die Forderung an den jungen Kaiser Valentinian II., die Maßnahmen gegen den römischen Kult rückgängig zu machen, besonders aber den Altar der Victoria wieder aufzustellen. Die Bittschrift der heidnischen Partei im Senat wurde dem Kaiser 384 durch Symmachus überreicht. Bedauerlicherweise fiel jedoch die Ernte des Jahre 384 hervorragend aus, und das lieferte Ambrosius, der die christliche Seite vertrat, ein billiges Argument.2 (Fs)
122b Die Denkschrift des Symmachus war ein edles Plädoyer für die römische Tradition, die auf dem alten Prinzip des do ut des beruhte. Mißachtung des Kultes führe zur Katastrophe; vor allem Victoria habe dem Imperium Segen gebracht und dürfe nicht mißachtet werden,3 und dann tritt der Autor mit einem Anflug von Toleranz dafür ein, daß es jedermann gestattet sein solle, die eine Gottheit auf seine Weise zu verehren.4 Ambrosius konnte, wie schon angedeutet, in seiner Antwort leicht das do ut des Prinzip widerlegen;5 und es fiel ihm auch nicht schwer zu zeigen, daß die edle Toleranz des Symmachus nicht ganz so eindrucksvoll war, wenn man bedachte, daß sie in der Praxis für christliche Senatoren den Zwang bedeutete, sich an den Opfern für Victoria zu beteiligen.'6 Das entscheidende Argument war jedoch in dem Satz enthalten, der das Repräsentationsprinzip formulierte: "Während alle Menschen, die der römischen Herrschaft unterstehen, Euch Kaisern und Fürsten der Welt dienen (militare), dient (militare) Ihr Eurerseits dem allmächtigen Gott und dem heiligen Glauben."7 Das klingt beinahe wie der mongolische Auftrag Gottes, der in dem vorigen Kapitel behandelt wurde, ist aber in Wirklichkeit dessen Umkehrung. Die Formulierung des Ambrosius rechtfertigt die imperiale Monarchie nicht durch einen Hinweis auf die monarchische Herrschaft Gottes - obwohl auch dieses Problem im römischen Reich akut wurde, wie wir bald sehen werden. Ambrosius spricht überhaupt nicht von Herrschaft, sondern von Dienst. Die Untertanen dienen den Fürsten auf Erden als ihren existentiellen Repräsentanten, und Ambrosius hatte keine Illusionen über die Quelle der kaiserlichen Position: Die Legionen schaffen Victoria, bemerkte er verächtlich, und nicht Victoria das Reich.8 Die politische Gesellschaft in historischer Existenz beginnt die Farbe der Temporalität im Gegensatz zur geistlichen Ordnung anzunehmen. Über dieser temporalen Sphäre des Dienstes der Untertanen steht dann der Kaiser, der Gott allein dient. Der Appell des Ambrosius richtet sich nicht an den imperialen Herrscher, sondern an den Christen, der zufällig Träger dieses Amtes ist. Der christliche Herrscher wird ermahnt, nicht Unwissenheit vorzugeben und die Dinge treiben zu lassen; wenn er seinen Glaubenseifer nicht positiv bekunde, wie er es sollte, so möge er wenigstens dem Götzendienst und den heidnischen Kulten seine Zustimmung versagen.9 Ein christlicher Kaiser wisse, daß er nur dem Altar Christi Ehre erweisen solle, und "die Stimme unseres Kaisers sei das Echo Christi".10 In kaum verhüllter Sprache droht der Bischof dem Kaiser mit Exkommunikation, falls er der Bittschrift des Senats stattgeben sollte.11 Die Wahrheit Christi könne nicht durch das Imperium mundi repräsentiert werden, sondern nur durch den Dienst an Gott. (Fs) (notabene)
124a Das sind die Anfänge einer theokratischen Herrschaftsauffassung im strengen Sinne, wobei unter Theokratie nicht eine Priesterherrschaft zu verstehen ist, sondern die Anerkennung der Wahrheit Gottes durch den Herrscher.12 Diese Auffassung kam in der nächsten Generation im augustinischen Bild des Imperator felix in Civitas Dei, V, 24-26 zur vollen Entfaltung. Das Glück des Kaisers lasse sich nicht nach den äußeren Erfolgen seiner Herrschaft beurteilen (Augustinus wies insbesondere auf die Erfolge heidnischer und auf das Mißgeschick und gewaltsame Ende einiger christlicher Herrscher hin), das wahre Glück des Kaisers lasse sich nur nach seinem Verhalten als Christ auf dem Throne beurteilen. Die Kapitel über den imperator felix sind der erste "Fürstenspiegel". Sie stehen am Beginn dieser mittelalterlichen Literaturgattung und haben, seitdem Karl der Große sie zu seinem Leitfaden gemacht hat, einen unabschätzbaren Einfluß auf die Idee und Praxis westliclhen Herrschertunis ausgeübt. (Fs) (notabene)
125a In der Streitfrage um den Altar der Victoria trug Ambrosius den Sieg davon. In den folgenden Jahren verschärfte sich die Situation noch mehr. 391 verbot ein Gesetz des Theodosius alle heidnischen Zeremonien in der Stadt Rom.13 Ein Gesetz seiner Söhne schaffte im Jahre 396 die letzten Privilegien heidnischer Priester und Hierophanten ab.14 Durch ein 407 für Italien erlassenes Gesetz wurden alle Zuwendungen für epula sacra und rituelle Spiele unterbunden, die Entfernung der Standbilder aus den Tempeln, die Zerstörung von Altären und Rückgabe der Tempel ad usum publicum angeordnet.15 Als 410 Rom in die Hände der gotischen Angreifer fiel, hatte der altrömische Kult in der Tat ein aktuelles Anliegen für die Opfer der jüngst erlassenen heidenfeindlichen Gesetzgebung, und der Fall der Stadt konnte sehr wohl propagandistisch gedeutet Nverden als die Rache der Götter für die der Zivilreligion Roms angetane Schmach. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 125a-131a Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 4; römische Ziviltheologie (Varro, Cicero; existentielles Problem d. Heidentums); Augustinus, Civitas Dei; civitas terrena - coelestis; Kosmopolis der Philosophen - Imperium Romanum (Vgl. Japan) Kurzinhalt: ... archaische Erfahrung der Sozialordnung vor ihrer Auflösung durch die Erfahrung der mystischen Philosophen. In den griechischen Quellen kommt man an diese archaische Schicht nie wirklich heran, weil Textausschnitt: 4. Der existentielle Gehalt der römischen Ziviltheologie
125a Die Kuriosität ist verständlich geworden - aber nur um eine andere an ihre Stelle treten zu lassen. Die christlichen Vorkämpfer in diesem Streit waren nicht an der Rettung heidnischer Seelen interessiert; sie waren in einem politischen Kampf um den öffentlichen Kult des Reiches begriffen. Zwar richtete sich der Appell des Ambrosius an den Christen auf dem Thron, und es kann kein Zweifel über die Aufrichtigkeit seiner Absichten bestehen, wenn wir uns einen Zusammenstoß mit Theodosius im Jahre 390 aus Anlaß des Massakers von Thessalonike vergegenwärtigen. Wenn jedoch der Christ Kaiser ist, so wird seine christliche Amtsführung die Heiden in die gleiche Lage versetzen, in der sich die Christen unter heidnischen Kaisern befanden. Es ist sonderbar, daß sowohl Ambrosius als auch Augustinus, während sie mit Erbitterung den Kampf um die existentielle Repräsentation des Christentums führten, fast gänzlich blind für dieses Problem waren. Nichts schien auf dem Spiel zu stehen als die Wahrheit des Christentums im Gegensatz zur Unwahrheit des Heidentums. Dies besagt nicht, daß ihnen der hiermit verbundene existentielle Gehalt der Problematik überhaupt nicht zum Bewußtsein gekommen wäre. Im Gegenteil, das Faszinierende der Civitas Dei liegt gerade darin, daß Augustinus, wenn er auch offensichtlich das existentielle Problem des Heidentums nicht erfaßte, doch recht beunruhigt darüber war, daß sich hier etwas seinem Griff entzog. Seine Stellungnahme gegenüber Varros theologia civilis ähnelte der eines aufgeklärten Intellektuellen gegenüber dem Christentum - er konnte einfach nicht begreifen, daß ein intelligenter Mensch ernstlich solchen Unsinn behaupten könne. Er zog sich aus der Schwierigkeit durch die Annahme, Varro, der stoische Philosoph, habe nicht an die römischen Gottheiten glauben können, sondern habe sie unter dem Deckmantel einer ehrerbietigen Darstellung der Lächerlichkeit preisgeben wollen.1 Es wird nötig sein, Varro selbst sowie seinen Freund Cicero sprechen zu lassen, um den Punkt herauszufinden, der Augustinus entgangen war. (Fs)
127a Der unfaßliche Punkt wurde von Augustinus selbst mit großer Sorgfalt dargelegt; er beunruhigte ihn offenbar sehr. Varro hatte in seinen Antiquitates zuerst die res humanae und dann erst die res divinae Roms behandelt.2 Als erstes muß die Stadt existieren; dann erst kann sie an die Institution des Kultischen herangehen. "Wie der Maler vor dem Gemälde da ist und der Architekt vor dem Gebäude, so sind die Städte früher da als ihre Institutionen.3 Diese Auffassung Varros, daß die Götter von der politischen Gesellschaft eingesetzt worden seien, stieß bei Augustinus auf Unverständnis und Empörung. Er seinerseits beharrte darauf, daß "wahre Religion nicht von irgendeiner civitas terrena eingesetzt" sei, sondern daß der wahre Gott, der Inspirator der wahren Religion, "die civitas coelestis eingesetzt" habe.4 Varros Standpunkt schien besonders verwerflich, weil die menschlichen Dinge, denen er den Vorrang einräumte, nicht allgemein menschlich, sondern nur römisch waren.5 Überdies verdächtigte Augustinus ihn der Täuschung, weil Varro zugab, er würde res divinae an die erste Stelle gesetzt haben, wenn er die Absicht gehabt hätte, die Natur der Götter erschöpfend zu behandeln,6 und weil er ferner zu verstehen gab, daß in Religionsfragen vieles wahr sei, was das Volk nicht wissen solle, und vieles falsch, was das Volk nicht ahnen dürfe.7 (Fs)
128a Was Augustinus nicht verstehen konnte, war die Kompaktheit des römischen Erlebens, die untrennbare Gemeinschaft von Göttern und Menschen in der historisch konkreten civitas, die Gleichzeitigkeit der menschlichen und göttlichen Einsetzung einer Sozialordnung. Für ihn hatte sich die Ordnung der menschlichen Existenz bereits in die civitas terrena der Profangeschichte und die civitas coelestis göttlicher Einsetzung geschieden. Das Verständnis wurde auch nicht durch die anscheinend etwas primitiven Formulierungen des Enzyklopädisten Varro erleichtert. Der geschmeidigere Cicero äußerte die gleichen Überzeugungen wie sein Freund Varro, doch mit mehr begrifflicher Schärfe, durch die Gestalten seiner De natura deorum, insbesondere durch den princeps civis und pontitex Cotta. In der Debatte über die Existenz der Götter stehen sich die Ansichten des Philosophen und des römischen princeps civis gegenüber. Im Gegensatz des princeps philosophiae Sokrates8 zum princeps civis Cotta9 zeigt Cicero subtil die unterschiedlichen Quellen der Autorität auf: die auctoritas philosophi stößt mit der auctoritas majorum10 zusammen. Der Würdenträger des römischen Kultes ist nicht geneigt, die unsterblichen Götter und ihre Verehrung anzuzweifeln, gleichgültig was andere sagen mögen. In religiösen Fragen folgt er den Priestern, die ihm im Amt vorangegangen sind, und nicht den griechischen Philosophen. Die Auspizien des Romulus und die Riten des Numa legten die Grundlagen des Staates, der niemals seine Größe hätte erlangen können, ohne sich die Unsterblichen durch den Ritus geneigt zu machen.11 Er anerkennt die Götter auf Grund der Autorität der Vorfahren, aber er ist bereit, die Meinung anderer anzuhören. Und nicht ohne Ironie lädt er Balbus ein, die Gründe, rationes, für seine religiösen Überzeugungen darzulegen, die er als Philosoph ja haben müsse, während er, der Pontifex, verpflichtet sei, seinen Vorfahren ohne Räsonnement zu glauben.12 (Fs)
129a Die Darlegungen Varros und Ciceros sind für den Theoretiker unschätzbare Dokumente. Die römischen Denker sind in ihrem politischen Mythos fest verwurzelt, zugleich war ihnen jedoch durch ihre Berührung mit der griechischen Philosophie diese Verwurzelung bewußt. Die Berührung hat die Festigkeit ihrer Gesinnung nicht beeinträchtigt, sondern sie lediglich mit den Mitteln ausgestattet, ihren Standpunkt klarer zu machen. Die konventionelle Darstellung Ciceronischer Ideen übersieht leicht, daß sich in seinem Werk etwas bedeutend Interessanteres finden läßt als eine Variante der Stoa, etwas, was keine griechische Quelle uns zu geben vermag, nämlich die archaische Erfahrung der Sozialordnung vor ihrer Auflösung durch die Erfahrung der mystischen Philosophen. In den griechischen Quellen kommt man an diese archaische Schicht nie wirklich heran, weil die frühesten literarischen Dokumente, die Dichtungen des Homer und Hesiod, schon großartig freie Neugestaltungen mythischer Stoffe sind - im Falle Hesiods sogar in bewußter Opposition einer von ihm als Individiuum gefundenen Wahrheit gegen die Lüge, das pseudos des älteren Mythos. Vielleicht waren die Wirren im Gefolge der dorischen Invasion die Ursache dafür, daß die Geschlossenheit der griechischen Sozialexistenz soviel früher zerbrach, ein Schock, wie ihn Rom nie erlitt. Jedenfalls war Rom ein ardiaisches Überbleibsel in der hellenistischen Zivilisation des Mittelmeerraums, und dies in noch verstärktem Maße, als dieser Raum sich fortschreitend christianisierte. Man könnte die Situation etwa mit der Rolle Japans in einer Kulturwelt, die von westlichen Ideen beherrscht wird, vergleichen. (Fs) (notabene)
130a Römer wie Cicero verstanden das Problem sehr wohl. In seinem Werk De re publica zum Beispiel stellte er absichtlich den römischen Stil politischer Ordnung dem griechischen gegenüber. In der Debatte über die beste politische Ordnung (status civitatis) nimmt wiederum ein princeps civis, Scipio, gegen Sokrates Stellung. Scipio weigert sich, in der Art des platonischen Sokrates über die beste Ordnung zu diskutieren. Er will nicht eine "fiktive" Ordnung vor seinen Zuhörern aufbauen, sondern zieht es vor, einen Bericht über die Ursprünge Roms zu geben.13 Die Ordnung Roms ist jeder anderen überlegen - dieses Dogma wird nachdrücklich als die Voraussetzung der Debatte aufgestellt.14 Die Diskussion selbst kann sich uneingeschränkt über alle griechischen Wissensgebiete erstrecken, aber dieses Wissen ist nur insofern von Bedeutung, als es sich nutzbringend auf die Probleme römischer Ordnung anwenden läßt. Den höchsten Rang nimmt zwar der Mann ein, der den Traditionen seiner Väter noch die "fremdländische Gelehrsamkeit" (adventiciam doctrinam) hinzufügen kann. Gilt es aber zwischen den beiden Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu wählen, so ist die vita civilis des Staatsmannes der vita quieta des Weisen vorzuziehen.15 (Fs) (notabene)
131a Der Denker, der es fertigbringt, von der Philosophie als von einer "fremdländischen Gelehrsamkeit" zu sprechen, die zwar anzuerkennen sei, aber doch nur als Würze, die der geistigen Überlegenheit noch die letzte Vollendung gibt, hat, wie man wohl sagen darf, weder die geistige Revolution, die sich in der Philosophie ausdrückte, noch die Natur ihres universalen Anspruchs auf den Menschen verstanden. Die sonderbare Weise, in der Cicero seine Anerkennung der griechischen Philosophie mit belustigter Geringschätzung vermischt, läßt erkennen, daß die Wahrheit der Theorie, wenn sie auch als Erweiterung des intellektuellen und sittlichen Horizontes aufgefaßt wurde, dennoch keine existentielle Bedeutung für einen Römer haben konnte. Rom war bis hinunter zu den Einzelheiten des täglichen Lebens das Rom seiner Götter. Eine erkenntnismäßige Teilnahme an der geistigen Revolution der Philosophie würde das Eingeständnis bedingt haben, daß das Rom der Vorfahren gestorben und eine neue Ordnung im Entstehen sei, in welche die Römer eingehen müßten - so wie die Griechen, gewollt oder ungewollt, in die imperialen Gebilde Alexanders und der Diadochen und schließlich Roms eingehen mußten. Das Rom der Generation Ciceros und Caesars war einfach noch nicht so weit, wie es das Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts gewesen war, das Platon und Aristoteles hervorbrachte. Die Substanz Altroms behielt ihre Wirksamkeit bis tief in die Kaiserzeit hinein, und sie schwand merklich erst in den Wirren des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Nun erst war für Rom die Zeit gekommen, in das von ihm selbst geschaffene Imperium einzugehen, und nun erst trat der Kampf, den die verschiedenen in Frage kommenden Typen der Wahrheit miteinander austrugen - die Philosophien, die orientalischen Kultreligionen und das Christentum - in seine entscheidende Phase. Diese forderte von dem existentiellen Repräsentanten, dem Kaiser, die Entscheidung, welche transzendente Wahrheit er vertreten würde, nachdem der Mythos Roms seine ordnende Kraft verloren hatte. Cicero kannte solche Probleme noch nicht, und als er ihnen in seiner "fremdländischen Gelehrsamkeit" begegnete, bog er die unerbittliche Drohung ab: den stoischen Gedanken, daß jeder Mensch zwei Länder habe, die Polis seiner Geburt und die Kosmopolis, wandelte er geschickt in den Gedanken um, jeder Mensch habe in der Tat zwei Vaterländer, nämlich seinen ländlichen Geburtsort - für Cicero sein Arpinum - und Rom.16 Die Kosmopolis der Philosophen war für Cicero in historischer Existenz verwirklicht; sie war das Imperium Romanum.17 (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 132a-138a Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 5; Augustus; Patronatsverhältnis als sakramentale Bindung im römischen Sinne -> Prinzipat; princeps civitatis, amicitia, clientella; Antonius, Oktavianus (Aktium) Kurzinhalt: Das Prinzipat entstand somit dadurch, daß die Zahl der großen Patronats-Principes zunächst auf die drei des Triumvirats zusammenschmolz, dann auf Antonius und Oktavianus, bis schließlich der Sieger von Aktium diese Stellung als Monopol für sich ... Textausschnitt: 5. Der princeps als existentieller Repräsentant
132a Die Kraft seiner archaischen Geschlossenheit sicherte Rom sein Überleben im Ringen um das Weltreich. Dieses erfolgreiche Überleben stellt jedoch eine der großen Fragen der Geschichte, nämlich die Frage, wie die Institutionen des republikanischen Rom - die an sich für die Organisation eines Weltreichs eben so wenig geeignet waren wie die Institutionen Athens oder einer anderen griechischen Polis - in solcher Weise gewandelt werden konnten, daß aus ihnen ein Kaiser als existentieller Repräsentant des den Mittelmeerraum umfassenden orbis terrarum hervorging. Der Umwandlungsprozeß ist in vielen Einzelheiten dunkel und wird es wegen der schlechten Quellenlage wohl für immer bleiben müssen. -Aber die sorgfältige Analyse und Auswertung der Materialien durch zwei Generationen von Gelehrten hat doch ein zusammenhängendes Bild des Prozesses erbracht, wie es sich in der eindringlichen Abhandlung über den Prinzipat von Anton von Premerstein findet.1 (Fs)
133a Die Hauptlast der Wandlung zur imperialen Herrschaft wurde nicht von der republikanischen Verfassung getragen. Zwar wurde die Zahl der Senatoren durch die Ernennung von Männern aus den Provinzen vermehrt, um dem Senat den Charakter einer Repräsentation des Imperiums zu geben, wie dies bereits durch Caesar geschehen war; auch wurde das Bürgerrecht auf Italien, und nach und nach auf andere Provinzen, ausgedehnt. Aber eine Entwicklung der Repräsentation durch Volkswahlen in den Provinzen des Imperiums war unmöglich angesichts der konstitutionellen Starrheit, die Rom ebenso wie den anderen Poleis eigentümlich war. Die Anpassung mußte sich auf soziale Institutionen außerhalb der eigentlichen Verfassung stützen; und die Hauptinstitution, die sich zum Amt des Kaisers entwickelte, war die des princeps civis oder princeps civitatis, des sozialen und politischen Führers. (Fs)
133b In der frühen republikanischen Geschichte bezeichnete der Ausdruck "princeps" einen führenden Bürger. Der Kern der Institution war das Patronat, ein Verhältnis, das durch Gunsterweisungen, wie politische Unterstützung, Darlehen, persönliche Geschenke entstand, die ein gesellschaftlich einflußreicher Mann einem Mann niedrigeren gesellschaftlichen Ranges, der solche Gunst nötig hatte, erwies. Durch Gewährung und Annahme solcher Gunstbezeigungen wurde eine unter der Sanktion der Götter stehende geheiligte Bindung zwischen zwei Männern geschaffen. Der Empfangende, der Klient, wurde Gefolgsmann des Schutzherrn, und ihr Verhältnis wurde durch fides, die Treue bestimmt. Es versteht sich, daß der Schutzherr ein Mann von sozialem Rang und Wohlstand sein mußte, ferner daß die Bildung einer größeren clientela das Vorrecht von Mitgliedern der patrizisch-plebejischen Nobilität war und daß die bedeutendsten Senatoren konsularischen Ranges zugleich die mächtigsten Schutzherren sein würden. Solche Schutzherren in den höchsten Rängen der Ämterhierarchie waren die principes civitatis. Einer von ihnen mochte ein Führer von unbestrittener Vorrangstellung sein, wenn er einer der alten Patrizierfamilien angehörte und das Amt eines princeps senates und unter Umständen auch noch das des pontifex maximus innehatte. Die römische Gesellschaft war also ein kompliziertes Gewebe von Gefolgschaftsverhältnissen. Sie war hierarchisch organisiert, da die Klienten eines mächtigen Schutzherrn selbst wiederum Schutzherren einer ansehnlichen clientela sein konnten. Ferner herrschte in ihr das Prinzip des Wettbewerbs, da die principes Rivalen im Kampf um die höchsten Ämter und allgemein um politische Mach waren.2 Der Inhalt der römischen Politik in der spätrepublikanischen Zeit war der Machtkampf wohlhabender Führer von Parteien, deren Grundlage das Patronatsverhältnis war. Unter solchen Führern waren dann Verträge möglich, die sogenannten amicitiae. Vertragsbruch führte zu entsprechenden Feindseligkeiten, den inimicitiae, denen die gegenseitige Anschuldigung, die altercatio, voranging. Zur Zeit der Bürgerkriege nahm die altercatio die Form propagandistischer, an die Öffentlichkeit gerichteter Schriften an, in denen das schimpfliche Verhalten des Gegners im einzelnen geschildert wurde. Eine solche inimicitia unterschied sich rechtlich von einem regulären Krieg, einem bellum justum des römischen Volkes gegen einen Staatsfeind. Der letzte Krieg des Octavianus gegen Antonius und Cleopatra beispielsweise wurde der Rechtsform nach Cleopatra gegenüber als regulärer Krieg, gegenüber Antonius und seiner römischen clientela aber als eine inimicitia geführt.3 (Fs) (notabene)
135a Die Umwandlung der ursprünglichen Institution des Prinzipates in einige wenige riesige Parteiorganisationen wurde durch die militärische Expansion Roms und die sich daraus ergebenden sozialen Veränderungen verursacht. Die Kriege des dritten Jahrhunderts mit ihren Eroberungen in Griechenland, Afrika und Spanien hatten das Nachschubwesen vor ein unlösbares Problem gestellt. Die überseeischen Gebiete konnten nicht von Armeen, die durch jährliche Aushebungen erneuert wurden, erobert und gehalten werden; es war unmöglich, die alten Kontingente jedes Jahr zurückzuholen und durch neue zu ersetzen. Die Provinzarmeen mußten zu Berufsheeren mit zehn- und zwanzigjähriger Dienstzeit werden. Die heimkehrenden Veteranen waren eine entwurzelte Masse, für die durch Landzuteilungen, Siedlungsunternehmen oder die Erlaubnis, in der Stadt Rom zu wohnen und die damit verbundenen Privilegien zu genießen, gesorgt werden mußte. Um solche Begünstigungen zu erlangen, mußten sich die Veteranen auf ihre militärischen Befehlshaber, die principes waren, verlassen, was zur Folge hatte, daß ganze Armeen zur clientela eines princeps wurden. Wenn irgendetwas für die Entwicklung des spätrepublikanischen Rom kennzeichnend ist, so ist es die Zähigkeit, mit der die Standesdisziplin des römischen Adels während eines ganzen Jahrhunderts durchhielt, ehe die mächtigen neuen Parteiführer sich gegen den Senat stellten und das politische Leben Roms zu einer privaten Auseinandersetzung unter sich machten. Überdies wurde es notwendig, infolge des ungeheuren Anwachsens der Zahl der Klienten sowie deren Vermehrung durch bewaffnete Formationen für Kriegsdienst und Straßenkämpfe die bisher formlosen Beziehungen durch eine besondere Eidesleistung, durch welche der Klient in fides an seinen Schutzherrn gebunden wurde, zu formalisieren. Zu diesem Punkt sind die Quellen besonders spärlich, aber es können doch solche Eide in steigender Zahl und Vielfalt nach dem Jahr 100 v. Chr. festgestellt werden.4 Schließlich wurde das Gefüge dieses Systems noch durch den erblichen Charakter der clientela bestimmt. Die Vererbung der clientela spielte im Zuge der Bürgerkriege des ersten vorchristlichen Jahrhunderts eine recht bedeutende Rolle. So kamen zum Beispiel Octavianus in seinen ersten Kämpfen gegen Antonius Caesars Veteranenkolonien in Campania sehr zugute, die, da er Caesars Erbe war, seine clientela geworden waren.5 Und das Siedlungsgebiet solcher ererbter Klientelen von Soldaten bestimmte sogar den Kriegsschauplatz. So mußten beispielsweise die Pompejaner in Spanien niedergekämpft werden, weil Pompejus seine Soldaten auf der Iberischen Halbinsel angesiedelt hatte.6 (Fs)
135a Das Aufkommen des Prinzipats kann somit als eine Fortentwicklung des Patronats bezeichnet werden, welches im übrigen in seiner bescheideneren Form bis tief in die Kaiserzeit hinein weiterbestand. Wenn der Schutzherr ein princeps civis war, so wurde seine clientela zum Werkzeug politischer Macht, und durch die Einbeziehung von Veteranenheeren wurde sie zum Werkzeug militärischer Macht, die mit den verfassungsmäßigen Streitkräften rivalisierte. Politischer Einfluß, Reichtum und die militärische clientela bedingten und steigerten einander wechselseitig, insofern als die politische Position das militärische Kommando sicherte, das zur Eroberung und Ausbeutung von Provinzen erforderlich war, während die Ausnutzung der Provinzen nötig war, uni die clientela mit Beutegut und Land zu versehen, und die Klientel wiederum für die Aufrechterhaltung des politischen Einflusses zu sorgen hatte. Als die Zahl der Rivalen sich auf einige wenige große Parteiführer verringert hatte, war der Punkt, an dem die konstitutionelle Legalität zerbrechen mußte, erreicht, besonders wenn Senat und die Magistrate unter sich in die rivalisierenden Klientelen gespalten waren. Im Leben eines jeden großen Parteiführers des letzten vorchristlichen Jahrhunderts kam die Zeit, da er sich zu entscheiden hatte, ob er die Grenze zwischen Legalität und Illegalität überschreiten wollte. Die berühmteste dieser Entscheidungen war Caesars Entschluß, über den Rubikon zu gehen.7 Und Oktavianus, ein kühler, berechnender Politiker, entschied sich dafür, seinen letzten Krieg gegen Antonius als inimicitia zu führen, da die Erklärung des Antonius zum Staatsfeind die gleiche Erklärung gegen ihn selbst hätte hervorrufen können, denn beide waren Konsuln, und ein Teil des Senats stand im Lager des Antonius. Die gegenseitige Erklärung der Rivalen zu Staatsfeinden hätte Rom gleichsam in zwei einander bekämpfende Staaten gespalten; und eine solche Erschütterung der Republik in ihren konstitutionellen Grundfesten hätte die gleichen katastrophalen Ergebnisse zeitigen können, wie die gleichgeartete Situation im Kampf auf Leben und Tod zwischen Caesar und Pompejus - die Ermordung des siegreichen Führers durch republikanische Schwärmer ein Jahr nach seinem Triumph. Das Prinzipat entstand somit dadurch, daß die Zahl der großen Patronats-Principes zunächst auf die drei des Triumvirats zusammenschmolz, dann auf Antonius und Oktavianus, bis schließlich der Sieger von Aktium diese Stellung als Monopol für sich in Anspruch nahm.8 (Fs)
138a Die Repräsentationsordnung Roms nach Aktium war eine geschickte Kombination der alten republikanischen Verfassung mit der neuen existentiellen Repräsentation der Bevölkerung des Imperiums durch den princeps. Die direkte Verbindung zwischen princeps und Volk wurde durch die Ausdehnung des Klienteneides auf das gesamte Volk gesichert. 32 v. Chr. hatte Oktavianus, ehe er in seinem Kampf mit Antonius eintrat, von Italien und den Westprovinzen einen solchen Eid, die sogenannte coniuratio des Westens gefordert. Dies war ein dem Octavianus pro partibus suis, d. h. als Parteiführer, geleisteter Eid.9 Für die Ausdehnung des Eides auf die Ostprovinzen, die nach Aktium erfolgt sein muß, sind keine Quellen greifbar.10 Jedenfalls wurde der dem princeps in der Form von 32 v. Chr. zu leistende Eid zu einer ständigen Einrichtung. Er wurde erneut den Nachfolgern des Augustus bei ihrer Thronbesteigung geleistet,11 und von Caius Caligula an wurde er alljährlich erneuert.12 Die vom Patronat her bestimmte Gliederung einer Gruppe in Führer und Gefolgsleute hatte sich ausgeweitet zur Form der Repräsentation eines imperialen Gebildes. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 139a-142b Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 6; Die Schwächen der sakramentalen Bindung; Sol Invictus, Gebet des Licinius; Hendrik Berkhof, konstantinische Wende; homo-ousios, Konstantin Kurzinhalt: Seine Wirksamkeit beruhte darauf, daß das Patronatsverhältnis als sakramentale Bindung im römischen Sinne erlebt wurde. Der neue Augustus erkannte das Problem. Textausschnitt: 6. Die Schwächen der sakramentalen Bindung
139a Der vom patrozinialen zum imperialen erweiterte Prinzipat war die Einrichtung, die den neuen Herrscher zum existentiellen Repräsentanten der weiträumigen Ansammlung eroberter Gebiete und Völkerschaften machte. Es versteht sich, daß dies ein nicht sehr stabiles Instrument war. Seine Wirksamkeit beruhte darauf, daß das Patronatsverhältnis als sakramentale Bindung im römischen Sinne erlebt wurde. Der neue Augustus erkannte das Problem. Seine Gesetzgebung zur religiösen und sittlichen Reform muß zum Teil als der Versuch verstanden werden, sakrale Gefühle, welche bereits zur Zeit von Varros Antiquitates im Schwinden waren, neu zu stärken. Angesichts der unübersehbaren orientalischen Bevölkerung war dies eine hoffnungslose Aufgabe, vor allem da diese Völker des Ostens in stets wachsender Zahl nach Rom einströmten und trotz aller Verbote an ihren nichtrömischen Kulten festhielten. Die Aufgabe wurde noch hoffnungsloser, als sogar nichtrömische Kaiser den Thron bestiegen, als auf die Julische Dynastie die aus der Provinz stammenden Flavier, die Spanier, die Syrer und die Illyrer folgten. (Fs) (notabene)
140a Das Mittel, um den Mangel des Sakralen in der Position des Kaisers zu beheben, ließ sich nur langsam auf Umwegen über Experimente und Mißerfolge finden. Die Vergöttlichung des Kaisers nach dem Vorbild des hellenistischen Königtums erwies sich als ungenügend. Es mußte auch entschieden werden, welche göttliche Macht aus der Masse der kultischen Gottheiten im Reich er repräsentierte. Unter dem Druck dieses Problems machte die religiöse Kultur der römischen Mittelmeerländer einen Prozeß durch, der gewöhnlich Synkretismus oder theokrasia, d. h. Verschmelzung von Gottheiten genannt wird. Diese Entwicklung steht keineswegs vereinzelt da. Dem Wesen nach ist es derselbe Prozeß, den die nahöstlichen Reiche zu früherer Zeit durchgemacht hatten, nämlich der Prozeß der Neuinterpretation der Unmenge lokaler Kultgottheiten in dem politisch geeinten Gebiet als Erscheinungen des einen höchsten Gottes, der damit zum Reichsgott wurde. Unter den eigenartigen Verhältnissen des kulturell buntgewürfelten römischen Staatsgebietes war es gewiß nicht leicht, mit solch einem höchsten Gott zu experimentieren. Einerseits durfte dieser Gott keine begriffliche Abstraktion sein, sondern mußte in einer verständlichen Beziehung zu einem oder mehreren der konkret erlebten Götter, welche als hohe Götter galten, stehen. Wenn aber andererseits seine Beziehung zu einem konkret vorhandenen Gott zu eng wurde, so gefährdete dies seinen Wert als der über allen Einzelgöttern stehende Gott. Der Versuch des Heliogabal (218-22), den Baal von Emesa als höchsten Gott in Rom einzuführen, mißlang. Ein beschnittener Caesar, der eine vestalische Jungfrau heiratete, um die Verbindung zwischen Baal und Tanit zu symbolisieren, erwies sich als zu starke Zumutung für die römische Tradition. Heliogabal wurde von seiner Prätorianergarde ermordet. Der Illyrer Aurelian (270-71) hatte mehr Erfolg, als er einen durch ein ausreichendes Maß von Unklarheit charakterisierten Sonnengott, den Sol Invictus, zum höchsten Gott des Imperiums und sich selbst zu dessen Abkömmling und Repräsentanten erklärte. Mit einigen Abänderungen, die unter Diokletian (284-305) erfolgten, hielt sich dieses System bis 313 n. Chr. (Fs)
141a Die Tatsache, daß der Reichskult Gegenstand von Experimenten war, darf jedoch nicht über den religiösen Ernst hinwegtäuschen, mit dem diese Experimente unternommen wurden. Der spätrömische Summodeismus war dem Christentum geistig nahe genug gekommen, um die Konversion fast zu einem leichten Übergang zu machen. Das Gebet des Licinius vor seiner Schlacht gegen Maximinus Daza im Jahre 313 ist noch erhalten. In der Nacht erschien Licinius ein Engel und sicherte ihm den Sieg zu, wenn er und die Armee es beten würden: (Fs)
Höchster Gott, wir beten zu Dir. Heiliger Gott, wir beten zu Dir. Alle Gerechtigkeit befehlen wir Dir, Unser Wohl befehlen wir Dir, Unser Reich befehlen wir Dir.
Durch Dich leben wir, durch Dich sind wir siegreich und erfolgreich. Höchster, heiliger Gott, erhöre unsre Gebete.
Wir erheben unsere Hände zu Dir, Erhöre uns, o heiliger, höchster Gott. (Fs)
142a Die Begebenheit und das Gebet werden uns von Lactantius berichtet1, wobei als bekannt vorausgesetzt wird, daß der Sieg auf einer ähnlichen Konversion wie der Konstantins im vorangegangenen Jahr beruhte. Das Christentum des Licinius ist in Anbetracht der antichristlichen Politik, die er in den folgenden Jahren führte, zumindest zweifelhaft, aber Lactantius schien dieses Gebet, das ebensogut von seinem heidnischen Gegner Maximinus hätte gesprochen werden können, ein Bekenntnis zum Christentum zu sein. (Fs)
142b Die genaue Bedeutung der überraschenden Wendung, die in den Jahren 311-13 dem Christentum die Freiheit brachte, ist noch immer umstritten. Die neueste Interpretation des holländischen Theologen Hendrik Berkhof scheint jedoch, soweit die Quellenlage dies gestattet, die mysteriöse Angelegenheit verständlich zu machen.2 Das beharrliche überleben der Christen trotz heftiger Verfolgungen überzeugte anscheinend die Regenten Galerius, Licinius und Konstantin davon, daß der Gott der Christen mächtig genug sei, um seine Anhänger im Unglück zu beschützen, daß er eine Realität sei, die mit Vorsicht behandelt werden müsse. Das Edikt des Galerius vom Jahre 311 erklärte, daß unter dem Druck der Verfolgungen die Christen weder ihre kultischen Pflichten gegenüber den offiziellen Göttern erfüllten noch ihren eigenen Gott in gebührender Form verehrten.3 Diese Beobachtung gab anscheinend den Ausschlag für den plötzlichen Umschwung in der Politik. Wenn der mächtige Gott der Christen von seinen eigenen Anhängern nicht gebührend verehrt wird, könnte er Rache nehmen und die Schwierigkeiten der Herrscher, die seine Verehrung verhindern, noch vergrößern. Das war das gute, alte römische Prinzip des do ut des.4 Das Edikt schrieb den Christen vor, daß sie als Gegenleistung für ihre neugewonnene Freiheit für den Kaiser, für das öffentliche Wohl sowie für ihr eigenes zu beten hätten.5 Dies war nicht eine Konversion zum Christentum, sondern vielmehr eine Einbeziehung des christlichen Gottes in das kaiserliche System der Divinitas.6 Das Edikt des Licinus vom Jahr 313 erklärte, daß die frühere christenfeindliche Politik revidiert worden sei, "so daß alles, was im himmlischen Wohnsitz divinitas ist, uns und allen, die unsrer Herrschaft unterstehen, günstig sei".7 Der kuriose Ausdruck divinitas war mit dem offiziellen Polytheismus und der Anerkennung des Summus Deus der Reichsreligion vereinbar, klang jedoch gleichzeitig monotheistisch genug, um auch Christen zufriedenzustellen. Daß die Bedeutung in der Schwebe blieb, war vermutlich beabsichtigt - man spürt die geschickte Hand Konstantins, der später in der christologischen Debatte auf dem erhaben bedeutungslosen Ausdruck homo-ousios bestand. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 143a Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 7; Celsus (Verteidigung d. Polytheismus); De-Divinisation der Welt (revolutionäre Substanz): Ende einer geschichtlichen Epoche Kurzinhalt: Da die Regionen der Erde von Anbeginn verschiedenen herrschenden Geistern und überwachenden Mächten zugewiesen worden seien, sei der religiöse Aufruhr zugleich eine politische Revolte. Wer den nationalen Kult zerstören wolle, plane auch die Zerstörung ... Textausschnitt: 7 Celsus über den revolutionären Charakter des Christentums
143a Die Probleme der Reichstheologie konnten jedoch nicht durch einen linguistischen Kompromiß gelöst werden. Die Christen wurden mit gutem Grund verfolgt; denn im Christentum war eine revolutionäre Substanz enthalten, die es mit dem Heidentum unvereinbar machte. Die neue Allianz mußte die soziale Wirksamkeit dieser revolutionären Substanz fördern. Was das Christentum so gefährlich machte, war seine kompromißlose, radikale De-Divinisation der Welt. Das Problem ist vielleicht am deutlichsten von Celsus formuliert worden in seinem Alethes Logos (ca. 180 n. Chr.), der kompetentesten Kritik des Christentums von heidnischer Seite. Die Christen, so klagte er, verwerfen den Polytheismus mit der Begründung, man könne nicht zwei Herren dienen.1 Dies sah Celsus als die "Sprache der Revolte (stasis)" an.2 Er gab zu, daß unter Menschen diese Regel gelte. Aber Gott könne nichts entzogen werden, wenn man seiner Göttlichkeit in den vielen Erscheinungsformen seines Reiches diene. Im Gegenteil ehren wir den Allerhöchsten und sind ihm wohlgefällig, wenn wir viele von denen ehren, die ihm angehören.3 Suchen wir dagegen einen Gott heraus und ehren ihn allein, so führen wir Klüngelbildung in das Gottesreich ein.4 Eine solche Haltung werde nur von Menschen eingenommen, die außerhalb der menschlichen Gesellschaft stehen und ihre sie isolierenden Leidenschaften auf Gott übertragen.5 Die Christen seien daher Unruhestifter im Bereich von Religion und Metaphysik, sie seien ein Aufruhr gegen die Gottheit, welche die ganze Welt bis in all ihre Verästelungen harmonisch beseele. Da die Regionen der Erde von Anbeginn verschiedenen herrschenden Geistern und überwachenden Mächten zugewiesen worden seien,6 sei der religiöse Aufruhr zugleich eine politische Revolte. Wer den nationalen Kult zerstören wolle, plane auch die Zerstörung der nationalen Kulturen.7 Und da sie alle im Imperium ihren Platz gefunden hätten, sei der Angriff der radikalen Monotheisten auf die Kulte ein Angriff auf das Gefüge des Imperium Romanum. Nicht, daß es etwa nicht wünschenswert sei, sogar nach Meinung des Celsus, wenn Asiaten, Europäer, Libyer, Hellenen und Barbaren sich auf einen einzigen nomos einigen, aber, so fügt er geringschätzig hinzu - "wer dies für möglich hält, weiß nichts".8 Die Antwort des Origines in seinem Contra Celsum war, daß dies nicht nur möglich sei, sondern sicherlich geschehen werde.9 Celsus, so darf man wohl sagen, sah die Implikationen des Christentums sogar noch klarer als Cicero die der griechischen Philosophie. Er erfaßte das existentielle Problem des Polytheismus, und er wußte, daß die christliche De-Divinisation der Welt das Ende einer geschichtlichen Epoche brachte und die ethnischen Kulturen des Zeitalters radikal umwandeln würde. (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 145a-151b Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 8; d. Monotheismus des Philo: Parallelkonstruktion: imperiale Monarchie - göttlicher Weltmonarchie; Eusebius (Christus - Augustus, pax romana); Imperium - Problem d. Trinität (Arius); Ende: politischer Theologie: Kirche Kurzinhalt: Der göttliche monarchische Herrscher des Kosmos regiert die Welt durch seine geringeren Abgesandten in der gleichen Weise, wie der persische Großkönig sein Reich durch die Satrapen in den Provinzen regiert. Philo paßte diese Konstruktion ... Textausschnitt: 8. Der metaphyische Monotheismus des Philo
145a Der Glaube, das Christentum ließe sich dazu benützen, der politischen Theologie des Imperiums entweder allein oder in Verbindung mit der heidnischen Konzeption eines Summus Deus neue Impulse einzuflößen, sollte bald enttäuscht werden. Dennoch hatte dieser Glaube seinen guten Grund, insofern er sich auf eine christliche Tendenz stützen konnte, den einen Gott des Christentums in der Richtung auf einen metaphysischen Monotheismus hin zu interpretieren.1 Daß man sich auf dieses Experiment einließ, war eine verständliche Versuchung auf dem Wege der östlichen Religionen, als diese sich in der hellenistischen Umwelt fanden und anfingen, sich in der Sprache der griechischen Spekulation auszudrücken. Tatsächlich war die christliche Entwicklung in dieser Richtung nicht die erste dieser Art, sie folgte vielmehr dem Beispiel des Philo Judaeus, und Philo hatte schon die vorbereitenden peripatetischen Spekulationen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zur Verfügung. Aristoteles hatte in seiner Metaphysik folgenden Grundsatz formuliert: "Die Welt hat nicht den Wunsch, schlecht regiert zu werden; die Herrschaft vieler ist nicht gut, einer sei der Herr."2 In der peripatetischen Literatur vor Philo, für die das repräsentative Beispiel das pseudo-aristotelische De mundo ist, wurde dieser Grundsatz zu den großen Parallelkonstruktionen von imperialer Monarchie und göttlicher Weltmonarchie ausgearbeitet.3 Der göttliche monarchische Herrscher des Kosmos regiert die Welt durch seine geringeren Abgesandten in der gleichen Weise, wie der persische Großkönig sein Reich durch die Satrapen in den Provinzen regiert.4 Philo paßte diese Konstruktion seinem jüdischen Monotheismus an, um ein Instrument für die Propaganda des Judentums als Ein-Gott-Kult im Imperium zu schaffen.5 In offensichtlicher Anlehnung an eine peripatetische Quelle macht er den jüdischen Gott zu einem "König der Könige" im persischen Sinne, während alle anderen Götter in den Rang untergeordneter Herrscher versetzt wurden.6 Er wahrte sorgfältig die Stellung der Juden als des auserwählten Volkes, aber zog sie geschickt aus ihrer metaphysischen Sackgasse, indem er den Dienst Jahwes zum Dienst des Gottes machte, der den Kosmos im peripatetischen Sinne regiert.7 Er bezog sich sogar auf Platons Timaeus, um Jahwe zum Gott zu machen, der die Ordnung, die taxis der Welt, im konstitutionellen Sinne herstellt.8 Indem die Juden diesem Gott dienen, dienen sie ihm stellvertretend für die Menschheit. Und als er den Passus aus der aristotelischen Metaphysik mit dem homerischen Vers zitierte, betonte er nachdrücklich, daß der Vers für die kosmische wie für die politische Herrschaft zu gelten habe.9 (Fs)
148a Philos Spekulation wurde von christlichen Denkern übernommen.10 Die Anpassung an die christliche Situation im Imperium erreichte durch Eusebius von Caesarea in der Zeit Konstantins ihre volle Entfaltung.11 Eusebius war, wie viele christliche Denker vor und nach ihm, stark beeindruckt von dem zeitlichen Zusammenfallen des Erscheinens Christi mit der Befriedung des Imperiums durch Augustus. Sein großes historisches Werk war zum Teil von seinem Interesse an der vorsehungsbestimmten Unterjochung ehemals unabhängiger Nationen durch die Römer motiviert. Als die autonome Existenz der politischen Gebilde im Mittelmeerraum durch Augustus beseitigt war, konnten die Apostel des Christentums unbehelligt das ganze Gebiet des Imperiums durchziehen und das Evangelium predigen. Sie hätten ihre Mission kaum durchführen können, wenn nicht der Zorn der "Abergläubischen der Polis" durch die Angst vor der Macht der Römer in Schach gehalten worden wäre.12 Die Errichtung der pax romana war überdies nicht nur von pragmatischer Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums, sondern dem Eusebius schien sie eng verknüpft mit den Mysterien des Gottesreiches. In der vorrömischen Zeit, so meinte er, hätten Nachbarn nicht in wahrer Gemeinschaft gelebt, sondern wären in ständige Streitigkeiten miteinander verwickelt gewesen. Augustus habe die pluralistische Polyarchie aufgelöst. Durch seine Monarchie habe sich Friede über die Erde gebreitet in Erfüllung der biblischen Verheißungen aus Mich 4,4 und PS 71,7. Kurz, Eusebius übertrug die eschatologischen Prophezeiungen des Friedens Gottes ins Politische dadurch, daß er sie auf eine pax Romana bezog, die historisch mit der Erscheinung des Logos zusammenfiel.13 Und schließlich betrachtete Eusebius das Werk, das Augustus begonnen hatte, als von Konstantin vollendet. In seiner Rede zum Tricennium pries er Konstantin, weil er in seiner imperialen Monarchie dem Vorbild der göttlichen gefolgt sei: der eine basileus auf Erden repräsentiere den einen Gott, den einen König im Himmel, den einen Nomos und Logos.14 Das war in der Tat eine Rückkehr zur imperialen Repräsentation der kosmischen Wahrheit. (Fs)
149a Die Harmonie konnte nicht von Dauer sein. Sie mußte in die Brüche gehen, sobald Christen mit wacherem Sinn sich des Problems annahmen. Die Frage trat durch den Kampf um die Christologie in ihre kritische Phase ein. Celsus hatte über die Christen gespottet, weil sie ihren eigenen Monotheismus nicht ernst nähmen und in Christus einen zweiten Gott hätten.15 Das war in der Tat die große Frage, die in der christologischen Debatte entschieden werden mußte, als sie durch die Häresie des Arius aufgerührt worden war. Es mußten die Symbole gefunden werden, um den einen Gott als drei Personen in einer interpretieren zu können: und wenn das Trinitätsproblem einmal verstanden war, wurden Konstruktionen wie die des Eusebius unmöglich. Begreiflicherweise neigten die Kaiser und Hoftheologen zur Seite der Arianer; denn die trinitarische Debatte störte ernsthaft die monotheistische Ideologie, von der die Auffassung vom Kaiser als dem Repräsentanten des einen Gottes abhing. Nachdem der Widerstand des Athanasius, unterstützt von den Westchristen, der trinitarischen Symbolik zum Sieg verholfen hatte, konnten die Spekulationen über eine Parallelität der himmlischen und der irdischen Monarchie nicht weitergeführt werden. Der Begriff der göttlichen Monarchie verschwand nicht aus dem Sprachgebrauch, erhielt aber eine neue Bedeutung. Gregor von Nazianz beispielsweise erklärte, die Christen glaubten an die göttliche Monarchie, aber - so fuhr er fort - sie glaubten nicht an eine einzige Person in der Gottheit, denn eine solche Gottheit wäre eine Quelle der Zwietracht. Die Christen glaubten an die Dreieinigkeit, und diese Dreieinigkeit Gottes habe in der Schöpfung nicht ihresgleichen. Die eine Person eines imperialen Monarchen könne nicht die dreieinige Gottheit repräsentieren.16 In welchem Maße es unmöglich geworden war, in der Politik mit der Idee eines dreieinigen Gottes zu operieren, mag an einer Begebenheit aus der Regierungszeit Konstantins IV. Pogonatus (668-85) veranschaulicht werden: die Armee verlangte, daß er seine beiden Brüder zu Mitkaisern mache, damit es auf Erden eine Repräsentanz der göttlichen Trinität gebe.17 Dies klingt eher wie ein Scherz denn wie ein ernst hafter Vorschlag, und es war vielleicht unvermeidlich, daß im Verlaufe der Ereignisse den zweiten und dritten Personen der kaiserlichen Trinität die Nasen abgeschnitten wurden. (Fs) (notabene)
151a Die andere brillante Idee des Eusebius, nämlich der Gedanke, in der pax Romana die Erfüllung eschatologischer Prophezeiungen zu erblicken (ein Gedanke, der stark an Ciceros Neigung erinnert, die vollkommene Ordnung der Philosophen durch Rom verwirklicht zu sehen), mußte unter dem Druck der Wirren des Zeitalters zerfallen. Doch mag der Kommentar des Augustus zur Prophezeiung in PS 45,10 als Beleg für die formelle Gegenposition der Orthodoxen dienen. Die Prophezeiung lautet: "Er macht, daß Kriege aufhören bis ans Ende der Erde." Hierzu erklärt Augustinus: "Dies sehen wir noch nicht verwirklicht. Bisher haben wir Kriege. Unter den Nationen sind es Kriege um die Vorherrschaft. Ferner gibt es auch Kriege zwischen den Sekten, zwischen Juden, Heiden, Christen und Häretikern, und diese Kriege nehmen sogar zu; auf der einen Seite wird für die Wahrheit gekämpft, auf der anderen für die Lüge. In keiner Hinsicht wurde das Aufhören der Kriege bis ans Ende der Erde erfüllt. Aber vielleicht, so hoffen wir, wird es noch erfüllt werden."18 (Fs) (notabene)
151b Das ist das Ende der politischen Theologie im orthodoxen Christentum. Das spirituale Schicksal des Menschen im christlichen Sinne kann auf Erden nicht durch die Machtorganisation einer politischen Gesellschaft, es kann nur durch die Kirche repräsentiert werden. Die Sphäre der Macht wurde einem radikalen Prozeß der De-Divinisation unterworfen, sie war temporal geworden. Die zweifache Repräsentation des Menschen in Gesellschaft durch Kirche und Reich bestand durch das ganze Mittelalter hindurch. Die spezifisch modernen Repräsentationsprobleme hängen mit der Re-Divinisation der Gesellschaft zusammen. Die nächsten drei Kapitel werden sich mit diesen Problemen beschäftigen. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 153a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 1; Sieg d. Christentums; De-Divinisation - Re-Divinisation; Chiliasmus; Augustinus: neues Konzept d. Geschichte (temporale - spirituale Ordnung); röm: Reich: Repräsentanz der menschlichen Temporalität - Kirche Kurzinhalt: Augustinus ... lehnte den Buchstabenglauben an das tausendjährige Reich rundweg als "lächerliche Mär" ab und gab die kühne Erklärung, das tausendjährige Reich sei die Herrschaft Christi in seiner Kirche im gegenwärtigen Säkulum, das ... Textausschnitt: IV. Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität
1. Der Sieg des Christentums
153a Der Zusammenstoß zwischen den verschiedenen Typen der Wahrheit im Römischen Reich endete mit dem Sieg des Christentums. Das schicksalhafte Resultat dieses Sieges war die De-Divinisation der temporalen Sphäre der Macht; und wir haben vorausgenommen, daß die spezifisch modernen Probleme der Repräsentation in Zusammenhang mit der Re-Divinisation von Mensch und Gesellschaft stehen würden. Die beiden Ausdrücke bedürfen einer näheren Definition, vor allem da der Begriff der Modernität und in seinem Gefolge die Periodisierung der Geschichte von dem Sinn der Re-Divinisation abhängig sind. Unter De-Divinisation soll also der historische Prozeß verstanden werden, in dessen Verlauf die Kultur des Polytheismus an der Atrophie des Erlebens starb und die menschliche Existenz in der Gesellschaft neugeordnet wurde durch das Erlebnis der Bestimmung des Menschen - durch die Gnade des welttranszendenten Gottes - zum ewigen Leben in seliger Schau. Unter Re-Divinisation soll jedoch nicht ein Wiederaufleben der polytheistischen Kultur im griechischrömischen Sinne verstanden werden. Die Charakterisierung moderner politischer Massenbewegungen als neuheidnisch, die sich einer gewissen Beliebtheit erfreut, ist irreführend, da sie die historische Einmaligkeit der modernen Bewegungen einer oberflächlichen Ähnlichkeit preisgibt. Die moderne Re-Divinisation hat ihren Ursprung vielmehr im Christentum selbst, insofern sie von Komponenten in ihm herrührt, die von der allgemeinen Kirche als häretisch unterdrückt worden waren. Die Natur dieser Spannung innerhalb des Christentums wird daher näher zu bestimmen sein. (Fs) (notabene)
154a Die Spannung war durch die Tatsache gegeben, daß das Christentum historisch als eine messianische Bewegung des Judentums seinen Anfang genommen hatte. Das Leben der urchristlichen Gemeinschaften war in seinem Erleben noch nicht fixiert, sondern schwankte zwischen der eschatologischen Erwartung der Parusie, die das Reich Gottes bringen würde, und der Auffassung von der Kirche als der Apokalypse Christi in der Geschichte. Da die Parusie sich nicht ereignete, entwickelte sich die Kirche von der Eschatologie des Gottesreiches in der Geschichte zur Eschatologie einer transhistorischen, übernatürlichen Vollendung. Im Verlauf dieser Entwicklung löste sich das Wesen des Christentums von seinem historischen Ursprung ab.1 (Fs) (notabene)
154b Diese Ablösung begann schon im Leben Jesu selbst,2 und sie wurde grundsätzlich durch die pfingstliche Herabkunft des Hl. Geistes vollendet. Dennoch wurde die Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Kommens des Reiches Gottes immer aufs neue durch das Erdulden der Verfolgungen bis zur Weißglut gesteigert; und der großartigste Ausdruck des apokalyptischen Pathos, die Offenbarung des Johannes, wurde trotz der Bedenken über ihre Vereinbarkeit mit der Idee der Kirche in den Kanon aufgenommen. Diese Aufnahme hatte schicksalhafte Folgen, denn mit der Offenbarung wurde die revolutionäre Ankündigung des tausendjährigen Reiches anerkannt, in welchem Christus mit seinen Heiligen auf dieser Erde herrschen würde.3 Nicht nur sanktionierte die Kanonisierung die dauernde Wirksamkeit der jüdischen apokalyptischen Literatur im Christentum, sondern sie warf auch unmittelbar die Frage auf, wie der Chiliasmus mit der Idee und der Existenz der Kirche in Einklang gebracht werden könne. Wenn der Gehalt des Christentums lediglich in dem brennenden Wunsch nach Befreiung von der Welt bestand, wenn die Christen in der Erwartung des Endes der unerlösten Geschichte lebten, wenn ihr Schicksal nur durch das Reich im Sinne des 20. Kapitels der Offenbarung erfüllt werden konnte, dann wurde die Kirche zu einer kurzlebigen Gemeinschaft von Menschen herabgewürdigt, die auf das große Ereignis warteten und hofften, es werde sich zu ihren Lebzeiten ereignen. Auf theoretischer Ebene ließ sich das Problem nur durch die gewalttätige Interpretation lösen, die Augustinus in seiner Civitas Dei lieferte. Er lehnte den Buchstabenglauben an das tausendjährige Reich rundweg als "lächerliche Mär" ab und gab die kühne Erklärung, das tausendjährige Reich sei die Herrschaft Christi in seiner Kirche im gegenwärtigen Säkulum, das bis zum Jüngsten Gericht und der Ankunft des ewigen Reiches im Jenseits fortdauern werde.4 (Fs) (notabene)
155a Die augustinische Konzeption der Kirche blieb ohne wesentliche Änderung bis zum Ende des Mittelalters historisch wirksam. Die revolutionäre Erwartung einer Wiederkunft, welche die Struktur der Geschichte auf Erden verklären würde, war als "lächerlich" abgetan; der Logos war in Christus Fleisch geworden; der Mensch hatte die Gnade der Erlösung empf angen; außer der pneumatischen Präsenz Christi in der Kirche gab es keine Divinisation der Gesellschaft. Der jüdische Chiliasmus wurde zusammen mit dem Polytheismus verbannt, so wie der jüdische Monotheismus zusammen mit dem heidnischen metaphysischen Monotheismus verbannt worden war. So verblieb die Kirche allein als der universal-geistige Verband der Heiligen und Sünder, die ihren Glauben an Christus bekennen, als die Repräsentantin der civitas Dei in der Geschichte, als der Blitz aus der Ewigkeit in die Zeit. Und entsprechend verblieb die Machtorganisation der Gesellschaft als die temporale Repräsentation des Menschen in dem spezifischen Sinne einer Repräsentation jenes Teiles der menschlichen Natur, die mit der Verklärung der Zeitlichkeit in die Ewigkeit ihr Ende findet. Die eine christliche Gesellschaft hatte sich in die spirituale und temporale Ordnung artikuliert. In ihrer temporalen Artikulierung anerkannte sie die Conditio humana ohne chiliastische Phantastereien, und zugleich erhöhte sie die natürliche Existenz, indem sie die geistige Bestimmung durch die Kirche repräsentieren ließ. (Fs) (notabene)
156a Das Bild muß abgerundet werden, indem man sich vergegenwärtigt, daß die Idee der temporalen Ordnung durch das römische Reich historisch konkretisiert wurde. Rom wurde in die Idee einer christlichen Gesellschaft hineinkonstruiert dadurch, daß die danielische Prophezeiung der Vierten Monarchie5 auf das imperium sine fine6 als das letzte Reich vor dem Ende der Welt7 bezogen wurde. Parallel zur Kirche als der historisch konkreten Repräsentanz der spiritualen Bestimmung stand das römische Reich als die historisch konkrete Repräsentanz der menschlichen Temporalität. Die Auffassung vom mittelalterlichen Reich als der Fortsetzung Roms war daher mehr als ein vager historischer Nachklang der Vergangenheit; sie war ein Teil der Geschichtsauffassung, nach der das Ende Roms das Ende der Welt im eschatologischen Sinne bedeutete. Was den Ideenbereich anbelangt, so erhielt sich diese Auffassung noch über Jahrhunderte, wenn auch ihre emotionale und institutionelle Basis zerfiel. Die Weltgeschichte wurde gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts von Bossuet in seiner Histoire universelle zum letzten Mal in augustinischer Tradition konstruiert. Der erste Moderne, der es wagte, in direktem Gegensatz zu Bossuet eine Weltgeschichte zu schreiben, war Voltaire.8 (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 157a-161a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 2a; Symbolik der Wiedervergöttlichung; Joachim von Flora (Fiore); Symbol der Trinität; Symbole: 3 Zeitalter, Führer, Prophet Bruderschaft; nationalsozialistisches Reiche (Sonderfall) Kurzinhalt: In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft beherrschen. Textausschnitt: 2. Die Symbolik der Wiedervergöttlichung
157a Die westliche christliche Gesellschaft war in die spirituale und temporale Ordnung artikuliert, mit Papst und Kaiser als den obersten Repräsentanten in existentiellem wie in transzendentem Sinn. Aus dieser Gesellschaft mit ihrem festgelegten System von Symbolen erheben sich nun mit dem Wiederaufsteigen der Eschatologie des Reiches die spezifischen Repräsentationsprobleme. Die Bewegung hatte eine lange soziale und geistige Vorgeschichte, doch brachte das Verlangen nach der De-Divinisation [sic; eg: Re-Divinisation???; Richtigkeit der eg-Deutung ergibt sich aus 175a] der Gesellschaft erst gegen Ende des zwölften Jahrhunderts eine schärfer umrissene neue Symbolik hervor. Die Analyse wird von dem ersten klaren und umfassenden Ausdruck der Idee in der Person und im Werk des Joachim von Flora ausgehen. (Fs)
158a Joachim brach mit der augustinischen Auffassung einer christlichen Gesellschaft, als er das Symbol der Trinität auf den Ablauf der Geschichte anwandte. In seiner Spekulation hatte die Menschheitsgeschichte drei den Personen der Trinität entsprechende Zeitabschnitte. Die erste Periode der Welt war das Zeitalter des Vaters; mit dem Erscheinen Christi begann das Zeitalter des Sohnes. Aber das Zeitalter des Sohnes war nicht das letzte der Geschichte, es folgte ihm als drittes das Zeitalter des heiligen Geistes. Die drei Zeitalter wurden als Steigerungen spiritualer Erfüllung charakterisiert. Das erste Zeitalter entfaltete das Leben des Laien, das zweite das aktiv-kontemplative Leben des Priesters, und das dritte sollte das vollkommene spirituale Leben des Mönches bringen. überdies hatten die drei Zeitalter vergleichbare innere Strukturen und eine errechenbare Dauer. Der strukturelle Vergleich ergab, daß jedes Zeitalter mit einer Trinität führender Persönlichkeiten beginnt, d. h. mit zwei Vorläufern, denen der eigentliche Führer des Zeitalters folgte. Aus der Errechnung der Zeitdauer konnte man schließen, daß das Zeitalter des Sohnes im Jahre 126o ablaufen würde. Der Führer des ersten Zeitalters war Abraham, der des zweiten Christus; und Joachim sagte voraus, daß um das Jahr 1260 der Dux e Babylone, der Führer des dritten Zeitalters, erscheinen würde.1 (Fs) (notabene)
159a In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft beherrschen. (Fs) (notabene)
159b Das erste dieser Symbole ist die Auffassung der Geschichte als einer Folge dreier sich ablösender Zeitalter, deren letztes das abschließende Dritte Reich ist. Als Varianten dieses Symbols sind die humanistische und die enzyklopädistische Periodisierung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit erkennbar; ferner Turgots und Comtes Theorie von der Aufeinanderfolge einer theologischen, einer metaphysischen und einer wissenschaftlichen Phase; Hegels Dialektik der drei Stadien der Freiheit und der selbstbewußten geistigen Vollendung; die Marx'sche Dialektik von den drei Stufen des primitiven Kommunismus, der Klassengesellschaft und des endzeitlichen Kommunismus; und schließlich das nationalsozialistische Symbol des Dritten Reiches - obwohl dies ein besonderer Fall ist, der weiterer Untersuchung bedarf. (Fs) (notabene)
159c Das zweite Symbol ist das des Führers.2 Es wurde unmittelbar wirksam in der Bewegung der franziskanischen Spiritualen, die in Franziskus die Erfüllung der Weissagung Joachims sahen. Seine Wirksamkeit würde verstärkt durch Dantes Spekulation über den Dux des neuen spiritualen Zeitalters. Seine Spur kann weiterhin verfolgt werden durch die parakletischen Figuren, die homines spirituales und homines novi des Spätmittelalters, der Renaissance und der Reformation. Es läßt sich als eine Komponente in Machiavellis principe erkennen. Im Zeitalter der Säkularisierung erscheint es in den übermenschen Condorcets, Comtes und Marx', bis es schließlich den Schauplatz unserer Zeit in Gestalt der parakletischen Führer der neuen Reiche beherrscht. (Fs) (notabene)
160a Das dritte Symbol, das bisweilen in das zweite übergeht, ist das des Propheten des neuen Zeitalters. Um der Idee eines abschließenden Dritten Reiches Gültigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen, muß angenommen werden, daß der Ablauf der Geschichte als ein verstehbares, sinnvolles Ganzes der menschlichen Erkenntnis zugänglich sei, entweder durch eine direkte Offenbarung oder durch spekulative Gnosis. Daher wird der gnostische Prophet oder in den späteren Stadien der Säkularisierung der gnostische Intellektuelle zu einem Bestandteil der modernen Zivilisation. Joachim selbst ist das erste Exemplar der Gattung. (Fs) (notabene)
160b Das vierte Symbol ist das der Bruderschaft autonomer Personen. Das dritte Zeitalter des Joachim werde, kraft der erneuten Herabkunft des Geistes, die Menschen ohne sakramentale Gnadenvermittlung zu Gliedern des neuen Reiches umgestalten. Im dritten Zeitalter werde die Kirche zu bestehen aufhören, weil die charismatischen Gaben, die zum vollkommenen Leben notwendig sind, den Menschen ohne Spendung der Sakramente erreichen. Zwar hat Joachim selbst das neue Zeitalter konkret als eine mönchische Ordnung aufgefaßt, aber die Idee einer Gemeinschaft der im Geiste Vollendeten, die ohne institutionelle Autorität zusammenleben können, war nunmehr prinzipiell formuliert. Die Idee ließ unzählige Varianten zu. Sie ist in verschiedenen Graden von Reinheit in den Sekten des Mittelalters und der Renaissance zu verfolgen, wie auch in den puritanischen Kirchen der Heiligen. In ihrer säkularisierten Form ist sie zu einer machtvollen Komponente des zeitgenössischen demokratischen Bekenntnisses geworden. Und sie ist das dynamische Zentrum des Marx'schen Mystizismus vom Reich der Freiheit und vom Absterben des Staates. (Fs) (notabene)
161a Das nationalsozialistische Dritte Reich ist ein Sonderfall. Zwar ist Hitlers Voraussage eines Tausendjährigen Reiches auf die joachitische Spekulation zurückzuführen, wie sie in Deutschland durch den Wiedertäuferflügel der Reformation und durch das Johanneische Christentum eines Fichte, Hegel und Schelling vermittelt wurde. Dennoch erscheint die konkrete Anwendung des trinitarischen Schemas auf das im Jahre 1806 zu Ende gegangene erste Deutsche Reich, auf das 1918 untergegangene Bismarckreich und das Dritte Reich der nationalsozialistischen Bewegung, verglichen mit den weltgeschichtlichen Spekulationen der deutschen Idealisten, eines Comte oder eines Marx, flach und engstirnig. Der nationalistisch-zufällige Einschlag ist darauf zurückzuführen, daß das Symbol des "Dritten Reichs" nicht dem spekulativen Bestreben eines Philosophen von Rang entstammt, sondern durch zweifelhafte literarische Übertragungen entstanden ist. Die nationalsozialistischen Propagandisten entnahmen es dem gleichnamigen Buch Moeller van den Brucks;3 und Moeller, der ohne nationalsozialistische Ambitionen war, hatte es bei seiner Arbeit an der deutschen Dostojewski-Ausgabe als geeignetes Symbol entdeckt. Die russische Idee vom Dritten Rom hat denselben Charakter einer Vermischung der Eschatologie des spiritualen Reiches mit ihrer Verwirklichung durch eine politische Gesellschaft wie die nationalsozialistische Idee des Dritten Reiches. Diese andere Abart der politischen Re-Divinisation muß jetzt untersucht werden. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 162a-165a Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 2b; Konstantinopel (2. Rom), Caesaropapismus; Moskau (3. Rom); Iwan IV. (Maximilian II.); Napoleon, 2. Nationen: Russland - der Westen Kurzinhalt: Zu genau dem Zeitpunkt, als die westliche Reichsorganisation endgültig auseinanderbrach, als die westliche Gesellschaft sich in die Nationen und die Vielzahl von Kirchen neu artikulierte, trat Rußland seine Laufbahn als der Erbe Roms an. Textausschnitt: 162a Die augustinische Konzeption von der Kirche wurde nur im Westen in der Weise historisch wirksam, daß sie zu einer klaren doppelten Repräsentation der Gesellschaft durch die spirituale und die temporale Macht führte. Diese Entwicklung wurde sicher dadurch begünstigt, daß der Sitz des temporalen Herrschers geographisch weit von Rom entfernt lag. Im Osten hingegen entstand die byzantinische Form des Caesaropapismus in direkter Fortführung der Stellung des Kaisers im heidnischen Rom. Konstantinopel war das zweite Rom, wie dies die Erklärung Justinians zur consuetudo Romae sichtbar werden ließ: "Unter Rom ist jedoch nicht nur das alte Rom, sondern auch unsere königliche Stadt zu verstehen."1 Nachdem Konstantinopel an die Türken gefallen war, entstand in russischen kirchlichen Kreisen die Idee Moskaus als des Nachfolgers des orthodoxen Imperiums. Ich darf hier die bekannten Stellen aus den Briefen des Philotheos von Pskov zitieren.
Die Kirche des ersten Rom fiel infolge der gottlosen Häresie des Apollinaris. Die Tore des zweiten Rom wurden durch die Ismaeliten eingeschlagen. Heute erstrahlt die heilige apostolische Kirche des dritten Rom in deinem Reich im Glorienschein des christlichen Glaubens über die ganze Welt. Wisse, o frommer Zar, daß alle Reiche der rechtgläubigen Christen sich zu dem deinen vereint haben. Du bist auf der ganzen Erde der einzige Zar aller Christen [] Nach den prophetischen Büchern werden alle christlichen Reiche ihr Ende finden und sich zu einem Reich vereinigen, dem unseres Gossudars, das heißt zum Reich Rußlands. Zwei Rom sind gefallen, aber das dritte wird bestehen, und es wird kein viertes geben.2
163a Es dauerte etwa ein Jahrhundert, bis der Gedanke institutionell verwirklicht war. Iwan IV. war der erste Rurikide, der sich im Jahre 1547 zum Zar der Orthodoxen krönen ließ;3 und 1589 wurde der Patriarch von Konstantinopel gezwungen, den ersten autokephalen Patriarchen von Moskau einzusetzen, nunmehr mit der offiziellen Anerkennung Moskaus als des Dritten Rom.4 (Fs)
164a Die Daten des Aufkommens und der institutionellen Verwirklichung der Idee sind von Bedeutung. Die Regierungszeit Iwans des Großen fällt mit der Zeit der Konsolidierung der westlichen Nationalstaaten (England, Frankreich und Spanien) zusammen, die Regierungszeiten Iwans IV. und Fjodors I. mit der westlichen Reformation. Zu genau dem Zeitpunkt, als die westliche Reichsorganisation endgültig auseinanderbrach, als die westliche Gesellschaft sich in die Nationen und die Vielzahl von Kirchen neu artikulierte, trat Rußland seine Laufbahn als der Erbe Roms an. Von Anfang an war Rußland nicht eine Nation im westlichen Sinne, sondern ein Kulturkreis, der ethnisch von den Großrussen beherrscht und durch die Symbolik der Nachfolge Roms zu einer politischen Gesellschaft gestaltet wurde. (Fs)
164b Daß die russische Gesellschaft einer eigenen Kategorie angehörte, wurde im Westen nur allmählich erkannt. 1488 versuchte Maximilian I. es noch, Rußland in das westliche politische System einzugliedern, indem er Iwan dem Großen eine Königskrone anbot. Der moskowitische Großfürst lehnte diese Ehrung mit der Begründung ab, seine Autorität stamme von seinen Ahnen, habe den Segen Gottes und bedürfe daher keiner Bestätigung durch den Kaiser des Westens.5 Ein Jahrhundert später, zur Zeit der Türkenkriege, ging Maximilian II. einen Schritt weiter, indem er Iwan IV. die Anerkennung als Kaiser des griechischen Ostens als Gegengabe für Hilfeleistung anbot.6 Wiederum hatte der russische Herrscher kein Interesse, nicht einmal an einer Kaiserkrone, denn zu jener Zeit beschäftigte sich Iwan bereits mit dem Ausbau des russischen Reiches, indem er den Feudaladel beseitigte und durch den neuen Dienstadel, die oprichnina, ersetzte.7 Durch diese blutige Operation drückte Iwan der Schreckliche Rußland den Stempel jener unzerstörbaren Gesellschaftsgliederung auf, die bis zum heutigen Tag Rußlands innerpolitische Geschichte bestimmt hat. Transzendental unterschied sich Rußland von allen westlichen Nationen als der imperiale Repräsentant der christlichen Wahrheit; und durch seine soziale Neugliederung, aus welcher der Zar als der existentielle Repräsentant hervorging, wurde es von der Entwicklung repräsentativer Institutionen im Sinne der westlichen Nationalstaaten radikal abgeschnitten. Napoleon erkannte schließlich das russische Problem, als er 1802 sagte, es gäbe nur zwei Nationen auf der Welt: Rußland und den Westen.8 (Fs)
165a Rußland entwickelte einen Repräsentationstypus sui generis in transzendenter wie existentieller Hinsicht. Die Verwestlichung, die sich seit Peter dem Großen vollzog, bewirkte keine grundlegende Änderung dieses Typus, weil sie hinsichtlich der sozialen Gliederung praktisch ergebnislos blieb. Man kann wohl von einer persönlichen Verwestlichung in den Schichten des hohen Adels im Gefolge der napoleonischen Kriege sprechen, in der Generation eines Tschaadajew, Gagarin und Petscherin. Aber die einzelnen aristokratischen Diener des Zaren wandelten sich nicht in einen Adelsstand, in ein artikuliertes baronagium um. Vielleicht wurde die Notwendigkeit gemeinsamen ständischen Handelns als Voraussetzung für eine politische Verwestlichung nicht einmal erkannt. Sollte aber die Möglichkeit einer Evolution in dieser Richtung jemals bestanden haben, so war sie doch mit dem Dekabristenaufstand von 1825 erledigt. Unmittelbar nach diesem Ereignis kam mit Khomyakow die slawophile antiwestliche Geschichtsphilosophie auf, die mit großer Wirkung auf die Intelligentsia des mittleren Adels die Apokalypse des Dritten Rom zu einer messianischen, eschatologischen Sendung Rußlands für die Menschheit erhob. Bei Dostojewski bewirkte diese Übertragung des Messianismus die Kristallisation zu der seltsamen ambivalenten Vision eines autokratischen, orthodoxen Bußland, das irgendwie die Welt erobern und in dieser Eroberung zur freien Gesellschaft aller Christen im wahren Glauben erblühen würde.9 Diese ambivalente Vision in ihrer säkularisierten Form inspiriert eine russische Diktatur des Proletariats, das durch seine Welteroberung zum marxistischen Reich der Freiheit erblühen wird. Der Versuch einer Artikulierung der russischen Gesellschaft im westlichen Sinne, der unter dem Regime der liberalen Zaren unternommen wurde, ist mit der Revolution von 1917 zu einer Episode der Vergangenheit geworden. Das Volk als Ganzes nimmt wieder die Stellung von Dienern des Zaren im altmoskowitischen Sinne ein, wobei die Kader der kommunistischen Partei seinen Dienstadel darstellen. Die oprichnina, die Iwan der Schreckliche auf der Basis der agrarischen Wirtschaft etabliert hatte, wurde in verstärktem Maße wiedererrichtet auf der Basis einer industriellen Wirtschaft.10 (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 189a-191a Stichwort: Die gnostische Revolution 2; Hooker: Charakteristik des Puritaners; "cause" (Waffe d. P.); Anprangerung d Übelstände; Erzeugung einer vernunftresistenten Haltung Kurzinhalt: Diese Aufgabe läßt sich psychologisch dadurch bewältigen, daß jeder Fehler und Übelstand, der infolge der menschlichen Schwäche unvermeidlich ist, der Tätigkeit oder Untätigkeit der Regierung zugeschrieben wird. Textausschnitt: 2. Hookers Charakteristik des Puritaners
189a Um eine Bewegung in Gang zu bringen, bedarf es vor allem eines Mannes, der eine Sache, cause, verficht. Aus dem Zusammenhang bei Hooker geht hervor, daß der Ausdruck cause noch nicht lange in der Politik gebraucht wurde und daß wahrscheinlich die Puritaner diese gewaltige Waffe der gnostischen Revolutionäre selbst eingeführt haben. Um seine Sache voranzutreiben, wird ihr Verfechter "in Hörweite der Menge" scharfe Kritik an den sozialen Übelständen und insbesondere an dem Verhalten der oberen Schichten üben. Häufige Wiederholung wird unter den Hörern die Ansicht hervorrufen, die Sprecher seien ausgezeichnet durch Integrität, Eifer und Heiligkeit, denn nur Menschen, die ausnehmend gut sind, könnten sich durch das Böse so tief verletzt fühlen. Der nächste Schritt besteht darin, den Unwillen des Volkes auf die bestehende Regierung zu konzentrieren. Diese Aufgabe läßt sich psychologisch dadurch bewältigen, daß jeder Fehler und Übelstand, der infolge der menschlichen Schwäche unvermeidlich ist, der Tätigkeit oder Untätigkeit der Regierung zugeschrieben wird. Indem sie auf diese Weise alles Übel der Welt einer bestimmten Institution zur Last legen, erbringen die Sprecher der breiten Masse gegenüber, die von sich aus niemals an einen derartigen Zusammenhang gedacht hätte, den Beweis für ihre eigene Klugheit; und zugleich weisen sie auf den Punkt, der anzugreifen ist, um das Übel aus der Welt zu schaffen. Nach solcher Vorbereitung wird die Zeit gekommen sein, um eine neue Regierungsform als das "unfehlbare Heilmittel aller Übelstände" anzupreisen. Denn Menschen, die "von Abneigung und Unzufriedenheit gegen die bestehenden Dinge" erfaßt sind, sind verblendet genug, "sich einzubilden, daß alle Dinge (deren Vorteile sie rühmen hören) ihnen helfen, am meisten aber jene, die sie am wenigsten erprobt haben." (Fs)
190a Wenn eine Bewegung wie die puritanische sich auf die Autorität einer literarischen Quelle - in diesem Fall der Bibel - stützt, so müssen deren Führer sodann "die Vorstellungen und Ideen der Menschen auf solche Weise" formen, daß die Anhänger automatisch Schriftstellen und biblische Ausdrücke mit ihrer eigenen Lehre in Verbindung bringen, wie schlecht begründet diese Verbindung auch sein mag, und ebenso automatisch blind sind gegenüber dem Inhalt der Schrift, der mit ihrer Doktrin unvereinbar ist. Darauf folgt der entscheidende Schritt zur Konsolidierung einer gnostischen Haltung, d. h. "das Überzeugen leichtgläubiger Menschen, die für angenehme Irrtümer dieser Art aufgeschlossen sind, daß sie kraft besonderer Erleuchtung durch den Heiligen Geist jene Dinge in der Schrift zu erkennen vermögen, die andere zwar lesen, aber nicht erkennen". Sie werden sich selbst als die Auserwählten fühlen; aus diesem Gefühl erwächst "eine schroffe Trennung zwischen ihnen und dem Rest der Welt"; und in der Folge wird die Menschheit sich in "die Brüder" und "die Weltlichen" scheiden. (Fs)
190b Wenn die gnostische Erfahrung konsolidiert ist, ist das soziale Rohmaterial für die existentielle Repräsentation durch einen Führer vorbereitet. Denn - so fährt Hooker fort - solche Menschen werden die Gesellschaft ihrer eigenen Leute derjenigen der übrigen Welt vorziehen, sie werden bereitwillig Ratschläge und Weisungen von den Meistern der Lehre annehmen, sie werden ihre eigenen Angelegenheiten zurückstellen, ein Übermaß an Zeit dem Dienst der Sache widmen und den Führern der Bewegung großzügige materielle Hilfe zukommen lassen. Eine besonders wichtige Funktion bei der Formierung solcher Gemeinschaften kommt den Frauen zu, weil sie schwach im Urteil und gefühlsmäßig zugänglicher sind, taktisch eine günstige Stellung zur Beeinflussung von Gatten, Kindern, Dienstboten und Freunden einnehmen, weil sie besser als Männer für eine Art Nachrichtenorgan zur Erkundung der Stimmung innerhalb ihres Kreises geeignet und freigebiger in finanziellen Hilfeleistungen sind. (Fs) (notabene)
191a Ist ein soziales Milieu dieser Art erst einmal organisiert, dann wird es schwer, wenn nicht unmöglich sein, es durch Überredung wieder aufzubrechen. "Öffnet irgendjemand mit einer gegenteiligen Meinung den Mund, um sie zu überzeugen, so werden sie ihre Ohren verschließen, sie werden seine Worte nicht erwägen, auf alles werden sie mit einer Wiederholung der Worte des Johannes antworten: 'Wir sind von Gott; wer Gott kennt, hört uns'. Im übrigen seid ihr von der Welt. Denn was ihr sprecht, ist der Welt hohler Prunk und leerer Wahn, und die Welt, der ihr angehört, hört auf euch." Sie sind Vernunftgründen unzugänglich und verfügen über wohleinstudierte Antworten. Gibt man ihnen zu verstehen, daß sie unfähig seien, über solche Dinge zu urteilen, so werden sie antworten: "Gott hat die Einfältigen auserwählt." Zeigt man ihnen überzeugend, daß sie Unsinn reden, so wird man die Antwort zu hören bekommen: "Auch der Apostel Christi wurde für wahnsinnig gehalten." Versucht man die vorsichtigste Mahnung zur Disziplin, so werden sie sich über die "Grausamkeit blutdürstiger Männer" auslassen und sich in die Rolle der "um der Wahrheit willen verfolgten Unschuld" versetzen. Kurz, ihre Haltung ist psychologisch unangreifbar und durch Vernunftgründe nicht zu erschüttern.1 (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 192a-199b Stichwort: Die gnostische Revolution 3; Revolte gegen die geistige Kultur; 2 Werkzeuge gnostischer Revolution: "koran" (eigener Kanon d. Schriftauslegung), Tabu; Hooker (über Calvin); Diderot und d'Alembert; Comte (Kalender); Rede- und Pressefreiheit; Averroes Kurzinhalt: Die theoretische Diskussion kann zwar durch verfassungsmäßige Garantien geschützt werden - praktisch hängt sie jedoch von der Bereitschaft ab, theoretische Argumente zu gebrauchen und anzuerkennen. Ist diese Bereitschaft nicht vorhanden, so kann sich ... Textausschnitt: 3 Die Revolte gegen die geistige Kultur
192a Hookers Beschreibung des Puritaners läßt sich so klar auch auf spätere Typen gnostischer Revolutionäre anwenden, daß es sich erübrigt, diesen Punkt herauszuarbeiten. Aus seiner Analyse geht jedoch ein Problem hervor, das Beachtung verdient. Das Bild des Puritaners ergab sich aus dem Zusammenstoß zwischen dem Gnostizismus auf der einen Seite und der klassischen und christlichen Tradition, die Hooker repräsentierte, auf der anderen. Es wurde von einem Denker gezeichnet, dessen Geist und Bildung bemerkenswert waren. Die Auseinandersetzung mußte sich also zwangsläufig der Frage zuwenden, die in neueren Darstellungen des Puritanismus sehr vernachlässigt wird, nämlich der Frage der intellektuellen Defekte der gnostischen Position, welche das rationale Argument und seine soziale Funktion des Überzeugens zerstören. Hooker erkannte; daß die puritanische Position sich keineswegs auf die Schrift gründete, sondern eine Sache, cause, völlig anderen Ursprungs war. Sie bediente sich der Schrift, wenn aus dem Zusammenhang gerissene Stellen ihre Sache förderten, während sie im übrigen die Schrift, mitsamt den Traditionen und Interpretationsvorschriften, die das Christentum in fünfzehn Jahrhunderten entwickelt hatte, schlechthin ignorierte. In der Anfangsphase der gnostischen Revolution war diese Tarnung nötig - denn weder konnte damals eine offensichtlich anti-christliche Bewegung in der Gesellschaft auf Erfolg hoffen, noch hatte der Gnostizismus sich schon so weit vom Christentum, entfernt, daß seine Träger sich der Richtung, in der sie sich bewegten, bewußt geworden wären. Dennoch war die Distanz vom Christentum bereits so groß, daß die Trennung von kompetenter Kritik als solche erkannt werden konnte. Um die Entlarvung zu verhindern, wurden zwei technische Mittel entwickelt, die bis zum heutigen Tage Hauptwerkzeuge der gnostischen Revolution geblieben sind. (Fs)
193a Um die biblische Tarnung wirksam zu machen, mußten die der Schrift entnommenen Belegstellen sowie ihre Auslegungen standardisiert werden. Eine wirkliche Freiheit der Schriflauslegung für jedermann, seinen Neigungen und seinem Bildungsgrad entsprechend, würde dieselben chaotischen Zustände ergeben haben, wie sie die ersten Jahre der Reformation charakterisierten; und wenn man eine Interpretation so viel gelten ließ wie die andere, gäbe es außerdem nichts mehr gegen die Tradition der Kirche einzuwenden, die sich ja schließlich auch auf eine Interpretation der Schrift gründete. Aus diesem Dilemma von Chaos und Tradition erwuchs das erste der technischen Mittel, nämlich die systematische Formulierung der neuen Lehre in biblischen Ausdrücken, wie Calvin sie in seinen Institutiones gab. Ein Werk dieser Art sollte dem doppelten Zweck dienen, einen Leitfaden zur richtigen Lektüre der Schrift und zugleich eine authentische Formulierung der Wahrheit zu bieten, die ein Zurückgreifen auf frühere Literatur überflüssig machen würde. Zur Bezeichnung dieser Gattung gnostischer Literatur bedarf es eines terminus technicus; da das Studium gnostischer Phänomene noch zu jung ist, um einen solchen Ausdruck entwickelt zu haben, werden wir uns vorläufig mit dem arabischen Begriff koran behelfen. Das Werk Calvins kann also als der erste bewußt geschaffene gnostische Koran bezeichnet werden. (Fs) (notabene)
194a Ein Mensch, der einen solchen Koran zu schreiben vermag, ein Mensch, der mit der intellektuellen Tradition der Menschheit brechen kann, weil er in dem Glauben lebt, daß mit ihm eine neue Wahrheit und eine neue Welt beginne, muß sich in einem doch eigenartigen pneumopathischen Zustand befinden. Hooker, der äußerst traditionsbewußt war, hatte einen feinen Spürsinn für diese Verirrungen des Geistes. In seiner von vorsichtiger Zurückhaltung diktierten Charakteristik Calvins beginnt er mit der nüchternen Feststellung: "Seine Vorbildung war das Studium des Zivilrechtes." Sodann fährt er mit einiger Bosheit fort: "Theologische Kenntnisse eignete er sich weniger durch Hören und Lesen an, als durch das Belehren anderer"; und er schloß mit dem niederschmetternden Urteil: "Denn wenngleich Tausende in seiner Schuld waren, da sie Kenntnisse dieser Art von ihm empfingen, so stand er doch nur in der Schuld Gottes, des Urhebers des heiligsten Quells, des Buches des Lebens, und in der Schuld der bewundernswerten Gewandtheit seines Verstandes."1 (Fs)
194b Das Werk Calvins2 war das erste, aber nicht das letzte seiner Art; und überdies hat die literarische Gattung ihre Vorgeschichte. In den Anfangsphasen des abendländischen gnostischen Sektierertums wurde die Stellung eines Koran von den Werken des Scotus Eriugena und des Dionysius Areopagita eingenommen; in der joachitisdhen Bewegung spielten die Werke des_ Joachim von Flora unter dem Titel Evangelium aeternum diese Rolle In der späteren westlichen Geschichte, zur Zeit der Säkularisierung, brachte jede Welle der Bewegung einen neuen Koran hervor. Im achtzehnten Jahrhundert erhoben Diderot und d'Alembert für die Encyclopédie francaise als der umfassenden Darbietung alles überlieferungswerten menschlichen Wissens den Anspruch auf eine dem Koran entsprechende Funktion. Nach ihrer Ansicht brauchte niemand auf ein Werk älteren Datums als die Encyclopedie zurückzugreifen, und aller zukünftigen Wissenschaft würde nur die Bedeutung von Ergänzungen zu der großen Wissenssammlung zukommen.3 Im neunzehnten Jahrhundert schuf Auguste Comte sein eigenes Werk als Koran für die positivistische Zukunft der Menschheit, ergänzte es aber großzügig durch sein Verzeichnis der hundert großen Bücher - eine Idee, die noch immer ihren Reiz hat. Schließlich sind in der kommunistischen Bewegung die Werke Karl Marx' zum Koran der Gläubigen geworden, ergänzt durch die patristische Literatur des Leninismus und Stalinismus. (Fs) (notabene)
195a Das zweite technische Mittel zur Abwendung unbequemer Kritik ist eine notwendige Ergänzung des ersten. Der gnostische Koran ist die Kodifizierung der Wahrheit und als solcher die geistige und intellektuelle Nahrung der Gläubigen. Aus unserer heutigen Erfahrung mit totalitären Bewegungen wissen wir, daß dieses Mittel ziemlich narrensicher ist, weil es mit der freiwilligen Selbstzensur der Anhänger rechnen kann. Wer aufrichtiger Anhänger einer Bewegung ist, wird Literatur nicht anrühren, die gegen seine kostbaren Glaubensinhalte argumentiert oder sie mißachtet. Dennoch wird die Zahl der Gläubigen vielleicht klein bleiben und die Ausdehnung sowie der politische Erfolg ernsthaft in Frage gestellt werden, wenn die Wahrheit der gnostischen Bewegung ständig wirksamer Kritik von verschiedenen Seiten ausgesetzt ist. Dieses Hemmnis kann verringert und praktisch ausgeschaltet werden, wenn über die Instrumente der Kritik ein Tabu ausgesprochen wird. Wer sich der verbotenen Instrumente bedient, wird gesellschaftlich boykottiert und unter Umständen auch politisch in Verruf geraten. Die Verbotserklärung über die Instrumente der Kritik wurde tatsächlich mit großer Wirkungskraft von den gnostischen Bewegungen immer da angewandt, wo sie ein gewisses Maß politischen Erfolges erzielten. Der Situation entsprechend mußte im Gefolge der Reformation dieses Tabu die klassische Philosophie und die scholastische Theologie treffen; und da der größere und gewiß der ausschlaggebende Teil der westlichen Geisteskultur unter diese beiden Kategorien fiel, wurde diese Kultur in genau dem Maß zerstört, in dem das Verbot an Wirksamkeit gewann. Tatsächlich war die Zerstörung so tiefgehend, daß die westliche Gesellschaft sich nie völlig von dem Schlag erholt hat. Eine Begebenheit aus dem Leben Hockers mag die Situation veranschaulichen. Der an Hooker gerichtete anonyme Christian Letter des Jahres 1599 enthielt die bittere Klage: "Obwohl wir in all Euren Büchern viele Wahrheiten und heikle Themen mutig behandelt finden, haben doch in all Euren Abhandlungen weitgehend Aristoteles, der Patriarch der Philosophen (mit einer Reihe anderer Schriftsteller) und die geistreichen Scholastiker irgendwie ihre Hand im Spiel. Hier wird der Verstand über die Schrift erhoben und angelesenes Wissen über das Predigen."4 Solche Klagen über die Verletzung des Tabus waren keine harmlosen Meinungsäußerungen. In der Affaire mit Travers im Jahre 1585 war Hooker ähnlichen Angriffen ausgesetzt gewesen. Diese schlossen mit den drohenden Worten, daß solche "Widersinnigkeiten [...] seit den Tagen der Königin Mary in unserem Lande an öffentlichen Orten nicht mehr gehört worden sind". In seiner Antwort an den Erzbischof von Canterbury mußte Hooker sehr zerknirscht seiner Hoffnung Ausdruck geben, daß er "nichts Ungesetzliches begangen habe", wenn er sich in seinen Predigten einige theoretische Unterscheidungen und Abschweifungen gestattete.5 (Fs)
197a Da der Gnostizismus von den theoretischen Irrtümern lebt, die oben besprochen wurden, ist das Tabu über die Theorie im klassischen Sinne die unvermeidliche Voraussetzung für seine soziale Ausbreitung und sein Überleben. Die Unvermeidlichkeit des Tabus hat schwerwiegende Folgen für die öffentliche Debatte in Gesellschaften, in denen gnostische Bewegungen hinreichend sozialen Einfluß errungen haben, um die Kommunikationsmittel und das Erziehungswesen zu überwachen. In dem Maß, in dem die Kontrolle wirksam wird, ist die theoretische Diskussion über Fragen, welche die Wahrheit der menschlichen Existenz berühren, in der Öffentlichkeit unmöglich, weil der Gebrauch theoretischer Argumente verboten ist. Wie sorgsam auch die verfassungsmäßigen Rede- und Pressefreiheiten gewahrt werden mögen, wie eingehend auch die theoretische Diskussion in kleinen Kreisen gepflegt wird und wie sehr sie auch in den praktisch privaten Veröffentlichungen einiger Gelehrter fortgeführt werden mag, in der politisch relevanten öffentlichen Sphäre wird die Diskussion zu dem Spiel mit geladenen Würfeln werden, zu dem sie in der westlichen Gesellschaft unserer Zeit geworden ist - ganz zu schweigen von dem Niveau der Diskussion in totalitären Reichen. Die theoretische Diskussion kann zwar durch verfassungsmäßige Garantien geschützt werden - praktisch hängt sie jedoch von der Bereitschaft ab, theoretische Argumente zu gebrauchen und anzuerkennen. Ist diese Bereitschaft nicht vorhanden, so kann sich eine Gesellschaft, wenn es um die Wahrheit der menschlichen Existenz geht, für ihr Funktionieren nicht auf Argument und Überzeugung verlassen; andere Mittel müssen in Erwägung gezogen werden. (Fs) (notabene)
198a Das war die Lage, in der sich Hooker befand. Eine Diskussion mit seinen puritanischen Gegnern war unmöglich, weil sie nicht bereit waren, auf Argumente einzugehen. Die Gedanken, die ihn in seiner Bedrängnis beschäftigten, lassen sich aus den Aufzeichnungen entnehmen, die er kurz vor seinem Tode auf einem Exemplar des vorhin zitierten Christian Letter notierte. Unter den Zitaten aus verschiedenen Autoritäten findet sich eine Stelle aus Averroes: (Fs)
"Das Argument (sermo) betreffend die Erkenntnis, die Gott in seiner Herrlichkeit von sich und der Welt hat, ist verboten. Noch strenger ist es untersagt, es schriftlich niederzulegen. Denn das Verständnis der Gemeinen faßt solche Tiefen nicht; und wenn sie diese Erkenntnis zum Gegenstand ihrer Diskussionen machen, so werden sie sich und die Gottheit zerstören. Daher ist ihnen die Diskussion dieser Erkenntnis untersagt. Es genügt für ihre Glückseligkeit, wenn sie das verstehen, was sie mit ihrem Verstand erfassen können. Das Gesetz (d. i. der Koran), dessen hauptsächliche Absicht es war, die Gemeinen zu unterrichten, hat sich einer verständlichen Mitteilung über diesen Gegenstand nicht etwa deshalb enthalten, weil er dem Menschen unzugänglich ist. Aber wir besitzen nicht die menschlichen Instrumente, welche Gott, in verständlicher Mitteilung über ihn, zu assimilieren vermöchten. Wie geschrieben steht: 'Seine Linke schuf die Erde, aber seine Rechte maß den Himmel.' Daher ist diese Frage dem Weisen vorbehalten, den Gott der Wahrheit geweiht hat."6 (Fs)
199a In diesen Sätzen drückte Averroes die Lösung aus, die das Problem der theoretischen Diskussion in der islamischen Kultur gefunden hatte. Der Kern der Wahrheit ist das Erfahren der Transzendenz im anthropologischen und soteriologischen Sinne. Seine theoretische Explikation ist nur unter den "Weisen" mitteilbar. Die "Gemeinen" haben in einem einfachen Fundamentalismus die Wahrheit so anzuerkennen, wie sie in der Schrift symbolisiert wird. Sie müssen sich des Theoretisierens enthalten, dessen sie erfahrungs- und verstandesmäßig nicht fähig sind, weil sie Gott nur zerstören würden. Hält man sich den "Gottesmord" vor Augen, der in der westlichen Gesellschaft begangen wurde, als die progressivistischen "Gemeinen" sich in die Auslegung der menschlichen Existenz in Gesellschaft und Geschichte einmischten, so muß man zugeben, daß Averroes nicht ganz unrecht hatte. (Fs) (notabene)
199b Die Struktur einer Zivilisationsgesellschaft steht jedoch nicht im Ermessen ihrer individuellen Mitglieder. Die islamische Lösung, welche die philosophische Diskussion auf esoterische Zirkel beschränkte, deren Existenz den breiten Massen nahezu unbekannt war, ließ sich nicht auf die Situation Hockers übertragen. Die westliche Geschichte war andere Wege gegangen, und die Diskussion der "Gemeinen" hatte schon weit um sich gegriffen. So mußte Hooker die zweite Möglichkeit erwägen, daß eine Diskussion, die nicht zu einer Einigung durch Argument führen konnte, durch die Autorität der Regierung zum Abschluß gebracht werden mußte. Seine puritanischen Gegner waren nicht Partner in einer theoretischen Diskussion. Sie waren gnostische Revolutionäre, die sich in einen Kampf um die existentielle Repräsentation eingelassen hatten, der - hätten sie gesiegt - den Sturz der englischen Sozialordnung, die Beherrschung der Universitäten durch Puritaner, die Ersetzung des Common Law durch das biblische Recht zur Folge gehabt hätte. Es war daher durchaus angezeigt, diese zweite Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Denn Hooker hatte verstanden, was heute so wenig verstanden wird; daß gnostische Propaganda politische Aktion und nicht etwa Wahrheitssuche im theoretischen Sinne ist. Mit seiner unbeirrbaren Empfindsamkeit diagnostizierte er sogar die nihilistische Komponente im Glauben der Puritaner, daß ihre Disziplin, da sie "der absolute Befehl des Allmächtigen Gottes ist, allgemein angenommen werden müsse, wenn auch die Welt dabei völlig auf den Kopf gestellt würde". Darin, schloß Hooker, "liegt die größte Gefahr von allem".7 In der politischen Kultur seiner Zeit war es noch außer Zweifel, daß die Regierung, und nicht die Untertanen, die Ordnung einer Gesellschaft repräsentierte. "Als ob nicht, wenn der öffentliche Konsensus des Ganzen etwas festgesetzt hat, jedermanns Urteil hiermit verglichen nur privat sei, auch wenn er zu einem öffentlichen Amt berufen sein mag. Friede und Ordnung ist daher in keiner Weise möglich, wenn die begründete Stimme der Gesamtgesellschaft oder des politischen Körpers nicht jeder Privatstimme ähnlicher Art in demselben Körper vorangeht."8 Konkret bedeutet das, daß die Regierung die Pflicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung, wie auch der von ihr repräsentierten Wahrheit hat. Wenn ein gnostischer Führer auftritt und erklärt, daß Gott oder der Fortschritt, die Rasse oder die Dialektik ihn zum existentiellen Herrscher auserkoren habe, so darf die Regierung nicht das in sie gesetzte Vertrauen verraten und abdanken. Und diese Regel duldet auch für Regierungen, die unter einer demokratischen Verfassung und einer bill of rights wirken, keine Ausnahme. Justice Jackson hat in seinem Dissent im Falle Terminiello diesen Punkt entscheidend formuliert: die Bill of Rights ist kein Selbstmordvertrag. Eine demokratische Regierung darf nicht zum Komplizen ihres eigenen Umsturzes werden, indem sie gnostischen Bewegungen gestattet, im Schutze einer trüben Interpretation der Grundrechte gefährlich anzuwachsen; und wenn infolge ihrer Nachlässigkeit eine solche Bewegung bis zu dem Gefahrenpunkt angewachsen ist, an dem sie durch die berüchtigte "Legalität" der Volkswahlen die existentielle Repräsentation an sich reißen könnte, dann darf eine demokratische Regierung sich nicht dem "Willen des Volkes" beugen, sondern muß die Gefahr mit Gewalt unterdrücken und sich notfalls über den Buchstaben der Verfassung hinwegsetzen, um ihren Geist zu retten. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 201a-210a Stichwort: Die gnostische Revolution 3; Engel der Offenbarung und die puritanische Armee; Offenbarung (1000 Jahre); A Glimpse of Sion's Glory; Organisation der neuen Welt (Queries), Kongregationalismus, Puritanismus; Wesen gnostischer Kriege Kurzinhalt: Die wirkliche Gefahr der heutigen Kriege liegt nicht in der technisch bedingten globalen Ausdehnung des Kriegsschauplatzes. Ihr eigentliches Verhängnis beruht vielmehr darauf, daß sie dem Wesen nach gnostische Kriege sind, d. h. Kriege zwischen Welten ... Textausschnitt: 4. Der Engel der Offenbarung und die puritanische Armee
201a So weit Hooker - doch muß nun die Gegenseite zu Wort kommen. Als erstes wird das eigentümliche Erlebnis der gnostischen Revolutionäre zu betrachten sein. Der üblichen Behandlung des Puritanismus als einer christlichen Bewegung muß entgegengehalten werden, daß im Neuen Testament keine Stelle zu finden ist, aus der sich eine Aufforderung zu revolutionärer politischer Aktion entnehmen ließe. Nicht einmal die Offenbarung des Johannes, die von eschatologischer Erwartung des Reiches glüht, das die Heiligen aus der Unterdrückung dieser Welt befreien soll, betraut eine puritanische Armee mit der Errichtung dieses Reiches. Der gnostische Revolutionär hingegen interpretiert das Kommen des Reiches als ein Ereignis, das seiner militärischen Mitwirkung bedarf. In Kapitel 20 der Offenbarung steigt ein Engel vom Himmel nieder und stürzt Satan auf 1000 Jahre in die abgrundtiefe Hölle. In der puritanischen Revolution maßen sich die Gnostiker diese Rolle des Engels an. Einige Stellen aus einem 1641 unter dem Titel A Glimpse of Sion's Glory erschienenen Pamphlet mögen diese eigentümliche Stimmung der gnostischen Revolution vermitteln. (Fs)
202a Der Verfasser der Schrift ist von eschatologischen Erwartungen beseelt.1 Der Fall Babylons steht unmittelbar bevor; das neue Jerusalem wird in Bälde kommen. "Babylons Fall ist Sions Aufstieg, Babylons Zerstörung ist Jerusalems Errettung." Zwar ist Gott die letzte Ursache des bevorstehenden glücklichen Umschwungs, aber auch die Menschen sollten sich durch Taten verdient machen, um das Kommen zu beschleunigen. "Gesegnet, wer die Brut Babylons gegen die Felsen schmettert. Gesegnet, wer zum Sturz Babylons beiträgt." Und wer sind die Menschen, die das Kommen Zions beschleunigen, indem sie die Brut Babylons gegen den Felsen schmettern? Es sind die "gemeinen Leute". "Gott will sich der gemeinen Leute bedienen bei seinem großen Werk der Verkündung des Reiches seines Sohnes." Die gemeinen Leute haben eine Vorrangstellung bei der Förderung des Reiches Christi. Denn die Stimme Christi "kommt zuerst aus der Menge, von dem gemeinen Volk. Sie vernehmen als erste die Stimme, ehe andere sie hören. Gott bedient sich der gemeinen Leute und der Menge, um zu verkünden, daß der Allmächtige Herr Gott herrscht." Christus kam nicht zu den oberen Ständen, sondern zu den Armen. Der Adel, die Weisen und die Reichen, und insbesondere die höhere Geistlichkeit sind vom Geist des Antichrist besessen. Daher wird die Stimme Christi "wahrscheinlich von denen ausgehen, die die Menge ausmachen, die so verächtlich sind", von "der Menge des gemeinen Volkes". In der Vergangenheit "war das Volk Gottes so wie heute noch ein verachtetes Volk". Die Heiligen werden Parteigänger, Schismatiker und Puritaner genannt, Aufrührer und Störer des Staates. Dieser Makel soll jedoch von ihnen genommen werden; und die Herrscher sollen zutiefst davon überzeugt werden, daß "die Einwohner Jerusalems, das sind die in einer Kirche versammelten Heiligen Gottes, die Männer des besten Commonwealth sind". Dieser überzeugung der Herrscher wird durch drastische Veränderungen in sozialer Hinsicht nachgeholfen werden. Der Verfasser zitiert Isaias 49,23: "Könige sollen deine Pfleger, und ihre Fürstinnen deine Säugammen sein; sie werden vor dir niederfallen zur Erde aufs Angesicht und deiner Füße Staub lecken." Die Heiligen hingegen werden in dem neuen Reich verherrlicht werden; sie "sollen alle in weißes Linnen gekleidet werden, wie es den Heiligen gebührt". (Fs)
203a Außer der Kleiderreform für die Heiligen und dem Staublecken für die Herrscher werden auch einschneidende Veränderungen im Gefüge der gesetzlichen und wirtschaftlichen Institutionen stattfinden. Was die Rechts-Institutionen betrifft, so wird die Schönheit und Herrlichkeit des Reiches höchstwahrscheinlich jeden gesetzlichen Zwang überflüssig machen. "Es ist fraglich, ob Anordnungen überhaupt nötig sein werden, zumindest in der heutigen Form [...] die Anwesenheit Christi wird jegliche Anordnung erübrigen." Was die wirtschaftlichen Verhältnisse betrifft, so wird Überfluß und Wohlstand herrschen. Christus hat die ganze Welt für die Heiligen erkauft, und sie wird ihnen geliefert werden. "Alles ist euer", sagt der Apostel, "die ganze Welt". Und mit großem Freimut gibt der Verfasser den Beweggrund seiner Überzeugung an: "Ihr seht, daß die Heiligen heute in dieser Welt nur wenig besitzen; jetzt sind sie die Ärmsten und Geringsten von allen. Aber dann [...] soll die Welt ihnen gehören. Nicht nur der Himmel soll euer Königreich sein, sondern auch diese Welt im Leib." (Fs)
204a Das alles hat nichts mit Christentum zu tun. Die biblische Tarnung kann nicht verschleiern, daß hier Gott in den Menschen hineingezogen wird. Der Heilige ist ein Gnostiker, der die Verklärung der Welt nicht der Gnade Gottes jenseits der Geschichte überlassen, sondern selbst hier und jetzt in der Geschichte das Werk Gottes tun will. Zwar weiß der Verfasser der Streitschrift, daß gewöhnliche menschliche Kräfte das Reich nicht errichten werden, sondern daß die menschlichen Anstrengungen nur Ergänzungen der Aktion Gottes sind. Der Allmächtige Gott wird den Heiligen zu Hilfe kommen und "wird diese Dinge tun durch jene Macht, durch welche er imstande ist, sich alle Dinge untertan zu machen. Berge werden eingeebnet werden, und er wird kommen, springend über Berge und Hindernisse. Nichts wird ihn hemmen." Aber in diesem kommenden "Gott" erkennen wir die Dialektik der Geschichte, die über These und Antithese springt, um mit ihren Gläubigen in der Ebene der kommunistischen Synthese zu landen. (Fs)
205a Der zweite Punkt, der betrachtet werden muß, ist das Programm der Revolutionäre für die Organisation der Gesellschaft, nachdem die alte Welt durch ihre Anstrengungen neu geschaffen sein wird. Im allgemeinen sprechen sich die Gnostiker über diesen Punkt nicht sehr deutlich aus. Man geht von der Voraussetzung aus, daß die neue, verklärte Welt die Übel der alten Welt nicht kennt. Daher besteht deren Schilderung gewöhnlich in der Negierung der gegenwärtigen Mißstände. Der "Blick" auf Zions Herrlichkeit ist eine Kategorie der Gnosis, nicht bloß der Titel einer zufälligen Streitschrift. Der "Blick" zeigt exemplarisch einen Zustand des Wohlstandes und Überflusses, eines Minimums von Arbeit und der Abschaffung staatlichen Zwanges; als Zeitvertreib von populärem Reiz werden noch einige Mißhandlungen von Mitgliedern der früheren Oberschicht eingestreut. Über solche "Blicke" kommt die Schilderung gewöhnlich nicht weit hinaus; die besseren Denker unter den gnostischen Revolutionären, wie Marx und Engels, rechtfertigen ihre Zurückhaltung mit der Begründung, man könne über die Institutionen einer verklärten Gesellschaft nicht viel aussagen, weil wir keine Erfahrungen von sozialen Verhältnissen unter der Bedingung einer verklärten menschlichen Natur besitzen. Glücklicherweise ist uns jedoch ein puritanisches Dokument, das sich mit der Organisation der neuen Welt befaßt, in Gestalt der Queries erhalten geblieben, die eine Gruppe von Fifth Monarchy Sektierern an Lord Fairfax ridhtete.2 (Fs)
205a Zur Zeit der Queries, im Jahre 1649, war die Revolution schon voll im Gange. Sie hatte ein Stadium erreicht, das dem der Russischen Revolution entsprach, als Lenin über die "nächsten Aufgaben" schrieb. In ähnlicher Weise formuliert eine der Queries: "Was ist also das gegenwärtige Interesse der Heiligen und des Gottesvolkes?" Die Antwort enthält den Vorschlag, die Heiligen sollten sich in Kirchengesellschaften und Korporationen nach Art des Kongregationalismus zusammentun; wenn genug solcher Kongregationen entstanden seien, sollten diese sich zu Generalversammlungen oder Kirchenparlamenten nach Art der Presbyterianer vereinigen; "und dann wird Gott ihnen Autorität und Herrschaft über die Nationen und Königreiche der Welt geben". Da es sich um ein geistiges Königreich handelt, kann es nicht "durch menschliche Macht und Autorität" errichtet werden. Der Geist Gottes selbst wird sein Volk rufen und versammeln "und es in mehrere kleine Familien, Kirchen und Korporationen formen". Und erst wenn diese geistigen Keimzellen sich genügend vermehrt haben, sollen sie "die Welt beherrschen" durch Versammlungen solcher Beauftragter Christi und Repräsentanten der Kirchen, wie diese sie erwählen und delegieren werden. Das klingt alles verhältnismäßig harmlos und friedlich. Das Schlimmste, was geschehen könnte, wäre eine gewisse Ernüchterung, falls der Geist sich mit der Durchdringung der neuen Welt Zeit ließe. (Fs)
206a Tatsächlich ist die Sache aber nicht ganz so harmlos. Die Heiligen bringen ihre Queries vor den Lord General of the Army und das General Council of War. Unter diesen Umständen schwingt in der Formel, daß "Gott den Heiligen Autorität und Herrschaft über die Nationen und Königreiche der Welt" geben wird, ein beunruhigender Ton mit. Man möchte fragen: wer sind diese Nationen und Königreiche, über welche die Heiligen herrschen werden? Sind es die Nationen und Königreiche der alten Welt? Aber in diesem Falle wären wir ja noch gar nicht in der neuen Welt. Und wenn wir aber in der neuen Welt sind - über wen könnten die Heiligen dann herrschen außer über sich selbst? Oder werden einige ungläubige Nationen der alten Welt übriggelassen, damit die Heiligen sie nach Herzenslust unterdrücken und auf diese Weise ihrer neuen Herrscherposition eine besondere Würze verleihen können? Kurz: die Gestalt der Dinge, die da kommen, sieht ganz so aus wie das, was spätere Gnostiker die Diktatur des Proletariats nennen. (Fs)
207a Der Verdacht wird durch weitere Einzelheiten bestätigt. Die Queries unterscheiden zwischen "Beamten Christi" und "Christlichen Amtspersonen". Die Herrschaft des Geistes wird alle weltliche Herrschaft abschaffen einschließlich jener der Christlichen Amtspersonen Englands. Die Unterscheidung ist der beste Beweis dafür, daß in Revolutionen der puritanischen Art tatsächlich zwei Wahrheitstypen miteinander um die existentielle Repräsentation ringen. Die Queries gestehen beiden Wahrheitstypen den Namen Christentum zu, doch sind diese beiden Typen so grundverschieden, daß sie respektive die Welten der Dunkelheit und des Lichts repräsentieren. Der puritanische Sieg mag die Struktur der Welt, einschließlich der parlamentarischen Institutionen Englands, unangetastet lassen, aber der innewohnende Geist wird sich radikal gewandelt haben. Und diese radikale Wandlung wird sich politisch im radikalen Wechsel der Führungsschicht ausdrücken. Überzeugend mahnen die Verfasser der Queries: "Bedenket, ob es nicht eine weit größere Ehre für Parlamente, Behörden etc. ist, als Beamte Christi und Repräsentanten der Kirchen zu herrschen, denn als Beamte eines weltlichen Königreichs und Repräsentanten eines lediglich natürlichen und irdischen Volkes?" Es genügt also nicht, ein christlicher Repräsentant des englischen Volkes im Parlament zu sein, denn das Volk als solches gehört der natürlichen Ordnung der alten Welt an. Das Parlamentsmitglied muß vielmehr die Heiligen und die Gemeinschaften des neuen Königtums repräsentieren, die vom Geist selbst geleitet sind. Daher muß die alte politische Führungsschicht ausgeschaltet werden, denn "welches Recht und welchen Anspruch haben lediglich natürliche und weltliche Menschen auf Herrschaft und Regierung, Menschen, denen ein gelheiligter Anspruch auch nur auf die geringsten äußeren Segnungen fehlt?" Oder noch deutlicher: "Wie kann das Königreich ein Reich der Heiligen sein, wenn die Gottlosen Wähler sind und in die Regierung gewählt werden?" Diese Einstellung kennt keinen Kompromiß. Wenn wir neue Himmel und eine neue Erde erwarten, "wie kann es da zulässig sein, die alte weltliche Regierung als neu aufzuputzen?" Das einzig richtige Vorgehen ist jenes, das "die endgültige Unterdrückung der Feinde der Gotthörigen" bewirkt. (Fs)
208a Eine ausführliche Interpretation ist nicht vonnöten. Ein paar sprachliche Modernisierungen werden genügen, um die Bedeutung dieser Vorschläge herauszustellen. Die historische Ordnung des Volkes wird durch das Aufkommen einer Bewegung, die nicht "von dieser Welt" ist, zerstört. Soziale Mißstände können nicht durch Gesetzgebung reformiert werden. Mängel des Regierungsmechanismus können nicht durch Verfassungsänderungen behoben werden. Meinungsverschiedenheiten können nicht durch Kompromisse beseitigt werden. "Diese Welt" ist Finsternis, die dem neuen Licht weichen muß. Daher sind Koalitionsregierungen unmöglich. Die politischen Figuren der alten Ordnung können in der neuen Welt nicht wieder gewählt werden; diejenigen, die nicht Mitglieder der Bewegung sind, werden in der neuen Ordnung kein Wahlrecht haben. Alle diese Veränderungen werden durch den "Geist" oder, wie die Gnostiker heute sagen würden, durch die Dialektik der Geschichte erfolgen. Aber bei den politischen Vorgängen werden die heiligen Genossen ihre Hand im Spiel haben, und diese Hand wird wohlbewaffnet sein. Wenn die Führer der alten Ordnung nicht freundlich lächelnd den Rückzug antreten, werden sie als Feinde der Gotthörigen beseitigt oder, nach heutigem Sprachgebrauch, liquidiert werden. In den Queries hat die Verwirklichung der neuen Welt jenes Stadium erreicht, in dem in der russischen Revolution Lenin seine Betrachtungen unter dem koketten Titel veröffentlichte: "Werden die Bolschewiken die Staatsmacht behalten?" Und ob sie es werden! Und niemand wird sie mit ihnen teilen. (Fs)
209a Das neue Königreich wird sowohl in seiner Substanz wie auch in seinem Herrschaftsanspruch universal sein. Es wird sich "über alle Personen und Dinge der Welt" ausdehnen. Die Revolution der Gnostiker hat das Monopol der existentiellen Repräsentation zum Ziel. Die Heiligen sehen voraus, daß der Universalcharakter ihres Anspruchs von der Welt der Finsternis nicht ohne Kampf anerkannt, sondern vielmehr eine ebenso universale Allianz der Welt gegen sie hervorrufen wird. Die Heiligen müssen sich daher zusammenschließen "gegen die Mächte des Antichrist in dieser Welt". Und die Mächte des Antichrist werden sich wiederum "weltweit gegen die Heiligen zusammenschließen". Die beiden Welten, die in zeitlicher Folge einander ablösen sollen, werden demnach in der historischen Wirklichkeit zu zwei universalen bewaffneten Lagern, die einen Kampf auf Leben und Tod miteinander ausfechten. Aus der gnostischen Mystik der beiden Welten entsteht das Schema der universalen Kriege, das im zwanzigsten Jahrhundert herrschend wurde. Der Universalismus des gnostischen Revolutionärs bewirkt die universale Allianz gegen ihn. Die wirkliche Gefahr der heutigen Kriege liegt nicht in der technisch bedingten globalen Ausdehnung des Kriegsschauplatzes. Ihr eigentliches Verhängnis beruht vielmehr darauf, daß sie dem Wesen nach gnostische Kriege sind, d. h. Kriege zwischen Welten, die sich gegenseitig vernichten wollen. (Fs) (notabene)
210a Die Auswahl der zur Veranschaulichung von Wesen und Richtung der gnostischen Revolution dienenden Materialien mag vielleicht unfair erscheinen. Ein Kritiker könnte einwenden, daß der Puritanismus als Ganzes nicht mit seinem linken Flügel gleichgesetzt werden dürfe. Eine solche Kritik wäre gerechtfertigt, wenn es die Absicht gewesen wäre, eine historische Darstellung des Puritanismus zu geben. Die vorliegende Analyse befaßt sich jedoch mit der Struktur gnostischer Erfahrungen und Ideen, einer Struktur, die sich in der Tat auch dort findet, wo die Folgen zur Ehrbarkeit der Institutionen Calvins oder des presbyterianischen Covenantismus abgeschwächt sind. Die große Spannweite von rechts nach links innerhalb einer jeden Welle der Bewegung, der Kampf zwischen den beiden Flügeln, den die heftigen Ausbrüche in den einzelnen nationalen Räumen hervorriefen, wie auch die vorübergehenden Stabilisierungen einer lebensfähigen Ordnung sind jedoch Phänomene innerhalb der gnostischen Revolution. Diese Phänomene, die zur Dynamik der Revolution gehören, berühren nicht deren Wesen. Und das Wesen läßt sich tatsächlich am besten an seinen radikalen Erscheinungsformen studieren, dort, wo es nicht durch Kompromisse, wie sie um des politischen Erfolges willen eingegangen werden, verwischt ist. Außerdem ist dieses Verfahren nicht eine Sache der Konvenienz, sondern eine methodologische Notwendigkeit. Denn die gnostische Revolution verfolgt das Ziel, die Natur des Menschen zu ändern und eine verklärte Gesellschaft zu errichten; und da dieses Programm in der geschichtlichen Realität nicht durchführbar ist, müssen die gnostischen Revolutionäre unvermeidlich ihren teilweisen oder totalen Erfolg im existentiellen Kampf durch einen Kompromiß mit der Wirklichkeit institutionalisieren. Was immer dieser Kompromiß nun ergeben mag, es wird keinesfalls die von der gnostischen Symbolik erträumte verklärte Welt sein. Würde also der Theoretiker die gnostische Revolution auf der Ebene ihrer zeitweiligen Stabilisierungsperioden, ihrer politischen Taktik oder der gemäßigten Programme, die bereits den Kompromiß ins Auge fassen, studieren, so könnte das Wesen des Gnostizismus als die treibende Kraft der westlichen Revolutionen nie in den Blick kommen. Der Kompromiß würde für das Wesentliche gehalten werden, und das Wesentliche in der Vielgestalt gnostischer Phänomene würde verschwinden. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 211a-216a Stichwort: Die gnostische Revolution 5a; Theorie der Repräsentation bei Hobbes (Leviathan); Kampf um d. existentielle Repräsentation; Christentum - Naturrecht; Fehlen für ein Verständnis d. Wahrheit d. Seele Kurzinhalt: Wie kann die christliche theologia supranaturalis als theologia civilis eingesetzt werden? Durch diesen sonderbaren Versuch brachte Hobbes ein Problem ans Licht, das bei unserer Analyse der genera theologiae und deren Konflikt im Römischen Imperium ... Textausschnitt: 5. Die Theorie der Repräsentation bei Hobbes
211a Die englische Revolution ließ deutlich werden, daß der Kampf gnostischer Revolutionäre um die existentielle Repräsentation die öffentliche Ordnung einer großen Nation zu zerstören vermag - falls ein derartiger Beweis nach den acht Bürgerkriegen in Frankreich und dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland noch nötig war. Das Problem der öffentlichen Ordnung verlangte dringend nach theoretischer Neubehandlung, und diese Aufgabe fand in Thomas Hobbes1 einen Denker, der ihr gewachsen war. Die neue Repräsentationstheorie, die Hobbes in seinem Leviathan entwickelte, erkaufte zwar ihre eindrucksvolle Geschlossenheit um den Preis einer Simplifizierung, die selbst in die Klasse gnostischer Missetaten gehört. Wenn aber ein scharfer und unnachgiebiger Denker vereinfacht, wird er dennoch eine neue Klarheit in die Frage bringen. Die Vereinfachung kann berichtigt werden, während die neue Klarheit einen dauernden Gewinn darstellt. (Fs)
212a Die Hobbes'sche Repräsentationstheorie trifft ins Herz des Übels. Auf der einen Seite findet sich eine politische Gesellschaft, die ihre etablierte Ordnung in historischer Existenz aufrechterhalten will; auf der anderen stehen innerhalb der Gesellschaft die einzelnen Individuen, welche die öffentliche Ordnung im Namen der neuen Wahrheit notfalls mit Gewalt ändern wollen. Hobbes löste diesen Konflikt, indem er entschied, daß es keine öffentliche Wahrheit außer dem Gesetz von Friede und Eintracht in einer Gesellschaft gäbe. Eine Meinung oder Lehre, die Zwietracht fördert, war dadurch als unwahr erwiesen.2Um seine Entscheidung zu stützen, verwandte Hobbes das folgende Argunment: (Fs)
(1) Im Bewußtsein des Menschen gibt es einen Befehl der Vernunft, der ihn zu Friede und Gehorsam im Rahmen einer bürgerlichen Ordnung geneigt macht. Die Vernunft läßt ihn erstens erkennen, daß er sein natürliches Leben, das sein weltliches Glück erstrebt, nur dann zu Ende leben kann, wenn er mit seinen Mitmenschen in Frieden lebt. Zweitens läßt sie ihn erkennen, daß er nur dann in Frieden und ohne Mißtrauen gegen die Absichten der anderen leben kann, wenn jedermanns Leidenschaften durch die stärkere Gewalt eines Zivilregimes zu gegenseitiger Duldung gebändigt werden.3 (Fs)
(2) Dieser Befehl der Vernunft wäre jedoch nichts weiter als ein Lehrsatz ohne verpflichtende Kraft, wenn er nicht als das Hören des Gotteswortes verstanden würde, als Seinen Befehl, der sich in der Seele des Menschen kundtut. Nur sofern die Stimme der Vernunft als göttlicher Befehl aufgefaßt wird, ist er Naturrecht.4 (Fs)
(3) Dieses Naturrecht schließlich ist nicht ein Recht, das tatsächlich die menschliche Existenz beherrscht, noch ehe die Menschen, in denen es als eine Friedensneigung lebt, seine Vorschrift befolgt und sich zu einer zivilen Gesellschaft unter einem öffentlichen Repräsentanten, dem Souverän, zusammengeschlossen haben. Erst nachdem sie übereingekommen sind, sich einem gemeinsamen Souverän zu unterstellen, ist das Naturrecht tatsächlich zum Recht einer Gesellschaft in historischer Existenz geworden.5 "Das Naturrecht und das Zivilrecht schließen also einander ein und sind einander gleich in der Ausdehnung."6 (Fs)
213a Die existentielle und transzendente Repräsentation treffen bei der Artikulierung einer Gesellschaft zu geordneter Existenz zusammen. Durch ihren Zusammenschluß zu einer politischen Gesellschaft unter einem Repräsentanten verwirklichen die sich verbündenden Glieder die göttliche Seinsordnung in der menschlichen Sphäre.7 (Fs)
214a In dieses etwas leere Gefäß einer politischen Gesellschaft gießt nun Hobbes den westlich-christlichen Zivilisationsgehalt, indem er ihn durch den Engpaß der Sanktion, die der souveräne Repräsentant erteilt, fließen läßt. Die Gesellschaft kann wohl ein christliches Commenwealth sein, weil das in der Schrift geoffenbarte Wort Gottes sich nicht in Widerspruch mit dem Naturrecht befindet.8 Dennoch werden der zu rezipierende Schriftkanon9, die ihm aufzuerlegende dogmatische und rituelle Interpretation10, wie auch die Organisationsform der geistlichen Hierarchie11 ihre Autorität nicht aus der Offenbarung beziehen, sondern daraus, daß der Souverän sie mit Gesetzeskraft ausstattet. Diskussionsfreiheit betreffend die Wahrheit der menschlichen Existenz in der Gesellschaft wird es nicht geben. Öffentliche Außerung von Meinungen und Doktrinen unterliegt der Regelung und ständigen Kontrolle durch die Regierung. "Denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen. In der rechten Lenkung ihrer Meinungen besteht also die rechte Lenkung der menschlichen Handlungen im Hinblick auf ihren Frieden und ihre Eintracht." Darum hat der Souverän darüber zu entscheiden, wer öffentlich zu einer Zuhörerschaft sprechen darf, über welches Thema und mit welcher Tendenz. Außerdem wird eine präventive Buchzensur für nötig erachtet.12 Im übrigen besteht Freiheit für die friedlichen Geschäfte der Bürger, denn dies ist der Zweck, zu dem sich die Menschen in einer zivilen Gesellschaft zusammenschließen.13
215a Bei der Beurteilung der Hobbes'schen Repräsentationstheorie muß man die Fallstricke des politischen Jargons unserer Zeit vermeiden. Nichts wird gewonnen, wenn man die Theorie auf die Waagschalen von Freiheit und Autorität legt, und nichts durch eine Klassifizierung Hobbes' als Absolutisten oder Faschisten. Eine kritische Interpretation muß sich an die von Hobbes selbst in seinem Werk aufgezeigten theoretischen Absichten halten. Diese Absichten lassen sich aus dem folgenden Passus entnehmen: (Fs)
Denn es ist.offensichtlich auch für den Geringstbefähigten, daß die Handlungen der Menschen aus ihren Meinungen erwachsen, die sie über das Gute oder Böse haben, das sich aus diesen Handlungen für sie selbst ergibt. Infolgedessen werden Menschen, sobald sie von der Meinung besessen sind, ihr Gehorsam gegenüber der souveränen Macht sei ihnen schädlicher als ihr Ungehorsam, die Gesetze mißachten, dadurch das Gemeinwesen zugrunderichten und Verwirrung und Bürgerkrieg auslösen, zu deren Verhütung das Zivilregime ja doch eingesetzt wurde. Aus diesem Grunde wurde in allen heidnischen Gemeinwesen der Souverän als "Hirte des Volkes" bezeichnet, weil es keinen Untertanen gab, der berechtigt gewesen wäre, das Volk zu unterweisen, es sei denn mit der Erlaubnis und Ermächtigung des Souveräns. (Fs)
215b Und es kann nicht die Absicht des Christentums sein, so fährt Hobbes fort, die Souveräne "der zur Bewahrung des Friedens unter ihren Untertanen und zur Verteidigung gegen auswärtige Feinde erforderlichen Macht" zu berauben.14 (Fs)
216a Aus diesem Passus wird Hobbes' Absicht erkennbar, das Christentum (das als substantiell identisch mit dem Naturrecht verstanden wird) als eine englische theologia civilis im varronischen Sinne zu etablieren. Im ersten Moment scheint eine solche Absicht in sich selbst widerspruchsvoll zu sein. Wie kann die christliche theologia supranaturalis als theologia civilis eingesetzt werden? Durch diesen sonderbaren Versuch brachte Hobbes ein Problem ans Licht, das bei unserer Analyse der genera theologiae und deren Konflikt im Römischen Imperium in der Schwebe geblieben war. Bei Gelegenheit dieser Analyse machten wir darauf aufmerksam, daß Ambrosius und Augustinus merkwürdig verständnislos dafür waren, daß ein Christ auf dem Thron unter ihrer Führung die Heiden genau so behandeln würde, wie heidnische Kaiser vormals die Christen behandelt hatten. Sie faßten das Christentum als eine dem Polytheismus überlegene Wahrheit der Seele auf, erkannten aber nicht, daß die römischen Götter die Wahrheit der römischen Gesellschaft symbolisierten, daß mit dem Kult eine Kultur zerstört wurde, wie Celsus dies begriffen hatte, daß ein existentieller Sieg des Christentums nicht eine Bekehrung von Einzelpersonen zu einer höheren Wahrheit war, sondern daß damit einer Gesellschaft eine neue theologia civilis gewaltsam auferlegt wurde. Im Falle Hobbes' ist die Situation umgekehrt. Wenn er das Christentum unter dem Aspekt seiner substantiellen Identität mit dem Diktat der Vernunft behandelt und die Autorität des Christentums aus der Sanktion der Regierung ableitet, so zeigt er damit, daß ihm genau so merkwürdig das Verständnis für den Sinn des Christentums als Wahrheit der Seele abgeht, wie den Vätern das Verständnis für den Sinn der römischen Götter als einer Wahrheit der Gesellschaft fehlte. Um zur Wurzel dieser Merkwürdigkeiten vorzudringen, wird es nötig sein, das epochale Ereignis des Öffnens der Seele nochmals zu Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 238a-244a Stichwort: Ende d. Modernität 3; Liberalismus und Kommunismus; Lenin (Himmel auf Erden); Varianten d. Immanentisierung: teleologische, axiologische, aktivistische; 2. Weltkrieg (danach: gnostische Politik); Welle: rechts-links Kurzinhalt: Die Dynamik der Gnostik bewegt sich auf zwei Linien: (1) In der Dimension der historischen Tiefe bewegt sich der Gnostizismus von der unvollständigen Immanentisierung des Hohen Mittelalters zur radikalen Immanentisierung der Gegenwart; (2) ... Textausschnitt: 3 Liberalismus und Kommunismus
238a Die Darstellung der Gefahren des Gnostizismus als Ziviltheologie der westlichen Gesellschaft hat wahrscheinlich einige Bedenken erweckt. Denn die Analyse war voll zutreffend nur für die progressiven und idealistischen Varianten des Gnostizismus, wie sie in den westlichen Demokratien vorherrschen; sie läßt sich nicht ebensogut auf die aktivistischen Varianten anwenden, wie sie in den totalitären Reichen vorherrschen. Und wieviel Verantwortung für die gegenwärtige Situation man auch immer den Progressivisten und Idealisten zur Last legen mag, so sind doch die Aktivisten die furchtbarste und unmittelbare Gefahrenquelle. Der enge Zusammenhang zwischen den beiden Gefahren erfordert darum eine Klärung - umsomehr als die Repräsentanten der zwei gnostischen Spielarten Gegner im Kampf auf der Weltbühne sind. Der Analyse dieser weiteren Fragen kann mit Vorteil die Erklärung eines berühmten liberalen Intellektuellen zum Problem des Kommunismus als Vorwort dienen: (Fs)
Lenin hat sicherlich recht, wenn ihm als Endziel vorschwebte, seinen Himmel auf Erden zu errichten und die Grundsätze seines Glaubens der Textur einer universalen Menschheit einzugraben. Ebenso hatte er recht, wenn er erkannte, daß das Vorspiel zum Frieden der Krieg ist und daß es müßig ist anzunehmen, die Tradition ungezählter Generationen ließe sich sozusagen über Nacht umändern.1 (Fs)
Die Macht jeder übernatürlichen Religion, eine solche Tradition aufzubauen, ist geschwunden; das Depositum der wissenschaftlichen Forschung seit Descartes ist ihrer Autorität zum Verhängnis geworden. Es ist daher schwer zu ersehen, auf welcher anderen Grundlage die zivilisierte Tradition wieder aufgebaut werden könnte als auf jener, auf welche sich die Idee der russischen Revolution gründet. Sie entspricht, abgesehen von der übernatürlichen Basis, ziemlich genau dem geistigen Klima, in dem das Christentum zur offiziellen Religion des Westens wurde.2 (Fs)
Es ist sogar in gewissem Sinne richtig, wenn behauptet wird, das russische Prinzip gehe tiefer als das christliche, weil es die Erlösung für die Massen durch Erfüllung im Diesseits sucht und dadurch die wirkliche Welt, die wir kennen, neu ordnet.3 (Fs)
240a Wenige Stellen könnten den Bankrott des liberalen Intellektuellen unserer Zeit deutlicher aufzeigen als diese. Philosophie und Christentum liegen außerhalb seines Erfahrungsbereiches. Die Wissenschaft wird ein Werkzeug zur Beherrschung der Natur; und im übrigen macht sie den Menschen so blasiert, daß er nicht an Gott glaubt. Der Himmel wird auf Erden errichtet werden. Die Selbsterlösung, die Tragödie des Gnostizismus, die Nietzsche durchlebte, bis sie seine Seele zerbrach, ist ein Lebensinhalt, den jeder Mensch mit dem Gefühl gewinnt, er leiste seinen Beitrag zur Gesellschaft gemäß seinem Können, wofür er als Gegenleistung seinen Wochenlohn erhält. Es gibt keine Probleme menschlicher Existenz in der Gesellschaft außer der immanenten Befriedigung der Massen. Die politische Analyse zeigt, wer der Gewinner im Machtkampf sein wird, so daß der Intellektuelle sich rechtzeitig auf die Position eines Hoftheologen des kommunistischen Reiches vorbereiten kann. Und wer schlau genug ist, wird ihm in seinem kundigen Wellenreiten auf der Woge der Zukunft folgen. Der Fall ist heute zu gut bekannt, um eines weiteren Kommentars zu bedürfen. Es ist der Fall der kleinen Parakleten, in denen sich der Geist regt; derer, die den Drang verspüren, eine öffentliche Rolle zu spielen und als Lehrer der Menschheit aufzutreten; der Menschen, die in gutem Glauben ihre Überzeugung an die Stelle kritischer Erkenntnis setzen und mit gutem Gewissen ihre Meinung über Probleme äußern, die ihr Fassungsvermögen übersteigen. Man sollte auch nicht die innere Folgerichtigkeit und Ehrlichkeit dieses Übergangs vom Liberalismus zum Kommunismus bestreiten; denn wenn der Liberalismus als die immanente Erlösung von Mensch und Gesellschaft verstanden wird, ist der Kommunismus zweifellos sein radikalster Ausdruck; es handelt sich um das Ende einer Entwicklung, die schon durch John Stuart Mills Glauben an den Advent des Kommunismus für die Menschheit vorweggenommen wurde. (Fs)
241a In mehr technischer Sprache kann man das Problem folgendermaßen formulieren: Die drei zur Wahl stehenden - Varianten der Immanentisierung - die teleologische, die axiologische und die aktivistische - sind nicht einfach drei koordinierte Typen, sondern sie stehen in einer dynamischen Relation zueinander. In jeder Welle der gnostischen Bewegung werden die fortschrittlichen und utopistischen Varianten die Tendenz zeigen, einen politischen rechten Flügel zu bilden, der die letzte Vollendung einer allmählichen Evolution überläßt und sich mit einer Spannung zwischen dem Erreichten und dem Ideal zufriedengibt, während die aktivistische Variante dahin tendiert, einen politischen linken Flügel zu bilden, der die Gewalt zur Verwirklichung des vollkommenen Reiches einsetzt. Die Streuung der Gläubigen von der Rechten zur Linken wird zum Teil durch persönliche Faktoren wie Begeisterungsfähigkeit, Temperament und Ausdauer bestimmt; zum anderen, und vielleicht bedeutsameren Teile, ergibt sie sich jedoch aus der Beziehung der Gläubigen zur zivilisatorischen Umwelt, in der sich die gnostische Revolution vollzieht. Denn man darf nicht vergessen, daß die westliche Gesellschaft nicht durch und durch modern ist, sondern daß die Modernität etwas in ihr Gewachsenes, ihrer klassischen und christlichen Tradition Entgegengesetztes ist. Wäre in der westlichen Gesellschaft nichts anderes vorhanden als der Gnostizismus, dann wäre der Schritt nach links nicht aufzuhalten, weil er in der Logik der Immanentisierung liegt, ja er wäre schon längst vollzogen. Tatsächlich aber haben sich die großen westlichen Revolutionen der Vergangenheit nach ihrem jeweiligen Linksausschlag stets zu einem Zustand öffentlicher Ordnung beruhigt, der das Gleichgewicht der sozialen Kräfte, mit ihren wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Traditionen, ausdrückte. Die Befürchtung oder Hoffnung- je nach der persönlichen Einstellung -, auf die "partiellen" Revolutionen der Vergangenheit würde die "radikale" Revolution und die Errichtung des Endreiches folgen, beruht auf der Annahme, daß die Traditionen der westlichen Gesellschaft nunmehr ausreichend zerstört und die berühmten Massen zum letzten Sturm bereit seien.4 (Fs)
242a Die Dynamik der Gnostik bewegt sich auf zwei Linien: (1) In der Dimension der historischen Tiefe bewegt sich der Gnostizismus von der unvollständigen Immanentisierung des Hohen Mittelalters zur radikalen Immanentisierung der Gegenwart; (2) mit jeder Welle und jedem revolutionären Ausbruch bewegt er sich in der Amplitude von rechts und links. Die These jedoch, daß die beiden Linien der Dynamik auf Grund ihrer inneren Logik in unserer Zeit zusammentreffen müßten, daß die westliche Gesellschaft nunmehr reif sei, dem Kommunismus zu verfallen, daß der Lauf der westlichen Geschichte von nichts anderem als der Logik ihrer Modernität bestimmt sei - das ist eine impertinente These der gnostischen Propaganda und hat nichts mit einem kritischen Urteil über Politik zu tun. Dieser These müssen eine Anzahl von Tatsachen entgegengehalten werden, die heute verdrängt werden, weil die öffentliche Diskussion von den liberalen Klischees beherrscht wird. Erstens hat die kommunistische Bewegung in der westlichen Gesellschaft selbst, wenn sie ihren Appell an die Massen ohne die Unterstützung der Sowjetregierung zu richten hatte, so gut wie gar nichts erreicht. Die einzige gnostische aktivistische Bewegung, die einen beachtlichen Erfolg erzielte, war die nationalsozialistische Bewegung auf einer begrenzten nationalen Basis; und der selbstmörderische Charakter eines solchen aktivistischen Erfolges wird durch die grauenhafte innere Korrruption des Regimes, solange es bestand, sowie durch die Trümmer der deutschen Städte und die Teilung des Reiches ausreichend bezeugt. Zweitens ist die Notlage des Westens angesichts der sowjetischen Gefahr, sofern sie auf die Schaffung des oben beschriebenen Machtvakuums zurückgeht, nicht von den Kommunisten verursacht worden. Das Machtvakuum wurde aus freien Stücken von den westlichen demokratischen Regierungen auf der Höhe eines militärischen Sieges, ohne Druck von irgendeiner Seite geschaffen. Drittens hat die Tatsache, daß die Sowjetunion eine sich auf dem Kontinent ausdehnende Großmacht ist, nichts mit Kommunismus zu tun. Die derzeitige Ausbreitung der Sowjetherrschaft über die Satellitenstaaten entspricht ziemlich genau dem Programm eines slavischen Imperiums unter russischer Hegemonie, wie es beispielsweise Bakunin Nikolaus I. unterbreitet hatte. Es ist durchaus denkbar, daß eine nicht-kommunistische russische Hegemonialmacht heute die gleiche Ausdehnung wie das Sowjetreich hätte und eine noch größere Gefahr darstellte, weil sie vielleicht besser konsolidiert wäre. Viertens ist das Sowjetreich trotz seiner gewaltigen Macht nicht eine überwältigende Gefahr durch seine bloße materielle Stärke. Elementare Statistik zeigt, daß die Arbeitskraft, die Rohstoffquellen und das Industriepotential des Westens jeder Kraft, über die die Sowjetunion verfügt, gewachsen sind - ohne Berücksichtigung der im Hintergrund stehenden amerikanischen Macht. Die Gefahr erwächst aus dem nationalen Partikularismus und der lähmenden geistigen und moralischen Verwirrung des Westens. (Fs)
244a Das Problem der kommunistischen Gefahr geht auf das Problem der Lähmung und der selbstzerstörerischen Politik des Westens infolge der gnostischen Träumerei zurück. Die oben zitierten Stellen decken die Störungsquelle auf. Die Gefahr des Abgleitens von der Rechten zur Linken liegt in der Natur des Traumes. Da der Kommunismus ein radikalerer und folgerichtigerer Typus der Immanentisierung ist als der Progressivismus oder der soziale Utopismus, hat er die logique du coeur auf seiner Seite. Die westlichen gnostischen Gesellschaften befinden sich in einem Zustand geistiger und emotionaler Lähmung, weil es nicht möglich ist, grundlegende Kritik an der gnostischen Linken zu üben, ohne dadurch gleichzeitig die gnostische Rechte zu sprengen. Erlebnismäßige und geistige Revolutionen dieser Größenordnung erfordern jedoch Zeit und den Wechsel zumindest einer Generation. Man kann nicht mehr tun, als die Problemlage formulieren. Auch unter den günstigsten äußeren Verhältnissen wird die kommunistische Gefahr lauern, solange die öffentliche Diskussion in den westlichen Gesellschaften von den gnostischen Klischees beherrscht wird; das heißt also: solange die Erkenntnis von der Struktur der Wirklichkeit, die Pflege der Tugenden der sophia und prudentia, die Disziplin des Intellekts, die Pflege theoretischer Kultur und des Lebens des Geistes in der Öffentlichkeit als "reaktionär" gebrandmarkt werden, während Mißachtung der Struktur der Wirklichkeit, Ignoranz betreffend Tatsachen, Fehlkonstruktion und Verfälschung der Geschichte, unverantwortliche Meinungsäußerung auf Grund aufrichtiger Gesinnung, philosophische Unbildung, geistige Trägheit, agnostische Überheblichkeit als die großen Tugenden des Menschen angesehen werden, deren Besitz die Karriere sichert - kurz: solange die Kultur des Geistes als Reaktion und sittliche Verkommenheit als Fortschritt gilt. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 245a-247a Stichwort: Ende d. Modernität 4a; Hobbes; Existenz (Gegenbewegung zu gnostischen Revolutionären); libido dominandi; Leidenschaften (Natur d. Menschen); Gegenposition zur klassischen u. christl. Ethik (Zwecke, summum bonum) Kurzinhalt: Die menschliche Natur müßte in der bloßen Existenz ihre Erfüllung finden ... Hobbes stellte der gnostischen Immanentisierung des Eschaton, welche die Existenz gefährdete, eine radikale Immanenz der Existenz entgegen, die das Eschaton leugnete. Textausschnitt: 4.Hobbes
245a Die Funktion des Gnostizismus als der Ziviltheologie der westlichen Gesellschaft, seine Zerstörung der Wahrheit der Seele und seine Mißachtung der Existenzproblematik wurden ausführlich genug geschildert, um die schicksalhafte Bedeutung des Problems klarzumachen. Die Untersuchung kann jetzt zu dem großen Denker zurückkehren, der die Natur des Problems entdeckte und versuchte, es durch seine Repräsentationstheorie zu lösen. Im siebzehnten Jahrhundert schien die Existenz der englischen nationalen Gesellschaft in Gefahr, von den gnostischen Revolutionären zerstört zu werden, so wie heute in größerem Ausmaß dieselbe Gefahr die Existenz der gesamten westlichen Gesellschaft bedroht. Hobbes versuchte, dieser Gefahr durch die Entwicklung einer Ziviltheologie zu begegnen, welche das Existieren einer Gesellschaft zu der von ihr vertretenen Wahrheit machte - neben dieser sollte keine andere Wahrheit gelten. Das war zu seiner Zeit eine sehr vernünftige Idee, insofern sie das ganze Gewicht auf die Existenz legte, die von den Gnostikern arg vernachlässigt worden war. Aber ihr praktischer Wert stand und fiel mit der Annahme, daß die transzendente Wahrheit, welche die Gesellschaften zu repräsentieren versuchten, nachdem die Menschheit durch Philosophie und Christentum hindurchgegangen war, ihrerseits vernachlässigt werden konnte. Im Gegensatz zu den Gnostikern, die eine Gesellschaft nicht für existenzwürdig hielten, wenn ihre Ordnung nicht einen bestimmten Wahrheitstypus repräsentierte, erklärte Hobbes nachdrücklich, daß jede Ordnung gut sei, wenn sie nur die Existenz der Gesellschaft gewährleistet. Um diesem Gedanken Gültigkeit zu verleihen, mußte er seine neue Idee vom Menschen schaffen. Die menschliche Natur müßte in der bloßen Existenz ihre Erfüllung finden; eine über die Existenz hinausgehende Bestimmung des Menschen müßte verneint werden. Hobbes stellte der gnostischen Immanentisierung des Eschaton, welche die Existenz gefährdete, eine radikale Immanenz der Existenz entgegen, die das Eschaton leugnete. (Fs) (notabene)
246a Das Ergebnis dieser Bemühung war ambivalent. Um seine Stellung gegen die kämpfenden Kirchen und Sekten zu behaupten, mußte Hobbes bestreiten, daß deren Eifer von einer, wenn auch fehlgeleiteten Wahrheitssuche beseelt sei. Ihr Kampf mußte, vom Standpunkt der immanenten Existenz aus gesehen, als ein ungezügelter Ausdruck ihres Machttriebs interpretiert und ihr vorgeblich religiöses Anliegen als Tarnung ihrer existentiellen Leidenschaft entlarvt werden. Bei der Durchführung dieser Analyse erwies sich Hobbes als einer der größten Psychologen aller Zeiten; seine Demaskierung der libido dominandi hinter dem Vorwand religiösen Eifers und reformierenden Idealismus ist heute noch so gültig wie zur Zeit, als er sie niederschrieb. Diese großartige psychologische Leistung wurde jedoch teuer erkauft. Hobbes diagnostizierte richtig das korrumpierende Element der Leidenschaft in der Religiosität der puritanischen Gnostiker. Aber er interpretierte nicht die Leidenschaft als Quelle der Korruption im Leben - des Geistes, sondern das Leben des Geistes als das Extrem der existentiellen Leidenschaft. Er konnte daher die Natur des Menschen nicht von ihrer maximalen Differenzierung durch die Erfahrung der Transzendenz her interpretieren, und vor allem konnte er nicht die Leidenschaft und besonders die Grundleidenschaft der superbia als die stets gegenwärtige Gefahr des Abfalls von der wahren Natur erkennen. Er mußte im Gegenteil das Leben der Leidenschaft als die Natur des Menschen deuten, so daß die Phänomene des geistigen Lebens als Extreme der superbia erschienen. (Fs) (notabene)
247a Dieser Konzeption gemäß ist We have become completely secular die Natur des Menschen in seinen Leidenschaften zu suchen, während die Gegenstände, auf die sich die Leidenschaften richten, kein legitimer Gegenstand der Untersuchung sind.1 Das ist die fundamentale Gegenposition zur klassischen und christlichen Ethik. Die aristotelische Ethik geht von den Zwecken der Handlungen aus und erforscht die Ordnung des Menschenlebens im Sinne einer Ausrichtung aller Handlungen auf einen höchsten Zweck, das summum bonum. Hobbes hingegen betont, daß es das summum bonum, "von dem in den Büchern der alten Moralphilosophen gesprochen wird",2 nicht gebe. Mit dem summum bonum verschwindet jedoch die Quelle der Ordnung aus dem menschlichen Leben, und nicht nur aus dem Leben des Einzelmenschen, sondern auch aus dem der Gesellschaft. Denn - wie an früherer Stelle ausgeführt - die Ordnung des Lebens in der Gesellschaft beruht auf der homonoia im aristotelischen und christlichen Sinne, d. h. auf der Teilnahme am gemeinsamen nous. Hobbes steht daher vor der Aufgabe, eine Gesellschaftsordnung aus isolierten Einzelpersonen zu konstruieren, die nicht auf einen gemeinsamen Zweck ausgerichtet, sondern nur von ihren individuellen Leidenschaften angetrieben sind. (Fs) (notabene)
Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 248a-252a Stichwort: Ende d. Modernität 4b; Hobbes: Gesellschaft (offenes Feld von Rivalen); Glück (Machttriebe; den Nächsten überholen); Vertragssymbolik - Souverän (Verschmelzung v. Personen; Leviathan); Person, prosopon (Sich-Präsentieren); summum bonum - malum Kurzinhalt: Wenn die Seelen nicht am Logos teilhaben können, dann wird der Souverän, der die Seelen in Schrecken versetzt, "das Wesen des Commonwealth" sein. Textausschnitt: 248a Die Einzelheiten der Konstruktion sind wohl bekannt. Es wird genügen, die Hauptpunkte ins Gedächtnis zurückzurufen. Menschliches Glück ist für Hobbes ein kontinuierliches Fortschreiten des Begehrens von einem Objekt zum anderen. Es ist das Ziel des Menschen, "nicht nur einmal und für die Dauer eines Augenblicks zu genießen, sondern die Bahn seines künftigen Begehrens auf immer zu sichern":1 "So daß ich an die erste Stelle als allgemeine Neigung der Menschheit ein beständiges, ruheloses Begehren von Macht über Macht setze, das erst im Tode endet."2 Eine Vielheit von Menschen ist nicht eine Gemeinschaft, sondern ein offenes Feld rivalisierender Zentren des Machttriebs. Der ursprüngliche Machttrieb wird daher durch Mißtrauen gegenüber dem Nebenbuhler und durch die Lust, sich an der erfolgreichen Überwindung des anderen zu erfreuen, noch verstärkt.3 "Wir müssen annehmen, daß dieser Wettlauf kein anderes Ziel, keinen anderen Siegeskranz kennt als den, der Erste zu sein." In diesem Wettlauf "beständig überholt zu werden ist Unglück. Beständig den Nächsten überholen ist Glückseligkeit. Und die Laufbahn verlassen heißt Sterben."4 Leidenschaft, die sich am Vergleich steigert, ist Stolz.5 Dieser Stolz kann verschiedene Formen annehmen, deren wichtigste in der Analyse der Politik für Hobbes der Stolz war, göttliche Inspirationen zu haben oder generell im Besitz unbestrittener Wahrheit zu sein. Solcher Stolz im Exzess ist Wahnsinn.6 "Wenn ein Mann in Bedlam (Irrenhaus von London) dich mit vernünftigem Gespräch unterhalten würde und du beim Abschied wissen wolltest, wer er sei, um ein andermal seine Höflichkeit erwidern zu können, und er dir sagen würde, er sei Gott Vater, dann, meine ich, bedürfte es keiner ungewöhnlichen Handlung mehr, um seinen Wahnsinn zu beweisen."7 Wird aber solcher Wahnsinn gewalttätig und versuchen die von der Inspiration Besessenen, sie anderen aufzuzwingen, so wird das Ergebnis in der Gesellschaft "das aufrührerische Gebrüll einer aus den Fugen geratenen Nation sein."8 (Fs) (notabene)
249a Da Hobbes Ordnungsquellen in der Seele nicht anerkennt, kann die Inspiration nur durch eine Leidenschaft ausgetrieben werden, die noch stärker ist als der Stolz, ein Paraklet zu sein, und das ist die Furcht vor dem Tode. Der Tod ist das größte Übel. Wenn das Leben nicht durch die Ausrichtung der Seele auf ein summum bonum geordnet werden kann, muß Ordnung sich auf die Furcht vor dem summum malum9 gründen. Aus der gegenseitigen Furcht erwächst die Bereitschaft, sich durch Vertrag einer Regierung zu unterwerfen. Wenn die vertragschließenden Parteien übereinkommen, eine Regierung zu haben, "übertragen sie all ihre Macht und Stärke einem Manne oder einer Versammlung von Männern, welche all ihren Willen durch Stimmenmehrheit auf einen einzigen Willen reduzieren kann."10 (Fs) (notabene)
250a Der Scharfsinn Hobbes zeigt sich am deutlichsten in seiner Erkenntnis, daß die Vertragssymbolik, die er in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten des siebzehnten Jahrhunderts verwandte, nicht das Wesentliche an der Sache ist. Der Zusammenschluß zu einem Gemeinwesen unter einem Souverän mag sich in Rechtsform vollziehen, aber seinem Wesen nach ist er eine psychologische Wandlung der sich zusammenschließenden Personen. Die Hobbes'sche Konzeption des Prozesses, durch welchen eine politische Gesellschaft existent wird, kommt der Auffassung Fortescues über die Schaffung eines neuen corpus mystycum durch die Eruption eines Volkes ziemlich nahe. Die Vertragspartner schaffen nicht etwa eine Regierung, die sie als Einzelpersonen repräsentiert. Durch den Vertragsakt hören sie auf, selbstbestimmende Personen zu sein und lassen ihre Machttriebe in einer neuen Person, dem Gemeinwesen, aufgehen, und der Träger dieser neuen Person, ihr Repräsentant, ist der Souverän. (Fs) (notabene)
251a Diese Konstruktion machte einige Distinktionen hinsichtlich der Bedeutung des Wortes "Person" erforderlich. "Eine Person ist derjenige, dessen Worte oder Handlungen entweder als seine eigenen angesehen werden oder als solche, welche die Worte und Handlungen eines anderen Menschen oder einer anderen Sache repräsentieren." Repräsentiert er sich selbst, so ist er eine natürliche Person; repräsentiert er einen anderen, so wird er eine künstliche Person genannt. Die Bedeutung des Wortes "Person" wird auf das lateinische persona und das griechische prosopon zurückgeführt, auf das Gesicht, die äußere Erscheinung oder die Maske des Schauspielers auf der Bühne. "So daß eine Person dasselbe ist wie ein Schauspieler, auf der Bühne wie auch in der gewöhnlichen Unterhaltung, und als Person auftreten heißt darstellen oder repräsentieren, sich selbst oder einen anderen."11 (Fs) (notabene)
eg, Lonergan, Constitution.doc.61/1:
"18 Beginning with St Thomas, 'person' has been defined as 'a distinct subsistent in an intellectual nature.' (41; Fs)
'Nature', in the Aristotelian sense, is the principle of motion and rest in that in which it (motion or rest) exists of itself and not by accident.
'Nature' in another sense, a medieval sense, is a substantial essence considered in relation to operation. (41; Fs)
A nature is intellectual when by understanding and willing it can operate within the entire realm of being. It makes no difference, either, if 'nature' is taken in the Aristotelian or in the later sense. (41; Fs)
A person, therefore, is that which subsists as distinct in an intellectual nature.
62/1 Accordingly, since a person subsists, beings that do not subsist are not persons; therefore the intrinsic principles of being, accidents, possible beings, and 'beings of reason' are all excluded from the formality of person. (41; Fs)
Because a person is a distinct subsistent, whatever subsists without being distinct in every respect is not a person. Thus God, who is subsistent existence itself, is not some fourth person in addition to the Father, the Son, and the Holy Spirit. (41; Fs)
251b Dieser Begriff der Person gestattet es Hobbes, den sichtbaren Bereich repräsentativer Worte und Taten von dem unsichtbaren Bereich der Seelenvorgänge zu trennen, was zur Folge hat, daß die sichtbaren Worte und Aktionen, die immer von einem bestimmten, physischen Menschen herrühren müssen, auch Einheiten psychischer Vorgänge repräsentieren können, die aus der Wechselwirkung menschlicher Einzel-Seelen hervorgehen. Im Naturstand hat jeder Mensch seine eigene Person, in dem Sinne, daß seine Worte und Handlungen den Machttrieb seiner Leidenschaften repräsentieren. Im Zivilstand werden die menschlichen Einheiten von Leidenschaft gebrochen und zu einer neuen Einheit, genannt das Commonwealth, verschmolzen. Die Handlungen der menschlichen Individuen, deren Seelen sich vereinigt haben, können die neue Person nicht repräsentieren; deren Träger ist der Souverän. Die Schaffung dieser Person des Commonwealth, betont Hobbes, ist "mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung", wie dies aus der Vertragssprache vermutet werden könnte. Denn die menschlichen Einzelpersonen hören zu existieren auf und verschmelzen zu der einen Person, die vom Souverän repräsentiert wird. "Das ist die Zeugung des großen Leviathan, oder vielmehr, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und unseren Schutz verdanken." Die vertragschließenden Menschen kommen überein, "ihren Einzelwillen seinem Willen, und ihr Einzelurteil seinem Urteil zu unterwerfen." Diese Verschmelzung von Einzelwillen ist "eine reale Einheit ihrer aller"; denn der sterbliche Gott "hat die Verfügungsgewalt von so viel Macht und Stärke auf sich übertragen, daß deren Schreckwirkung ihn in die Lage versetzt, ihrer aller Willen zu gestalten zum Frieden im Lande und zur gegenseitigen Unterstützung gegen äußere Feinde."12 (Fs) (notabene)
252a Der Stil der Konstruktion ist hervorragend. Wenn angenommen wird, daß die menschliche Natur nichts weiter als leidenschaftliche Existenz ohne ordnende Kräfte der Seele ist, wird tatsächlich das Grauen vor der Vernichtung zur alles beherrschenden Leidenschaft, welche die Unterwerfung unter eine Ordnung erzwingt. Wenn der Stolz sich nicht der Dike beugen oder durch die Gnade erlöst werden kann, muß er durch den Leviathan gebrochen werden, der "König aller Kinder des Stolzes" ist.13 Wenn die Seelen nicht am Logos teilhaben können, dann wird der Souverän, der die Seelen in Schrecken versetzt, "das Wesen des Commonwealth" sein.14 Der "König der Stolzen" muß den amor sui brechen, dem nicht durch den amor Dei geholfen werden kann.15 (Fs) (notabene) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 233a-238a Stichwort: Ende d. Modernität 2b; Gnostizismus: klass. und chr. Ethik: sophia, prudentia - gnostische Traumwelt: Nichtanerkennung der Realität; gnost. Gesellschaften: magische Operationen; Definition: Friede, Krieg; Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung Kurzinhalt: Die Interpretation der sittlichen Korrruption als Moralität, und der Tugend der sophia und prudentia als Immoralität, ist eine schwer aufzulösende Verwirrung ... Die gnostischen Politiker haben jedoch die Sowjetarmee an die Elbe gebracht ... Textausschnitt: 233a Die Art der Schwierigkeit, der man hier begegnet, läßt sich wohl am besten an einem Beispiel aufzeigen. In der klassischen und christlichen Ethik ist die erste der sittlichen Tugenden die sophia oder prudentia, weil ohne angemessenes Verständnis der Struktur der Realität, einschließlich der conditio humana, die sittliche Handlung mit rationaler Zuordnung von Mittel und Zweck nicht möglich ist. In der gnostischen Traumwelt hingegen ist die Nichtanerkennung der Realität das erste Prinzip. Infolgedessen gelten gewisse Handlungstypen, die in der realen Welt wegen der realen Folgen, die sie zeitigen, als sittliche Erkrankung angesehen werden, in der Traumwelt als sittlich, weil sie ganz andere Folgen beabsichtigt hatten. Die Kluft zwischen beabsichtigter und wirklicher Folge wird nicht der gnostischen Unsittlichkeit, die Struktur der Realität zu ignorieren, zugeschrieben, sondern der Unsittlichkeit irgendeiner anderen Person oder Gesellschaft, die sich nicht so verhält, wie sie sich gemäß der Traumkonzeption von Ursache und Wirkung verhalten sollte. Die Interpretation der sittlichen Korrruption als Moralität, und der Tugend der sophia und prudentia als Immoralität, ist eine schwer aufzulösende Verwirrung, und die Aufgabe wird nicht erleichtert durch die Bereitschaft der Träumer, jeden Versuch einer kritischen Klärung als unsittliches Unterfangen zu brandmarken. In der Tat wurde beinahe so gut wie jeder große politische Denker, der die Struktur der Realität anerkannte, von Macchiavelli bis zur Gegenwart, von gnostischen Intellektuellen als unmoralisch gebrandmarkt - ganz zu schweigen von jenem bei Intellektuellen so beliebten Gesellschaftsspiel, Platon und Aristoteles zu Faschisten zu stempeln. Die theoretische Schwierigkeit wird also noch durch persönliche Probleme vergrößert. Und es steht außer Zweifel, daß der stetige Strom des gnostischen beschimpfenden Tadels, der sich gegen die politische Wissenschaft im kritischen Sinne richtet, das Niveau der öffentlichen Diskussion über politische Fragen der Gegenwart stark herabgedrückt hat. (Fs) (notabene)
234a Die Identifizierung von Traum und Wirklichkeit als Prinzip zeitigt praktische Ergebnisse, die seltsam erscheinen mögen, aber kaum als überraschend angesehen werden können. Die kritische Erforschung von Ursache und Wirkung in der Geschichte ist verboten; die rationale Koordinierung von Zweck und Mittel in der Politik ist daher unmöglich. Gnostische Gesellschaften und ihre Führer erkennen zwar Gefahren, wenn sie ihre Existenz bedrohen, aber sie begegnen ihnen nicht durch adäquate Maßnahmen in der Welt der Wirklichkeit. Vielmehr tritt man diesen Gefahren durch magische Operationen in der Traumwelt entgegen, wie Mißbilligung, Zurückweisung, moralische Verurteilung, Deklarationen von Grundsätzen, Resolutionen, Appelle an die Meinung der Menschheit, Brandmarkung von Feinden als Agressoren, Ächtung des Krieges, Propaganda für Weltfrieden und Weltregierung etc. Die geistige und sittliche Korrruption, die sich in dem Aggregat solcher magischer Operationen ausdrückt, kann eine Gesellschaft mit der unheimlichen, geisterhaften Atmosphäre eines Irrenhauses durchdringen, wie wir es zu unserer Zeit in der Krise des Westens erleben. (Fs)
235a Eine erschöpfende Studie der Manifestationen gnostischen Irrsinns in der Praxis der gegenwärtigen Politik würde weit über den Rahmen dieser Abhandlung hinausgehen. Die Analyse muß sich auf jenes Symptom konzentrieren, das den selbstzerstörerischen Charakter gnostischer Politik am besten veranschaulicht, nämlich auf die Seltsamkeit des dauernden Kriegszustandes zu einer Zeit, in der jede politische Gesellschaft durch ihre Repräsentanten ihren brennenden Wunsch nach Frieden bekundet. In einer Zeit, in der Krieg Frieden und Frieden Krieg ist, dürften einige Definitionen angebracht sein, um die Bedeutung dieser Ausdrücke klarzustellen. Friede soll eine zeitweilige Ordnung sozialer Beziehungen bedeuten, die adäquat ein Gleichgewicht existentieller Kräfte zum Ausdruck bringt. Dieses Gleichgewicht kann durch verschiedene Ursachen gestört werden, wie etwa Bevölkerungszunahme in diesem und Bevölkerungsabnahme in einem anderen Gebiet, technische Entwicklungen, die rohstoffreiche Gebiete begünstigen, Verlagerung von Handelsstraßen etc. Krieg soll bedeuten die Anwendung von Gewalt zum Zwecke der Wiederherstellung eines Gleichgewichts, entweder durch Unterdrückung der störenden Zunahme existentieller Kräfte oder durch eine Neuordnung sozialer Beziehungen, die adäquat das neue Kräfteverhältnis der existentiellen Mächte zum Ausdruck bringt. Politik soll den Versuch bedeuten, das Gleichgewicht der Kräfte herzustellen oder die Ordnung anzupassen durch diplomatische Methoden oder durch den Aufbau abschreckender Gegenkräfte bis an den Rand des Krieges. Diese Definitionen sollten jedoch nicht als der Weisheit letzter Schluß in so gewaltigen Fragen, wie es Friede, Krieg und Politik sind, angesehen werden, sondern lediglich als eine Erklärung der Regeln, die unsere Formulierung des vorliegenden Problems bestimmen. (Fs) (notabene)
236a Die gnostische Politik ist insofern selbstzerstörend, als Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, den Frieden herzustellen, die Störungen, die zum Krieg führen, noch steigern. Der Mechanismus dieser Selbstzerstörung wurde soeben durch die Schilderung magischer Operationen in der Traumwelt dargelegt. Wenn einer einsetzenden Störung des Gleichgewichts nicht durch die entsprechende politische Aktion in der Welt der Wirklichkeit begegnet wird, sondern statt dessen mit magischen Beschwörungen, kann sie zu solchen Ausmaßen anwachsen, daß ein Krieg unvermeidlich ist. Der Musterfall hierfür ist der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung zur Macht, zunächst in Deutschland, dann den ganzen Kontinent bedrohend, mit der Begleitung des gnostischen Chores, der wehklagend seiner moralischen Entrüstung über solch barbarisches und reaktionäres Gebaren in einer fortschrittlichen Welt Ausdruck verlieh - ohne auch nur einen Finger zu rühren, um den aufsteigenden Kräften rechtzeitig durch eine geringe politische Anstrengung Einhalt zu gebieten. Die Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs wirft die ernste Frage auf, ob der gnostische Traum die westliche Gesellschaft nicht bereits so tief unterhöhlt hat, daß rationale Politik unmöglich geworden und der Krieg zum einzigen Mittel geworden ist, um Störungen im Gleichgewicht der existentiellen Kräfte auszugleichen. (Fs)
236b Die Kriegsführung und die Nachkriegszeit sind leider dazu angetan, diese Vermutung eher zu begründen als zu entkräften. Wenn ein Krieg überhaupt einen Zweck hat, so ist es die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts und nicht die Verschlimmerung der Störungen; die Verminderung des störenden Krafftübermaßes, nicht die Zerstörung von Kraft bis zu dem Punkt, der ein neues gleichgewichtstörendes Machtvakuum entstehen läßt. Die gnostischen Politiker haben jedoch die Sowjetarmee an die Elbe gebracht, China den Kommunisten ausgeliefert, zur gleichen Zeit Deutschland und Japan demilitarisiert und obendrein die amerikanische Armee demobilisiert. Das sind abgedroschene Wahrheiten, und doch ist es vielleicht nicht genügend klar, daß nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine Weltmacht ihren Sieg dazu benützt hat, ein Machtvakuum zu ihrem eigenen Nachteil zu schaffen. Wiederum muß wie bei früheren Gelegenheiten darauf hingewiesen werden, daß Phänomene dieser Größenordnung sich nicht durch Ignoranz und Dummheit erklären lassen. Diese Politik wurde als Sache eines Prinzips verfolgt, auf Grund gnostischer Traumannahmen betreffend die menschliche Natur im allgemeinen, betreffend die mysteriöse Entwicklung der Menschheit zu einem Zustand des Friedens und der Weltordnung, betreffend die Möglichkeit der Errichtung einer internationalen Ordnung im luftleeren Raum ohne Beziehung zur Struktur des existentiellen Kraftfeldes, und schließlich betreffend Armeen, die anstelle der Kräfte und Konstellationen, welche die Armeen aufbauen und in Bewegung setzen, als Kriegsursache angesehen werden. Die aufgezählte Reihe von Aktionen sowie die Traumannahmen, auf welche sie sich gründen, machen wohl deutlich, daß der Kontakt mit der Realität zumindest stark gestört und daß die pathologische Substitution der Traumwelt in hohem Maße Wirklichkeit geworden ist. (Fs)
237a Weiter ist noch zu bemerken, daß das einzigartige Phänomen einer Großmacht, die zu ihrem eigenen Schaden ein Machtvakuum schafft, von dem ebenfalls einzigartigen Phänomen der militärischen Beendigung eines Krieges ohne den Abschluß von Friedensverträgen begleitet war. Auch dieses reichlich beunruhigende Phänomen ist nicht mit der verwirrenden Komplexität der Probleme, die einer Lösung bedürfen, zu erklären. Wiederum liegt es an der Traumbesessenheit, daß es den Repräsentanten gnostischer Gesellschaften unmöglich ist, eine Politik zu formulieren, die der Struktur der Realität Rechnung trägt. Es kann zu keinem Frieden kommen, weil der Traum sich nicht in die Realität übertragen läßt und die Realität den Traum noch nicht gebrochen hat. Niemand vermag vorauszusagen, welcher Alpträume von Gewalttaten es bedarf, um den Traum zu brechen, und noch weniger, wie die westliche Gesellschaft au bout de la nuit aussehen wird. (Fs)
238a Die gnostische Politik ist also selbstzerstörerisch insofern, als ihre Außerachtlassung der Struktur der Realität zu einem dauernden Kriegszustand führt. Dieses System der Ketten-Kriege kann nur auf eine von zwei Weisen zu Ende kommen. Entweder wird es zu schrecklichen physischen Zerstörungen kommen, begleitet von revolutionären Veränderungen der Sozialordnung über alles Voraussagbare hinaus. Oder es wird im Verlauf des natürlichen Generationswechsel zur Absage an das gnostische Träumen kommen, bevor das Schlimmste geschehen ist. In diesem Sinne ist die oben gemachte Andeutung zu verstehen, daß das Ende des gnostischen Traums vielleicht näher ist, als man normalerweise annehmen möchte. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 253a-256a Stichwort: Ende d. Modernität 5; Hobbes' Symbolik radikaler Immanenz; 1 amor sui - Dei: H., Rochefoucauld; Psychologie des "modernen" Menschen; 2 Verfallstyp als Normaltyp; 3 Leviathan Kurzinhalt: Eine spezifisch "moderne" Psychologie entwickelte sich als die empirische Psychologie des "modernen" Menschen, d. h. des Menschen, der intellektuell und spirituell fehlorientiert ist und darum vor allem von seinen Leidenschaften her motiviert wird. Textausschnitt: 5. Hobbes' Symbolik
253a Joachim von Flora hatte ein Aggregat von Symbolen geschaffen, das die Selbstinterpretation moderner politischer Bewegungen im ganzen beherrschte. Hobbes schuf ein vergleichbares Aggregat, das die Komponente radikaler Immanenz in der modernen Politik zum Ausdruck brachte. (Fs)
253b Das erste dieser Symbole kann als die neue Psychologie. bezeichnet werden. Ihre Natur läßt sich am besten durch ihr Vorhältnis zur augustinischen Psychologie, von der sie herstammt, definieren. Augustinus unterschied zwischen dem amor sui und dem amor Dei als den organisierenden Willenszentren der Seele. Hobbes entledigte sich des amor Dei und gründete seine Psychologie ausschließlich auf den amor sui, in seiner Sprache: auf die Selbstüberheblichkeit oder den Stolz des Individuums. Durch diese Ausschaltung des amor Dei aus der Interpretation der Psyche fand eine Entwicklung, die mindestens bis zum zwölften Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, ihren Abschluß. Mit dem Erscheinen des selbstvertrauenden Individuums in der Gesellschaft zog dieser neue Typus mit seinem Streben nach öffentlichem Erfolg, über den jeweiligen Status hinaus, die Aufmerksamkeit auf sich. Schon Johannes von Salisbury hat ihn in seinem Policraticus in Ausdrücken beschrieben, die denen Hobbes' sehr ähnlich sind.1 Im Gefolge der institutionellen Umwälzungen des Spätmittelalters und der Reformation wurde dann der Typus so häufig, daß er als der "normale" Menschentypus erschien und als solcher Gegenstand allgemeinen Interesses wurde. Das psychologische Werk Hobbes' fand seine gleichzeitige Parallele in der Psychologie Pascals, wenn auch Pascal in der christlichen Tradition lebte und den Menschen, der nur von seinen Leidenschaften gelenkt wird, als den Menschen bezeichnete, der dem einen oder anderen Typus des Libido zum Opfer gefallen ist. Und ebenfalls zur selben Zeit begann mit La Rochefoucauld die Psychologie des "Weltmenschen", der von seinem amour-propre (dem augustinisecen amor sui) angetrieben wird. Um sich die weite Verbreitung des Phänomens zu vergegenwärtigen, erinnere man sich der nationalen Sonderbildungen in der französischen Psychologie der Moralisten und Romanschriftsteller, in der englischen Psychologie von Lust und Schmerz, des Assoziationismus und des Selbstinteresses, und der deutschen Bereicherungen durch die Psychologie des Unbewußten der Romantiker und die Psychologie Nietzsches. Eine spezifisch "moderne" Psychologie entwickelte sich als die empirische Psychologie des "modernen" Menschen, d. h. des Menschen, der intellektuell und spirituell fehlorientiert ist und darum vor allem von seinen Leidenschaften her motiviert wird. Es wird zweckmäßig sein, die Ausdrücke "Orientierungspsychologie" und "Motivierungspsychologie" einzuführen, um eine Wissenschaft der gesunden Psyche im platonischen Sinne, in der die Ordnung der Seele durch transzendente Orientierung geschaffen wird, von der Wissenschaft der fehlorientierten Psyche zu unterscheiden, die durch ein Gleichgewicht der Motivationen geordnet werden muß. Die "moderne" Psychologie in diesem Sinne ist insofern eine unvollständige Psychologie, als sie sich nur mit einem bestimmten pneumopathologischen Menschentypus befaßt. (Fs) (notabene)
255a Das zweite Symbol betrifft die Idee vom Menschen selbst. Da der "Verfallstyp" wegen seiner empirischen Häufigkeit als der "Normaltyp" verstanden wurde, entwickelte sich eine philosophische Anthropologie, in welcher die Krankheit als die "Natur des Menschen" interpretiert wurde. Der Raum gestattet es nicht, uns intensiver mit diesem Problem zu befassen. Es muß genügen, auf die Linie hinzuweisen, die von den Existenzialisten unserer Zeit zurück zu den Existenzphilosophen des siebzehnten Jahrhunderts läuft. Was kritisch zu dieser Philosophie immanenter Existenz zu sagen ist, wurde grundsätzlich schon von Platon in seinem Gorgias gesagt. (Fs) (notabene)
256a Das dritte Symbol schließlich ist die spezifisch Hobbes'sche Schöpfung des Leviathan. Seine Bedeutung wird heute kaum verstanden, weil das Symbol vom Gerede über Absolutismus erdrückt wird. Die vorausgegangene Darstellung dürfte gezeigt haben, daß der Leviathan das Ordnungskorrelat zur Unordnung der gnostischen Aktivisten ist, die sich ihrer superbia bis zum Extrem des Bürgerkrieges hingeben. Der Leviathan läßt sich nicht mit der historischen Form der absoluten Monarchie identifizieren. Die royalistischen Zeitgenossen verstanden das sehr wohl; und ihr Argwohn gegenüber Hobbes war gerechtfertigt. Ebensowenig läßt sich das Symbol mit dem Totalitarismus auf dessen eigener symbolischer Ebene eines Endreiches der Vollkommenheit identifizieren. Es umreißt vielmehr eine Komponente des Totalitarismus, die dann zum Vorschein kommt, wenn eine Gruppe gnostischer Aktivisten tatsächlich das Monopol existentieller Repräsentation in einer historischen Gesellschaft erlangt. Die siegreichen Gnostiker können weder die menschliche Natur verklären noch ein irdisches Paradies etablieren. Was sie in der Tat erreichen, ist ein allmächtiger Staat, der rücksichtslos jede Quelle von Widerstand ausschaltet, in erster Linie die lästigen Gnostiker selbst. Soweit unsere Erfahrung mit totalitären Imperien reicht, ist deren charakteristischer Zug die Unterdrückung der Diskussion über die gnostische Wahrheit, die sie selbst zu repräsentieren vorgeben. Die Nationalsozialisten unterdrückten die Diskussion der Rassenfrage, sobald sie an der Macht waren. Die Sowjetregierung verbietet die Diskussion über den Marxismus und dessen Weiterentwicklung. Das Hobbes'sche Prinzip, daß die Gültikkeit der Schrift sich von der Sanktion der Regierung herleite, und daß ihre öffentliche Verkündung vom Souverän zu überwachen sei, wird von der Sowjetregierung in die Tat umgesetzt durch die Beschränkung des Kommunismus auf die "Parteilinie". Die Parteilinie mag sich ändern, aber die Änderung der Interpretation wird von der Regierung bestimmt. Intellektuelle, die dennoch darauf bestehen, eigene Meinungen über den Sinn der koranischen Schriften zu haben, fallen der Säuberung zum Opfer. Die gnostische Wahrheit, die von den ursprünglichen gnostischen Denkern frei hervorgebracht wurde, wird eingedämmt zur Wahrheit der öffentlichen Ordnung in immanenter Existenz. Daher ist der Leviathan das Symbol des Schicksals, das die gnostischen Aktivisten ereilt, wenn sie in ihrem Traum wähnen, das Reich der Freiheit zu verwirklichen. (Fs) Autor: Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Seiten: 257a-257b Stichwort: Ende d. Modernität 6; Widerstand gegen den Gnostizismus; englische, amerikansiche, französische, deutsche Revolution (verschiedene Grade an Immanentisierung) Kurzinhalt: Die deutsche Revolution schließlich, die sich in einer Umwelt ohne starke institutionelle Tradition vollzog, brachte zum ersten Mal ökonomischen Materialismus, Rassenbiologie, korrupte Psychologie, Szientismus und technologische Brutalität voll ins ... Textausschnitt: 6. Der Widerstand gegen den Gnostizismus
257a Das Symbol des Leviathan wurde von einem englischen Denker als Antwort auf die puritanische Gefahr entwickelt. Unter den größeren politischen Gesellschaften Europas hat jedoch gerade England dem gnostischen Totalitarismus den stärksten Widerstand entgegengesetzt; und das Gleiche gilt für Amerika, das von denselben Puritanern begründet wurde, welche die Besorgnisse Hobbes' erweckt hatten. Hierzu mag eine abschließende Bemerkung angebracht sein. (Fs)
257b Die Erklärung ist in der Dynamik des Gnostizismus zu finden. Wie mehrfach erwähnt, ist die Modernität eine mit der mittelmeerischen Tradition rivalisierende Entwicklung innerhalb der westlichen Gesellschaft. Ferner wurde erwähnt, daß der Gnostizismus selbst einen Radikalisierungprozeß durchmachte, von der mittelalterlichen Immanentisierung des Geistes, die Gott in seiner Transzendenz beließ, bis zur späteren radikalen Immanentisierung des Eschaton, wie wir sie bei Feuerbach und Marx finden. Die Unterhöhlung der westlichen Zivilisation durch den Gnostizismus ist ein langsamer, sich über ein Jahrtausend erstreckender Prozeß. Die verschiedenen politischen Gesellschaften des Westens nun stehen in unterschiedlicher Relation zu diesem langwierigen Prozeß, je nach dem Zeitpunkt, zu dem sich ihre nationalen Revolutionen ereigneten. Dort, wo die Revolution früher erfolgte, war ihr Träger eine weniger radikale Welle des Gnostizismus, und gleichzeitig war der Widerstand, den die Kräfte der Tradition ihr entgegensetzten, wirksamer. Wo die Revolution später erfolgte, wurde sie von einer radikaleren Welle getragen, und die traditionelle Umwelt war durch das allgemeine Vordringen der Modernität bereits tiefer unterhöhlt. Die englische Revolution im siebzehnten Jahrhundert ereignete sich zu einer Zeit, als der Gnostizismus noch nicht seine radikale Säkularisierung durchgemacht hatte. Wie oben ausgeführt, waren die linksgerichteten Puritaner bestrebt, sich als Christen, wenn auch als solche von besonders reiner Art, auszugeben. Als die Regelung von 1690 getroffen wurde, hatte England sich die institutionelle Kultur eines aristokratischen Parlamentarismus sowie die Mores eines christlichen Gemeinwesens bewahren können, die nun als nationale Institutionen sanktioniert wurden. Die amerikanische Revolution, deren Debatte schon stark durch die Psychologie der Aufklärung beeinflußt war, hatte doch immerhin das Glück, noch innerhalb des institutionellen und christlichen Klimas des ancien régime zum Abschluß zu kommen. In der französischen Revolution war dann die radikale Welle des Gnostizismus so stark, daß sich die Nation spaltete: in die laizistische Hälfte, die sich auf die Revolution gründet, und die konservative Hälfte, die sich um die Rettung der christlichen Tradition bemühte und heute noch bemüht. Die deutsche Revolution schließlich, die sich in einer Umwelt ohne starke institutionelle Tradition vollzog, brachte zum ersten Mal ökonomischen Materialismus, Rassenbiologie, korrupte Psychologie, Szientismus und technologische Brutalität voll ins Spiel - kurz: sie war ein Phänomen hemmungsloser Modernität. Die westliche Gesellschaft als Ganzes ist somit eine vielschichtige Zivilisation, in welcher die amerikanische und englische Demokratie die älteste, am festesten konsolidierte Schicht kultureller Tradition darstellt, während der deutsche Bereich ihre fortschrittlichste, modernste Schicht bildet. (Fs) (notabene)
259a In dieser Situation gibt es einen Hoffnungsstrahl: Denn die amerikanischen und englischen Demokratien, die in ihren Institutionen die Wahrheit der Seele am stärksten repräsentieren, sind gleichzeitig auch existentiell die stärksten Mächte. Aber es wird aller unserer Anstrengungen bedürfen, um diesen Funken zu einer Flamme zu entfachen durch die Unterdrückung der gnostischen Korrruption und die Wiederherstellung der Kräfte der Zivilisation. Heute ist das Schicksal in der Schwebe. (Fs; E04; 29.11.2004)
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