1. Die Erfahrung der Einsicht

Im Jahr 1993 qualifizierte sich Nigel Short für das Spiel um den Weltmeistertitel gegen den regierenden Schachweltmeister Kasparow. Da die Partien in London stattfinden sollten und Nigel als Lokalfavorit galt, sah sich die BBC veranlasst die Spiele live zu übertragen. Weil Schach kaum eine sichtbare Handlung bietet, versammelte man ein Team von Kommentatoren und Analysten, um die Leerläufe zu überbrücken. Beim sechsten Spiel jedoch dachte Kasparow fünfundfünzig Minuten über einen einzigen Zug nach: fast eine Stunde lang bewegungslos, starr, ausdruckslos, auf das Schachbrett starrend, nur gelegentlich einen Seufzer von sich gebend. Den Kommentatoren ging bald der Gesprächsstoff aus, und die Analysen der Schachexperten erschöpften sich. Noch immer keine Bewegung. Da die BBC keine Werbepausen kennt, war die Spannungssteigerung spürbar. Schließlich schrie einer der Kommentatoren verzweifelt aus: Was macht er denn nur?

Um genau diese Frage geht es auch in diesem Kapitel. Was ist Denken? Was tun wir, wenn wir denken? Warum nimmt es viel Zeit in Anspruch und was setzt ihm ein Ende? Was für Tätigkeiten sind beim Verstehen miteinbezogen? Es ist offenbar, dass es Zeit in Anspruch nimmt, genau fünfundfünfzig Minuten in unserem Fall. Es ist klar, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, denn Kasparow hat weder geschlafen noch sich entspannt, noch vor sich hingeträumt. Es gibt ein Limit für die zur Verfügung stehende Zeit, er wollte unbedingt gewinnen, er musste seine Zeit klug nützen. Es handelt sich um keine sichtbare Tätigkeit, die mit einer Fernsehkamera festgehalten werden könnte, aber um eine Tätigkeit, die wir beschreiben, analysieren, definieren, in ihre Teile auflösen und ihre Teile wieder zu einem Ganzen zusammensetzen können. Damit wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.