1.4 Die intellektuelle Selbst-Aneignung Wenn wir uns bemühen, können wir uns an einen Traum, den wir hatten, für gewöhnlich erinneren und davon erzählen. Mit einiger Übung können wir die Abfolge der Traumbilder im einzelnen beschreiben, die mit den Bildern assoziierten Gefühle, die Verbindung zwischen den Begebenheiten und unsere Rolle als Beobachter oder am Traumgeschehen Mitwirkende. Seit Freuds Originalausgabe der "Traumdeutung" sind viele Bücher über Träume geschrieben worden; das Aufarbeiten von Träumen wurde zu einer Grundmethode der Psychotherapie. Es sind viele Theorien über die Ursache von Träumen, die Bedeutung und Funktion von Träumen und über die Prinzipien der Trauminterpretation entwickelt worden. All das setzt voraus, dass wir uns an unsere Träume erinnern und sie erforschen können. An Träume können wir uns verhältnismäßig einfach erinnern, weil sie sich aus Bildern und Gefühlen zusammensetzen und für gewöhnlich eine Art narrative Folge beschreiben. Unser Ziel in diesem Textabschnitt ist es, dieselbe Methodik beim Erforschen der Verstehenstätigkeit anzuwenden. Wenn wir unsere Träume beschreiben können, warum sollten wir dann nicht in der Lage sein, unsere Verstehenstätigkeit zu beschreiben? Gewiss, die Traumbilder sind sehr lebhaft und lassen und einen starken Eindruck zurück. Die Verstehenstätigkeit ist schwieriger zu fassen, sie ist tiefgründiger, spiritueller, abstrakter, im Prinzip aber handelt es sich bei dieser Erfassung um ein ähnliches Verfahren als dabei, sich einen Traum in die Erinnerung zurückzurufen. In diesem Abschnitt wollen wir deutlicher die Methode begründen, die auf diese Weise beim Erforschen des Verstehensaktes beteiligt ist. "To appropriate" bedeutet von sich selbst Besitz zu ergreifen, sich selbst zu gewinnen. In anderen Zusammenhängen hat es leider auch die Bedeutung von stehlen, manipulieren und instrumentalisieren. Für uns besteht die Aneignung der intellektuellen Tätigkeiten darin, sich ihrer bewusst zu werden, sie erkennen und unterscheiden zu können, zu erfassen, wie die Tätigkeiten aufeinander bezogen sind, und so diesen Vorgang zu objektivieren oder zu explizieren. Deshalb werden wir manchmal den Ausdruck intellektuelles Selbst-Bewusstsein anstatt von Selbst-Aneignung verwenden. Erst vollziehen wir eine Tätigkeit, dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit vom Inhalt weg den Tätigkeiten selbst zu; dann benennen und beschreiben wir die Tätigkeiten und fassen sie in Gruppen zusammen; schließlich ermitteln wir die Einheit dieser Tätigkeiten, die das Erkennen konstituiert. Im Bereich der Spiritualität und der psychologischen Beratung ist es gang und gäbe sich seiner Gefühle und Motive, seines Charakters und seiner Persönlichkeit bewusst zu werden. Ein weites Spektrum an Psychotherapien scheint sich damit zu befassen, unbewusst verdrängte Gefühle und Traumata wieder in das Bewusstsein zu heben, sodass sie behandelt werden können. Sich seiner Gefühle bewusst zu werden versetzt einen in die Lage, jene Gefühle erkennen und heilen zu können, die schädlich sind, und jene stärken und bekräftigen zu können, die positiv und liebevoll sind. Es gibt verschiedene Bewegungen, die auf Verfahren beruhen, in diesen verschiedenen Bereichen ein Selbstbewusstsein zu erlangen. Das scheint sehr anerkannt und sogar eine Modeerscheinung zu sein. Die intellektuelle Selbstaneignung stellt eine schwierigere Herausforderung dar. In sich selbst ist sie durchaus nichts Neues, wohl aber darin, sie zur ausdrücklichen Grundlage einer ganzen Philosophie zu machen. Das scheint sehr vielversprechend zu sein. Wenn die Aneignung der Gefühle und Motive so heilend und lohnend für ein psychologisches Reifwerden sein kann, dürfen wir dann nicht erwarten, dass das Bewusstwerden unserer Verstehenstätigkeiten diese Tätigkeiten ebenso reinigen, stärken und leiten kann? Wir verwenden den Ausdruck "intellektuell", weil das, was uns von Tieren unterscheidet, darin besteht, dass wir denken, verstehen und uns frei entscheiden können. Jene Tätigkeiten, die wir hier ausdrücklich machen wollen, sind die Tätigkeiten, die uns als menschliche Wesen konstituieren; sie stehen dem Selbst näher als Gefühle. Menschlich zu sein heißt, denken, erkennen und für sich selbst entscheiden zu können. Unsere Aufmerksamkeit gilt diesem höchsten Unterscheidungsmerkmal unseres Seins. Der bevorzugte Ort, an dem wir einen Zugang zur genauen Erfahrung unseres Erkennens haben, ist für uns das Bewusstsein. Jene Daten, die für jede Erklärung des menschlichen Erkennens die Grundlage liefern, sind die Bewusstseinsdaten. Ich kann nicht erfahren, was in deinem Kopf vor sich geht, aber ich kann beschreiben, was in meinem Kopf vor sich geht. Ich kann das auf dich beziehen, und wir können untersuchen, ob wir über dieselbe Sache reden. Der für die Erforschung des Erkennens bevorzugte Referenzzort befindet sich nicht in Büchern, sondern im Kopf, dort nämlich, wo wir einen direkten und unmittelbaren Zugang zu jenen Tätigkeiten haben, die das menschliche Erkennen konstituieren. Früher in diesem Kapitel haben wir drei engegengesetzte und widerspüchliche Theorien des menschlichen Erkennens in groben Zügen dargestellt. Sind sie richtig oder nicht? So wie ein Wissenschaftler seine Theorien durch den Hinweis auf die Sinnesdaten verifiziert, so behaupten wir, dass diese Theorien durch den Bezug auf die Bewusstseinsdaten als richtig oder nicht aufgewiesen werden können. Dieses Kriterium scheinen alle drei Systeme, wie wir noch sehen werden, nur unzulänglich zu erfüllen. |