Brian Cronin, Einführung zum Denken Lonergans

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Einführung


Einführung

1. Grundlagen. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass einige zeitgenössische Philosophen nicht nur keine Grundlagen für ihre Philosophie haben, sondern sogar die Behauptung aufstellen, dass jede Suche nach solchen Grundlagen eine Illusion sei, eine Schimäre, ein psychologisches Problem, das es zu überwinden gilt. Marx hat angeblich die dem Klassenbewusstsein zugrunde liegende politische Befangenheit freigelegt und Freud die psychologische Notwendigkeit von Gott, Stabilität und einem Weltbild aufgedeckt, wobei diese Notwendigkeiten aber bloß Krücken und ohne Wert in sich selbst sind. Nietzsche schließlich hat diese Angriffe mit seiner eigenen ätzenden Anklage gegen jegliche Form von Wissen, Moral und eines Wahrheitsanspruches verbunden. Wir sind wie die Figuren in einem existenzialistischen Schauspiel anscheinend dazu verdammt, unaufhörlich Philosophie betreiben zu müssen, ohne Hoffnung aber, je an irgendein schlüssiges Ende zu gelangen.

Es ist in der Tat ein seltsames Schauspiel. Es gibt die sogenannten Grundlagengegner, die einerseits behaupten, dass es eine Illusion sei, nach philosophischen Grundlagen zu suchen, die aber anderseits sehr klar und deutlich bezüglich ihrer Position und ihren eigenen Grundlagen oder, was auf dasselbe hinausläuft, fehlenden Grundlagen sind. Es gibt die Relativisten, die behaupten, dass alles relativ sei und es so etwas wie absolute Wahrheit nicht gebe, die aber sehr dogmatische im Verfechten ihrer eigenen Sichtweise zu sein scheinen. Und es gibt die Skeptiker, die einerseits erklären, dass wir nichts wissen können, anderseits aber von der Wahrheit ihrer eigenen Position überzeugt sind. Die gegenwärtige Situation macht so klar, dass es nicht einfach ist, philosophische Grundlagen aufzustellen, ohne in einen Dogmatismus, Relativismus oder Nihilismus zu fallen.

In einer festgefügten traditionellen Gesellschaft war das Wissen um den eigenen Standort verhältnismäßig einfach. Man übernahm die Überzeugungen und Werte der Gesellschaft und gab sie an die nächste Generation weiter. Es war eine Wiederholung des Vergangenen: keine Initiative war gefragt, die Betonung lag eher auf der Gemeinschaft als auf dem Idividuum, es war eine Sache der Übereinstimmung, das Individuum sollte weder Erneuerungswillen noch persönliches Urteilsvermögen zeigen.

Heutzutage aber scheint alles im Wandel begriffen zu sein. Technische Entwicklungen erzwingen Veränderungen in den Produktionsmethoden; die Integration neuer Weisen der Produktion in ein Lebensganzes hat wiederum sozialen und kulturellen Wandel zur Folge. Historische Studien haben uns mit der Idee vertraut gemacht, dass die Vergangenheit von der Gegenwart nicht nur in den politischen und sozialen Institutionen, sondern auch im Sinngehalt und den Werten nach verschieden ist. Kulturen verändern sich, sie vermischen sich und verlagern sich, indem sie fortwährend neue Elemente in sich aufnehmen. Sprachen haben eine Geschichte: das Deutsche des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht dasselbe wie das des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit diesem Wandel der Sprache verändern sich auch die Bedeutungen.

Gibt es etwas Gleichbleibendes?
Gibt es irgendeine Beständigkeit in der Wahrheit?
Und wenn, wo lässt sich diese Beständigkeit finden?

Es ist seit jeher Domäne der Philosophie, diese allgemeinen Probleme von Wahrheit und Wert zu lösen. Heutzutage aber gibt es eine Vielzahl an Philosophien, und man findet sich mit der Tatsache konfrontiert, sich eine Philosophie wählen zu müssen. Noch bevor man also Philosophie studiert, muss man sich entscheiden, welche Universität man besuchen und welche Bücher man lesen soll, welche Kurse man belegen und welche Position man sich zu eignen machen soll. Wir scheinen in einer Doppelmühle gefangen zu sein: um überhaupt etwas über Weisheit lernen zu können, müssen wir schon weise sein, und um etwas über Gutheit lernen zu können, müssen wir schon gut sein. Es gibt eine Vielzahl an Philosophien, und wir benötigen Kriterien um zwischen ihnen entscheiden zu können.

Als Alternative böte sich an: "Machen wir es den Naturwissenschaften nach!" Die Naturwissenschaft hat sich als so erfolgreich erwiesen. Naturwissenschaftler haben eine Methode, ein technologisches Verfahren, sie sind zu so viel imstande, vermögen die Probleme der Welt zu lösen und scheinen alles tun zu können. Naturwissenschaftler jedoch scheinen nicht viel über Moral sagen zu können, und zeichnen sich nicht gerade darin aus, sich Rechenschaft über die eigenen Methode zu geben. Irgendetwas, was über diese Wissenschaft hinausgeht, scheint erfordert zu sein. Da das aber als Weltsicht nicht sehr überzeugend ist, mag ein wohlwollender Eklektizismus so anziehend wirken, nämlich sich einfach irgendetwas von Wissenschaft, Philosophie, New Age, östlicher Meditation usw. herauszuklauben und auszuwählen. Das mag für eine gewisse Zeit befriedigend sein, aber schließlich wird es wie das auf Sand gebaute Haus in sich zusammenstürzen.

Die These dieses Textes ist, dass persönliche philosophische Grundlagen möglich und tatsächlich auch notwendig sind. Unter Grundlagen verstehe ich einfach die Tatsache, eine Position zu den Grundfragen des Wissens, Seins, des Universums, der Wahrheit und Werte einnehmen und dann auch intelligent und vernünftig verteidigen zu können. Diese Grundlagen können nicht in den formulierten Sätzen einer Philosophie oder Tradition gefunden werden, wohl aber in einem Grundmuster der geistigen Tätigkeiten des Denkens, Wissens und Entscheidens. Dieses Muster an kognitiven Tätigkeiten ist allen Philosophien, Kulturen und Traditionen gemeinsam. Diese Tätigkeiten, wodurch wir die Wahrheit erkennen und Moral und religiösen Fragen bewerten können, sind tatsächlich die Quelle aller Philosophien, Meinungen, Wahrheiten und Überzeugungen. Wir üben diese kognitiven Tätigkeiten unabhängig davon aus, ob wir sie schon erkennen, und indem wir sie näher bestimmen, machen wir die Grundlagen unseres eigenen intellektuellen Lebens explizit, während wir uns gleichzeitig ein scharfes Werkzeug schaffen, um eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Philosophien in unserer heutigen Kultur treffen zu können.

Es ist also unsere Annahme, dass diese kognitive Analyse zeigen wird, wie unser Denken und Wissen sein soll. Den Vorgängen des Denkens und Wissens sind jene Normen oder Imperative eingeschrieben, die den Ursprung all unserer Logik, unserer Moralgesetze und Methoden bilden. Eine Untersuchung des geistigen Prozesses zeigt nicht nur, wie der Geist tätig ist, sondern auch wie er tätig sein sollte. Der Geist ist dynamisch, er entfaltet sich und drängt auf ein je besseres Verstehen und Wissen hin. Wenn wir seine Imperative erkennen können, können wir auch den Ursprung aller Logik, Methoden und Verfahrensweisen verstehen. Dann werden wir die Grundlagen gefunden haben, nach denen wir suchen, die zu Grunde liegende Dynamik, der Ursprung sowohl der Beständigkeit als auch des Wandels.

Das aber können wir nur schrittweise erlangen, eine Frage nach der anderen und nicht alles auf einmal. Es gibt keine leichten Lösungen. Dieser Prozess verlangt eine Selbsterforschung und er erfordert Zeit und Mühe. Die Entdeckung aber, dass der Schlüssel zu Wahrheit und Gutheit in unser Herz und Verstand liegt, ist ein ungemein befreiendes Erlebnis.

2. Klarstellungen und Voraussetzungen. Zuerst wollen wir uns über die Ziele und Voraussetzungen dieses Textes klar werden. Wir bieten nicht nur eine andere Theorie oder Möglichkeit an, sondern einen Weg zur  Selbstfindung.

Ausgangspunkt. Wo fangen wir an? Euklid begann sein großes Werk über Geometrie mit einer Reihe von Axiomen, Definitionen und Prinzipien, die er dann auf einfache gerade Linien, Dreiecke und Zirkel anwandte und später auf dreidimensionale Körper wie Kugel, Zylinder und Kegel. Sein Ansatz ist ein Mustermodell, und die Voraussetzung vieler Wissenschaftszweige besteht darin, dass jede achtbare Studie dieses Modell nachahmen muss.

Einige moderne Philosophen (Kant und Hume zum Beispiel) begannen mit Prinzipien und Definitionen bezüglich der Reichweite und Möglichkeit menschlichen Erkennens und gingen von da aus weiter vor, aber dieses Verfahren scheint ziemlich seltsam zu sein. Wie kann man die Voraussetzungen für das Wissen vernünftig festsetzen, ohne sich mit der Tätigkeit des Wissens selbst zu befassen? Können wir mit unseren Vorurteilen und Grenzen gleichsam aus uns selbst heraussteigen, um dann festzusetzen, worin diese Grenzen bestehen? Andere zeitgenössische Philosophen, Husserl zum Beispiel, haben eine voraussetzungslose Philosophie zu erarbeiten versucht. Aber kann es so etwas wie eine Philosophie ohne Definitionen, Prinzipien oder Axiome geben, die innerhalb einer Tradition erworben worden sind? Diese eher neueren Versuche scheinen aber auch nicht erfolgreich gewesen zu sein.

Unser Ansatz nimmt bei dir und mir seinen Anfang - beim Subjekt in seiner natürlichen Irrung und Verwirrung. Wir fangen an, wo wir uns in der gegenwärtigen Situation im sich enfaltenden Drama der Geschichte befinden. Philosophieren besteht nicht nur im geradlinigen Erwerb eines Systems von Definitionen, Prinzipien und Schlussfolgerungen, sondern eher in einer Vorwärts- und Rückwärtwbewegung entlang von Spiralenkreisen. Wir wollen uns langsam in die Richtung von Klarheit, Verständnis und Tiefe fortbewegen. Wir wollen langsam und genau herausfinden, was wir tatsächlich wissen und wie wir dieses Wissen erlangt haben. Wir wollen aus unseren Fehlern lernen, herausfinden, warum wir sie begangen haben, und sie mit all ihren Implikationen bis auf die Wurzel ausrotten. Wir wollen die eigentliche Wissesentfaltung ins Auge fassen und nicht eine abstrakte Möglichkeit des Wissens. Das menschliche Wissen ist kontingent: es ist nicht notwendig und könnte auch anders ein. Die einzige Möglichkeit also, die Macht und Grenzen des menschlichen Wissens herauszufinden, besteht in der Beobachtung der Fakten, was das Wissen leisten kann und was nicht. Versuchen wir, die Möglichkeit und Grenzen des menschlichen Wissens aus dem Prozess des Denkens selbst herauszufinden. Es ist das Wissen im Vollzug, in dem wir die Kriterien für ein richtiges Wissen entdecken.

Zurück zu den Quellen. Wonach suchen wir? Wir suchen nach einer Einheit hinter der uns von heutigen Philosophen präsentierten Vielfalt. Wir suchen nach Grundlagen, die uns durch die Herausforderungen und Schwierigkeiten geleiten, auf die wir stoßen. Wenn wir mit widerstreitenden Ideen oder auch mit einer Folge von erfolgreichen Ideen konfrontiert sind, kommt der Punkt, an dem wir uns fragen müssen: Woher kommen diese Theorien? Welchem Zwecke dienen sie? Wir leben in einer kulturellen Vielfalt. Warum gibt es so viele Kulturen? Sind sie alle gleich? Können wir eine andere Kultur kritisch beurteilen? Wir sind von einem Pluralismus an Kulturen, Lebensstilen, moralischen Wertvorstellungen, Bildungs- und Erziehungsystemen umgeben, von Klassenunterschieden, einer ethnischen Vielfalt, Spezialisierungen und Berufsschichtungen: was ist berechtigt und was nicht, was ist authentisch und was nicht? Was ist der Grund unserer hartnäckigen Uneinigkeit in der Weltsicht? Warum vor allem gibt es so viele verschiedene Theorien über das Wissen, und wie können wir unter ihnen eine Auswahlt treffen?

All diese Fragen laden uns zu einer Betrachtung über den menschlichen Geist ein, zu einer Prüfung des Verstehensprozesses und zu einer Beobachtung darüber, was Wissenschaftler beim Formuliern und Verifizieren ihrer Theorien und bei ihrem Urteilen über deren Erfolg und Misserfolg eigentlich tun. Anstelle von epistomologischen Theorien, die unserer Phantasie entstammen, wollen wir auf die Daten, den Vollzug des Wissens, achten. In diesem Fall haben wir es damit zu tun, was der menschliche Geist in seiner Bewegung von den Fragen zu den Schlussfolgerungen eigentlich vollzieht.

Subjektivität. Wo können ihre Grundlagen gefunden werden? Wir gründen unsere Suche danach im wissenden Subjekt selbst. Einige zeitgenössische Philosophen verwerfen jede Berufung auf die Subjektivität. Besonders die empirische Tradition erfordert für die Verifikation eine Berufung auf die Sinnesdaten, und Empiriker sind verwundert, wie man sich auf unsichtbare, persönliche und geistige Tätigkeiten berufen kann. Wie kann man sicher sein, dass die geistigen Tätigkeiten des einen dieselben sind als die des anderen? Für Existenzialisten bedeudet das Subjektive die Gefühlswelt, die Erfahrung, das Drama und die Tragödie - alles gewiss erforschenswert, aber sie sind für Existenzialisten nicht der Ort, an dem nach den ersten Prinzipien der Philosophie gesucht werden könnte. Andere wiederum befürchten, dass man niemals aus der subjektiven Welt zur objektiven gelangen kann, wenn man die Philosophie ihren Anfang im Bereich der Subjektivität nehmen lässt.

Wir jedoch behaupten, dass man das wissende Subjekt in Betracht ziehen muss, um die Grundlagen finden zu können. Es gibt die in den Naturwissenschaften behandelten Tatsachen bezüglich der materiellen Welt, es gibt aber auch die Tatsachen bezüglich der Wirkweisen des menschlichen Geistes, die in gleicher Weise wahr und wichtig und sehr wohl zugänglich sind, wenn man nur die richtige Methode anwendet. Auf den Einwand hin, dass diese Untersuchung der Erkenntnistätigkeit nur Psychologie sei, würde ich entgegnen, dass jedes Fach, das uns bei der Beantwortung der oben gestellten Fragen hilfreich sein kann, zu diesem Zwecke auch eingesetzt werden sollte. Wir wenden hier die Einsichten einer kognitiven Psychologie nur an, um über die Psychologie hinaus zu einer unveränderlichen kognitiven Struktur zu gelangen, zu einer Erkenntnistheorie und Epistemologie.

Integrierender Rahmen. Umfassen diese Grundlagen auch alles? Wenn eine Philosophie nicht umfassend ist, verfehlt sie ihr Ziel. Es gibt viele Spezialgebiete im Bereich der Philosophie, aber ihr letztes Ziel besteht gewiss im Verständis darin, wie all die verschiedenen Teile zusammenstimmen. Philosophie muss uns einen Überblick über das Ganze geben, einen integrierenden Rahmen, und sie muss das umfassendste aller Wissensgebiete sein. Wenn die Philosophie einige Aspekte des Lebens wie Sprache, Logik oder gewisse Schriften aussondert und fordert: "das ist unser Spezialgebiet", dann beschränkt sie sich selbst auf die Ebene einer Spezialwissenschaft. Der Philosoph kann nicht alles wissen, aber er muss in der Lage sein, alles in ein Ganzes zu fügen - ein Ganzes im Wissen, aber nicht das Ganze des Wissens. Das meinte auch Aristoteles, wenn er darauf bestand, dass die "Erste Philosophie" nicht wie die Spezialwissenschaften Seinsbereiche ausschließen darf, sondern sich mit dem Seienden als Seiendem befassen muss, das heißt, mit allem unter dem weitest nur möglichen Blickpunkt[1].

Kulturübergreifend. Gibt es so etwas wie eine westliche, östliche oder afrikanische Philosophie? Gibt es also drei verschiedene Begründungen für drei verschiedene Philosophien? Kultur besteht für uns in Überzeugungen und Werten, die in einer gemeinsamen Lebensweise zum Ausdruck kommen. Eine Philosophie ist eine formale, kritische und systematische Darstellung von Methoden und Schlussfolgerungen. Der Anspruch auf eine Verschiedenheit der Kulturen ist durchaus berechtigt, aber ich würde ergänzen, dass alle Menschen ein gemeinsames Fundament haben und das die Grundlage für eine Philosophie ergibt, die weder westlich noch östlich noch afrikanisch, sondern eine allen gemeinsame ist. Hinter dem Pluralismus von Kulturen steht die uns allen gemeinsame Menschheit. Das Grundmuster der geistigen Tätigkeiten, auf das wir uns berufen, ist Teil dieses gemeinsamen Erbes.

Konzentration auf das Wissen; Auswahl erforderlich. In gewissen Fällen kann man nur eine Aufgabe nach der anderen erledigen. In diesem Text treffen wir die nicht einfache Entscheidung, dass wir uns auf die intellektuellen Grundlagen konzentrieren und die Wertfragen und ethischen und religiösen Fragen beiseite lassen. Eine philosophische Grundlage der Wahrheit im gegenwärtigen Meinungsklima wiederzugewinnen ist keine leichte Aufgabe und erfordert eine beharrliche Konzentration auf den schwierigen Sachverhalt und eine gewisse Aszese und Disziplin. Wir hoffen, dass der Text der Herausforderung angemessen ist. In unserem Epilog wollen wir dann kurz Vorschläge unterbreiten, wie unsere Methode auf eine Moralphilosophie und die Begründung religiöser Werte ausgeweitet werden könnte.

Woher aber sollen wir etwas über uns in Erfahrung bringen? Sollen wir auf uns selbst setzen? Sollen wir gleichsam von Null beginnen? Wir suchen nach Grundlagen, die auf keinerlei Autorität beruhen, sondern nur darauf, was wir als Menschen sind. Wir brauchen auf unserem Weg aber einen Begleiter, und jener Begleiter, den ich dabei am hilfreichsten gefunden habe, ist Bernard Lonergan.

3. Leben und Werk Bernard Lonergans. Bernard Lonergan (1904-1984), ein Kanadier von irischer Abstammung - er trat in die Gesellschaft Jesu ein und durchlief die üblich Stufen der Ausbildung: Noviziat in Guelph, Ontario, scholastische Philosophie mit Latein und Griechisch, Mathematik an der Universität in Heytrop, anschließend drei Lehrjahre am Loyola College[2] und weitere vier in Theologie an der Gregoriana in Rom. Es geschah durch Zufall, dass Lonergan für sein Doktorat in Theologie das Thema von Gnade und Freiheit bei Thomas von Aquin zugewiesen erhielt. Er hatte zuvor wenig Interesse am Aquinaten und fühlte sich mehr zu Plato, Augustinus und Newman, zur Philosophiegeschichte und den Methoden der Geschichte hingezogen.

Die nächsten elf Jahre seines Lebens verbrachte Lonergan damit, sich "in das Denken des Aquinaten einzuarbeiten"[3], erst in das Thema von Gnade und Freiheit und dann in die Erkenntnistheorie. Lonergan fand beim Aquinaten eine sehr differenzierte und dynamische Darstellung der menschlichen Verstehenstätigkeit, das Erfassen des Intelligiblen im Sensiblen und das Voranschreiten zu Urteilsbildung als dem Resultat eines Reflexionsvorganges[4]. Da zu Lonergans Zeiten übliche Darstellungen der thomistischen Erkenntnistheorie dem Erkenntnisvorgang selbst wenig Beachtung schenkten, die Bedeutung des Begriffs und des Urteils als einer Verbindung zwischen Begriffen aber übermäßig hervorhoben, war Lonergan über die Entdeckung erstaunt, dass die Erfahrung seines eigenen Erkennens mit der Darstellung des Aquinaten übereinstimmte. Außerdem entdeckte Lonergan beim Aquinaten die Analogie zwischen dem menschlichen Erkennen und den Hervorgängen der Trinität[5]. Diese historischen Studien wurde erst in Form von fünf Artikeln in den "Theologischen Studien"[6] und später in Buchform veröffentlich: Verbum, Wort und Idee bei Thomas von Aquin.[7]

Lonergan war sich der Situation der katholischen Kirche in ihrer Erfahrung der Umwandlung im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 50er- und 60er-Jahren genau bewusst. Es war seine Überzeugung, dass sich die Kirche selbst von der Welt, Wissenschaft, Technik, dem sozialen Wandel und der modernen Philosophie seit dem Konzil von Trient isoliert und deshalb einen beträchtlichen Nachholbedarf hatte. Lonergan aber war nicht an Streitigkeiten über Kleinigkeiten interressiert, sondern an langfristigen Lösungen und an der Grundlegung einer wirklich zeitgemäßen und wirksame Theologie. Dazu war zu allererst eine philosophische Basisarbeit nötig, und so nahm Lonergan die Arbeit an seinem großen Hauptwerk in Angriff: Einsicht, eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Dieses gewaltige Werk von über 758 Seiten übersetzte die metaphysischen Kategorien des Aquinaten über das menschliche Erkennen in psychologische Kategorien, mit denen ein heutiger Leser eher vertraut ist[8].

Man könnte zusammenfassend sagen, dass Einsicht die Antwort auf drei Grundfragen ist: Was tue ich, wenn ich erkenne? Warum ist dieses Tun ein Erkennen? Was erkenne ich, wenn ich diese Tätigkeiten vollziehe? Diese drei Fragebereiche könnte man der Reihe nach auch so nennen: Erkenntnistheorie, Epistemologie und Metaphysik. Da die meisten Scholastiker der Metaphysik Prioriät einräumten und die Epistemologie in metaphyischen Begriffen verstanden wurd, womit Lonergan nicht einverstanden war, ist die Umkehr dieser Reihenfolge nicht unbedeutend. Lonergans Darlegung beginnt mit dem wirklichen Verstehensprozess, wie man der Erfahrung nach in der Mathematik, den empirischen Wissenschaften und der Psychologie zum Verstehen gelangt. Dieser Ansatz bestätigte die Aussagen des Aquinaten über den Erkenntnisvorgang und übersetzte sie zugleich in eine zeitgemäßge Terminologie. Lonergan fügte dann noch Kapitel hinzu, um die Möglichkeit von Ethik, eines natürlichen Wissens von Gott und einer Offenheit für Religion aufzuweisen. Einsicht wurde innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren verfasst, von 1949 bis 1953.

Nach seiner Berufung an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom Dogmatik zu lehren wandte sich Lonergan dann den Schwierigkeiten der Theologie zu und er beschäftigte sich nun sowohl mit den Folgen der Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils als auch auch mit den Errungenschaften der deutschen Geschichtswissenschaft, mit dem Problem der für das Studium der biblischen Sprachen notwendigen Spezialisierung, der neuen Hervorhebung der literarischen Formen und der kultureller Vielfalt. Diese Periode fand in der Veröffentlichung von Methode in der Theologie[9] im Jahre 1972 ihren Höhepunkt. Die verbleibenden Jahre seines Lebens verbracht Lonergan größtenteils am Boston College, wo er er Makroökonomie lehrte.

Ich bin davon überzeugt, dass Einicht in der Philosophiegeschichte zusammen mit Klassikern wie der Metaphysik von Aristoteles und der Kritik der reinen Vernunft von Kant schließlich seinen Platz finden wird. Das Werk ist originell, bahnbrechend, exakt und umfassend. Es ist nicht bloß irgendeine plausible oder auch richtige Erkenntnistheorie, sondern der Zugang zu einer ganz anderen Art des Philosophierens, wodurch Philosophie persönlich und verifizierbar wird. Einsicht ist eine Einladung zu einer Selbstaneigung unseres intellektuellen Potentials und die Verwirklichung jener Normen, die in jedem von uns immanent vorhanden und wirksam sind. Lonergans Denken ermöglicht uns sowohl die Bewahrung unseres Gleichgewichtes inmitten der Schwierigkeiten des heutigen öffentlichen Forums als auch die Entdeckung von Grundlagen, die für eine schlüssige theologische Weltsicht notwendig sind.

4. Kommunikation. Einsicht ist ein Text, der studiert, angeeignet und schließlich auch als das geschätzt werden will, was er ist, das Werk eines Genies. Es hat das Potential unsere Art des Denkens, Verifizierens und Philosophierens zu verändern. Die langfristigen Implikationen sind enorm. So wie die Metaphysik und Logik von Aristoteles die Grundlage für das Mittelalter schuf, so wird die Zeit gewiss kommen - und hoffentlich nicht in zu ferner Zukunft -, da Einsicht die Grundlage für die kulturelle Entwicklung eines anderen Zeitalters schaffen wird. Aber es ist nicht so einfach, die Schätze von Einsicht auch würdigen zu können. Lonergans Werk ist ernst, kompromisslos und unerbittlich. Er beruft sich auf mathematische und wissenschaftliche Beispiele, die weit über das Wissen vieler hinausgehen, die wir als Sterbliche weniger reich begabt sind. In einem fast 800 Seiten langen Text finden wir keine graphische Darstellung, keine erotischen und witzigen Stellen, dafür aber eine schwierige und neuartige Terminologie. Einsicht wurde nicht für Angsthasen geschrieben, sondern mit der vollen Absicht verfasst, keinen Stein auf dem anderen stehen - und keine Lücke in der Argumentation übrig zu lassen. Einsicht wurde von Lonergan auf der Höhe seiner intellektuellen Schaffenskraft innerhalb von vier kurzen Jahren als eine Propädeutik für seine Arbeit über die Methode in der Theologie verfasst. Es wurde nicht für den Massenmarkt der Bestseller geschrieben und bedarf eines Kommentares eher als einer Zusammenfassung.

Eine zunehmend Zahl von begeisterten Anhängern kennt Lonergans Werk und schätzt es auch. Es gibt viel Publikationen, Zeitschriften, Forschungszentren, Kurse, Studiengruppen und Webseiten im Internet, und die Veröffentlichung der gesammelten Werke in 21 Bänden ist weit vorangeschritten[10]. Obwohl Lonergans Werk zu einer sehr begrenzten Tradition der katholischen scholastischen Philosophie und Theologie zählt, ist es für die ganz heutige Kultur von Bedeutsamkeit. Lonergan kann uns Wesentliches sagen und uns auf die heutigen Probleme Antworten geben. Außerhalb des unmittelbaren Kreises der katholischen Theologie und Philosophie jedoch ist er kaum bekannt. Es scheint hier ein Vermittlungsproblem zu geben. Lonergans Abhandlung von Begriffen wie Fundament, geistige Akte, Metaphysik und Gott spottet gewiss der Weisheit unserer Zeit Hohn, doch bin ich überzeugt, dass die eigentliche Schwierigkeit in der Vermittlung Lonergans nicht darin besteht, sondern in seinem Aufruf, wir mögen uns in das dritte Stadium der Bedeutung aufmachen.[11] Er fordert uns in unserem Forschen und Lernen zu einem Bewusstwerden unseres Geistes im Vollzug auf. Das führt nicht bloß zu einer anderen, wenn auch schwierigen Erkenntnistheorie -entlang der Linie der Theorien von Sokrates bis Satre -, sondern zu einem Wandel in unserer Art des Denken, zu einer höheren Perspektive und zu einer Entdeckung unserer eigenen geistigen Fähigkeiten und deren Potential. Es ist wesentlich eine Aufforderung zu einer persönlichen Entdeckung dessen, wie unser Geist tätig ist, was Verstehen eigentlich ist und wir unseres Erkennens sicher sein können.

Formulierte Lonergan bloß eine andere Erkenntnistheorie, so wäre es verhältnismäßig einfach, diese Theorie zu erklären, auf ihre Teile zurückzuführen, Beispiele dafür zu geben, Zustimmung oder Ablehnung zu äußern, aus seinem Werk zu zitieren, sich auf Kommentatoren und Interpreten zu berufen oder gar einen gelehrten Wälzer zu verfassen, der Lonergans System, seine Voraussetzungen und Implikationen umfassend abhandelt. Wenn Lonergan aber den Aufbruch in eine völlig neue Sinnphase darstellt, und wenn er dich und mich dabei zur Gefolgschaft einlädt, so können wir ihn nicht bloß durch das Verständis einer Theorie verstehen, sondern indem wir uns die Tätigkeiten und Wirkweisen unseres Geistes aneignen und zu eigen machen. Sollte also jemand die Ideen Lonergans vermitteln wollen, so kann es nur geschehen, indem er seine eigenen Erfahrungen mit anderen teilt: Ich vermittle dir die Erfahrung meiner eigenen intellektuellen Entwicklung, gewähre dir jede Hilfe, um Lonergan zu folgen und an ihm eine begleitende Stütze zu haben - die dann hinfällig wird, wenn du eine größere Autorität entdeckst, jene deines eigenen Geistes.

Es gibt dabei aber noch einen anderen Aspekt zu berücksichtigen, die Notwendigkeit nähmlich, Lonergan einem weiteren Leserkreis verfügbar zu machen. Dieses Ziel und die Überzeugung dieser Erfordernis sind auch Leitlinie dieses Textes. Es gibt einige ernste Schwierigkeiten in der Vermittlung dieser Philosophie, dennoch kann sie auch auf dem Niveau von Studenden der unteren Semester erfolgen. Einsicht passt zudem gut zum Lehrplan einer traditionellen theologischen Hochschule, wo die Kosmologie zur Erkenntnistheorie wird und Epistemologie sich mit dem Urteil und der Objektivität befasst; Metaphysik, Ethik und Religionsphilosophie können dann in späteren Kapiteln abgehandelt werden. Meine Lehrerfahrung hat mich überzeugt, dass das nicht nur möglich ist, sondern den Studenten ein befreiendes Erlebnis und dem Lehrer Freude und Befriedigung gewähren kann. Man kann auch die doch schwierigen Beispiele aus Einsicht durch einfachere ersetzen, die dem Ausbildungsstand und der Kultur der Studenten eher angemessen sind.

Es ist ein riskantes Unternehmen einen großen Denker zu vereinfachen und einem breiteren Kreis zugänglich zu machen. Es gibt die allgegenwärtige Gefahr die eigentliche Sache zu verfehlen, wichtige Ideen auszulassen und den Sinn seiner Argumentation zu verdrehen. Diese Gefahr ist gegeben und niemand von geringerem Format als der ursprüngliche Denker kann behaupten davon gefeit zu sein. Wir aber unternehmen diesen Versuch in der Hoffnung, dass jede Verzerrung dann berichtigt wird, wenn der Student in der Lage ist, den ursprünglichen Text selbst aufzunehmen und über unsere anfänglichen allzu starke Vereinfachungen hinauszugehen.

Ich schreibe auch nicht als Gelehrter, sondern als Lehrer. Handelte es sich in erster Linie um ein gelehrtes Werk, würde es ein häufiges Zitieren, Erklären und Vergleichen mit anderen Autoren beinhalten, Angaben von historischen Bezügen und die Entfaltung der eigenen Sachkenntnis bis in alle Feinheiten und Einzelheiten. Aber ich schreibe als Lehrer, und ich versuche einen schwierigen Sachverhalt einfach zu machen, hilfreiche Beispiele zu bringen, Schritt für Schritt voranzugehen und mich auf die wirklich wichtige Sache der Selbst-Aneignung zu konzentrieren. Dieser Text ist der Versuch, einen Zugang zu den Reichtümern von Einsicht zu vermitteln.

In diesem Buch geht es nicht um Lonergan als Autorität, wir nehmen ihn vielmehr als Begleiter auf einem Weg des Denkens. Das Buch ist nicht für Lonergangelehrte und Spezialisten verfasst, sondern für Lehrer und Studenten. Wir führen einige wesentliche Zitate und Verweise an, so dass wir eine Verbindung zu seinem Denken haben können. Das Buch mag als Einführung zu seinem Denken dienen, wenn du aber selbst das Original in Angriff nehmen kannst, dann umso besser. Die Konzentration auf das Wesentliche bringt unvermeidlich eine gewisse Bereiche ausschließende Vereinfachung mit sich. Das war keinesfalls einfach und mag bei einigen Experten auch Anstoß erregen. Ich habe mich auf den Gedanken der intellektuellen Selbst-Aneignung als den Schlüssel zum gesamten Denken Lonergans und zur Stärke seiner Position konzentriert.

Für wen wurde dieser Text geschrieben? Für den gebildeten und nachdenklichen Menschen, der sich über seine kulturellen und philosophischen Grundlagen Rechenschaft zu geben sucht; für den durch die Vielfalt der ihm vorgelegten Positionen ähnlich verwirrten Philosophiestudenten; für Philosophielehrer, die etwas von ihrer persönlichen Grundüberzeugung sowohl als Angebot für eine Lebensgestaltung als auch als Information über Philosophie und Philosophen vermitteln wollen; für diejenigen, die sich eine Einführung zu Lonergans Denken wünschen; für jedermann, der sich mit den Grundlagen der Kultur beschäftigt; für Studenten der Theologie, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die sich einen Rahmen wünschen, innerhalb dessen ihre Disziplin gedeihen und zum Fortschritt mehr als zum Niedergang beitragen kann; für eine Bildungs- und Erziehungsphilosophie und solche, die mit der Bewahrung und Vermittlung von Werten und Wahrheit zu tun haben.

Der Stil dieses Textes fällt notwendigerweise persönlicher und zwangsloser aus, als es in einem Philosophiebuch sonst üblich ist. Es geht um die Entdeckung deines Potentials des Verstehens und Wissens in der Art einer Do-it-yourself-Aneignung: ihr wesentliches Ziel und ihr Zweck besteht darin, dir in der Bewusstwerdung deiner Verstehenstätigkeit und jener Normen zu helfen, die in der rechten Entfaltung des Wissensstrebens enthalten sind. Ich werde mich folgerichtig auf die Erfahrung meines Wissenserwerbes als Grundlage dafür berufen, um dir beim Vollzug desselben Überstieges behiflich zu sein. Die Selbst-Aneignung ist die Grundlage einer möglichen Vermittlung, was sich auch auf den Schreibstil und die Präsentation niederschlägt.

Jedes Kapitel fängt mit einigen vorbereitenden Aufgaben an. Du kannst dir zwar Zeit ersparen, wenn du sie überspringst, du wirst aber dann in Gefahr laufen den wesentlichen Punkt zu verfehlen. Die Übungen dienen dazu, die intellektuellen Erfahrungen anzuregen, die das Thema dieses Kapitels sind. Du bist es, der im Mittelpunkt des Buches steht; es geht nicht um Wissenstheorien oder um philosophische Grundlagen im allgemeinen, auch nicht um Lonergan oder Mathematik, sondern um dich. Einige Anmerkungen zu den vorbereitenden Übungen sind am Ende jedes Kapitels angefügt. Diese Beispiele stellen nur eine kleine Auswahl dar und können durch Beispiele von deinem eigenen Fachgebiet ergänzt werden.

Am Endes jedes Kapitels sind Endnoten angefügt, um eine Hilfe für jene zu geben, die sich an eine eher fachsprachlichen Darstellung von Lonergans Denken herantasten wollen, und auch für jene, die mit philosophischer Problematik und Terminologie nicht so vertraut sein mögen. Jedes Kapitel ist eine Einheit zum Zweck des Nachdenkens, der Aneignung, Erörterung und auch Umsetzung. Der Text kann den Weg weisen, Übungen vorschlagen, Definitionen erklären, aber es liegt am Leser, die Übungen auch auszuführen und zu erkennen, was die Definitionen mit deiner eigenen Erfahrung zu tun haben.

5. Zusammenfassung der Erörterung[12]. Der Text gliedert sich in zwei nur lose aufeinander bezogene Teile, in "Denken" und "Wissen". In einer eher fachsprachlichen Weise könnten man sie auch so bezeichnen: "Direkte und inverse Einsicht" und "reflexive Einsicht und Urteil". Im erste Teil geht es um jene Ebene der intellektuellen Tätigkeit, auf der wir intelligente Ideen entwickeln, die möglichen Verbindungen und Kausalbeziehungen zwischen Dingen erforschen und Hypothesen formulieren. Im zweiten Teil geht es darum, wie wir diese Hypthesen als wahr oder falsch bejahen oder bestreiten. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit auf den rationalen Vollzug, durch den wir zum Wissen von etwas gelangen. Weil unsere Kultur in dieser Hinsicht so große Probleme hat, ist es notwendig, den Sachverhalt in allen Einzelheiten klar zu machen.

Wir fangen mit der Gliederung der drei Bedeutungsstufen an, weil es uns beim Erfassen der Notwendigkeit hilft, dass wir uns sowohl individuell als auch kollektiv auf den Weg zur dritten Bedeutungsstufe aufmachen sollen. Es trägt viel zu Klärung und einer vereinheitlichenden Sicht bei, wenn wir unsere Geistesgeschichte von dieser Perspektive aus betrachten, und es hilft uns, das Übel unserer Zeit als ein Übel des Übergangs zu verstehen. Intellektuelle Selbst-Aneignung ist dabei die Methode, die wir für das Voranschreiten vorschlagen. Weil sie neu und schwierig ist, muss sie erklärt und als berechtigt ausgewiesen werden. Wir lernen die Tätigkeiten unseres Verstehens kennen, indem wir uns dem zuwenden, was wir tun, wenn wir etwas richtig verstehen. Im zweiten Kapitel wenden wir unsere Methode auf die einfachsten und klarsten Beispiele an, die wir nur finden konnten, und suchen dann die Eigentümlichkeiten dieser Tätigkeit zu bestimmen. Die stete Herausforderung an den Leser dabei ist, diese Tätigkeiten in seinem eigenen Erkennen dann zu entdecken.

Die Beschreibung[13] und Erklärung sind zwei verschiedene, aber gültige Weisen des Verstehens und werden als zwei verschiedene Sichtweisen ein und desselben Sachverhaltes unterschieden. Die Beschreibung ist am einfachsten; sie kommt höchst natürlich zustande, fördert aber nicht die genaue Definition. Die Erklärung ist ein Sprung in die Richtung, die Dinge aufeinander zu beziehen, und führt zu einer Klarheit in der Erklärung und einer Genauigkeit im Messen. Wir werden erklären, wie diese Tätigkeiten aufeinander bezogen sind: warum drängt etwa die Beschreibung stets zur Erklärung hin, welche Einsichten sind dabei beteiligt? Im vierten Kapitel wenden wir uns jener eigentümlichen Art von Einsicht zu, die nicht bloß das Verstehbare erfasst, sondern das Fehlen einer erwarteten Verstehbarkeit. Das ist die Grundlage weniger für ein Verständnis von systematischen Regelmäßigkeiten, sondern von Wahrscheinlichkeiten.

Im fünften Kapitel werden wir die Entwicklung des Verstehens zu bestimmen suchen: es ist dynamisch; Einsichten formen sich zu Einheiten, höheren Gesichtspunkten und Verallgemeinerungen; das Verstehen gewinnt an Tiefe, wird umfassender, flexibler, genauer in der Unterscheidung. Persönliche Einsichten fügen sich in das habituelle Muster des Geistes, formen den Habitus des Suchens und Forschens und führen zur Beherrschung eines Fachegebietes. Wir erfassen etwas von der unbegrenzten Flexibilität und dem Potential unseres menschlichen Geistes.

Indem wir im zweiten Teil auf den Unterschied zwischen einem bloß als Möglichkeit erwogenen Satz und einem als wahr bejahten oder verneinten Satz achten, verlagert sich der Text vom Denken hin zum Wissen. Das Urteil entsteht aus einer reflexiven Einsicht, die die ausreichende Evidenz für die Behauptung eines Urteils erfasst. Das ist ein Erfassen einer Einheit in einer Vielheit, eine Zusammenschau sehr unterschiedlicher Elemente, um in ihrer Einheit die Notwendigkeit der Urteilsbejahung zu sehen. Beim Bedenken des reflektiven Verstehens werden wir auch die dieser Tätigkeit immanenten Normen entdecken.

Schließlich werden wir auch über unseren Fortschritt Bilanz ziehen und die aufeinander bezogenen Tätigkeiten zusammenfassend darlegen, die wir als konstitutiv für das menschliche Erkennen und Wissen entdeckt haben. Wir merken an, dass unsere abschließende Darlegung der kognitiven Struktur einer Grundrevision nicht offen steht. Wir kritisieren das Verfahren der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und stufen es im Vergleich zu unserem Erfassen der knognitiven Struktur als weit untergeordent ein. In dieser nicht revidierbaren normativen Struktur finden wir die persönlichen Grundlagen für uns alle, sodass wir ihre Wahrheit auch behaupten und wirklich auf unseren eigen Füßen stehen können.

Wir erörtern dann noch noch die intellektuelle Konversion. Zum ersten Mal erkennen und bestimmen wir jene Dialektik, die im menschlichen Vestehen tätig ist: Die Imagination steht im Konflikt mit der Einsicht, das Sehen mit dem Verstehen, die Unmittelbarkeit der Sinneserfahrung mit der Vermitteltheit der Einsicht. Wir machen von vier bildlichen Ausdrücken Gebrauch, um diese Erfahrung der intellektuellen Konversion zu erforschen und zu objektivieren in der Hoffnung, dass jeder Leser mit zumindest einem Ausdruck etwas anfangen kann. Die intellektuelle Koversion gibt uns eine Grundlage für die Unterscheidung richtiger und falscher philosophischer und wissenschaftlicher Position. Allerdings vermögen auch irrige Philosophien einen Beitrag für die Klärung des letzten Zieles einer umfassenden Weisheit zu leisten. 

Der abschließende Epilog weist auf die Möglichkeiten hin, die durch diesen Durchbruch zur dritten Bedeutungsstufe eröffnet werden. Er deutet an, wie unsere Methode für die Entwicklung einer Metaphysik und Ethik Verwendung finden kann. Wir erörtern die Rolle der Philosophie in Beziehung zur Kultur im allgemeinen und mit besonderer Rücksichtnahme auf Afrika. Wir leben in einer Periode des Übergangs vom "Commonsense" und der "Theorie" hin zur Welt der Interiorität; weil sie eine Übergangszeit ist, gibt es als Begleiterscheinung Verwirrung und Kontroverse, weil sie aber auch einen Durchbruch darstellt, ist sie voll der Möglichkeit und Hoffnung auf Entwicklung, Fortschritt und Weisheit.


 
[1] Aristoteles, Metaphysik, Buch Gamma (IV). Aristoteles beginnt dieses Buch mit der Unterscheidung zwischen den Spezialwissenschaften, die Teile der materiellen Welt als ihr Forschungsgebiet aussondern und der alles umfassen müssenden ersten Philosophie. Aristoteles' Begriff "Erste Philosophie" würden wir heute "Metaphysik" nennen.
[2] Lonergan unterrichtete am Loyola College in Montreal von 1930 bis 1933. Anm. d. Übs.
[3] F. Crowe, Lonergan, 41.
[4] Anm. d. Übs.: Begriffe wie: das "Intelligible", "Sensible" und "Urteil" (als ein philosophischer Begriff) mögen den mit dieser Art Terminologie nicht vertrauten Leser anfangs verwirren. Im Verlauf der Lektüre wird sich der Sinn dieser Begriffe klären, und es mag sich ein Staunen einstellen, in welch differenzierter Weise der mittelalterliche Denker Thomas von Aquin (1224 oder 1225 bis 1274) den Erkenntnisprozess erfasst und entfaltet hat.
[5] Anm. d. Übs. "Hervorgang, Relation und Person" sind Termini der thomistischen Trinitätslehre. Hervorgang (lat. processio) meint den "Hervorgang" des Logos vom Vater und den "Hervorgang" des Geistes von Vater und Sohn. In "Verbum, Word and Idea in Aquinas" zeichnet Lonergan Thomas' Gedankengang nach, demzufolge eine Analogie zwischen dem Hervorgang des inneren Wortes im Erkenntnisprozess und dem Hervorgang des Logos aus dem Vater besteht. Siehe auch folgende Fußnote.
[6] Theological Studies 1946-1949.
[7] Bernard Lonergan, Verbum: Word and Idea in Aquinas, herausgegeben von Frederick E. Crowe und Robert M. Doran, Collected Works of Bernard Lonergan, vol 2, (Toronto: Toronto University Press, 1997).) Diese Studie behandelt das Verstehen und Urteil bei Thomas von Aquin im Hinblick auf die Klärung des rationalen Prozesses, der eine menschliche Analogie für die göttlichen Hervorgänge bietet.
[8] Bernard Lonergan, Insight: A Study of Human Understanding, hg. von Frederick E. Crowe ud Robert M. Doran, Collected Works of Bernard Lonergan, vol 3. (Toronto: Toronto University Press, 1992). Erstveröffentlichung bei: Longmans, Green and Co 1957. Die Seitenangaben der Literaturverweise beziehen sich auf die Collected Works Edition. Dazu Ang. d. Übs.: Lonergans Hauptwerk "Insight" ist in einer deutschen Übersetzung erhätlich: B. Lonergan, Die Einsicht, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. von Philippe H. Fluri und Giovanni B. Sala, Traude Junghans Verlag, Cuxhaven, Dartford, 1995.
[9] Bernard Lonergan, Method in Theology, (London: Darton, Longman & Todd, 1972). Dazu Anm. d. Übs.: Dieses Werk ist in deutscher Sprache erhältlich: B. Lonergan, Methode der Theologie, Benno Verlag, Leipzig, 1971.
[10] Anm. d. Übers.: von den 25 vorgesehenen Bänden der gesammelten Werke Lonergans sind bisher (Stand September 2002) elf erschienen.
[11] Anm. d. Übs.: Lonergan unterscheidet zwischen einer mythischen und theoretischen Stufe und der Stufe der Interiorität. Dazu mehr: Hinweis
[12] Anm. d. Übs.: Die zusammengeraffte thesenartige Zusammenfassung des Buches im folgenden Abschnittes wird den mit Lonergans Denken noch nicht vertrauen Leser eher verwirren als im Verständnis helfen, und es mag für ihn ratsam sein, diesen Abschnitt zu übergehen und gleich mit den vorbereitenden Übungen im 1. Kapitel des I. Teiles anzufangen.
[13] Anm. d. Übs.: Entsprechend den drei Bedeutungsstufen gibt es drei verschiedene Formen, um eine Einsicht auszudrücken, zwei davon sind die Beschreibung und Erklärung. Näheres dazu später im Text.

 

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