... dass Thomas sich klar dessen bewusst war, dass der in sich dreifach geschichtete Erkenntnisvorgang erst im Urteil an sein Ziel, zur Wahrheit, gelangt


Zu: Summa Theologica I, Frage 16, Artikel 2, Antwort

Ein herzliches Dankeschön an Br. Dunstan Robidoux, OSB, der mir bei der Klärung meiner Gedanken hinsichtlich dieser Stelle geholfen hat.

Inhalt


 

Summa Theologica I, Frage 16, Artikel 2, Antwort

Deutsch

ANTWORT. Wie schon gesagt worden ist, liegt das Wahre seiner ersten Bedeutung nach im Intellekt. Da nun ein jedes Ding entsprechend seiner ihm eigenen Naturform wahr ist, kann auch der Intellekt, insofern er erkennend ist, nur wahr sein, als er eine Ähnlichkeit mit dem erkannten Ding hat, das seine Form ist, insofern er eben erkennend ist. Aus diesem Grund wird die Wahrheit durch die Konformität des Intellekts mit dem Ding definiert. Diese Konformität erkennen heißt also die Wahrheit erkennen. Der Sinn erkennt das in keiner Weise: Mag auch der Gesichtssinn eine Ähnlichkeit mit dem Sichtbaren haben, so erkennt er doch nicht die Beziehung zwischen dem gesehenen Ding und dem, was er davon erfasst. Der Intellekt aber vermag seine Konformität mit dem Intelligiblen zu erkennen: aber er erfasst sie nicht, insofern er von etwas das Was-sein ("Das-was-es-Ist", to ti estin) erkennt, sondern erst indem er urteilt, dass sich das Ding wie jene Form verhält, die er vom Ding erfasst, erkennt er das Wahre und drückt es auch aus. Und das geschieht, indem er zusammensetzt und trennt: denn in einem jedem Satz spricht er irgendeine Form, die durch das Prädikat bezeichnet wird, irgendeinem Ding, das durch das Subjekt bezeichnet wird, entweder zu oder spricht es ihm ab. So zeigt es sich, dass zwar der Sinn hinsichtlich eines Dinges wahr ist und der Intellekt, insofern er das Was-sein ("Das-was-es-Ist) erkennt, aber nicht insofern er das Wahre erkennt und ausdrückt. Und ähnlich verhält es sich mit den zusammengesetzten oder nicht zusammengesetzen Wörtern. Die Wahrheit kann also im Sinn oder im das Was-sein ("Das-was-es-Ist") erkennenden Intellekt wie in einem wahren Ding sein, nicht aber wie das Erkannte im Erkennenden, was im Namen des Wahren enthalten ist. Die Vollkommenheit des Intellekts aber ist das Wahre als Erkanntes. Im eigentlichen Sinne also ist die Wahrheit im Intellekt, insofern er zusammensetzt und trennt, nicht aber im Sinn noch im Intellekt, insofern er das Was-sein ("Das-was-es-Ist", erkennt. Von daher ergibt sich auch die Lösung für Einwände. (Quelle des Textes: WWW, Übersetzung aus dem Lateinischen mit Hilfe des englischen Textes, R. Krismer)

Latein

RESPONDEO dicendum quod verum, sicut dictum est, secundum sui primam rationem est in intellectu. Cum autem omnis res sit vera secundum quod habet propriam formam suae naturae, necesse est quod intellectus, inquantum cognoscens, sit verus, inquantum habet similitudinem rei cognitae, quae estforma ejus inquantum est cognoscens. Et propter hoc per conformitatemintellectus et rei veritas definitur. Unde conformitatem cognoscere, estcognoscere veritatem. Hanc autem nullo modo sensus cognoscit: licet enimvisus habeat similitudinem visibilis, non tamen cognoscit comparationemquae est inter rem visam et id quod ipse apprehendit de ea. Intellectusautem conformitatem suam ad rem intelligibilem cognoscere potest: sed tamennon apprehendit eam secundum quod cognoscit de aliquo quod quid est; sedquando judicat rem ita se habere sicut est forma quam de re apprehendit,tunc primo cognoscit et dicit verum. Et hoc facit componendo et dividendo:nam in omni propositione aliquam formam significatam per praedicatum, velapplicat alicui rei significatae per subjectum, vel removet ab ea. Et ideobene invenitur quod sensus est verus de aliqua re, vel intellectuscognoscendo quod quid est: sed non quod cognoscat aut dicat verum. Etsimiliter est de vocibus complexis, aut incomplexis. Veritas quidem igiturpotest esse in sensu, vel in intellectu cognoscente quod quid est, ut inquadam re vera: non autem ut cognitum in cognoscente, quod importat nomenveri; perfectio autem inlellectus est verum ut cognitum. Et ideo proprieloquendo veritas est in intellectu componente et dividente: non autem insensu neque in intellectu cognoscente quod quid est. Et per hoc patetsolutio ad objecta.  (Quelle des Textes: WWW)
 

Anmerkungen zur "Respondeo" im Lichte von Lonergans "Understanding and Being", Kapitel 2.19

In diesem kurzen Text der Respondeo zeigt sich, dass Thomas sich klar dessen bewusst war, dass der in sich dreifach geschichtete Erkenntnisvorgang erst im Urteil an sein Ziel, zur Wahrheit, gelangt.

Der Erkenntnisvorgang erscheint in diesem Abschnitt als ein Gefüge von Konformitäten. Auf der Stufe der Sinnlichkeit liegt die Konformität zwischen dem Sinn und dem sensibile vor, auf der Stufe des Intellekts jene zwischen dem Intellekt und intelligibile und auf der Stufe des Urteils jene zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten.

Betrachten wir die Konformitäten jeder Stufe unter dem Aspekt des Gemeinsamen und nicht unter jenem ihrer verschiedenen Herkunft, so können wir durchaus, innerhalb des Horizontes von Thomas und Aristoteles bleibend, die Konformität im Sinne von Identität interpretieren. Schon Aristoteles spricht dem Sinn nach von der Identität zwischen dem Gesichtssinn und der Farbe (FN01). Gäbe es eine dritte "Form" zwischen Gesichtssinn und Farbe, um zwischen den anderen beiden Formen zu vermitteln, so bräuchte man eine vierte "Form", um die Übereinstimmung der dritten mit der zweiten und ersten feststellen zu können, weiter dann eine fünfte, um die Übereinstimmung der vierten mit der dritten, zweiten und ersten feststellen zu können und so weiter ad infinitum. Weil ein solches ad infinitum hier nichts erklären würde, spricht Aristosteles im Hinblick der Farbe im Gesichtssinn dem Sinn nach von 'Identität'. Auf der Ebene des Intellekts wäre nach dem Schema der Identität von Sinn und sensibile die Identität von Intellekt und dem intelligibile. Wie aber sieht nun die Identität auf der Ebene des Urteils aus, jene also zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten?

Bestünde die in der Respondeo angesprochene Konformität von Erkennendem und Erkanntem in einer weiteren Identität von 'Formen', so stellte sich die Frage nach dem Unterschied dieser Konformität zu jener auf der Ebene des Intellekts. In welchen Formen sollte eine solche Konformität bestehen? Da weiter der Erkennende in seinem Erkennen gleichsam unbegrenzt ist, also in seiner 'Form' des Erkennens, so müsste die Form aufseiten des 'Objektes' ebenfalls unbegrenzt sein, wenn man schon von Konformität spricht. Oder ist diese Art der Konformität ganz anders?

Aristoteles findet nun im Denken des Denkens (noesis noeseon) seinen Endpunkt in der Reflexion über die Konformitäten. Von einem anderen Ansatz ausgehend, der Reflexion über die Bewegung, erreicht Aristoteles zein Ziel im ersten unbewegten Beweger (proton kinoun akineton). Beide Endpunkte erweisen sich als zwei Aspekte des Letzten, der unbewegte Beweger, der das Universum und die Welt durch die Vollkommen seines reines Gedankens als Zielursache lenkt, aber eben darin bleibt Aristoteles innerhalb des Horizont der intelligiblen Ebene.

Thomas geht nun über diese intelligible Ebene hinaus und erreicht die 'Konformität' neuer Art auf der Ebene des Urteils. Diese 'Konformität' ist keine Konformität von Formen, sondern eine Setzung dieser Formen im absoluten Sein, also eine 'Konformität' als Partizipation des menschlichen Geistes am Sein. Der unbegrenzte menschliche Geist 'berührt' sich selbst in seiner Absolutheit, indem er im ausgesprochenen Urteil das unbedingte Sein vollzieht.

Lonergan schreibt über diesen entscheidenden Denkschritt von Aristoteles zu Thomas: "Aristoteles wendet sich noch nicht dem Seinsakt selbst zu; bei Thomas aber haben wir diesbezüglich eine Reihe von relevanten Texten. Im Sentenzenkommentar, in der Summa contra Gentiles und im ersten Teil der Summa theologiae ist das id quod est das Zusammengesetzte aus Form und Materie im materiellen Ding und die bloße Form bei Engeln und Gott. Auf der anderen Seite gibt es (glücklicherweise von meiner Sicht aus) in der tertia pars q.17, a.2 ad 4m eine Stelle, wo Thomas sagt, dass das Zusammengesetzte aus Form und Materie nur das id quo est ist. Wenn 'Form und Materie' bloß das id quo ist, dann muss man, um das id quod zu haben, das Sein hinzufügen, und dann haben wir eine dritte Komponente (FN02).

Quod quid est - ti estin

Noch ein anderer Aspekt dieses Textes der Respondeo sei aufgezeigt. Als Ausdruck für die Form des Intellekts verwendet Thomas hier die wörtlich Übersetzung der Aristotelische Formel to ti estin (quod quid est). Wie B. Lonergan in Understanding and Being aufweist, verwendet Aristoteles diese Formel um jenen Erkenntnisschritt zu bezeichnen, der sich im Übergang von der Einsicht zur Definition ergibt (FN03). Die in der Idee der Einsicht sich zeigenden Relationen werden in der Definition generalisierend ausgedrückt. Genau diesen Ausdruck verwendet Thomas nun, um die Form des Dinges auf der Ebene der Intelligibilität auszudrücken, wobei er zugleich aber feststellt, dass diese Konformität des Intellekts mit dem quod-quid-est noch nicht die Vollendung des Intellekts bedeute. Wieder zeigt sich hier der Schritt Thomas' über Aristoteles hinaus.

Anmerkung zum Wort 'wahr'

Thomas verwendet das Wort 'wahr' hier in zwei Bedeutungen. Vom absoluten Standpunkt aus ist ein Ding wahr, wenn es die Form besitzt, die ihm von Natur aus zukommt, und der Intellekt ist unter diesem Aspekt wahr, wenn er das Intelligible besitzt, weil es eben zu seiner Natur zählt vom Intelligiblen informiert zu sein. Vom menschlichen Standpunkt aus ist etwas nicht deshalb schon wahr, weil der menschliche Geist im 'Besitz' seiner Form ist, sondern erst, indem er diesen wissenden Besitz im Urteil und Ausdruck dieses Urteils im Sein vollzieht.

In den verschiedenen Bedeutungen von 'wahr' zeigen sich nun zwei verschiedene Bewegungen an, eine absteigende Bewegung, die vom Schöpfer seinen Ausgang nimmt und im konkreten Ding und Wesen sein Ziel erreicht, und eine aufsteigende Bewegung, die von der Identität des Sinnes mit dem 'Sinnlichen' ihren Ausgang nimmt und im Urteil sein Ende findet. Diese beiden Bewegungen ineinandergestellt ergeben eine Art Kreis, wobei das letzte Verbindunsstück zwischen den beiden kreisenden Bewegungen jenes Sein ist, das der Mensch im ausgesprochen Urteil aufspannt: reditio completa. Im Grunde beginnt die Wende hin zur Subjektivtät bei Thomas (FN04).und in der reditio completa zeigt sich an, was später Lonergan so ausdrückt, dass die wahre Authentizität oder die authentische Subjektivität die Objektivität ist.

Weil dieser kurze Text so klar sowohl die Kontinuität als auch Differenz im Hinblick auf Aristoteles, Thomas und Lonergan aufweist, wollte ich ihn auf unserer Lonergan Homepage präsentieren.  (R. Krismer)

Fußnoten

FN01 Aristoteles, De Anima 425b, 426b, 427a

FN02 "Aristotle does not advert to the act of existence; but in St Thomas, we have a series of relevant texts. In the Commentary on the Sentences, the Summa contra Gentiles, and the pars prima of the Summa theologiae, id quod est [that which is] is the compound of form and matter in material things, and simply the form in angels and God. On the other hand, in the tertia pars, q. 17, a. 2, ad 4m, there is (fortunately, from my viewpoint) a passage in which St. Thomas says that the compound of form and matter is just id quo est [that by which (a thing) is]. If 'form and matter' is just id quo [that by which], then to have the id quod [that which] one has to add existence, and we have a third component" Lonergan, Understanding and Being, 210

FN03 "What is the difference between to ti ên einai and to ti estin, between the form and the definition? It is the difference, with which we have already dealt, between the content of the insight and the conception, the general definition. Aristotle moved back as best he could - and it is marvelous that he did as well as he did - from conception to insight, by talking about their objects: to ti ên einai, the form; to ti estin, the definition; and also ousia (essence)." (B. Lonergan, Understanding and Being, 51)

FN04 J. B. Metz, Christliche Anthropozentrik; Über die Denkform des Thomas von Aquin.


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