Eine gute Hinführung zu B. Lonergan


Lonergans Struktur der Erkenntnis

Sehen wir uns zu Beginn ein einfaches Beispiel an:

Wenn x - 4 = 20, wieviel ist dann x?

Ein äußerst einfaches, aber es sagt uns schon sehr viel.

(1) Das bekannte Unbekannte. Um zu einem Verständnis von etwas Neuem zu gelangen, müssen wir gewöhnlich das Unbekannte ausfindig machen. Wenn wir es ermittelt haben, haben wir das, was Lonergan ein "bekanntes Unbekanntes" nennt. Wir wissen noch immer nichts, aber wir wissen, was es ist, was wir nicht wissen. Das ist von großer Bedeutung, wenn wir jemals zu einem Wissen gelangen wollen.

(2) Die heuristische Struktur. Um ein Verständnis davon zu gewinnen, was wir nicht wissen, sollten wir der der Reihe nach angeben, was wir wissen, und es verwenden, um das Unbekannte in Angriff zu nehmen. In dem einfachen Beispiel etwa geben wir das x auf die eine Seite und alles, was wir darüber wissen, auf die andere: x = 20 + 4. Das hilft uns, den Wert von x herauszufinden. Sehen wir uns ein anderes Beispiel anhand der Interpretation eines Textes an.

Wenn ich eink... gehe,
muss ich immer mein Kroko... mitn...
Es ... sich darauf, einen Spaziergang zu ...
Es wedelt mit dem ... und lächelt j... an
Nicht viele Leute ... zurück.
Sie w... sich nur und machen große A...

Die Auslassungen sind die Stellen, die wir anfänglich nicht kennen, und weil wir uns darüber nicht im Klaren sind, kennen wir auch die volle Bedeutung dieses Textes nicht. Aber wir verwenden das, was wir wissen, um die Textstelle zu verstehen. Wir wenden dabei viel immer schon vorhandenes Wissen an: Wissen über Krokodile und menschliche Reaktionen auf Krokodile; aber auch Wissen von der Sprachstruktur, von Tempus, Singular und Plural oder der normalen Wortstellung im Englischen. Ohne dieses habituelle Wissen - Wissen, das wir in der Regel kaum anwenden - wären wir überhaupt nicht in der Lage, die Textstelle zu verstehen. Deshalb ist es richtig zu sagen, dass wir nicht nur einen Sinn aus dem Text herauslesen, sondern einen Sinn in den Text hineinlegen.

Aber mehr noch. Es ist noch einiges mehr geschehen, als wir die Textstelle durchgingen und die vorhandenen Hinweise und Anhaltspunkte dazu verwendeten, um den Sinn der leeren Stellen herauszufinden und das Fehlende einzusetzen. Wir haben davon Gebrauch gemacht, was wir bereits wissen oder feststand. Auf diese Weise wenden wir das an, was wir bereits wissen, um das anzugehen, was wir noch nicht wissen. Wir erstellen eine heuristische Struktur.

(3) Es wird vielen von Ihnen bekannt sein, dass Lonergans Erkenntnistheorie aus drei Schritten besteht: Erfahrung, Verstehen und Urteil. Der Gegenstand der Erfahrung sind die Daten, das Gegebene. Die Daten können wir uns in erster Linie einfach als Sinneseindrücke denken, als Akte der Sinneswahrnehmung, des Sehens, Hörens, Fühlens, Tastens, Schmeckens und Riechens. Lonergans Notion der Daten sollte nicht mit empiristischen Notionen von Sinnesdaten verwechselt werden: für Lonergan sind die Daten nicht die Bausteine der Realität "dort schon draußen", die sich in Zeit und Raum erstrecken. Daten sind das, worüber wir Fragen stellen. Sie sind das, was wir erfahren, aber noch nicht wissen oder verstehen - sie sind die leeren Stellen im Krokodil-Text, das, worüber wir solche Fragen stellen wie: "Was ist das? Warum geschieht das?" usw. Daten führen weiter zu Fragen und erfolgreich gestellte Fragen führen zu Einsichten in die Daten. Wir füllen die leeren Stellen so aus, dass die Textstelle einen Sinn ergibt, wir werten die Daten aus, wir entschlüsseln sie und machen sie sinnvoll.

Die Sinngebung kommt mit dem zweiten Schritt zustande. Wir suchen nach einer Bedeutung, um den Daten einen Sinn zu geben, wir erklären etwas, was wir zwar erfahren, aber noch nicht verstehen. Dazu ein Beispiel: Vor ein paar Jahren trat ich in unser Schlafzimmer, um meine Aktentasche auf dem Weg zur Arbeit mitzunehmen. Meine Augen schweiften im Raum umher, wie man sich so suchend umblickt, und ich ertappte mich dabei, wie mir etwas auf dem Teppich ins Auge fiel, irgendetwas ziemlich Dunkles, ein dunkler Fleck auf dem Teppich zwischen Heizung und Waschbecken ... Der Fleck war ungewöhnlich, er hatte dort nichts zu suchen und gab deshalb zur Frage Anlass: "Was ist das?" Als ich näher an ihn herankam, merkte ich, dass er glänzte und mit einer Art silbriger Oberfläche versehen war. Es sah wie Wasser aus. Ich beugt mich vor, berührte den Fleck und ließ meine Hand darüber gleiten. Es war Wasser. Ein Schreck war die Folge. Es hatte dort auf dem Teppich nichts zu suchen. Warum befand sich dort auf dem Teppich Wasser? Ich begann die Daten, die als dunkler Fleck auf dem Teppich ihren Anfang genommen hatten und sich nun als Wasser herausstellten, zu befragen; diese neue Tatsache führte jedoch bloß zu einer weiteren Frage, nämlich zur Frage: "Warum?" Ich sah mir den Heizkörper an und fuhr mit der Hand über dessen Vorderseite - völlig trocken. Ich sah mir das Waschbecken an, aber es schien als Ursache für diesen nassen Fleck in keiner Weise in Frage zu kommen. Auch war der Wasserhahn zugedreht, und es war schon eine gute Weile verstrichen, seit das Waschbecken in Verwendung gewesen war. Der untere Teil des Waschbeckens war völlig trocken. Vielleicht verlief unter den Fußbodendielen ein leck gewordenes Rohr zur Heizung oder zum Waschbecken hin? Aber Wasser aus einem Leck sickert gewöhnlich nach unten, anstatt nach oben zu steigen. Vielleicht war das Leck so groß, dass es wie eine kleine Fontäne Wasser nach oben spritzte? Gerade als ich an diese Hypothese dachte, fiel mir ein Wassertropfen auf den Kopf (Ich war noch immer über den nassen Fleck auf dem Teppich gebeugt). Ich blickte nach oben und sah einen anderen sich an der Decke bildenden Wassertropfen. Ich schaute hinaus. Es regnete heftig. Ich hatte die Ursache des Lecks gefunden: das flache Dach über diesem Teil des Hauses war undicht.

(4) Die Sinngebung findet dann statt, wenn wir unserer Erfahrung einen Sinn geben und zu einem Verständnis der Daten gelangen. Die Art der Sinngebung, zu der wir gelangen, hängt von der Art der uns rätselhaften Daten ab und der Art der Frage, die wir stellen. "Was ist das?", dürfte uns zuerst zu einer Beschreibung veranlassen: "Es ist ein glänzender, mit einer silbrigen Oberfläche versehener dunkler Fleck. Er fühlt sich kalt und nass an." Die Beschreibung hilft uns, die Daten zu verstehen, indem wir zwischen ihnen und unseren Sinnen einen Zusammenhang herstellen. Manchmal wollen wir gar nicht mehr. Aber in dem von mir genannten Beispiel ging ich weiter zur Frage über: "Warum?" Ich wollte eine Erklärung für das Wasser auf dem Teppich haben. Ich sah mich nach einer wahrscheinlichen Ursache um und entdeckte zwei Möglichkeit, ehe ich die eigentliche Erklärung fand. Die Erklärung besteht darin, die Dinge so aufeinander zu beziehen, dass die Frage eine Antwort findet. Auf dem Teppich ist ein nasser Fleck: Er befindet sich deshalb dort, weil Wasser durch die Decke dringt und auf den Boden tropft. Und das Wasser dringt deshalb durch die Decke, weil über der Decke ein Loch im Dach ist und es draußen regnet. Die Erklärung bezieht die Dinge aufeinander und die Beschreibung setzt die Dinge in Bezug auf unsere Sinne. Beides findet in der Wissenschaft Anwendung. In der Beschreibung sagen wir aus, wie die Dinge aussehen, welche Farbe sie haben, ob sie kalt oder heiß sind, ob sie bei einer bestimmten Temperatur die Farbe ändern, ob die Dinge entflammbar sind usw. Genaue Sinnesbeobachtung ist für die Wissenschaft von großer Bedeutung. Die Beschreibung aber versieht uns mit keiner Erklärung, die Wissenschaft jedoch braucht die Erklärung. Warum sehen die Dinge so aus, warum verhält sich das so, bei welcher Temperatur genau liegt der Entzündungspunkt usw.

Wenn wir in ein Gefäß mit 5 Liter Wasser fünf Liter Wasser hinzugießen, erhalten wir 10 Liter Wasser. Gießen wir 5 Liter Alkohol zu 5 Liter Alkohol hinzu, erhalten wir 10 Liter Alkohol. Wenn wir aber 5 Liter Wasser zu 5 Liter Alkohol hinzugeben, so erhalten wir etwas weniger als 10 Liter Flüssigkeit. Warum? Eine Erklärung könnte die unterschiedliche Molekularstruktur von Wasser und Alkohol sein.

(5) Aus unseren Überlegungen wird so weit klar, dass der Erwerb von Verstehen und Wissen kein passiver Vorgang ist. Der Erwerb gelingt nicht, indem wir uns bequem zurücklehnen und darauf warten, dass Sinnteilchen durch unsere Augen dringen. Wir kommen zu einem Verstehen, indem wir Fragen stellen. Und wenn wir die Frage gestellt haben, machen wir uns an die Suche nach einer Antwort. Die Antwort führt uns möglicherweise zu einer Hypothese. Aber eine Hypothese ist nicht die Antwort, sie ist bloß eine mögliche Antwort. [Ein Beispiel:] Wir hören nebenan, vom Nebenzimmer her, einen Knall. "Was ist das?" - Vielleicht ist etwas aus dem Regal gefallen, vielleicht hat der Wind das Fenster aufgeblasen, unser Sohn mag etwas mit dem Hammer zerschlagen haben oder vielleicht ist der Gasofen explodiert. Alles nur Mögliche geht uns durch den Sinn. Wir gehen nach nebenan und finden heraus, dass es tatsächlich der Wind war, der das Fenster aus der Verankerung gerissen hat, so dass das Fenster an die Wand schlug. Eine unserer möglichen Erklärungen hat sich so als die richtige erwiesen. So kommen wir zum Urteil: "Alles ist in Ordnung, es ist ja nur das Fenster."

Was geschieht eigentlich im Augenblick des Urteilens? Im Grunde bestätigen wir darin die Richtigkeit unseres Verstehens. Aber was meinen wir mit der "Bestätigung der Richtigkeit unseres Verstehens"? Wir meinen damit die Bejahung dessen, dass unser Verstehen den Daten entspricht. Die Tätigkeit des Bejahens, dass unser Verstehen den Daten entspricht, kann der äußerst einfache Vorgang eines Nachprüfens sein: Das Schlagen des Fensters ist eine hinreichende Erklärung für den Lärm, den ich einen Augenblick vorher gehört habe. Der Lärm trat auf und verschwand wieder. Das verlangte nach einer Erklärung. Ich sehe nach und entdecke, dass mit höchster Wahrscheinlichkeit das Fenster den Lärm verursacht hat. In der wissenschaftlichen Erklärung verlangt das Urteil häufig umfangreichere Verfahrensweisen, aber auch hier gilt für das Urteil grundsätzlich dasselbe, nämlich dass es Bestätigung der Richtigkeit einer Hypothese ist. Wir arbeiten die Implikationen einer Hypothese aus. Wenn die Hypothese wahr ist (Wenn ist ein wichtiges Wort in der Wissenschaft), dann kann man dieses oder jenes Ereignis im Verlauf der folgenden Gegebenheiten annehmen. Man führt die Gegebenheiten durch ein Experiment herbei und überprüft, ob die vorausgesagten Resultate eintreffen. Wenn sie zutreffen, gilt die Hypothese diesbezüglich als bestätigt. Wenn sie nicht zutreffen, gilt die Hypothese diesbezüglich als entkräftet. Vielleicht muss sie auch völlig verworfen werden.

Wenn ist ein wichtiges Wort, wenn wir uns daran machen, vom Verstehen zum Urteil zu gelangen. Die vorgeschlagene Bedeutung, die Hypothese, die Lösung des Problems ist ein Bedingtes - bestimmte Bedingungen müssen erfüllt sein, um als wahr gelten zu können. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, - wenn Vorhersagen, zum Beispiel, eintreffen oder wenn wir bestimmte Tatsachen bestätigen können, weil wir uns an den Ort des Ereignisses begeben und uns selbst ein Bild davon machen können - haben wir nicht mehr länger bloß ein Bedingtes, sondern ein Bedingtes, dessen Bedingungen erfüllt worden sind. Lonergan nennt das ein bedingtes Unbedingtes. Die virtuell unbedingte Natur der Bedeutung oder der Antwort auf die Frage ermächtigt uns zur Setzung des Urteils. Wir stellen nicht mehr bloß eine bedingte Wissensbehauptung auf, sondern eine virtuell unbedingte: eine Behauptung, deren Bedingungen erfüllt worden sind.

(6) Die Fragen, die zum Urteil führen, lauten: "Ist das so?" Ist es wahrscheinlich so oder wahrscheinlich nicht so?" Das sind Fragen, die einer andere Antwort bedürfen als jene Fragen, die zum Verstehen führen. Diese Fragen erwarten eine Bejahung oder Verneinung, ein Ja oder Nein. Das positives Urteil ist die Bejahung, dass die vorgeschlagene Bedeutung (Beschreibung, Interpretation, Erklärung) in den Daten einen Sinn ergibt. Das Urteil ist eigentlich eine Synthese aus den Daten und ihrer Bedeutung, eine Synthese aus den Schritten 1 und 2, wobei der 1. Schritt, die Erfahrung der Daten, zu Fragen führt. Erfolgreiches Fragen führt zum 2. Schritt, und der dritte Schritt besteht in der Vergewisserung, dass Schritt 2 und 1 übereinstimmen. Das Bejahte sind die Daten als Sinnträger, die Daten werden ein Etwas. Es ist das Urteil, aufgrund dessen wir die Wahrheit kennen, und es ist die Wahrheit, aufgrund dessen wir das Sosein bejahen, die Wirklichkeit bejahen und die Wirklichkeit auch kennen. Das Wirkliche ist das, was intelligent verstanden und im Urteil verantwortungsvoll bejaht wird. Das Urteil ist der dritte Schritt im Erkennen und führt zur Wissensbehauptung, dass etwas tatsächlich ist. Im Urteil findet das Zögern ein Ende, und wir beziehen Position, dass etwas tatsächlich ist und in einer bestimmen Weise ist.

(7) Diese äußerst einfache Darstellung dessen, worin das Erkennen besteht, hilft uns, so meine ich, viele in der Philosophie aktuelle Fragen zu beantworten. Wenden wir uns nur einem dieser Probleme zu, aber einem, das uns einige der tieferen Elemente erwägen lässt, die in Lonergans Erkenntnismodell enthalten sind. Das ist der Konflikt zwischen der Korrespondenztheorie von Wahrheit und der Kohärenztheorie von Wahrheit. Die Kohärenztheorie ist die heute wahrscheinlich vorherrschende Theorie - Dinge sind dann wahr, wenn sie in einem Zusammenhang stehen. Die Korrespondenztheorie hingegen hält Dinge für wahr, wenn das, was als wahr behauptet wird, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Korrespondenztheorie ist in vieler Hinsicht die Sicht des gesunden Menschenverstandes: Die Dinge sind wahr, wenn sie damit übereinstimmen, was jetzt schon da draußen ist. Wenn beipielsweise meine Idee jener Wirklichkeit entspricht, die in der Idee vermutlich zum Ausdruck kommt, so ist es eine richtige Idee; wenn sie ihr nicht entspricht, ist es eine falsche Idee. Die Schwierigkeit mit dieser Art der Korrespondenztheorie besteht darin, dass wir nie einerseits die Ideen und anderseits die Wirklichkeit aufstellen und so ersehen können, ob sie übereinstimmen. Nur durch Ideen gelangen wir zur Wirklichkeit, so dass wir niemals über den Ideen stehen und ersehen können, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist offensichtlich zum Scheitern verurteilt.

(8) Aus demselben Grund wird in der Erkenntnislehre der Skeptizismus zu einem Problem. Wenn ich die Wirklichkeit nur kraft der Ideen erkenne, durch das Medium, das in meinem Kopf ist, und wenn ich mir weiter nie sicher sein kann, ob das, was in meinem Kopf ist, damit übereinstimmt, was in der Welt tatsächlich der Fall ist, kann ich dann jemals etwas zu wissen behaupten? Die Wirklichkeit - oder was ich Wirklichkeit nenne - wäre dann offensichtlich nur eine Projektionswand für die Wahrnehmungen und Ideen, die in meinem Verstand sind. Ich könnte niemals über diese Projektionswand hinaus zur Wirklichkeit selbst gelangen. Was ich zu wissen behaupte, wäre nicht die Wirklichkeit, sondern wären bloß meine Ideen. Ich könnte niemals aus meinem eigenen Kopf herausgelangen, wir wären im Solipsismus sozusagen gefangen, im Subjektivismus, Skeptizismus, Idealismus, Fideismus und in all den anderen Schwierigkeiten, die die traditionelle Erkenntnislehre belasten. Wie geht Lonergans Erkenntnistheorie mit diesen Schwierigkeiten um?

(9) Es hängt wirklich alles von dem von uns bevorzugten Erkenntnismodell ab. Hinter der Schwierigkeit der Ideen als einer undurchdringbaren Projektionswand liegt ein Erkenntnismodell, ein Modell, dass das Erkennen für eine Art des Sehens oder Schauens hält. Das richtige Erkennen ist das Sehen und Wahrnehmen dessen, was dort draußen ist, und das falsche Erkennen ist das Sehen und Wahrnehmen dessen, was nicht dort draußen ist. Die Ideen wiederum stellen irgendwie die äußere Wirklichkeit dar: Die Idee eines Stuhles, Tisches oder Schreibtisches ist beispielsweise eine Art der inneren Darstellung der Wirklichkeiten, die sich dort draußen befinden. Dieses Verständnis der Idee aber, diese Idee der Idee, stößt, wie wir schon gesehen haben, auf die zuvor erwähnten Schwierigkeiten. Die Notion, dass Erkennen eine Art des Sehens und Wahrnehmens ist, dass es analog zum Sehakt des Auges gedacht wird und dass der Verstand eine Art eines inneren Auges oder geistigen Spiegels ist, ist jene Notion, die Lonergan zutiefst zurückweist. Und mit jener Zurückweisung schwindet auch die damit verbundene Idee der Wirklichkeit und Objektivität dahin - die Idee, dass die Wirklichkeit das ist, was, ausgedehnt in Zeit und Raum, immer schon dort draußen ist, und dass die Objektivität an diese äußere Wirklichkeit heranreicht. Die Idee der Idee als einer inneren Darstellung einer äußeren Wirklichkeit geht einher mit der Notion des Erkennens als eines Sehens. Lonergan verwirft dieses Erkenntnismodell, diese Auffassung des Erkennens und so verwirft er diese Idee der Idee als einer ständigen Vermittlung zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten. Er verwirft das, was man in einer eher formalen Weise Representationismus nennt.

(10) Was setzt Lonergan an Stelle dessen? Zu allererst ein völlig anderes Modell oder eine völlig andere Fassung dessen, was Erkennen ist: nämlich das weiter oben erwähnte Dreistufenmodell. In dieser Fassung ist Sehen oder Wahrnehmung oder jede andere Form der Sinneswahrnehmung nicht das, was Erkennen ist, sondern nur ein erster Schritt im Vorgang des Erkenntniserwerbes. Außer diesem ersten Schritt müssen noch zwei andere Schritte vollzogen werden. Lonergan sagte bekannterweise, dass jene, die Erkennen für eine Art des Sehens halten, zwar entdecken, was im Erkennen am offenkundigsten ist, aber daraus schließen, was Erkennen offensichtlich ist. Wenn nun das Erkennen kein Sehen ist, dann sind auch die Ideen keine inneren Bilder oder Darstellungen einer äußeren Wirklichkeit. Was sind die Ideen aber dann? Ideen sind intelligible Formen, sie sind die Antworten auf unsere Fragen. Sie sind das, was wir in den Dingen finden, wenn wir danach trachten sie zu verstehen.

(11) Ich will das näher erläutern. Plato plagte sich mit dem Problem der Universalien ab. Wie kommt es, dass wir einem einzelnen Sessel, wenn wir ihn sehen, die universale Notion einer Sesselheit zuschreiben? Wir könnten etwas derartiges in einem Einzelding gar nicht erfassen, weil das aus einem Einzelnen das herauslösen würde, was ein Einzelnes zu leisten gar nicht imstande ist, nämlich etwas Allgemeines; etwas, das einer beliebigen Anzahl von Sesseln, (11)einer beliebigen Anzahl von Einzelobjekten in der Welt zukommen kann. Die Idee des Sessels - im Gegensatz zu den von uns wahrgenommenen einzelnen Sesseln - ist unabhängig von Raum und Zeit und kann allgemein angewandt werden. Sie muss, meinte Plato, im vornhinein zum Einzelnen als eine ideale Form bestehen, wovon die einzelnen Sessel nur ein besonderer Fall sind, Dinge, die an der universalen Form der Sesselheit teilnehmen. Wenn wir etwas als einen Sessel erkennen, erinnern wir uns bloß an das von dieser universalen Form vorhandene Wissen. Lonergan hält diese von Plato vertretene Auffassung von Idee für einen Mythos, der bis in unsere Tage einen Einfluss auf den Konzeptualismus ausübt. Der Konzeptualismus ist nach Lonergans Meinung ein intellektueller Grundirrtum, gegen den er seine eigene intellektualistische Erkenntnistheorie setzt. Der Konzeptualismus würde, kurz gesagt, darin bestehen, dass wir das, was vor allem Begriffe, Ideen oder universale Ideen sind, der Welt zuschreiben, nur um sie dann zu verstehen. Das Problem beim Konzeptualismus besteht darin, dass er zum Skeptizismus und Idealismus führen kann, denn, wenn an erster Stelle die Ideen stehen - wie können wir dann jemals behaupten die Wirklichkeit zu kennen?

Lonergans Idee der Idee ist jene Thomas' und auch jene Aristoteles', an erster Stelle stehen nicht die Ideen, sondern das Verstehen. Die Ideen entstehen aus dem Verstehen. Außerdem ist das Verstehen nicht die Anwendung eines universalen Begriffs, sondern die Erfassung der Idee oder des Allgemeinen im Einzelnen. Indem ich zu verstehen versuche, was ein Sessel ist, erfasse ich das, was etwas zu einem Sessel macht. Ich gebe diesem Einzelding einen Sinn. Dabei entwerfe ich keine inneren Bauplan für das Einzelne, sondern ich erfasse das, was dieses Ding zu einem Sessel macht. Ich erfasse, wenn man so will, den Entwurf oder Plan dieses Sessels als das, was aus diesen Holzstücken einen Sessel macht. Anders gewendet, wenn ich einen Sessel herstellte, müsste ich entsprechend eines Planes vorgehen; nach diesem Plan würde man die Materialien zu einem Sessel fügen. Nur durch das Erfassen eines Plans, eines Entwurfes oder einer Idee, die im Ding, aber nicht unabhängig davon ist, verstehe ich, was für ein Ding das ist. Die Idee stellt nicht das Ding dar, sie steht nicht für das Objekt in der Welt; sie ist das, was etwas zu einem Objekt macht, zu einem Einzelding. Indem ich die Idee erfasse, erfasse ich nicht etwas im Verstand, sondern etwas am Objekt: die in meinem Verstand intentionale Idee ist damit identisch, was in der Weise einer Ursache im Ding ist. Die Idee ist von der Realität nicht abgetrennt, sie steht nicht über der realen Welt der konkreten Dinge, die die Sinne im Gegensatz zur Idee in uns hervorrufen. Die Idee gehört zur ousia, zum Sein des Dinges. Sie ist das, was ein Diesda zu dem Ding macht, das es ist: sie ist eine Ursache des Seins.

(12) Ein Verständnis davon ist wichtig, wenn wir den Idealismus, Repräsentationismus und all die damit verbundenen Probleme vermeiden wollen. Außerdem muss die Idee bestätigt, untersucht und überprüft werden, wie wir in unserer Überlegung über den Wissenserwerb nach dem Dreistufenmodell gesehen haben, um darin sicher zu gehen, dass sie tatsächlich die Idee ist, die ein Diesda zu dem Ding macht, das es ist. Im Urteil bejahen wir, dass etwas ist. Das nun, was die drei Stufen des Erkennens trägt, vorantreibt und zu einem einzigen Akt des Erkennens zusammenfügt, ist das reine, uneigennütze Erkenntnisstreben. Wir haben ein natürliches Streben nach der Erkenntnis von Dingen. Das Urverlangen besteht nun nicht darin, Fragen zu stellen, vielmehr ist das Fragen schon eine Manifestation des Wissensstrebens. Das ist ein Naturstreben des Menschen. Wenn Sie mich fragen, ob das auch wahr ist, beweisen Sie schon die Wahrheit des von mir Gesagten - Fragen sind einfach eine Entfaltung und Manifestation dieses menschlichen Naturstrebens. Und was ich wissen will, ist alles über alles. Der menschlichen Wissbegierde sind keine Grenzen gesetzt. Die Ungeduld mit dem Unvollständigen, nur Halbwahren und den unbefriedigenden Antworten treibt uns an weitere Fragen zu stellen, um bessere und befriedigendere Antworten zu finden. Lonergan nennt das Erkenntnisstreben und die davon verursachten Fragen den "Operator"; er treibt uns zur Suche nach je vollständigeren und besseren Antworten an.

(13) Was hat das alles nun mit dem erwähnten Konflikt zwischen der Kohärenz- und der Korrespondenztheorie der Wahrheit zu tun? Ganz einfach, in der Philosophie werden diese beiden Theorien meistens als widersprüchlich angesehen: die eine Theorie ist richtig, die andere falsch. Beide können nicht richtig sein. Oder doch?

Überlegen wir uns. Wenn ich mich einem Konfrontationsmodell der Erkenntnis anschließe - in der Meinung Erkenntnis zu haben, indem ich in die Welt hinausblicke und genau beobachte, was ich da draußen sehe -, erscheint die Notion einer Korrespondenztheorie von Wahrheit als überzeugend und zwingend. Meine Wahrheitsansprüche werden mit der Genauigkeit als wahr erscheinen, mit der sie damit übereinstimmen, was in Wirklichkeit dort draußen ist. Meine Aussagen sind wahr, weil sie mit den von meinen Worten unabhängig bestehenden Tatsachen als solchen übereinstimmen. Die Korrespondenztheorie steht für die Absolutheit der Tatsachen und für die Unabhängigkeit der Tatsachen von einer von mir vielleicht geteilten Überzeugung. Tatsachen sind alles, könnte man sagen, ist der Leitspruch jener, die die Korrespondenztheorie der Wahrheit teilen. Behauptungen sind nur wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmen. Tatsachen sind unabhängig von meinem Dafürhalten, besser noch, die Wahrheit hängt von meinen Aussagen ab, insofern sie mit den vorliegenden Tatsachen übereinstimmen.

Es gibt aber, wie wir gesehen haben, nicht wenig Argumente, die dieser Ansicht widersprechen. Das Hauptargument dagegen ist, dass man Tatsachen ohne irgendeine Interpretation dessen, was tatsächlich dort draußen ist, unmöglich kennen kann. Wir haben keine intuitive Einsicht in Tatsachen, wir gelangen zur ihrer Kenntnis nur durch Ideen. Es gibt keine von irgendeinem Begriffsssystem unabhängige Tatsachen, unabhängig von Anschauung und Überzeugung, und der Grund dafür, dass wir einige Dinge annehmen und andere verwerfen, liegt darin, dass sie mit Anschauungen und Überzeugungen, einschließlich der Wahrnehmungsüberzeugungen, zusammenhängen und in Einklang stehen. Es gibt viele Formen der Kohärenztheorie, aber ihr allgemeines Merkmal ist, dass sie das überwindet, was Lonergan als das naiv realistische Element in vielen Formen der Korrespondenz bezeichnen würde. Der naive Realist sagt, dass er etwas weiß, weil er es sehen kann; der Kohärenztheoretiker sagt, dass man etwas weiß, weil man es in einen umfangreicheren Kontext von Überzeugungen einfügen kann: das Begriffsssystem setzt fest, was eine Tatsache ist oder nicht.

Der Korrespondenztheoretiker behauptet vor allem die objektive Natur der Erkenntnis und betont den objektiven Pol im Erkennen. Der Kohärenztheoretiker betont vor allem den subjektiven Pol im Erkennen. Der eine ist Empiriker, der andere neigt eher zum Idealismus.

Lonergan hält sowohl an der Kohärenz als auch an der Korrespondenz fest, und es macht ja auch eins ohne das andere keinen Sinn. Dem Empiriker oder naiven Realisten gegenüber bestreitet er, dass das Erkennen ein Hinausschauen nach dem dort draußen ist, aber er stimmt mit ihnen hinsichtlich der Absolutheit der Tatsachen und der Unabhängigkeit der Tatsachen vom Erkennenden überein. Was die Unabhängigkeit der Tatsachen vom Dafürhalten des Erkennenden rechtfertigt, ist laut Lonergan die bedingte Natur des Verstehens beim 2. Schritt. Der angenommenen Sinn oder das Verstehen muss sich, wenn es als Tatsache bejaht werden soll, an den Daten bewähren. Das stellt eine strenge Bedingung dar, es ist keineswegs etwas, dass ich willentlich oder durch Willenskraft oder sonst etwas bestimmen kann, was von meinem Gutdünken abhängt. Dass die Bedingungen des Bedingten notwendig erfüllt sein müssen, bevor das Verstehen als wahr bejaht werden kann, ist der Grund dafür, dass die Tatsachen unabhängig vom Erkennenden und Urteilenden bestehnen. Die Gegebenheit der Daten und die Notwendigkeit, dass sich das Verstehen an den Daten bewähren muss, sind für Lonergan der Grund, den Subjektivismus und Idealismus abzulehnen. Deshalb stimmt er mit dem Empiriker überein, dass die Wahrheit in der Übereinstimmung dessen besteht, was ich als wahr behaupte und was tatsächlich so ist.

Im Gegensatz zum Empiriker aber und in Übereinstimmung mit dem Idealisten behauptet Lonergan, dass alle Tatsachen einer Interpretation bedürfen, dass es so etwas wie eine nicht interpretierte Tatsache gar nicht gibt. Wir schaffen keine Tatsachen, indem wir mit unseren Sinnen auf sie stoßen würden. Worauf wir mit unseren Sinnen stoßen, sind die Daten, und die haben noch keinen Sinn. Sie sind das, was wir befragen, um zu ihrem Sinn zu gelangen. Wenn am Ende dieses Vorgangs Tatsachen zum Vorschein kommen, so nur deshalb, weil wir nachweisen, dass das Verstehen den Daten entspricht und diese Daten Träger dieses Sinnes sind, und zwar indem wir zeigen, dass so viel darauf hinausläuft, dass etwas der Fall ist, so dass die mit den Wissensforderungen verbundenen Bedingungen als erfüllt betrachtet werden können. Es gibt nicht so etwas wie nackte Tatsachen, sondern nur nackte Daten. Menschliche Fakten sind immer schon ausgelegt, immer schon mit Sinn versehen, und der Sinn kommt durch eine Verfahrensweise des Zusammenfügens von Dingen zustande, wie wir in dem einfachen Beispiel sahen, dass wir uns am Anfang dieser Überlegungen angesehen haben. Es ist wie bei einem Kreuzworträtsel. Deshalb ist die Kohärenztheorie der Wahrheit ebenfalls wahr. Die Korrespondenzheorie und die Kohärenztheorie sind vom Standpunkt Lonergans aus ein und dasselbe, und sie sind weit davon entfernt, die vom Empirismus beziehungsweise Idealismus behaupteten Gegensätze zu sein. Beide hängen nämlich von den mit dem Verstehen verbundenen Bedingungen ab, die erfüllt sein müssen. Die Erfüllung dieser Bedingungen ist eine Frage des Zusammenfügens von Dingen; die Erfüllung dieser Bedingungen liefert die Begründung für die Behauptung, dass etwas unabhängig von meinem Dafürhalten der Fall ist.

(14) Wie ist das möglich? Der Grund liegt darin, dass Lonergan keinem Konfrontationsmodell des Erkennens anhängt. Und weil er das Erkennen nicht nach der Weise eines Konfrontationsmodells ansieht, hält er Objektivität nicht für etwas, was sich auf eine Wirklichkeit jetzt schon da draußen bezieht, nicht für eine Extroversion der Sinne. Die Wahrheit der Objektivität ergibt sich aus dem - menschlichen - Erkenntnisstreben. Das reine, uneigennütze Erkenntnisstreben nach Wahrheit ist das höchste Kriterium der Objektivität. Und die menschliche Objektivität besteht darin, in eins mit diesem Streben zu sein und unseren Vorurteilen, persönlichen Vorlieben und gegebenenfalls den Traditionen, in die wir hineingeboren wurden, Widerstand zu leisten, um diesem Streben treu zu bleiben. Das einzuhalten ist oft nicht einfach. Das Wissen und Erkennen des Menschen ist eine im höchsten Maße moralische und niemals a-moralische Angelegenheit.

(15) Das ist Lonergans Erkenntnistheorie. Sie ist in dem Sinn eine Theorie, dass sie eine Beschreibung dessen sein will, was wir eigentlich tun, wenn wir zu einer Erkenntnis gelangen. Sie möchte eine Darstellung des Erkennens sein, die auf einer genauen Beobachtung beruht, was Erkennen eigentlich ist und worin es eigentlich besteht. Wie vermögen wir aber, das zu beobachten, was Erkennen ist? Wie kommen wir zu den Daten, die wir dann weiter interpretieren, um zu einer Erkenntnistheorie zu gelangen? Lonergans Antwort darauf ist, dass wir deshalb wissen können, was Erkenntnis ist, weil der Erkenntnisprozess ein bewusster Vorgang ist. Wir sind uns des Vorgangs bewusst, wenn wir die Antworten auf die Fragen ausarbeiten. Das geschieht nicht ohne Bewusstsein. Und weil wir uns dessen bewusst sind, können wir erfassen, was wir tun und erstreben, die verschiedenen Schachzüge und Manöver, die wir ausführen, wenn wir zu einer Erkenntnis gelangen. Die Daten der Erkenntnistheorie sind die Daten des Bewusstseins selbst. Im Erkenntnisvorgang befassen wir uns meistens mit den Sinnesdaten, wir versuchen die Sinnesdaten zu deuten und zu erklären. Wenn wir aber eine Erkenntnistheorie aufstellen, versuchen wir die vom Bewusstsein stammenden Daten zu deuten und zu erklären.

Wir müssen nun behutsam vorgehen, wenn wir von Bewusstsein sprechen. Wie bei allen die Erkenntnislehre betreffenden Dingen stehen für den Unvorsichtigen Fallstricke bereit. Das Bewusstsein ist kein Schauen und Sehen, es ist keine Art der Innenschau meines Tuns. Wenn wir Bewusstsein in dieser Weise interpretieren, sind wir bei all den Problemen, die wir von den Traditionen geerbt haben, die Erkennen für ein Sehen und Schauen halten. Bewusstsein ist Selbstpräsenz. Sie ist ein Gegenwärtigsein seiner selbst als eines Tuenden. Sie liegt vor, weil ich mir meiner gegenwärtig bin, wenn ich etwas erfahre, wenn ich etwas verstehe und wenn ich mein Verstehen, dass ich wissen kann, was Erkennen ist, als wahr bejahe. Wenn ich etwas weiß, bin ich mir dessen bewusst, dass ich es weiß. Wenn ich etwas erkenne, bin ich mir meines Erkennens bewusst. Wenn ich etwas sinnlich wahrnehme, bin ich mir dieser Wahrnehmung bewusst. Diese Feststellung ist beihnahe eine Tautologie, denn ohne dieses Bewusstsein gäbe es keine Erfahrung, ohne dieses Bewusstsein gäbe es kein Verstehen und ohne dieses Bewusstsein gäbe es kein Wissen. Menschliches Bewusstsein ist menschliches Selbstbewusstsein. Das menschliches Bewusstsein kommt erst auf der zweiten Stufe zu sich. Nichts kann mir gegenwärtig sein, ohne dass ich mir meiner selbst gegenwärtig bin.

(16) Lonergan sieht diese drei Schritte im Erkenntnisvorgang als konstitutiv für die drei Ebenen oder Stufen des Bewusstseins an. Wie uns Joe Cassidy noch darüber unterrichten wird, wenn er auf moralische und ethische Urteile zu sprechen kommt, postuliert Lonergan tatsächlich vier Stufen des Bewusstsein, mit der moralischen Stufe als der auf der kognitiven Stufe aufbauenden vierten. Das im Gespäch über das Bewusstsein im Zusammenhang mit der Erkenntnis zu erfassende Wesentliche ist, dass mit jedem Schritt oder mit jeder Stufe der Erkenntnis eine Erweiterung oder Vertiefung des Bewusstseins einhergeht. Die Erfahrung ist oft kontingent, die Dinge widerfahren uns; wir öffnen die Augen und sehen, worauf unsere Augen fallen. In derselben Weise hören wir, was in Hörweite liegt und so weiter. Wir können unsere Aufmerksamkeit steuern, das jedoch dient zum Nachweis unserer Behauptung: dass die Sinne gelenkt werden müssen. Durch das Verstehen üben wir mehr Herrschaft und Kontrolle über die Ereignisse aus und nehmen persönlich tiefer Anteil daran; wir müssen nachdenken, wir müssen unseren Geist üben, wir müssen uns anstrengen unsere Aufmerksamkeit zu konzentrieren und zu einer Antwort auf die Frage zu gelangen. Verstehen aber ist nicht Wissen, und wir können mit dem Verstehen ein Spiel treiben, wir können uns ungemein viele Möglichkeiten ausdenken, wir können eine Überfülle an Hypothesen anbieten. Wenn es zum Urteil kommt, finden das Spiel und die Unentschlossenheit ein Ende, und wir müssen über das, was ist, Stellung beziehen. Wir müssen ein Ja oder Nein aussprechen, und hier liegt ein vergleichsweise höherer Freiheitsbereich vor, weil der Preis dafür auch eine größere Verantwortung ist. Wie uns jeder Jurist bestätigen wird, erfordert die Aussage, dass etwas endgültig ist, ein höheres Maß an Verbindlichkeit als die bloße Vermutung, dass etwas sein oder auch nicht sein könnte. Das Erkenntnisurteil ist nicht im selben Sinne ein freier Akt wie eine sittliche Wahl oder Entscheidung; aber es ist ein freierer Akt, der sozusagen einen höheren Willensaufwand erfordert, als entweder Verstehen oder Sinneswahrnehmung. Kurz gesagt, ich bin beim Verstehen mehr gefordert als wenn ich bloß auf etwas starre oder mich im Lotusland der Gefühle treiben lasse. Und ebenso bin ich mehr gefordert, wenn ich eine Wissensbehauptung aufstelle, als wenn ich nur eine intellektuelle Erklärung erwäge. Am meisten aber bin ich gefordert, wenn ich Werturteile fälle und zu sittlichen, auf meinem Wissen von Wahrheit beruhenden Entscheidungen gelange.

(17) Es wirkt in gewisser Weise ziemlich "konstruiert", über das Bewusstsein ohne Erwähnung desssen zu reden, was Lonergan unter der vierten Ebene des Bewusstseins versteht, einer Ebene der Freiheit und Verantwortlichkeit, der Ebene, auf der wir Werturteile fällen, Urteile über richtig und falsch, sittliche Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen. Es geschieht auf dieser vierten Ebene, dass, wie Lonergan sagt, das Bewusstsein wirklich Selbst-Bewusstsein wird und wir nicht nur Stellung über ein Sosein beziehen, sondern wirklich für unsere Überzeugungen eintreten. Wir gehen dabei ein großes Risiko ein. Ich sage, dass es ziemlich konstruiert wirkt, über die ersten drei Ebenen des Bewusstseins ohne diese vierte Ebene zu reden, weil wir, wie ich vorher erwähnt habe und Joe Cassidy später sicher erklären wird, die ersten drei Ebenen, die Erkenntnisebenen sozusagen, nicht von der vierten Ebene, der Ebene der Moral, Freiheit und Verantwortlichkeit säuberlich trennen können. Aber ich fürchte in ein Gebiet abzuschweifen, das heute eigentlich Joes Sache ist. Ich glaube, mich vielleicht so weit erklärt zu haben, als man für ein Verständnis erwarten kann, und so schließe ich nun bald ab.

Es bleibt mir nur noch das Gesagte zusammenzufassen. So möchte ich gern Folgendes in Ihr Gedächtnis rufen:

Das bekannte Unbekannte
Die heuristische Struktur
Verschiedene Modelle des Wissens
Konfrontationsmodell versus Dreistufenmodell der Erkenntnis
Erfahrung, Verstehen und Urteil
Die Daten, das Intelligible, die Wahrheit
Das reine, uneingennütze Erkenntnisstreben nach Wahrheit
Die Bedeutung der Frage
Das virtuell Unbedingte
Die Objektivität ist keine sensorische Extroversion
Die Realität ist nicht das Jetzt-schon-da-Draußen
Die Kohärenztheorie der Wahrheit
Die Korrespondenztheorie der Wahrheit
Bewusstsein
Die vier Ebenen des Bewusstseins

(18) Das sind die Notionen, die ich in meinem notgedrungen sehr gedrängt gehaltenen Vortrag abgehandelt habe. Lonergan nannte nun seine Hinführung zur Philosophie gern "intentionale Analyse". Damit meinte er, dass Sehakte intentionale Akte sind, Akte mit der Intention mir das Objekt als ein gesehenes Objekt vorzustellen. Das Sehen ist nicht bloß ein Schauen und gewiss nicht bloß ein Starren: es beinhaltet die Intention, dass ich mir des Objektes als eines gesehenen inne werde. Ebenso wird mir das Objekt durch das Verstehen als verstandenes, intelligibles und sinnhaftes Objekt bewusst. Durch das Urteil wird mir das Objekt als eine Tatsache bewusst. Indem ich diese verschiedenen Akte des Sehens, Verstehens und Urteilens zusammenfüge, gelange ich zur Intentionalität des Wissens. Und das Wissen ist das Wissen um das, was ist, das Sein. Menschliche Intentionalität ist unbegrenzt; sie hat keine Geduld mit der Ungewissheit und den unvollständigen Wissensbehauptungen und sie treibt die Menschheit vorwärts und empor zu immer zufriedenstellenderen und vollständigeren Sehweisen und Erklärungsmustern. Das ganze, alle Bereich des Fragens und Forschens umfassende menschliche Wissen wird von diesem Grundwissensstreben und diese bewusste Intentionalität des fragenden Subjektes angetrieben. Deshalb nannte Lonergan sein Unternehmen "intentionale Analyse" - und indem er sie so nannte, sagte er alles.

(19) Was Lonergan überdies bietet, ist ein invarianter Standpunkt im Wissen, Urteilen und Handeln, der Teil der menschlichen Konstitution und der gemeinsame Kern allen Wissens und aller Erkenntnisse in den Human- und Naturwissenschaften ist. Deshalb nannte Lonergan seine Methode transzendentale Methode. In diesem Sinne ist sein Standpunkt einzigartig dafür geeignet, den Relativismus zu überwinden, der dem Herzensgrund so vieler Erscheinungen unserer heutigen Kultur zugrunde liegt. Diese vierfache Struktur führt zu einer Interpretation der menschlichen Person, die dem von Descartes stammenden Dualismus zuwiderläuft; zugleich erweist sie sich als resistent gegenüber physikalischen Interpretationen des Personseins, die man heute im Gegensatz zu Descartes aufstellt. (Gewiss, der Dualismus ist zwar falsch; aber wir sind doch bloß nur Körper). Diese von Lonergan angewandte vier-fältige Methode wird weiter zu seiner eigenen Richtschnur und seinem Kompass, der uns durch den Dschungel zeitgenössischer Philosophie und verwickelter Philosophiegeschichte führt. Man könnte Lonergan ganz gut als einen Methodologen bezeichnen. Und er sah in der vier-fältigen Struktur des Erkennens und Handelns den Schlüssel für alle Methoden der Human- und Naturwissenschaften. Dieser allen Human- und Naturwissenschaften gemeinsame Kern vermag die Fragmentation des Wissens zu überwinden, die ein so typisches Merkmal unserer modernen Kultur ist. Schließlich ist die tranzendentale Methode noch ein Programm der Tat: Wir sollten Positionen, die mir ihr übereinstimmen, fördern und aufweisen, wie ihre Gegenpositionen sich selbst aufheben.

(20) Die Botschaft, die ich Ihnen heute morgen abschließend hinterlassen will, ist, um noch einmal auf die Erkenntnis zurückzukommen, dass es in Lonergans Erkenntnistheorie nichts Geheimnisvolles gibt. Das unterscheidet sie von beinahe jeder anderen erwähnenswerten Erkenntnistheorie. Hume spricht von den verborgenen Vorgängen der Natur. Kant spricht vom Noumenon, obwohl er behauptet, dass es völlig unerkennbar ist. Russell spricht von "einfachen Dingen" oder Urtatsachen ohne überzeugende Beispiele bringen zu können, was solch eine Tatsache konstituieren könnte. Und der junge Wittgenstein suchte nach dem verborgenen Wesen der Sprache. Der späte Wittgenstein verwarf diese Frage nach dem Verborgenen und dem für seine frühe Philosophie so charakteristischen Geheimnisvollen. Anstatt des Versuchs, eine auf den Prinzipien des logischen Atomismus aufbauenden Sprache zu schaffen, die an die Stelle der Gemeinsprache käme, sagte er, dass wir mit der Gemeinsprache zufrieden sein und die darin sich offenbarende Realität finden sollten. Lonergan ist nun kein Wittgensteinianer, aber etwas vom späten Wittgenstein findet sich in Lonergans Ablehung der Versuche, die Probleme der Erkenntnislehre durch Berufung auf geheime Vorgänge zu lösen, die (wie behauptet wird) unseren Erkenntnisvorgängen zugrunde liegen müssen. Sei nur bloß deiner Bewusstseinsvorgänge eingedenk, rät uns Lonergan. Achte auf sie, erkenne sie, sieh zu, wie sie aufeinander bezogen sind, und du wirst die Struktur der Erkenntnis verstehen. Versuche nicht, das Bewusstsein auf sonst irgend etwas zu reduzieren, auf neurale Anreize oder die Arbeitsweise eines Computers oder auf irgendeinen anderen Mechanismus, von dem man behauptet, das er das Bewusstsein ist. Deute das Bewusstsein auf Bewusstseinsebene. Sei aufrichtig und bleibe deinem Bewusstsein treu und du wirst die Struktur der Erkenntnis verstehen.


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